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ADB:Kleist, Heinrich von

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Artikel „Kleist, Heinrich von“ von Felix Bamberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 16 (1882), S. 127–149, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kleist,_Heinrich_von&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 14:04 Uhr UTC)
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Band 16 (1882), S. 127–149 (Quelle).
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Kleist: Bernd Heinrich Wilhelm v. K. wurde zu Frankfurt a. O. geboren, nicht am 10. October 1776, wie man bis zu seiner irrthümlich am 10. October 1876 begangenen Säcularfeier, gestützt auf Tieck’s Vorrede zu Kleist’s Werken (1826) annahm, sondern nach dem von K. Siegen aus dem Frankfurter Garnisonskirchenbuch veröffentlichten Taufschein, am 18. October 1777. Sein Vater, der Kapitän im Leopold von Braunschweigischen Regimente, Joachim Friedrich v. K., war damals bereits 50 Jahre alt. Von seiner ersten Gemahlin, Karoline Louise v. Wulffen, die 19jährig starb, hatte er zwei Töchter, Wilhelmine und Ulrike. Von der zweiten Gattin Juliane Ulrike v. Pannewitz wurden ihm fünf Kinder geboren, von denen Heinrich das dritte war. Der Knabe erhielt seine Erziehung in dem in der Oderstraße gelegenen elterlichen Hause, welches von der aufopferungsvollen Halbschwester Ulrike bis zu ihrem am 1. Februar 1849 erfolgten Tode bewohnt wurde und nunmehr in den Besitz der Post übergegangen ist. In Gesellschaft eines Vetters wurde er von einem Studenten der Theologie unterrichtet, der insofern einen schwierigen Stand hatte, als K., den er einen nicht zu dämpfenden Feuergeist nannte, im Besitze einer überraschend schnellen Fassungsgabe war, während der Genosse, trotz aller Anstrengung, mit ihm nicht Schritt halten konnte. So fiel Letzterer denn auch frühzeitig in Schwermuth und nachdem er Zögling der Militärakademie und Offizier geworden war, nahm er sich das Leben. Erheiternd mag ein solcher Gespiele schwerlich auf K. gewirkt haben; beider Naturen begegneten sich vielmehr in frühem Trübsinn und erwachsen von einander getrennt, sollen sie einmal schriftlich übereingekommen [128] sein, freiwillig aus diesem Leben zu scheiden. Von dem Charakter des 1788 verstorbenen Vaters wissen wir bisher nichts; eine knappe Bemerkung in einem Briefchen Kleist’s an Rühle von Lilienstern vom J. 1806 scheint anzudeuten, daß die (1793 gestorbene) Mutter weichen Herzens war und daß er diese Eigenschaft von ihr geerbt hat. Mit dieser Gefühlsrichtung stimmt überein, daß K. ein bedeutendes musikalisches Talent entwickelte, so daß er, Tieck’s Ueberlieferung zur Folge, ohne die Noten zu kennen, sogar mehrere Instrumente vortrefflich zu spielen verstand. In seinem zehnten Jahre kam er zu dem Prediger Catel nach Berlin und, wie Tieck erzählt, etwa 15 Jahre alt als Junker zur Garde. Dies stimmt mit Wilbrandt’s Annahme, nach welcher K. im J. 1792 Soldat wurde, genau überein. Eduard v. Bülow’s Angabe, daß er im J. 1795 als vierter Fähndrich in das Garderegiment zu Fuß in Potsdam eingetreten sei, ist hingegen nicht genau, denn aus dem ersten Briefe Kleist’s an Ulrike, der auf dem Regimentsmarsche nach dem Rhein, von Eschborn im Nassau’schen am 25. Februar 1795 geschrieben ist, geht hervor, daß er erst von Westphalen die Nachricht von seiner Beförderung zum Offizier abschicken zu können glaubte. Daß mit dieser Beförderung doch nur die Fähndrichsstufe gemeint sein kann, erhellt daraus, daß K. in der Rangliste von 1796 als vierter Fähndrich im Regiment Garde zu Fuß in Potsdam eingeschrieben ist. Würde der Frieden dem Rheinfeldzuge nicht ein Ende gemacht haben und wäre K. zu wirklichen Kriegsdiensten gekommen, so hätte dies vielleicht seine ganze Zukunft beeinflußt; aber von Natur dem Soldatenstande wenig geneigt, wurde ihm in Potsdam der bloße Garnisondienst geradezu widerwärtig. Ein unwiderstehlicher Drang nach Wissen und innerer Bildung, nach freiem geistigen Leben, bemächtigte sich seiner; er ließ sich von dem Conrector Bauer unterrichten und studirte in Gesellschaft eines jüngeren Kameraden, außer den alten Sprachen, besonders Philosophie und mathematische Wissenschaften. In diese Zeit des Potsdamer Aufenthaltes fällt das erste uns bekannte Liebesverhältniß Kleist’s mit einem Mädchen aus adligem Geschlecht. Das Scheitern desselben machte ihn schwermüthig und menschenscheu, er vertiefte sich desto mehr in seine Studien und verwendete auf seine äußere Erscheinung nicht mehr die frühere Sorgfalt. Als er zuletzt durch eigenes Denken Probleme erfaßte, welche der Lehrer ihm nicht hatte anschaulich machen können, stand sein Entschluß das Heer zu verlassen und sich ganz den Wissenschaften zu widmen, fest und er reiste nach seiner Geburtsstadt, wo sich damals eine Universität befand, um dort das Nöthige vorzubereiten. Hier hatte seit dem Tode der Mutter deren Schwester, die Ordnung und Ruhe liebende Frau v. Massow, die Wirthschaft übernommen. Die Familie, in welcher der Soldatenstand sich als eine Ueberlieferung fortgeerbt hatte und sein Vormund, ja sein Jugendlehrer, der inzwischen in Frankfurt Geistlicher geworden war, erklärten sich sämmtlich gegen sein Vorhaben, während Ulrike allein eine billigere Auffassung der geistigen Bedürfnisse des Bruders gehabt zu haben scheint. Die in Eduard v. Bülow’s „H. v. Kleist’s Leben und Briefe“ mitgetheilten Schreiben an den Lehrer vom 18. und 19. März 1799 sind maßgebend für die Kenntniß jener Lebenskämpfe. Zunächst verdient hervorgehoben zu werden, daß es einer edlen und tiefen Natur durchaus entspricht, wenn K. in dem ersten dieser Schreiben das ihn allgemein Bestimmende, Ideale und erst in dem zweiten das, was sich auf seine damalige besondere Lage bezieht, entwickelt; wie denn überhaupt in den meisten seiner Briefe aus jener Zeit sich das idealistische Streben wiederspiegelt, welches durch die größten Geister unserer Kunst und Wissenschaft in die Lebensluft der Nation eingedrungen war. Seiner Vernunft nach hatte der 22jährige alle Elemente zum reinsten Glücke in sich; unserer Theilnahme desto werther entwickelt sich aber sein Geschick von dem Augenblicke an, wo die ungemessensten Anstrengungen nach [129] Vervollkommnung und später nach Anerkennung bei ihm zu wahren Leidenschaften heranwachsen und ihn zum Erleben jenes Glückes unfähig machen. Den zweiten Brief nennt K. selbst eine getreue Darstellung seines ganzen Wesens und hofft, daß er den geliebten Lehrer nicht ungerührt lassen wird. „Der Soldatenstand, dem ich nie von Herzen zugethan gewesen bin, weil er etwas durchaus Ungleichartiges mit meinem ganzen Wesen in sich trägt, wurde mir so verhaßt, daß es mir nach und nach lästig wurde zu seinem Zwecke mitwirken zu müssen. Die größten Wunder militärischer Disciplin, die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerciermeister, die Soldaten für so viele Sclaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Instrument der Tyrannei. Dazu kam noch, daß ich den üblen Eindruck, den meine Lage auf meinen Charakter machte, lebhaft zu fühlen anfing. Ich war oft gezwungen zu strafen, wo ich gerne verziehen hätte, oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen und in beiden Fällen hielt ich mich selbst für strafbar. In solchen Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir entstehen einen Stand zu verlassen, in welchem ich von zwei durchaus entgegengesetzten Principien unaufhörlich gemartert wurde, immer zweifelhaft war ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte, denn die Pflichten beider zu vereinen halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich. Und doch hielt ich meine moralische Ausbildung für eine meiner heiligsten Pflichten, eben weil sie, wie ich eben gezeigt habe, mein Glück gründen sollte und so knüpft sich an meine natürliche Abneigung gegen den Soldatenstand noch die Pflicht ihn zu verlassen.“ K. stellt nun dar, welche Einwürfe ihm im Kreise seiner Familie gemacht worden sind, aber alle diese Ermahnungen trafen seinen Entschluß nicht. „Nicht aus Unzufriedenheit mit meiner besseren Lage, nicht aus Mangel an Brot, nicht aus Speculation auf Brot, sondern aus Neigung zu den Wissenschaften, aus dem eifrigen Bestreben nach einer Bildung, welche nach meiner Ueberzeugung in dem Militärdienste nicht zu erlangen ist, verlasse ich denselben.“ Was sich in diesen Geständnissen abspiegelt, ist nicht blos die eigenthümliche Artung eines philosophisch und poetisch angelegten Jünglings, sondern auch der Wendepunkt der beiden Jahrhunderte, und merkwürdig genug bleibt es, daß der kurz darauf eingetretene Sieg der rohen Gewalt über den Humanismus der Revolution wesentlich zum Untergange Kleist’s beigetragen hat. General Rüchel hatte in Potsdam dem wissenschaftlichen und freidenkerischen Treiben Kleist’s längst mit Unwillen zugesehen; als dieser jedoch um seinen Abschied anhielt, redete er ihm ins Herz und der König soll sogar geneigt gewesen sein, dem Wissensdurstigen Urlaub auf unbestimmte Zeit zu gewähren, damit er nach seiner Studienzeit wieder beim Regimente eintreten könne.

Als Seconde-Lieutenant entlassen, studirte K. nun von Ostern 1799 ab in Frankfurt a. O. vorzugsweise Philosophie. Bei Hüllmann hörte er Geschichte, bei Wünsch Mathematik und außerdem besuchte er die Vorlesungen von Huth, Kalau und Madihn. Nach einer Julian Schmidt gegebenen Versicherung Dahlmann’s hat K., wie aus seinen Collegienheften hervorging, ernste, nicht blos dilettantische Universitätsstudien gemacht. Wie ernst es ihm damals mit den Wissenschaften war, geht auch daraus hervor, daß er eine (nicht erhaltene) Abhandlung über die Kant’sche Philosophie schrieb. Die erste Zeit des Frankfurter Aufenthaltes verlief ziemlich glücklich. Sein Drang das Wahre und Schöne zu verbreiten, veranlaßte ihn seinen Schwestern und deren Freundinnen Unterricht zu ertheilen, er ließ sich sogar, da ihm der Lehrberuf vorschwebte, im elterlichen Hause ein Katheder errichten und hielt seinen jungen Zuhörerinnen culturgeschichtliche [130] Vorlesungen. Die ästhetische[WS 1] Erziehung, die er sich und anderen gab, hatte eine gewisse Weihe über ihn ausgebreitet, ohne daß er darum dem im ganzen Hause herrschenden heiteren Tone abhold gewesen wäre. Eine schroffe Abneigung gegen das Gemeine war überhaupt eine seiner hervorragendsten Eigenschaften. Die Idee der inneren Sittlichkeit war gerade damals so stark in ihm, daß die Nachricht von dem verfehlten Selbstmorde eines Freundes ihn mit Abscheu erfüllte und er dem Selbstmörder brieflich ernste Vorstellungen darüber machte. Ebenso rügte er den Entschluß seiner körperlich wenig begünstigten Schwester Ulrike, unverheirathet zu bleiben. Schon damals regten sich indessen in K. zu viel verschiedenartige Seelenkräfte, als daß das Studium allein ihm volle Befriedigung hätte gewähren können. Sein Herz bedurfte des Ergusses und Ulrike war es, der er mündlich, oder wenn sie abwesend war schriftlich seine Gefühle mittheilte. So entstand jene merkwürdige Reihe von 57 Briefen, deren Veröffentlichung im J. 1860 wir A. Koberstein verdanken und welche über 16 Jahre sich verbreitend, mit dem bereits angeführten Eschborner Schreiben im J. 1795 beginnt und nachdem sie zwischen dem ersten und zweiten Brief eine Lücke von mehr als vier Jahren zeigt und störenderweise nicht selten von Geldbedürfnissen handelt, mit einem erschütternden Abschiede von der Schwester im November 1811 endet. Nicht immer ist an diese Briefe der richtige Maßstab gelegt worden. Gleich in dem ersten Schreiben des Achtzehnjährigen sind die warmen Ueberströmungen des Dankes an die Schwester rührende Beweise der außerordentlichen Feinfühligkeit und Zartheit des jugendlichen Gemüthes. Auch beginnt es schon vollständig mit Ansätzen zu der späteren so eigenthümlich dichten Prosa Kleist’s. „Du zwingst Dir eine Gleichgültigkeit gegen die für Dich sonst so reizbaren Freuden der Stadt ab, um Dir das einfache Vergnügen zu gewähren Deinen Bruder Dir zu verbinden.“ In dem zweiten Briefe, der aus der Frankfurter Studentenzeit vom 12. November 1799 datirt ist, nimmt er den Vorwurf der ihm eigenen Sonderbarkeiten auf und sagt, mit einem einzigen Federstriche den Riß bezeichnend, der sich für ihn nie geschlossen hat: „Tausend Bande knüpfen die Menschen aneinander, gleiche Meinungen, gleiches Interesse, gleiche Wünsche, Hoffnungen und Aussichten; – alle diese Bande knüpfen mich nicht an sie und dieses mag ein Hauptgrund sein, warum wir uns nicht verstehen. Mein Interesse besonders ist dem ihrigen so fremd und ungleichartig, daß sie – gleichsam wie aus den Wolken fallen, wenn sie etwas davon ahnden. Auch haben mich einige mißlungene Versuche, es ihnen näher vor die Augen, näher ans Herz zu rücken, für immer davon zurückgeschreckt und ich werde mich dazu bequemen müssen, es immer tief in das Innerste meines Herzens zu verschließen. Was ich mit diesem Interesse im Busen, mit diesem heiligen mir selbst von der Religion, von meiner Religion gegebenen Interesse im engen Busen, für eine Rolle unter den Menschen spiele, denen ich von dem was meine ganze Seele erfüllt, nichts merken lassen darf, – das weißt Du zwar nach dem äußeren Anschein, aber schwerlich weißt Du, was oft dabei im Innern mit mir vorgeht. Es ergreift mich zuweilen plötzlich eine Aengstlichkeit, eine Beklommenheit, die ich zwar aus allen Kräften zu unterdrücken mich bestrebe, die mich aber dennoch schon mehr als einmal in die lächerlichsten Situationen gesetzt hat. – Wenn man durch häufigen Umgang, vieles Plaudern, durch Dreistigkeit und Oberflächlichkeit zu dem einem Ziele kommt, so erreicht man dagegen durch Einsamkeit, Denken, Behutsamkeit und Gründlichkeit das andere.“ Mit solchen tiefen und stilistisch bereits meisterhaften Selbstbetrachtungen hat K. manche Kritik der älteren und neueren Ausleger seines Wesens von vornherein widerlegt.

Aus den Besuchen in dem benachbarten Hause des Generals v. Zenge entwickelte sich ein Verhältniß mit dessen ältester am 23. August 1780 geborenen [131] Tochter Wilhelmine. Grillenhaft, wünschte K. es anfangs selbst vor den Eltern zu verbergen, so daß nur Wilhelminens Schwester, Luise, die er „die goldene Schwester“ nannte, im Geheimniß war; aber etwa zu Anfang des Jahres 1800 schickte er der Geliebten mit einem Briefe voll des wärmsten Ergusses und, indem er sie noch in der dritten Person anredend, anflehte ihm schriftlich zu erklären, ob er wiedergeliebt werde, den Entwurf eines Schreibens an ihren Vater, in welchem er ihn um seine Einwilligung bat. Datum und Eingang dieses erst seit Kurzem bekannt gewordenen Briefes fehlen. „Ich sehe“, schreibt K., in einem Bilde das bereits das eines Dichters wiederspiegelt, „daß das neue Morgenlicht meines Herzens zu hell leuchtet und schon zu sehr bemerkt wird.“ Diesem Verhältnisse mit Wilhelmine v. Zenge verdanken wir eine zweite Reihe von werthvollen Briefen, von denen wir bisher 16 aus dem 1848 erschienenen Buche Eduard v. Bülow’s kannten, während Karl Biedermann sich jetzt ein neues Verdienst erwirbt, indem er zunächst in „Nord und Süd“ deren weitere 18, worunter auch den eben angeführten herausgibt. Beide Reihen stammen aus dem Nachlasse der am 25. April 1852 gestorbenen Wilhelmine und die nunmehr von Biedermann zur Oeffentlichkeit gebrachte ist um so höher zu schätzen, als die Besitzerin sie wegen ihres die reinste Leidenschaft athmenden Inhaltes zurückbehalten und Bülow mehr die ethisch und pädagogisch gefaßten zur Benutzung gegeben hatte.

Nachdem K. mit Wilhelmine verlobt war, mochte ihn die Nothwendigkeit sich und seiner zukünftigen Frau eine Lebensstellung zu verschaffen, schon im Sommer 1800 nach Berlin getrieben haben. Der oben erwähnte Brief an Wilhelmine zeigt ihn bereits in Frankfurt unschlüssig in der Wahl einer Laufbahn. Die Rechte wollte er nicht studiren, „nicht die schwankenden, ungewissen, zweideutigen Rechte der Vernunft“; an die Rechte seines Herzens wolle er sich halten und ausüben wolle er sie, „was auch alle Systeme der Philosophie dagegen einwenden mögen.“ An das diplomatische Fach denkend schrieb er: „ach Wilhelmine, ich erkenne nur ein höchstes Gesetz an, die Rechtschaffenheit und die Politik kennt nur ihren Vortheil.“ Hält man diese Bekenntnisse zu den früher seinem Lehrer gemachten und möglichst noch absprechenderen über den Militärstand, so wird man gewahr, daß der Kreis der Wirklichkeit, in dem er am Ende doch leben mußte, für ihn in dem Maße enger und unleidlicher wurde, wie der seiner sittlichen und bereits keimenden künstlerischen Ideen sich erweiterte. In Berlin war er anfangs aber doch voll guter Hoffnung. Er ging daselbst mit dem – später Bülow von Varnhagen v. Ense als ein Mann voll hohen Ernstes der Seele geschilderten – mecklenburgischen Edelmanne v. Brockes, mit Ernst v. Pfuel, Rühle v. Lilienstern und dem Grafen zur Lippe um. Auch hatte er eine vorläufige Beschäftigung im Accise- und Zolldepartement, als Vorbereitung zur cameralistischen Laufbahn übernommen. Auf einem Besuche bei den Frankfurter Verwandten zeigte er sich aber auf einmal entschlossen eine Reise anzutreten, die für seine ganze Zukunft von höchster Wichtigkeit wäre, deren eigentlichen Zweck er aber selbst Ulriken und seiner Braut sehr geheim hielt. Wien sollte das Ziel sein, aber wie wir sogleich sehen werden, hinderten ihn die Umstände es zu erreichen. Nachdem er Brockes in Pasewalk aufgesucht und ihn, wie es scheint, vollständig in sein Geheimniß eingeweiht hatte, so daß dieser ein Geldopfer von 600 Thalern brachte und sich seinen Verwandten gegenüber so stellte, als sei K. nur sein Begleiter, reisten beide gegen Ende August 1800 zunächst nach Leipzig, wo sie einen wahren Studentenstreich ausführten, indem sie sich von dem Magnificus Wenck Matrikel auf falsche Namen ausstellen ließen, um sie als Reisepässe zu benutzen. Schon Koberstein hat versucht sich Aufklärung über diese geheimnißvolle Reise zu verschaffen; aber Kleist’s Nichte, die im Besitze [132] der Briefe ihrer Tante Ulrike war, konnte ihm nur sagen, diese hätte erklärt die Reise wäre politischer Natur gewesen. Wilbrandt hingegen glaubt, „daß K. auf dieser Reise nur sich selbst, d. h. seinen Dichterberuf und nichts anderes suchte.“ Diese Auffassung hat etwas sehr Edles und Bestechendes; aber manche Briefstellen, die sich an Thatsachen knüpfen, widersprechen ihr geradezu, namentlich der Umstand, daß K. in einem erst jetzt durch Biedermann veröffentlichten Schreiben aus Dresden vom 3. September 1800 seiner Braut anzeigt: „Soeben komme ich von dem englischen Ambassadeur Lord Elliot zurück, wo wir Dinge gehört haben, die uns bewogen nicht nach Wien zu gehen, sondern entweder nach Würzburg oder nach Straßburg.“ Die Wahrheit scheint nun darin zu bestehen, daß K. vom Berliner Zolldepartement einen auf Auskundschaften industrieller Verhältnisse gerichteten und politische Beobachtungen nicht ausschließenden Auftrag gehabt hat, daß sich aber theils durch den verlängerten Aufenthalt in Süddeutschland, dessen Naturschönheiten ihn anregten, theils durch das Zusammensein mit Brockes, die Keime des Dichterthums mächtiger in ihm zu regen anfingen. Nur so erklären sich die bald die realen, bald die idealen Ergebnisse dieser Reise betreffenden Schriftstellen.

Schon die bisher nach den sichersten Zeugnissen verfolgte eigenthümliche Entwickelung Kleist’s erklärt, warum sein mehr autodidaktisches Studieren in Berlin so wenig von langer Dauer sein konnte, wie das methodischere in Frankfurt. Sein Drang nach Gründlichkeit vermochte sein frühzeitiges Anlangen auf den Höhen menschlichen Strebens nicht zu verhindern, von denen herab das Gelehrtenthum ihm, zum Theil mit Unrecht und zu seinem Schaden, klein vorkam. „Diese Menschen“, schrieb er, „sitzen sämmtlich wie die Raupe auf einem Blatte, jeder glaubt seines sei das Beste und um den Baum kümmern sie sich nicht.“ Aber das bisher Erwähnte hatte den neuen Wendepunkt in seinem Leben nur vorbereitet; entscheidend wirkten folgende Ereignisse. Brockes, für den, wie der herrliche bereits die tiefste und zarteste psychologische Auffassung bekundende Brief an Wilhelmine aus Berlin vom 31. Januar 1801 in der Bülow’schen Sammlung beweist, K. einen wahrhaft antiken Freundescultus hatte, trennte sich von ihm, um ein Amt in Mecklenburg anzunehmen und mit ihm verlor er, wie er sich ausdrückte, den einzigen Menschen in der volkreichen Königsstadt, der jede, auch die geheimste Falte seine Herzens kannte. Andererseits und dies war ein weit unberechenbareres Unglück, hatte die Kant’sche Philosophie, die K., wie es scheint, erst seit Kurzem in Berlin kennen gelernt hatte, ihn zu einem der Verzweiflung nahen Skeptiker gemacht, so daß er in einem Briefe an Ulrike von Berlin den Februar 1801 wehmüthig ausrief: „selbst die Säule, an welcher ich mich sonst in dem Strudel des Lebens hielt, wankt. – – Ich meine die Liebe zu den Wissenschaften.“ Am 22. März schreibt er der Schwester: „es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Thorheit werden würde, deren die Kantische Philosophie so viele auf dem Gewissen hat. Mich ekelt vor dieser Gesellschaft und doch kann ich mich nicht losringen aus ihren Banden. Der Gedanke, daß wir hier von der Wahrheit nichts, gar nichts wissen, daß das was wir Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt und daß folglich das Bestreben sich ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligthum meiner Seele erschüttert. Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr.“ Der Braut schrieb er an demselben Tage über dieses innere Ereigniß zum Theil in denselben Ausdrücken und diese suchte ihn mit Gründen des gesunden Menschenverstandes zu widerlegen. Unter den vielen Geständnissen Kleist’s ist dieses eines der merkwürdigsten und bezeichnendsten und man darf sich wundern, daß seine Biographen es nicht schärfer ins Auge gefaßt haben: [133] Weniger der Zweifel an der Natur des Bestehenden, als der an das in ihm Entstehende vollendete seine Verzweiflung. Von Ideen und Idealen erfüllt, deren Gestaltung bei ihm, namentlich damals, nur langsam und mühselig vor sich ging, wandte er die Zweifel an der Wirklichkeit des Geschaffenen auf die Wahrheit seiner eigenen noch erwarteten Geschöpfe an und sah diese vernichtet, noch bevor sie gestaltet waren. Rechnet man eine fast selbstmörderische Strenge gegen das eigene Kunstgebilde, bei dem glühendsten Eifer nach Unsterblichkeit, oder wie er vor diesem Zauberworte erröthend sagt, „nach Erwerbung eines Eigenthums, das uns auch in das Grab folgt“, hinzu, so kann man die Tiefe der Abgründe und das Verzehrende der Widersprüche ermessen, in denen er lebte. So entschloß er sich aufs neue zu reisen, indem er hoffte „die Bewegung würde ihm zuträglicher sein als dieses Brüten auf einem Flecke“, das in Wahrheit weit mehr ein Stürmen als ein Brüten war. Er hatte, ohne bestimmten Plan, hauptsächlich Paris in Auge gefaßt und sich dorthin Empfehlungen an Gelehrte geben lassen. Als der Augenblick der Abreise herannahte, erschrak er über sein Vorhaben, wollte es jedoch, da man schon zuviel davon gesprochen hatte, nicht mehr aufgeben. Ulrike, der er früher versprochen hatte, sie im Falle er ins Ausland ginge mitzunehmen, lud er zwar zur Mitreise ein, hegte aber die stille Hoffnung, sie würde schon des Kostenpunktes halber ablehnen. Als sie nun aber wider Erwarten zusagte, schrieb K. in einer Art fatalistischer Anwandlung am 9. April an Wilhelmine: „wir dünken uns frei und der Zufall führt uns allgewaltig an tausend feingesponnenen Fäden.“ Er fügte diesem seinem Briefe sein Miniaturporträt hinzu, das er wegen Mangels an Geld nicht einfassen lassen konnte. Es ist dies das von August Krüger gemalte, wie es scheint, einzig vorhandene Bildniß Kleist’s und nach demselben hat Bülow von H. Sagert das Titelkupfer zu seiner Biographie Kleist’s anfertigen lassen. Der Kopf ist mehr einnehmend als schön, das Gesicht etwas breit mit starken Backenknochen, die Stirn trotz des übergekämmten Haares hoch, das Auge mit den scharf gezeichneten Augenbrauen ausdrucksvoll, der Mund schön geschnitten und sinnlich, das bartlose Kinn wohlgeformt. Der allgemeine Ausdruck ist, worüber K. sich beschwert, da der Maler ihm empfohlen hat zu lächeln, freundlich und läßt keine Seelenunruhe ahnen, so daß der sich Verabschiedende wol mit Berechtigung schrieb: „es liegt etwas Spöttisches darin, das mir nicht gefällt, ich wollte er hätte mich ehrlicher gemalt.“ Tieck sagt uns in seinen Vorreden zu den hinterlassenen und zu den gesammelten Schriften Kleist’s, daß er von mittlerer Größe und ziemlich starken Gliedern war. „Er schien ernst und schweigsam, keine Spur von vordringender Eitelkeit, aber viele Merkmale eines würdigen Stolzes in seinem Betragen.“ Er schien Tieck, der ihn übrigens, wie er selbst gesteht, nicht viel kannte, mit dem Bilde von Torquato Tasso Aehnlichkeit und mit diesem die etwas schwere Zunge gemein zu haben.

Unter den hier dargestellten Kämpfen hat K. eine „Geschichte meiner Seele“ geschrieben, von welcher Rühle eine Abschrift besessen haben und die litterarisch sehr werthvoll gewesen sein soll. Sie scheint leider gänzlich verloren zu sein, läßt aber vermuthen, daß die gleichlautenden Stellen in den Briefen an die beiden Mädchen auf den Text der Geschichte seiner Seele zurückzuführen sind. „Die Sprache“, hatte K. einmal Ulriken gebeichtet, „kann die Seele nicht malen“ und doch war er gewissenhaft und kühn genug es zu unternehmen. Mitte April 1801 abgereist, trafen die Geschwister, da sie in Deutschland zahlreiche Ausflüge gemacht und hervorragende Persönlichkeiten besucht hatten, erst am 10. Juli 1801 in Paris ein. Sie bezogen eine Wohnung in der Rue Royer Nummer 21 und gingen viel mit der Tochter des berühmten Astronomen Lefrançais de Lalande um, der 1751 von der französischen Akademie zu wissenschaftlichen Zwecken [134] nach Berlin geschickt worden war. Die Bekanntschaft dieser Familie hatten sie wahrscheinlich durch Alexander v. Humboldt gemacht, der sich damals gerade in Paris aufhielt. Ulrike legte Mannskleider an und glaubte sich auf diese Weise freier bewegen zu können; K., der zum Theil auch durch den preußischen Gesandten v. Lucchesini einige Gelehrte kennen lernte und Vorlesungen hörte, kam bald von diesen Versuchen wieder zurück. So sehr man einerseits auch bedauern muß, daß das ungeheure Treiben der Weltstadt außer Stande war die geistige Eingezogenheit Kleist’s zu verändern, so sehr muß man andrerseits die Unbestechlichkeit bewundern, mit welcher seine tief-sittliche Lebensanschauung den Freuden des Pariser Lebens gegenüber stand. Das Jahresfest der Erstürmung der Bastille, dem er beiwohnte, konnte nach seiner Ueberzeugung nicht unwürdiger als durch diesen Aufwand frivoler Volkszerstreuungen begangen werden. Keine der gemachten Anstrengungen erinnerte, wie er am 18. Juli, vier Tage nach dem Feste, der mit dem Maler Lohse verlobten Henriette v. Schlieben, die er in Dresden kennen gelernt hatte, schreibt, an die Hauptgedanken. Rousseau würde sich schämen, wenn man ihm sagte, daß dies sein Werk sei. Wilhelminen berichtet er am 15. August, er könne ihr nicht beschreiben, welchen Eindruck dieser Anblick der höchsten Sittenlosigkeit bei der höchsten Wissenschaft auf ihn mache. Die französische Nation sei reifer zum Untergange als irgend eine andere europäische Nation und wenn er sich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden die Werke Rousseau’s, Helvetius’ und Voltaire’s stehen, denke er, was haben sie genützt? Dieser Brief, einer der merkwürdigsten, die wir von K. besitzen, läuft in einer scharfsinnigen philosophischen Abhandlung aus, die an Geist und Form eine auffallende Aehnlichkeit mit einem Essay von Montaigne hat und die Alles in Allem genommen spinozistisch ist. „Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu ihn zu braten – und mit Andacht ißt er ihn auf. Wenn die Ueberzeugung solche Thaten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen? Was heißt das auch etwas Böses thun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen anderen und oft die schlechteste erzeugt die beste. Sage mir: „wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses gethan?“ Die Philosophie des Tragikers war somit bei K. schon in Paris vollständig ausgebildet und es kann kaum einen wichtigeren Beitrag zur Phänomenologie des Kunstprocesses geben als diesen, weil durch ihn bewiesen wird, daß wenn bei vielen Dichtern sich erst die Gestalten und dann die Ideen offenbaren, bei anderen das grade Gegentheil der Fall ist. Allerdings ist diese Kleist’sche Philosophie mehr dem Gefühl als dem Verstande entsprungen, aber dennoch entwickelte sich das plastische Element, das Kunstkörperliche bei ihm langsamer und später. Wie unendlich erhaben K. aber damals schon über dem Weltgetriebe überhaupt stand, wie weit sein Ideenkreis sich erstreckte, mag folgende Stelle aus demselben Briefe erweisen: „Wer wird nach Jahrtausenden von uns und unserem Ruhme reden? Was wissen Asien und Afrika und Amerika von unseren Genien? Und nun die Planeten? Und die Sonnen? Und die Milchstraße? Und die Nebelstraße?“ Ohne daß K. es ahnte, entwickelte Paris in ihm seine verschiedenen Anlagen, auch die humoristisch-satirische, denn bis dahin hatte er noch nichts geschrieben, was dem ergötzlichen Briefe an Luise „die goldene Schwester“ vom 16. August auch nur ähnlich wäre: zuerst die in Schwarz gemalte fast griesgrämige Darstellung von Paris und seiner Sittenverderbtheit, und endlich der folgende poetische Ausbruch, der bereits die Bilderhast in den früheren Briefen an Poesie unendlich übertrifft: „Große, stille, feierliche Natur, Du die Kathedrale der Gottheit; deren Gewölbe der Himmel, deren Säulen die Alpen, deren Kronleuchter [135] die Sterne, deren Chorknaben die Jahreszeiten sind, welche Düfte schwingen in den Rauchfässern der Blumen, gegen die Altäre der Felder, an welchen Gott Messe liest und Freuden austheilt, zum Abendmahl unter Kirchenmusik, welche die Ströme und die Gewitter rauschen, indessen die Seelen entzückt ihre Genüsse an dem Rosenkranze der Erinnerung zählen. So spielt man mit Dir!“ – Doch dies könnte man immerhin noch Reflexionspoesie nennen, aber das reizende Bild des Pariser Liebespärchens, das diesen recht eigentlich zur Litteratur Kleist’s gehörenden Brief schließt, ist bereits ächte, Höheres verheißende Poesie. Endlich muß als Frucht dieses scheinbar fruchtlosen Pariser Aufenthaltes noch angeführt werden, daß der Franzosenhaß, der sich damals schon bei K. zeigte, sich theils durch den bloßen Gegensatz des Deutschen und Romanischen, theils durch das hohe Rechtsgefühl des Dichters, das später in Michael Kohlhaas so schön zum Ausdrucke kam, entband.

Wer sich in diese philosophisch poetische Stimmung Kleist’s vertieft und vorhandenen Andeutungen nach für wahrscheinlich hält, daß er schon in Paris an dem Drama „Robert Guiskard“ gearbeitet hat, was seine Verachtung der Außenwelt allerdings noch deutlicher erklärte, den kann sein im October 1801 gereifter Entschluß sich in der Schweiz anzukaufen und Landmann zu werden, kaum Wunder nehmen. Schon vor der Pariser Reise und namentlich in einem längeren Berliner Briefe vom 13. November 1800 hatte er Wilhelmine einen ähnlichen Plan zum Stillleben mitgetheilt und sich entschlossen gezeigt „dem ganzen prächtigen Bettel von Adel, Stand, Ehre und Reichthum zu entsagen“, wenn er nur Liebe bei ihr findet. Am 10. und am 27. October 1801 schrieb er über das neue Vorhaben an Wilhelmine und bat sie es zunächst ihrer und seiner Familie zu verschweigen. Er fühlte daß es unbescheiden war ein Opfer von ihr zu verlangen, wie das auf dem Lande seine Gefährtin zu werden; aber wenn sie es selbst bringen könnte? Ulrike, das gesteht er der Braut offen ein, hat alles Mögliche gethan ihn, wie sie es nennt, auf den rechten Weg zurückzuführen, sie glaubt nicht einmal, daß die Ausführung des Planes ihn glücklich machen wird. Aber obgleich Wilhelmine sich gegen denselben erklärt hatte, stand sein Entschluß fest und im November 1801 verließ er, Ulrike bis Frankfurt a. M. begleitend, Paris. Die Schwester, für welche eine Schweizerreise im Winter an und für sich schon mißlich gewesen wäre, kehrte nach Hause zurück, während K. mit dem Maler Lohse, dem er in Frankfurt begegnete und der nach Italien wollte, zu Fuß nach der Schweiz ging. Durch das gegen Ende des Jahres 1881 bei Spemann in Stuttgart erschienene Werk: „Heinrich v. Kleist in der Schweiz“, von Theophil Zolling, wird dieser wichtige, wenn auch nur kurze Abschnitt im Leben des Dichters zum ersten Male ausführlicher beleuchtet. Unter geistvollen, wenn auch oft zu strengen Ausführungen über K. selbst hat Zolling den Schweizer Kreis des 25jährigen Dichters bis in sein engstes, den alten Wieland und die Wittwe Salomon Geßner’s nahe berührendes Familienleben und bis zur Einwirkung der damaligen politischen Wirren auf diese Verhältnisse dargestellt. Am 16. December 1801, einige Tage nach seiner Ankunft in Basel, schrieb K. in den liebevollsten Ausdrücken an Ulrike; er ließ seinem Schmerze über die Trennung freien Lauf und hoffte, daß sie ihm Alles verzeiht. Heinrich Zschokke, den er aufsuchte und der, da er in Frankfurt a. O. studirt und gelehrt hatte, ein alter Bekannter des Kleist’schen Hauses sein mochte, war augenblicklich, von Schweizer Staatsgeschäften ausruhend, nach Bern gezogen, wo er mit Heinrich Geßner, dem zweiten Sohne Salomon Geßner’s, litterarisch verkehrte. So lernte K., als er nach Bern ging, durch Zschokke auch Geßner und Wieland’s ältesten Sohn Ludwig kennen. Heinrich Geßner hatte nämlich Wieland’s vierte, durch Schönheit ausgezeichnete Tochter Charlotte Wilhelmine geheirathet und der alte Wieland [136] seinen etwas unfolgsamen und freigeistig gesinnten Aeltesten zu dem Schwiegersohne nach Bern geschickt, wo dieser sich, nachdem er die Orell-Geßner-Füßli’sche Buchhandlung verlassen, nach kürzerem Aufenthalte in Aarau und Luzern, als Helvetischer National-Buchdrucker und selbständiger Buchhändler angesiedelt hatte.

Geßner und Wieland hatten zwar nicht entfernt die dichterische Anlage Zschokke’s und noch viel weniger Kleist’s, aber durch Ursprung und Bildung waren sie mit der gesammten poetischen Bewegung in Deutschland verwachsen und Wieland, von dem später Mancherlei gedruckt wurde, ließ es schon damals an Ausarbeitungen und humoristischen Ergüssen nicht fehlen. So bewegte sich K. in einem im Ganzen anregenden Kreise und es kam besonders in Zschokke’s Wohnung zu gegenseitigen Mittheilungen der geistigen Erzeugnisse, unter Anderem auch zu der des von Kleist wahrscheinlich schon früher begonnenen und in der Schweiz weitergeführten Trauerspiels: „Die Familie Schroffenstein“, von welchem Zschokke in seiner „Selbstschau“ sagt, daß „im letzten Act das allseitige Gelächter der Zuhörerschaft wie auch des Dichters so stürmisch und endlos wurde, daß bis zu seiner letzten Mordscene zu gelangen Unmöglichkeit wurde.“ Trotzdem brachte K. auf seine neuen Freunde vollkommen die Wirkung eines Dichtergenies hervor, wie dies aus den Eindrücken, welche der alte Wieland in Weimar durch die Briefe seines Sohnes erhielt und aus den Geständnissen Zschokke’s ersichtlich ist. In diesen heißt es unter Anderem: „Wir vereinten uns auch wie Virgil’s Hirten zum poetischen Wettkampf. In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich: „la cruche cassée.“ In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolikakruge und einen großnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe zu einer Satire, für K. zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden. Kleist’s „Zerbrochener Krug“ hat den Preis davongetragen.“ Da dieses Lustspiel wie es jetzt vorliegt, erst viel später und nicht in der Schweiz vollendet worden ist, so muß das Berner Preisstück wol nur eine vorläufige Bearbeitung gewesen sein. Wenn ferner, wie es heißt, Wieland K. veranlaßt hat die Handlung der Familie Schroffenstein von Spanien nach der Schweiz oder Deutschland zu verlegen, so muß es auffallen, warum die Frage noch nicht gestellt worden ist, wie das Stück ursprünglich geheißen hat. Zschokke spricht von dem vorgelesenen und ausgelachten Stücke, indem er es unter dem Titel nennt, den es heute noch führt.

Wie dem auch sein mag, der Berner Dichterkreis löste sich bald wieder auf. In Folge ausgebrochener Unruhen, die K. fürchten ließen die Schweiz könnte unter französische Herrschaft fallen, gab er den Plan ein kleines Gut zu kaufen, obgleich Ulrike ihm bereits das Geld dazu vorgeschossen hatte, auf und nachdem er im März 1802, in Gesellschaft Wieland’s, Zschokke zu Fuß nach dem Aargau begleitet hatte (eine Reise die Letzterer in seiner Selbstschau das Umherschwärmen von Schmetterlingen nennt), vertauschte er seine Wohnung in Thun mit einem völlig abgelegenen Häuschen auf der Aarinsel. Hier, wo eine Fischerstochter ihm die Wirthschaft führte, vollzog sich die Auflösung des Verhältnisses zu Wilhelmine, über welche die Veröffentlichung Biedermann’s endlich nähere Aufschlüsse gibt. K. hatte schon von Frankfurt a. M. aus, am 2. December 1801, Wilhelminens Einwände gegen das Landleben zu widerlegen gesucht. „Alles“, schrieb er, „ist vergessen, wenn Du Dich noch mit Fröhlichkeit und Heiterkeit entschließen kannst“, und bedeutungsvoll fügt er hinzu: „die Antwort auf diesen Brief soll entscheidend sein.“ Wilhelmine antwortete um die Zeit des Jahreswechsels und stürmte, wie K. selbst gesteht, mit vieler Herzlichkeit auf ihn ein zurückzukehren ins Vaterland. Nachdem er sie ein viertel Jahr ohne Rückantwort gelassen hatte, beschwerte sie sich am 10. April 1802 bitter und zeigte ihm zugleich den plötzlichen Tod ihres [137] Bruders an, der sie selbst dem Tode nahe gebracht hatte. Trotzdem schickte K. ihr aber am 20. Mai seinen Abschiedsbrief, in welchem man, außer einer schlecht verhüllten Härte, einen Widerspruch mit sich selbst finden könnte, wenn man nicht im Auge behalten müßte, daß K. sich überhaupt in Extremen bewegte und vom Weibe die unbedingteste Aufopferung träumte und dichtete. Er gesteht einerseits ein, daß er, nachdem er wegen des Volksaufstandes die feste Ansiedlung in der Schweiz aufgegeben, angefangen habe für ein Glück anzusehen, daß sie ihm nicht in die Schweiz habe folgen wollen und dennoch knüpft er an diesen Mangel von Ergebung an, um das Verhältniß aufzulösen. Wenn er, so heißt es in diesem letzten Schreiben an Wilhelmine, nicht mit Ruhm ins Vaterland zurückkehren könne, so geschähe es nie. In dieser Lage wecke ihr Brief wieder die Erinnerung an sie, „die glücklicher Weise ein wenig ins Dunkel getreten war“. Darum solle sie ihm nicht mehr schreiben, er habe keinen anderen Wunsch als bald zu sterben. In diesen inneren Zerrüttungen sind indessen zwei Lichtpunkte hervorzuheben: in der mehr oder weniger berechtigten Ueberzeugung, in der Fremde und in der Einsamkeit seinen Dichterberuf besser erfüllen zu können, opferte K. ihm seine Liebe, die eine ernste war und machte gerade zu jener Zeit Riesenanstrengungen ihm nachzukommen. Er arbeitete auf der Aar-Insel an verschiedenen Werken, sicher an dem ihn wahrhaft verzehrenden „Robert Guiskard“, vielleicht aber auch an Entwürfen zu den nicht auf die Nachwelt gekommenen Trauerspielen „Peter der Einsiedler“ und „Leopold von Oesterreich“. Nach mündlicher Mittheilung Pfuel’s an Wilbrandt war die Hauptscene des ersten Actes dieses letzteren Drama’s (weiter war es überhaupt nicht gediehen) die, daß die Ritter Leopolds vor der Schlacht von Sempach würfeln, wer wol umkommen wird und wer nicht. Da nach einander alle Würfel schwarz fallen, so verstummt allmählich das Lachen, das die ersten Würfe begleitete und ahnungsvoll sehen die Ritter ihren Untergang voraus. In Folge einer Erkrankung im Juni 1802 siedelte K. nach Bern über, wo der Arzt und Apotheker Dr. Wyttenbach, ein Freund Zschokke’s, ihn behandelte. Er mußte sich von dort im August in verzweifelter Stimmung an seinen Schwager v. Pannewitz um Geld wenden. Ulrike kam selbst und begleitete ihn nach seiner Genesung im October nach Deutschland zurück. Er begab sich, den aus der Schweiz ausgewiesenen Ludwig Wieland mitnehmend, zunächst nach Jena und dann sehr bald nach Weimar, wo er den Dichter des Oberon auf seinem zwei Stunden entfernt gelegenen Gute Osmanstädt besuchte. „Wiewol“, schrieb Wieland später (am 10. April 1804) an einen Pfarrer bei Wiesbaden, der ihn um Aufschlüsse über den ihm räthselhaft vorkommenden jungen Mann gebeten hatte, „mir nichts mehr zuwider und peinlich ist als ein überspannter Kopf, so konnte ich doch seiner Liebenswürdigkeit nicht widerstehen.“ Kleist’s Zurückhaltung würde vermuthlich ein näheres Verhältniß abgeschnitten haben, wenn der gutmüthige alte Dichter nicht durch seinen Sohn erfahren hätte, daß ihm eine Einladung in Osmanstädt zu wohnen sehr erwünscht wäre. Sie fand statt und wie Wieland in seinem Briefe an jenen Pfarrer weiter erzählt, wurde K. sein Commensal auf eben dem Fuß, als ob er zu seiner Familie gehörte. Nach langem Drängen gestand K., auf welchen Wieland’s hübsche Tochter nicht ohne Eindruck geblieben war, seinem freundlichen Wirth endlich, „daß er an einem Trauerspiel arbeite, aber ein so hohes und vollkommenes Werk darin seinem Geiste vorschwebe, daß es ihm noch immer unmöglich gewesen sei es zu Papier zu bringen. Er habe zwar schon viele Scenen nach und nach aufgeschrieben, vernichte sie aber immer wieder, weil er sich selbst nichts zu Dank machen könne.“ Es gelang Wieland endlich ihn zu bewegen, ihm einige der wesentlichsten Scenen und mehrere „Morceaux“ aus anderen aus dem Gedächtniß vorzudeclamiren. Wieland gesteht, daß er erstaunt war und er glaubt nicht [138] zu viel zu sagen, wenn er versichert: „wenn die Geister des Aeschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten eine Tragödie zu schaffen, sie würde das sein, was Kleist’s „Tod Guiskard des Normannen“, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er ihn damals hören ließ.“ „Von diesem Augenblicke an“, fährt Wieland fort, „war es bei mir entschieden, K. sei dazu geboren die große Lücke in unserer dramatischen Litteratur auszufüllen, die, nach meiner Meinung wenigstens, selbst von Schiller und Goethe noch nicht ausgefüllt worden ist. In Jena hatte K. Schiller, in Weimar Goethe besucht und war von beiden freundlich aufgenommen worden. Daß er den „Guiskard“ gerade in Weimar wiederholt umdichtete und damit, wie Pfuel Wilbrandt mitgetheilt hat, Goethe, so hoch er ihn auch verehrte, „den Kranz von der Stirne reißen wollte“, ist für diese den Himmel aus Abgründen stürmende Natur sehr bezeichnend.

Anfang März 1803 ging K. nach Leipzig und nahm dort Unterricht in der Declamation bei Kerndörffer. Die Schweizer Freunde hatten indessen „Die Familie Schroffenstein“ ohne den Namen des Verfassers herausgegeben und sie fand in einigen Zeitschriften mehr Lob als man erwarten konnte, während K. seiner Schwester am 14. März schrieb, sie möge das Stück ungelesen lassen, es sei eine „elende Scharteke“. Daß es im Uebrigen nicht durchgedrungen war, beweist der Umstand, daß Männern wie Varnhagen, Fouqué, Chamisso, die K. in Berlin kennen lernten, bei dessen Verschwiegenheit unbekannt blieb, daß er der Dichter dieser Tragödie sei. Sie ist sein unreifstes größeres Werk, höchst gewagt in der Motivirung und zum Theil auch im Versbau vernachlässigt, was zu bestätigen scheint, daß K., der sonst unaufhörlich feilte, das Stück aufgegeben hat. Die Festigkeit der Charakteristik und einzelne Schönheiten vermögen für diese Mängel nicht zu entschädigen.

Wir finden K. dann in Dresden, wo er Pfuel, Rühle und die Familie Schlieben wiedersah. Seine Gemüthsstimmung war so verdüstert, daß er Henriette v. Schlieben, die wegen ihres Bräutigams besorgt war, von Doppelmord sprach und Pfuel wiederholt den gemeinschaftlichen Selbstmord antrug. Dieser suchte ihn durch ein neues Reiseproject zu zerstreuen, und nachdem Ulrike wiederum mit Geld und durch persönliches Erscheinen in Dresden zu Hülfe gekommen war und er auch die Freude erlebt hatte von Wieland einen Brief zu erhalten, in welchem dieser ihm schrieb, er müsse den „Guiskard“ vollenden und wenn der ganze Kaukasus auf ihn drückte, reiste er am 20. Juli mit Pfuel, meist zu Fuß, nach der Schweiz. In Genf brach seine volle Verzweiflung aus: er war zu der Ueberzeugung gekommen, daß er den „Guiskard“ nicht vollenden könne und schrieb am 5. October 1803 an Ulrike jenen merkwürdigen bei Koberstein unter Nr. 25 mitgetheilten Brief, der als ein wahres Denkmal dieses ungeheuern Kampfes der Seelenkräfte gelten kann. „Ich habe nun ein halbtausend hintereinander folgende Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet, an den Versuch gesetzt zu so vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie herabzuringen: jetzt ruft mir unsere heilige Schutzgöttin zu, daß es genug sei. Sie küßt mir gerührt den Schweiß von der Stirn und tröstet mich, wenn jeder ihrer lieben Söhne nur ebensoviel thäte, so würde unserem Namen ein Platz in den Sternen nicht fehlen. – – – Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes oder gar keins.“ Die Freunde gingen nun durch Südfrankreich nach Paris; hier aber zerfiel K. in einem Streite über Sein und Nichtsein förmlich mit Pfuel, der, während ersterer in der Hitze hinweggerannt war, auszog und nur ein Billet an ihn zurückließ. Hierauf verbrannte K. alle seine Papiere, worunter der bereits mehrmals zerstörte „Guiskard“ und, wie Bülow vermuthet, die Dichtungen „Peter der Einsiedler“ und „Leopold von Oesterreich“ und ging, während Pfuel, von bösen Ahnungen getrieben, ihn bereits [139] in der Morgue suchte, nach Boulogne sur Mer, wo er in dem Zuge Napoleons gegen England den Tod zu finden hoffte. Dieser Entschluß, der ihn in Widerspruch mit seinen französischen Antipathien setzte, stand bei ihm so fest, daß er Rekruten denen er unterwegs begegnete, zum Glück vergeblich anbot an die Stelle eines von ihnen einzutreten. Ein französischer Stabsarzt, der ihn zufällig erkannte, rettete ihn vor der Gefahr als Spion betrachtet und erschossen zu werden, nahm ihn als Bedienten mit nach St. Omer und von hier aus verschaffte sich K. einen Paß von dem preußischen Gesandten in Paris, der ihn aber direct nach Potsdam zurückverwies. In Mainz erkrankte er lebensgefährlich, wurde jedoch durch den Arzt v. Wedekind nach sechsmonatlichem Leiden wieder hergestellt und nachdem ihm der krause Einfall durch den Kopf gegangen war, sich in Coblenz bei einem Tischler zu verdingen und der bereits erwähnte Pfarrer, bei dem er sich eine Zeit lang in der Gegend von Wiesbaden aufhielt, daran gedacht hatte, ihn im Bureau eines seiner Freunde unterzubringen, kehrte er im Juni 1804 nach Potsdam zurück. Hier standen ihm große Demüthigungen bevor. Er mußte den ihm früher unerträglichen Plan einer Staatsanstellung wieder aufnehmen, während Lucchesini rücksichtslos genug gewesen war den Brief, mit welchem K. sich von St. Omer aus an ihn gewandt hatte, in die Hände des Königs gelangen zu lassen, so daß Friedrich Wilhelm III. in seiner ungünstigen Meinung über den armen Dichter nur noch bestätigt wurde. Der Generaladjutant v. Köckeritz, dem K. sein Gesuch vortrug, warf ihm unter Anderem vor „Versche“ gemacht zu haben, während K. ihm, wie er der Schwester (der er übrigens hatte versprechen müssen, der Dichtkunst ganz den Rücken zu kehren) von Berlin am 24. Juni schreibt, unter Thränen gestand, „seine Einschiffungsgeschichte hätte gar keine politischen Motive gehabt, sie gehöre vor das Forum eines Arztes weit eher als des Cabinets.“ Er theilte Ulriken auch mit, daß er an den König geschrieben habe, „doch weil das Anerbieten meiner Dienste wahrscheinlich fruchtlos bleiben wird, so habe ich es wenigstens in einer Sprache gethan, welche geführt zu haben mich nicht gereuen wird. Du selbst hast es mir zur Pflicht gemacht mich nicht zu erniedrigen; und lieber die Gunst der ganzen Welt verscherzen als die Deinige!“ Unter bangen Hoffnungen und Schwankungen verstrich das Jahr 1804. Eine Zeit lang hatte sich K. die Aussicht dargeboten unter dem wegen seiner glänzenden Eigenschaften bekannten und K. von Potsdam her befreundeten Major v. Gualtieri, der als Gesandter nach Madrid ging, in die diplomatische Laufbahn zu treten; dann war auch die Rede davon ihn in Baireuth anzustellen; endlich aber gab die Gnade des Königs sich darin kund, daß K., welcher allen diesen Plänen leidend und skeptisch gegenüberstand, als Diätar zur Domänenkammer in Königsberg kam, wo er das Glück hatte, den dort gleichfalls beamteten Pfuel, der von ihm übrigens schon in Potsdam mit einem Besuche überrascht worden war, zu finden. Eine eigenthümliche Wendung des Schicksals war es, daß gerade dort seine ehemalige Braut Wilhelmine nunmehr als Gattin W. T. Krug’s lebte, Krug’s, der demjenigen Philosophen im Lehrstuhl gefolgt war, welcher durch seine „Kritik der reinen Vernunft“ den tiefen Riß in seinem Gemüthe verursacht, ja ihn dem Wahnsinn nahe gebracht hatte. Der Schwerpunkt seines Leidens war indessen so verändert, daß er bei dem Rivalen Hausfreund werden konnte und in Gesellschaft Wilhelminens und der „goldenen Schwester“ sogar neue Nahrung für sein poetisches Schaffen fand. Da ihm, wie es scheint durch Vermittlung von Ulriken’s am Hofe verkehrenden Bekannten, von der Königin Luise eine jährliche Pension von sechzig Friedrichsdor erwirkt worden war und er außerdem Diäten bezog, so konnte er, trotz des Zusammenschmelzens seines kleinen Vermögens, seine materielle Existenz eine leidliche nennen; aber in das Beamtenthum konnte er sich schlechterdings [140] nicht finden, obgleich er mit seinem Chef, dem späteren Minister Freiherr v. Altenstein, auf einem freundschaftlichen Fuße stand.

Bei sorgfältiger Prüfung ergibt sich, daß der Königsberger Aufenthalt den wichtigsten Abschnitt im Leben Kleist’s bildet: erst dort, mit dem Eintritte in das Mannesalter, reifte er zum wahren Dichter heran. Gleichzeitig übten die politischen Ereignisse einen mächtigen Einfluß auf ihn aus und die Bedrängniß der vaterländischen Erde zog ihn gewissermaßen von seinen abstracteren Idealen zu dieser überhaupt herab. Schon Ende December 1805 schrieb er an Rühle, zwar mit Nachlässigkeiten im Stile, aber offenbar in ungesuchtem ersten Wurf, einen Brief politischen Inhaltes, in welchem sich nicht allein ein wahrer Seherblick kundgab, sondern auch ein Muth der Ueberzeugung, der ihm, den die geringste Unverschwiegenheit brotlos machen konnte, zu hoher Ehre gereicht. Seine poetischen Arbeiten in Königsberg waren vielseitig. Er verfaßte dort die wenn auch im Hauptmotiv anstößige, doch in der Ausführung mustergültige Novelle „Die Marquise v. O.“ und einen Theil des „Michael Kohlhaas“, zu welchem Pfuel, der aus Schöttgen’s und anderen Chroniken geschöpft haben mochte, die erste Anregung gab, indem er den Stoff als für ein Drama geeignet hielt. Ferner arbeitete er an dem, wie wir wissen schon in der Schweiz erdachten „Zerbrochenen Krug“, am „Amphitryon“ und aller Wahrscheinlichkeit nach auch an der „Penthesilea“. Aus dem Staatsdienste zog er sich, wie vorauszusehen war, zurück, that dies aber, namentlich aus Rücksichten für Altenstein, unter Beobachtung gewisser Formen. Da nach den schweren Kriegsereignissen die Pension der Königin fast gleichzeitig mit der Weiterzahlung der Diäten aufhörte, gerieth er aufs Neue in Bedrängniß. Er kränkelte und seine damaligen Briefe an Ulrike ergehen sich in herzzerreißenden Stoßseufzern über die Lage des Vaterlandes. In seinen Briefen ist jedoch, bezeichnend genug, keine Spur zu finden, daß er gegenüber dieser äußersten Noth des Vaterlandes daran gedacht hätte selbst wieder Soldat zu werden; aber derselbe dichterische Egoismus, der ihn daran verhinderte, machte aus dem preußischen Lieutenant einen Herold Deutschlands. Doch bevor es dazu kam, sollten ihn seltsame Schicksale erreichen. Im Januar 1807 mit den Offizieren Pfuel, Gauvin, Ehrenberg und einer größeren Reisegesellschaft von Königsberg abgereist, um nach Berlin zu gehen, hatte er sich in Cöslin einen Paß verschafft und denselben in Damm und Stettin, wo er zuerst französische Truppen fand, visiren lassen. Nachdem die übrige Reisegesellschaft sich unterwegs getrennt und Pfuel zu seinem Glücke kurz vor Berlin den Weg nach Nennhausen zu Fouqué genommen hatte, erreichte K. mit Gauvin glücklich Berlin; hier wurden sie aber, weil sie von Königsberg kamen, K., was bei ihm ein Naturfehler war, leicht in Verlegenheit gerieth und ihr Austritt aus dem Heere als eine Fälschung angenommen wurde, auf Befehl des Generals Clarke, als vermeintliche Parteigänger kriegsgefangen nach Frankreich abgeführt und unter schlechter Behandlung in das Schloß Joux bei Pontarlier gesperrt. Den Bemühungen Ulriken’s, deren französischer Brief an den General Clarke vom 8. April 1807, sowie dessen Antwort in der Koberstein’schen Sammlung enthalten ist, verdankte K., den man anfangs hatte Noth leiden, später aber in Chalons an der Marne gleich den anderen Kriegsgefangenen frei hatte herumgehen lassen, ungefähr gleichzeitig mit dem Tilsiter Frieden seine Befreiung. Die Gefangenschaft scheint die Muse indessen nicht von seiner Seite verscheucht zu haben, denn er beschäftigte sich während derselben vorzugsweise mit der „Penthesilea“ und überhaupt mit der Vollendung der früher begonnenen Arbeiten.

K. ging über Berlin nach Dresden. Er war unterwegs auf einem Gute in der Lausitz mit Ulrike zusammengekommen und hatte ihr Vorschläge gemacht sich gemeinsam mit ihr niederzulassen; aber wenn sie schließlich auch fühlen mochte, [141] daß sie den Bruder in seiner dichterischen Laufbahn nicht aufhalten könnte, so scheute sie doch das Mitleben der damit verbundenen Aufregungen und ließ ihn allein nach Dresden ziehen. Er hatte diese Stadt offenbar gewählt, weil sich dort während der Kriegsstürme ein gewisses geistiges Leben zusammengefunden hatte und weil namentlich Rühle, der inzwischen als Major und Kammerherr des Herzogs von Weimar dessen Sohn Bernhard in Dresden erzog, sowie Pfuel, der nach dem Frieden von Tilsit aus dem Heere getreten war, sich daselbst aufhielten. Auch hatte Rühle in Dresden, um K. die Rückkehr aus Frankreich zu erleichtern, das diesem weit werthvollere Manuscript des „Amphitryon“ für nur 24 Louisdor an den Buchhändler Arnold verkauft, wo es mit einer Vorrede von Adam Müller herausgekommen war, so daß K. die beste Aussicht hatte in Dresden als bekannter Dichter auftreten zu können. Er fand sich in dieser Erwartung nicht getäuscht, denn er kam dort mit Leichtigkeit in einen sehr anregenden und anerkennenden Kreis: zu dem Appellationsrath Körner, wo Schiller’s günstiges Urtheil sein Erscheinen vorbereitet hatte, zu dem österreichischen Gesandten v. Buol, wo Poesien von ihm vorgetragen wurden und an dessen Tafel er sogar mit einem Lorbeerkranze gekrönt wurde, zu der Familie v. Haza und anderen. Auch Gotthilf Heinrich Schubert siedelte sich damals in Dresden an und stand in vertrautem Umgange mit Adam Müller, der dort nicht ohne Beifall besonders ästhetische Vorlesungen hielt. Zu diesem, der damals erst 29 Jahre alt war, trat K., von dessen Enthusiasmus für seine Dichtungen geblendet, in ein engeres Verhältniß, das für sein übriges Leben entscheidend wurde. Nachdem der mehr mit glänzendem als tiefem Geiste begabte Schriftsteller und spätere österreichische Diplomat schon im Mai 1807, als K. noch in Chalons Gefangener war, dem in den Dresdener Kreisen sehr beliebten Gentz den Amphitryon mit mehr als empfehlenden Worten geschickt hatte, war ihm darüber von dem Freunde unter anderen Lobeserhebungen geantwortet worden: „Selbst da, wo dieses Stück nur Nachbildung ist, steigt es zu einer Vollkommenheit, die nach meinem Gefühl weder Bürger noch Schiller, noch Goethe, noch Schlegel in ihren Uebersetzungen französischer oder englischer Theaterwerke jemals erreichten. Denn zugleich so Molière und deutsch zu sein ist wirklich etwas wundervolles.“ Dieses Urtheil ist um so bemerkenswerther, als Gentz bekanntlich ein großer Kenner der französischen Sprache war und sich später zu den gleichzeitigen Werken Kleist’s, zur „Marquise v. O.“ und zur „Penthesilea“ ablehnend verhielt.

Auf Müllers Anregung entstand nun der Plan zur Errichtung einer Buch-, Karten- und Kunsthandlung, bei welcher außer K. auch Rühle und Pfuel sich betheiligen sollten. Der in praktischen Dingen unerfahrene K., dem es einleuchtete, daß er die buchhändlerischen Vortheile der Verleger selbst einstreichen könnte, verlockte Ulrike mit 500 Thalern statt seiner als Actionär einzutreten, was eigentlich nur ein verkapptes neues Anleihen war. Das Hauptunternehmen der Buchhandlung sollte die Herausgabe eines Journals für die Kunst, des „Phöbus“ werden, in welchem K. den poetischen, Müller den philosophischen und der damals sehr bewunderte Maler Ferdinand Hartmann, aus der Schule Carstens’, der Professor an der Dresdener Akademie war, den Theil der bildenden Künste leiten sollte. Dieses Unternehmen kündigte sich unter um so günstigeren Aussichten an, als sogar Goethe, Wieland, Johannes v. Müller und Andere Beiträge versprachen; auch wurde der Buchhandlung der Verlag der Schriften von Novalis angeboten und so eine für K. sehr günstige Lage vorbereitet. Es scheint, daß die Freunde, wol um sich vor feindseligen französischen[WS 2] Einflüssen sicher zu stellen, sich sogar das Wohlwollen des französischen Gesandten in Dresden erworben hatten, denn K. zeigt am 25. October 1807 Ulriken an, daß der Gesandte, dessen nähere Bekanntschaft ihm nun geworden sei, an Clarke [142] (den früheren Gouverneur von Berlin, damaligen Kriegsminister und späteren Herzog von Feltre) geschrieben habe; doch bittet er sie nicht voreilig zu sein und politische Folgerungen aus diesem Schritte zu ziehen, über dessen eigentliche Bedeutung er sich hier nicht weitläufiger auslassen könne. Merkwürdig genug bleibt immerhin, daß (aller Wahrscheinlichkeit nach Ulrike selbst) an dieser Stelle des Briefes vier Zeilen mit großer Sorgfalt ausgestrichen hat. Bei der Vorstellung einer Schlangenwindung Kleist’s dem Franzosen gegenüber, muß man unwillkürlich an die Haltung Hermanns gegenüber Varus denken. – Der mit dem Januar 1808 begonnene „Phöbus“, der in schön ausgestatteten Monatsheften herauskam und in welchem mit die besten Werke Kleist’s, wie Theile der „Penthesilea“, des „Zerbrochenen Kruges“, des „Käthchens von Heilbronn“, des „Robert Guiskard“, des „Michael Kohlhaas“, der „Marquise von O.“, „Epigramme“, „Die Jünglingsklage“, „Der Schrecken im Bade“, herauskamen, konnte sich indessen doch nicht länger als ein Jahr halten, woran zum Theil die thätigen, zum Theil die nur in Aussicht gestellten Mitarbeiter, zum Theil aber auch die Zeitumstände schuld waren. Die letzte Nummer erschien verspätet erst im Februar 1809; der Rest der Auflage mußte, mit der Auflösung des ganzen Geschäftes, der Walther’schen Buchhandlung in Dresden überlassen werden.

Auch in anderer Weise war der Dresdener Aufenthalt ereignißreich für K. Er hatte mit einem angenehmen und begüterten Mädchen, der Nichte und Mündel des alten Körner, ein Verhältniß begonnen, dem wie es scheint, auch einige Gelegenheitsgedichte im „Phöbus“ galten. Seine uns schon von dem Verhältnisse mit Wilhelminen her bekannte Zumuthung, die Geliebte solle ihm ohne Wissen der Familie schreiben, auf welche diese sich nicht einließ, löste die bereits ernst gewordene Verbindung auf. Aus diesem Herzensereigniß und wol auch aus Nachklängen des unendlich tieferen Verhältnisses zu Wilhelmine v. Zenge bildete K. das Weib, wie er es sich in seiner grenzenlosen Hingebung an den Mann dachte, indem er das „Käthchen von Heilbronn“ schrieb. Tieck, den er erst in Dresden kennen lernte, wurde, ohne es beabsichtigt zu haben, in Folge eines mißverstandenen Urtheils der Urheber einer wesentlichen Veränderung in diesem Stücke, die er später ebenso wie K. selbst sehr bereute. Weniger erfreulich hatte sich Kleist’s Verhältniß zu Goethe gestaltet. Nachdem er ihm das erste Heft des „Phöbus“ mit der „Penthesilea“ übersandt hatte, erhielt er unter dem 1. Februar eine wenig günstige Antwort. „Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region, daß ich mir Zeit nehmen muß mich in beide zu finden.“ Auch fügte Goethe hinzu, daß es ihn immer betrübt und bekümmert, wenn er junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches erst kommen soll. Weit schlimmer erging es aber in Weimar mit dem „Zerbrochenen Krug“. Goethe hatte, um die einactige Länge des Stückes zu kürzen, es in mehrere Acte getheilt. Als es am 2. März 1808 in Weimar zur Aufführung gelangte, fiel es gänzlich durch und man kann kaum annehmen, daß Goethe’s Einrichtung hieran schuld gewesen sei. Weit eher dürfte man diesen Mißerfolg auf Rechnung des Kleist’schen derben Naturalismus, an welchen man in Weimar nicht gewöhnt war, und der schlechten Darstellung schreiben; aber unerhört bleibt immerhin, daß Fräulein v. Knebel ihrem Bruder darüber mittheilen konnte: „Wirklich hätte ich nicht geglaubt, daß es möglich wäre so was Langweiliges und Abgeschmacktes hinzuschreiben – der moralische Aussatz ist doch auch ein ernstes Uebel.“ K. gerieth über den Mißerfolg seines Lustspieles derart in Aufregung, daß er Goethe dafür verantwortlich machte und ihn, wie Eduard Devrient in seiner „Geschichte der deutschen Schauspielkunst“ erzählt, zu einem Duell herausfordern ließ. Sicherer als diese Ueberlieferung ist die Thatsache, daß K. sich im „Phöbus“ durch Epigramme [143] an Goethe zu rächen suchte, namentlich durch ein durchaus unschickliches, das sich auf das Verhältniß zu Christiane Vulpius bezog. Im Herbst 1808 sah er den Mißerfolg des buchhändlerischen Unternehmens, das er zu vernachlässigen angefangen hatte, bereits voraus und machte einen Versuch sich durch Opium zu vergiften, wurde jedoch durch Rühle, der ihn betäubt auf dem Bette fand, gerettet. Auch das deutet auf ernste Gemüthsstörung, daß K., einmal plötzlich behauptend Adam Müller müsse ihm seine Frau abtreten, diesen in die Elbe stürzen wollte.

Es folgte nun ein Zeitpunkt, in welchem die Geschicke unseres Dichters durch die allgemeinen Geschicke Deutschlands und durch die geistige Revolution welche unsere bis dahin von dem politischen Leben entfernte Dichterwelt in patriotischem Sinne aufzurütteln begann, mächtig berührt wurden. Umfassender, tiefer und symbolischer als alle seine Zeitgenossen erfaßte K. das Problem des Freiheitsgesanges, indem er an die Ueberlieferung der Jahrtausende anknüpfend, „Die Hermannsschlacht“ dichtete. Er kam zu diesem Stoffe ähnlich wie Goethe zum „Faust“, durch die Verwandtschaft seiner Natur mit der durch die sich aufdringende Ueberlieferung symbolisirten Idee und dieser Beweis seines Berufes muß, obgleich er dichterisch höheres leistete als „Die Hermannschlacht“, bei der Schätzung seines Genius obenangestellt werden. Der Versuch dieses Drama 1809 auf das Wiener Hoftheater zu bringen mißlang, obgleich die Rüstungen Oesterreichs gegen Frankreich schon in vollem Gange waren und es wurde nicht allein nirgends aufgeführt, sondern es durfte bei Kleist’s Lebzeiten auch nicht einmal im Druck erscheinen. Die spanischen Ereignisse belebten inzwischen den deutschen Rachegeist noch mehr, K. dichtete sein Lied „An Palafox“, das im Volkston geschriebene „Kriegslied der Deutschen“ und gelegentlich der österreichischen Erhebung die Strophen an Franz I., die an Erzherzog Karl vom März und vom Mai 1809, die erhabene Hymne mit Chor „Germania an ihre Kinder“ und nicht lange darauf „Das letzte Lied“.

Nachdem Oesterreich, die Abziehung französischer Streitkräfte durch Spanien benutzend, Frankreich am 15. April 1809 den Krieg erklärt und in seinem Aufrufe gesagt hatte, die Freiheit Europa’s habe sich unter die Fahne Oesterreichs geflüchtet, wollte K. mit dem kaiserlichen Gesandten nach Wien gehen. Eine Zusammenkunft mit Ulrike ließ ihn zu spät nach Dresden zurückkehren; da er aber durch Hartmann eines Abends auf der Elbbrücke den jungen Friedrich Dahlmann kennen lernte, so kam er mit diesem noch an demselben Abende überein, nächster Tage zu Fuß nach Oesterreich zu wandern. Aus der schönen Darstellung welche Dahlmann für Julian Schmidt’s einschlägliche Arbeiten entworfen hat ersehen wir, daß die Wanderlust die neuen Freunde hauptsächlich darum ergriff, weil „der sächsische Hof sich der schlechten Sache anschloß und es ihnen daher besser schien die Zukunft abzuwarten.“ Wer je mit geistig Verwandten intimen Umgang pflegte, den wird die folgende Stelle nicht ungerührt lassen: „Auf dieser mehrtägigen Wanderung“, sagt Dahlmann, „durchdrangen wir eigentlich einander, ergriffen gegenseitig Besitz von uns und wir kamen noch später öfter verwundert darauf zurück, wie so oft es sich getroffen habe, daß wenn wir recht lange schweigend nebeneinander gegangen, dann der eine plötzlich anfing von einem ganz entlegenen Gegenstande zu reden, der doch derselbe war, über den der andere sich eben auslassen wollte.“ In Prag, wo die Freunde wenige Häuser von der Moldaubrücke, an der „kleinen Seite“, in zwei Zimmern nebeneinander wohnten, that sich die Handschrift „der Hermannsschlacht“ vor Dahlmann auf „mit Allem was sie Großes, Wildes, Herz und Nieren Ergreifendes, zu Zeiten auch Ergötzendes an sich hat.“ Nach einem in Znaym bestandenen Abenteuer, bei welchem der mit geheimen Unterhandlungen mit dem Erzherzoge Karl beauftragte [144] Oberst v. Knesebeck dadurch verwundet wurde, daß K. trotz aller Warnung die von Dahlmann gekauften Pistolen geladen hatte und nach der Gefangennahme der beiden Freunde auf dem Schlachtfelde von Aspern, wo man sie für französische Spione hielt, kehrten sie wieder nach Prag zurück. In Folge der Schlacht von Aspern eröffneten sich K. gute Aussichten. Gleichzeitig mit den angeführten Gedichten hatte er eine Anzahl politischer Aufsätze theils in Form von Satiren geschrieben und da er durch den Baron Buol bei dem Grafen Kolowrat, der damals den Posten eines Stadthauptmanns von Prag inne hatte, eingeführt wurde, so las er sie, als für ein Wochenblatt bestimmt, in dessen Hause mit Beifall vor. Man faßte, schrieb er am 17. Juli an Ulrike, die Idee ein Wochenblatt, die „Germania“ zu stande zu bringen, lebhaft auf. – – „So lange ich lebe, vereinigte sich noch nicht so viel um mich eine frohe Zukunft hoffen zu lassen.“ Schon war die Einleitung zur „Germania“ bis auf den Schluß geschrieben. Rudolf Köpke hat sie uns mit den übrigen prosaischen Arbeiten, von denen soeben die Rede war, in dem von ihm herausgegebenen Buche „Heinrich v. Kleist’s politische Schriften und andere Nachträge zu seinen Werken“, die Tieck in den nachgelassenen und gesammelten Schriften des Dichters nicht aufgenommen hat, überliefert. Sie gibt uns ein genaues Programm des Unternehmens: „Diese Zeitschrift, heißt es, soll der erste Athemzug der deutschen Freiheit sein. Sie soll alles aussprechen, was während der drei letzten unter dem Druck der Franzosen verseufzten Jahre in den Brüsten wackerer Deutschen verschwiegen bleiben mußte, alle Besorgnisse, alle Hoffnung, alles Elend und alles Glück.“ Bald vernichtete die Schlacht von Wagram auch diesen Traum und wie Laun in seinen Memoiren erzählt, reifte nunmehr der Entschluß in K., Napoleon zu ermorden. Er wollte sich durch Hartmann, der den Vorfall Laun mitgetheilt hat, wahrscheinlich für den Fall des Mißlingens, Arsenik verschaffen, aber dieser gab sich zu der That nicht her. Nach einer glücklich überstandenen schweren Krankheit, an welcher die neue Niederlage des deutschen Vaterlandes nicht fremd gewesen sein mag und nach Abschluß des am 14. October zu stande gekommenen Schönbrunner Friedens kehrte K. nach Preußen zurück. Er schien diese Reise indessen weniger um in Berlin zu bleiben, als wegen Verwerthung seines wahrscheinlich letzten Erbantheils am elterlichen Hause gemacht zu haben, wie dies aus dem rein geschäftlichen kurzen Schreiben hervorgeht, das er am 23. November 1809 der in Pommern sich aufhaltenden Ulrike übersandte und in welchem er ihr anzeigt, daß er „nach dem Oesterreichischen“ zurückgehe. Sein Gemüth schien versöhnter zu sein, er traf in Frankfurt Luise v. Zenge und als zufällig die Rede auf den Selbstmord kam, äußerte er, ein Mensch, der einen solchen begehe, komme ihm vor wie ein trotziges Kind, dem der Vater nicht geben wolle, was es verlange und das dann hinauslaufe und die Thür hinter sich zuwerfe. Nach Berlin zurückgekehrt, bestimmte ihn die Familie, die inzwischen immerhin Proben seines anerkannten Dichtertalentes erhalten hatte, vornehmlich aber wol die vielbewährte, ihm sehr nahe stehende Gemahlin des Adjutanten des Königs, v. Kleist, dort zu bleiben und eröffnete ihm die Aussicht durch die Dichtung eines vaterländischen Drama’s eine öffentliche Belohnung (Bülow sagt Unterstützung) zu erhalten. So dichtete K. in überraschend kurzer Zeit den Prinzen von Homburg und konnte schon am 19. März 1810 der Schwester schreiben, das Stück würde bei dem Fürsten Radziwil aufgeführt, solle auf die Nationalbühne kommen und wenn es gedruckt ist der Königin übergeben werden. Diese, deren Sympathie für K. wir bereits kennen, war am 23. December 1809 mit dem Könige wieder nach Berlin zurückgekehrt und am darauffolgenden 10. März, ihrem Geburtstage, überreichte K. ihr das bekannte Sonett, von dem er in dem letzterwähnten Briefe an Ulrike schrieb, daß sie es vor den Augen des [145] ganzen Hofes zu Thränen gerührt habe. So erwartete der an neue Hoffnungen sich Klammernde sogar eine „Hofcharge“ und bat deshalb die Schwester dringend, sich auf einige Zeit in Berlin, wo sie ihm namentlich bei den Altensteinischen Damen sehr nützen konnte, niederzulasscn. Ulrike widerstand, der Prinz von Homburg fand in den Kreisen, die Kenntniß davon bekamen, keinen Beifall, er wurde bei Lebzeiten des Dichters weder gedruckt noch öffentlich aufgeführt und etwa vier Monate nach ihrem von K. mitgefeierten 35. Geburtstag starb die Königin in Hohenzieritz. Man muß sich diese und die noch folgenden Schicksalsschläge, die K. nacheinander trafen, vergegenwärtigen, um die eingetretene Verzweiflung des von der Natur zum Tiefsinn Angelegten zu begreifen. Der Tod der Königin war für ihn nicht blos in realer Beziehung der härteste Schlag: er stellte ihn direct wieder vor das Lebensräthsel, von dessen Lösungsversuchen die Wirklichkeit mit ihren Erfordernissen ihn befreien zu wollen schien. Für ihn war es mit der göttlichen Vergeltung gegen den Erbfeind um so sicherer aus, als die welche am meisten berechtigt war sie zu erleben, der Sphäre ihres Leidens und geträumten Triumphes entrückt wurde.

Auch mit dem „Käthchen von Heilbronn“, das inzwischen im Theater an der Wien aufgeführt worden war, machte K. in Berlin schlechte Erfahrungen. Iffland ließ ihn lange auf Antwort warten und wies das Stück zuletzt zurück, wobei es zu einem unerquicklichen Austausch von Briefen kam. Dieses Drama und ein Band Erzählungen erschienen hierauf in der Berliner Realschulbuchhandlung, aber für Kleist’s Existenz war hiermit nicht besser gesorgt. So entschloß er sich zur Herausgabe einer neuen Zeitschrift, der „Berliner Abendblätter“, die wieder mit Unterstützung des in Berlin eine Anstellung suchenden Adam Müller, außerdem aber einiger anderer Schriftsteller, wie Fouqué, Achim v. Arnim, Brentano, Friedrich Schulze, vom 1. October an zu erscheinen begannen. Dieses auch äußerlich schlecht ausgestattete Organ führte im Ganzen ein kümmerliches Dasein, aber es brachte außer der Novelle „Die heilige Cäcilie“ doch noch eine so stattliche Anzahl von Aufsätzen aus der Feder unseres Dichters, daß Rudolf Köpke, obgleich ihm nur 75 Nummern, die vom 1. October bis 28. December 1810 vorlagen, während die bis in den Februar 1811 hineinreichenden unauffindbar zu sein scheinen, eine immerhin bedeutende Nachlese daraus halten konnte. An das Erscheinen der „Abendblätter“ knüpfte sich ein neues Aergerniß. K. hatte bis Gründung derselben auf die weitere Unterstützung der Regierung, an deren Spitze damals Hardenberg stand, gerechnet. Sie würde ihm vielleicht auch zu Theil geworden sein, wenn der in Wien zum Katholicismus übergegangene Adam Müller den hohen preußischen Beamten nicht als besonderer Anhänger Oesterreichs verdächtig gewesen wäre und sich später sogar mit der gegen die Reform wüthenden Junkerpartei verbündet hätte. Dieser maß alle Schuld Friedrich v. Raumer, der bei Hardenberg eine Vertrauensstellung hatte, bei und so entstand zwischen K. und Raumer eine Correspondenz, die, nachdem letzterer sich gerechtfertigt, mit erniedrigenden Entschuldigungen Kleist’s, der Bitte ihm die Redaction des „Kurmärkischen Amtsblattes“ anzuvertrauen und zum Theil berechtigten, aber immerhin mißlichen Entschädigungsansprüchen gegen den Staatskanzler endete. Raumer’s „Lebenserinnerungen und Briefwechsel“, der Brief Müller’s an Heeren in Hoffmann’s „Findlingen“, Kleist’s Brief an Fouqué vom 25. April 1811 und die auf diese Documente sich stützende ausführliche Entwickelung Wilbrandt’s geben über diese letzten Wirren in der litterarischen Laufbahn Kleist’s ausführliche Aufschlüsse. Friedrich v. Raumer mag, als Köpke ihm zu seinem 60jährigen Amtsjubiläum, am 8. December 1861, Heinrich v. Kleist’s politische Schriften mit einer besonderen Vorrede widmete, [146] sich doch wol mit Wehmuth der strengen büreaukratischen Weise erinnert haben, mit welcher er, als junger Beamter, den Dichter des Prinzen von Homburg behandelt hat. –

Gegen den Herbst des Jahres 1811 trat plötzlich und zwar zum letzten Male ein Lichtschimmer für K. ein. Wie er Ulriken von Frankfurt aus in einem Briefe ohne Datum (dem 55. der Koberstein’schen Sammlung) mittheilt, hatte der König ihn „durch ein Schreiben im Militär angestellt“ und er machte sich übertriebene Hoffnung, entweder unmittelbar bei ihm Adjutant zu werden, oder eine Compagnie zu erhalten. Wie dieser Umschwung zu stande kam, ist bisher nicht ermittelt, aber es ist nicht unmöglich, daß Gneisenau, von dem man vermuthet daß er Gelegenheit hatte den glühenden Patriotismus Kleist’s aus ihm mitgetheilten politischen Aufsätzen kennen zu lernen, zu den stillen Beschützern Kleist’s gehört hat. Um sich zu einer kleinen Einrichtung die nöthigen Mittel zu verschaffen, reiste K. nach Frankfurt, dort kam es aber innerhalb der Familie zu so peinlichen Auftritten, daß er im tiefsten Innern verletzt, unrettbar der alten Selbstmordsucht verfiel. Die wichtigen Schriftstücke, welche über diese letzten Lebenstage des Dichters Licht verbreiten, waren selbst dem umfassenden und tiefen Werke Wilbrandt’s noch nicht erschlossen und sind erst durch Paul Lindau, dem der Nachlaß des Kriegsrathes Peguilhen zur Verfügung stand, in der „Gegenwart“ vom 2., 9., 16. und 23. August 1873 mit Umsicht und Scharfblick der Oeffentlichkeit übergeben worden. Hiernach hatte K. zu jener Zeit ein vertrautes Verhältniß zu seiner Cousine Marie v. Kleist, die selbst sehr unglücklich und kränkelnd, theils in Berlin, theils auf dem Lande lebte. Fast gleichzeitig hatte er durch Adam Müller die Frau des Generalrendanten der kurmärkischen Land-Feuer-Societät Adolphine Henriette Vogel, geb. Keber, kennen gelernt, die drei Jahre jünger als er, in körperlicher und geistiger Beziehung eine wahre Zierde ihres Geschlechtes gewesen sein soll. Sie litt, wie actenmäßig feststeht, an einer unheilbaren Krankheit, welche ihr schwärmerisches Gemüth bis zur Extase erregt haben mochte und soll K. einmal das Versprechen abgenommen haben, sie, die Unheilbare, wenn sie es verlange, zu tödten. Aus den letzten Briefen Kleist’s an Marie geht hervor, daß er selbst das Verhältniß zu Henriette als eine Untreue gegen erstere auffaßt; aber er bekennt ihr, „er habe sie nicht mit einer Freundin vertauscht die mit ihm leben, sondern die im Gefühl, daß er ihr ebenso wenig treu sein würde wie ihr, mit ihm sterben wolle.“ Diese und andere Briefstellen bekunden ein die Wirklichkeit vielleicht übertreffendes Ausschweifen des Geistes, während andere sich zur höchsten poetischen Schönheit erheben; so daß wir es hier mit einem inneren dramatischen Kampfe zu thun haben, wie er nur bei tief poetisch angelegten Naturen möglich ist. Sein Erscheinen unter den Verwandten in Frankfurt mit dem neuen Ansinnen auf Hülfe erregte unter ihnen unverholene Bestürzung und dies schmerzte ihn so, daß er Marie am 10. November 1811 schrieb, „er wolle lieber zehnmal den Tod erleiden, als noch einmal erleben, was er das letzte Mal in Frankfurt an der Mittagstafel zwischen seinen beiden Schwestern, besonders als die alte Wackern dazukam, empfunden habe.“ Dennoch würde man fehlgehen, wenn man die Katastrophe vorwiegend diesem Erlebnisse im Elternhause zuschriebe. K. hatte Marien wie Anderen längst vorher den gemeinsamen Tod vorgeschlagen und sagt in jenen letzten Briefen an sie tiefbezeichnender Weise, daß Henriette „seine Traurigkeit als eine höhere festgewurzelte und unheilbare begreife.“ Endlich geben diese letzten schriftlichen Aeußerungen Kleist’s den unumstößlichen Beweis, daß die erniedrigenden politischen Zustände wesentlich zu seinem Lebensüberdrusse beigetragen haben. In dem Briefe vom 10. November an Marie heißt es „die Allianz, die der König jetzt mit den Franzosen schließt, ist auch nicht geeignet mich am Leben festzuhalten. [147] Die Zeit ist ja vor der Thür, wo man wegen der Treue gegen den König, der Aufopferung und Standhaftigkeit und aller anderen bürgerlichen Tugenden von ihm selbst gerichtet an den Galgen kommen kann.“

K. und Henriette hatten ursprünglich den Plan ihrem Leben in Cottbus ein Ende zu machen, wählten schließlich aber eine düstere Gegend am Ufer des Wansees, wo K. schon 10 Jahre früher in Gesellschaft Rühle’s und Pfuel’s die sicherste Methode des Selbstmordes erörtert hatte und die ihm beim Niederschreiben der fünften Strophe seines letzten Liedes wieder vorgeschwebt zu haben scheint. Nachdem er kurz vorher seine Papiere vernichtet, kam er am 20. November Nachmittags 2 Uhr mit Henriette in einem Miethwagen in dem eine Meile von Potsdam dem Wirth Stimming gehörigen Kruge, der sich dicht am See, gegenüber dem letzten Chausseehause befindet, an. Der zu den gerichtlichen Acten genommene Bericht des Wirthes, den Bülow vollständig mittheilt, gibt die genaueste Auskunft über ihr Verhalten: sie schickten den Wagen leer zurück, aßen vergnügt zu Mittag, nahmen zwei Zimmer, gingen am See spazieren, hatten die ganze Nacht (die sie wahrscheinlich mit dem Schreiben der letzten Briefe zubrachten) Licht und schon um 5 Uhr Morgens kam Henriette herunter und bat um Kaffee. Mittags sandten sie, nachdem sie die Rechnung bezahlt hatten, einen Boten mit einem Briefe nach Berlin, „waren vergnügt und scherzhaft“, erkundigten sich, wann der Bote wol in Berlin sein könne und verlangten, man möchte ihnen gegen besondere Vergütung den Kaffee auf den schönen grünen Platz jenseits des See’s bringen lassen. „Die Dame hatte ein Körbchen, welches mit einem weißen Tuch bedeckt war, am Arme, worin wahrscheinlich die Pistolen gelegen haben.“ Als die Frau, die den Kaffee an den betreffenden Ort gebracht und Zahlung dafür empfangen hatte, etwa 40 Schritt gegangen war, fiel ein Schuß, nach etwa 30 weiteren Schritten ein zweiter, „die Frau glaubte aber, daß sie zum Vergnügen schössen, weil beide so scherzhaft und munter gewesen waren, Steine ins Wasser geworfen hatten und (wahrscheinlich um jeden Verdacht abzulenken) miteinander gescherzt und gesprungen waren.“ Endlich findet man die Unglücklichen entseelt daliegen: „Henriette in einer liegenden Stellung, hinten übergelehnt, den Oberrock an beiden Seiten aufgeschlagen und die Hände auf der Brust zusammengefaltet. Die Kugel war in die linke Brust durch das Herz und am linken Schulterblatt wieder herausgegangen. Der Herr in derselben Grube“ (K. hatte eine durch das Ausroden eines alten Baumes entstandene Vertiefung gewählt), „vor ihr knieend, hatte sich eine Kugel durch den Mund in den Kopf geschossen. Beide waren gar nicht entstellt, vielmehr hatten sie eine heitere zufriedene Miene.“ Um 6 Uhr kamen Vogel und Peguilhen von Berlin in den Krug. Ersterer war ganz untröstlich und ließ sich am anderen Morgen eine Haarlocke von seiner Frau holen. „Um 2 Uhr Nachmittags den 22. kam der Herr Hofmedicus und Polizeioffizianten von Berlin, nahmen alles zu Protokoll, ließen die Leichen nach dem kleinen Hause bringen, daselbst öffnen und untersuchen. Hiernach wurden beide in die von dem Kriegsrath Peguilhen besorgten Särge gelegt und Abends 10 Uhr in ihre Ruhestätte“ (dicht, wie sie gewollt hatten, neben dem Orte wo die Leichen gefunden worden waren) „begraben.“ In einem der von diesen Gästen des Todes im Haide-Kruge bewohnten Zimmer fand man nur zwei Bücher: den Don Quixote, wahrscheinlich Kleist’s und Klopstock’s Oden, wahrscheinlich Henriettens letztes Lesebuch, in welchem die wie für den Fall geschriebene „todte Clarissa“ besonders angemerkt war. Die letzten von K. geschriebenen Briefe sind biographisch höchst merkwürdig: neben den schwärmerischsten und zartesten Aeußerungen nehmen sie Bedacht auf das Ordnen von Kleinigkeiten, nach dem förmlichen Ausschütten eines zerrissenen Herzens athmen sie eine Versöhnung mit dem Schicksal, wie sie schöner nicht gedacht werden [148] kann. Sein Abschiedsbrief an Ulrike ist ein wahres Denkmal dieses geklärten inneren Zustandes. „Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter wie ich bin, mit der ganzen Welt und somit auch vor allen Anderen, meine theuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben. Laß sie mich, die strenge Aeußerung, die in dem Briefe an die Kleisten (Marie) enthalten ist, laß sie mich zurücknehmen; wirklich Du hast an mir gethan, ich sage nicht was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl, möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß. Stimmings bei Potsdam den – am Tage meines Todes. Dein Heinrich.“

Der tragische Fall erregte weit über die deutschen Grenzen hinaus großes Aufsehen und es fehlte, namentlich in Berlin, nicht an hämischen und die Wahrheit entstellenden Auslegungen. Diesen gegenüber versuchte Peguilhen, der treue, aber gegenüber den damaligen Verhältnissen in seinem Eifer vielleicht zu weit gehende Freund, in einem in der Vossischen Zeitung vom 26. November 1811 erschienenen Nachruf die öffentliche Meinung zu beschwichtigen, indem er einige Bruchstücke über die Katastrophe vorzulegen versprach und darum bat „nicht eher zwei Wesen lieblos zu verdammen, welche die Liebe und Reinheit selbst waren“. Hierauf erhielt er aber am 6. December einen Erlaß des Polizeipräsidenten, nach welchem der König das Erscheinen dieser Schrift verbietet. Scharf beleuchtet werden diese Verhältnisse unter Anderem dadurch, daß Peguilhen in einer Denkschrift an den Staatskanzler sagte: „ich wollte dieses Ereigniß für das Vaterland benutzen und wahrlich nicht Selbstmord predigen, sondern die schnöde Furcht vor dem Tode als eine Krankheit des Zeitalters bekämpfen.“

Die Zeit, in der K. lebte, hat an ihm nicht weniger gesündigt wie er an sich selbst: so eng hängt sein Schicksal mit dem damaligen seines Vaterlandes zusammen, daß man es nicht öffentlich besprechen konnte, ohne die tiefsten Wunden desselben zu berühren. Darum schlossen auch die dem Hofe und dem Heere so nahestehenden Verwandten sogar einem Tieck gegenüber den Mund und selbst nach dem glorreichen Frieden von 1815 vergingen noch sechs Jahre, bevor die beiden deutschen Nationaldramen „Die Hermannsschlacht“ und „Der Prinz von Homburg“ im Druck erschienen. Aber in einer wie gewöhnlich breiteren Spanne Zeit zeigte sich das Schicksal versöhnlicher als die Menschen, denn 60 Jahre nach dem Tode Kleist’s, konnte der Verfasser dieser Biographie, bei der Erhebung des Sohnes Friedrich Wilhelm III. zum deutschen Kaiser im Schlosse von Versailles die Potsdamer Garden, bei denen K. sein öffentliches Leben begonnen hatte, die Ehrenfahnen halten sehen. An K. ist das Eigenthümlichste, daß sein Leben mit seinem Schaffen in weit unmittelbarerem Zusammenhange steht als bei irgend einem anderen deutschen Dichter: seine Fehler sind auf dieses zu ehrliche Dichten seines inneren Lebens zurückzuführen; aber viele seiner Vorzüge würden sicher verloren gegangen sein, wenn er, vorausgesetzt daß dies überhaupt möglich war, sein Leben mehr beherrscht und seine Kunst, wie ein Priester das Heilige vom Ungeweihten, mehr von ihm geschieden hätte. Diese Lebensbedingung Kleist’s machte sein Dichterorgan zu einem vorzugsweise dramatischen und selbst wo er in der Lyrik das Höchste erreichte, im „Letzten Lied“, entrollt er auf dem düstern Hintergrunde einer gewitterschweren Zeit den erschütternden Verlauf seiner eigenen Tragödie. Ein sprödes, norddeutsches, aber wie mit Düften des Urwaldes getränktes Element geht durch alle seine Dichtungen, von denen die meisten erst nach einer erstaunlichen Arbeit und Feile vollendet worden sind. Sein Idealismus ist stark von Sinnlichkeit durchdrungen, so daß er zuweilen herb, zuweilen anstößig wird und das Maßlose in manchen seiner Charaktere [149] und Handlungen hängt mit seiner eigenen Maßlosigkeit im Streben nach dem Absoluten zusammen, während das Hereinziehen des Uebernatürlichen auf den Einfluß der Romantiker zurückzuführen ist. Von seinen acht Dramen ist „Der Prinz von Homburg“ das reifste und insofern auch das seinen Genius am tiefsten kennzeichnende, als es einer an Pessimismus streifenden vollständigen Umkehr des historischen Verhältnisses seine Entstehung verdankt. Nur ein ironischer, die äußersten Folgen menschlichen Handelns durchdringender Geist konnte die in einer Aeußerung des großen Kurfürsten enthaltene Möglichkeit einer kriegsrichterlichen Verurtheilung des Prinzen von Homburg zur Wirklichkeit umgestalten. Der hohe nationale Werth dieses Drama’s besteht nun aber darin, daß K. in einem beschränkten, das engere Vaterland umfassenden Rahmen das ewige Verhältniß der Freiheit zur Schranke darstellt, das gegenüber der großartigen Entwickelung eines ächt deutschen Fürstencharakters und angesichts meisterhaft motivirter Nebencharaktere, mit der Läuterung des gegen die Schranke sich Auflehnenden, in welchem der Dichter seine eigenen Jugendirrthümer abgespiegelt hat, schließt. Diese in seine letzten Lebensjahre fallende Schöpfung berechtigt zu der Annahme, daß er im Großen und Ganzen die innere Kluft überwunden hatte und daß nur äußere Drangsale sie wieder geöffnet haben. Auch „Die Hermannsschlacht“ gehört, trotz mancher Fehler, zu den urwüchsigsten Werken unserer Litteratur und ebenso ist im „Käthchen von Heilbronn“, obgleich das Problem geradezu verkehrt gelöst ist, das deutsche Element von dem höchsten Zauber der Poesie umflossen. Die Penthesilea und der Amphitryon sind hochpoetische, Schönheiten ersten Ranges enthaltende, aber im Ganzen verfehlte Versuche, wohingegen man in Betreff des Zerbrochenen Kruges Friedrich Hebbel beistimmen muß, wenn er sagt, daß diesem Stücke gegenüber nur das Publikum durchfallen kann. Das gewaltige Fragment des Guiskard läßt durch den äußersten Pathos, der sich gleich zu Anfang des Stückes entrollt, begreiflich finden, warum K. sich vergebens an der Steigerung und Vollendung dieses Drama’s abmühte. Von den Novellen ist Michael Kohlhaas nach Inhalt und Form die musterhafteste und sowol in den wenigen lyrischen Gedichten wie in den prosaischen Aufsätzen ästhetischen und politischen Inhaltes, auch in den Briefen, sind Perlen, die noch lange nicht genügend gewürdigt sind.

Außer Tieck’s und Julian Schmidt’s Vorreden zu Kleist’s Werken sind besonders zu erwähnen: H. v. Kleist’s Leben und Briefe von E. v. Bülow; H. v. Kleist von A. Wilbrandt; dessen Briefe an seine Schwester Ulrike von A. Koberstein, seine politischen Schriften von Rudolf Köpke, zu H. v. Kleist’s Werken (über die verschiedenen Lesarten) von Reinhold Köhler, H. v. K. und der zerbrochene Krug, neue Beiträge von Karl Siegen (mit dem Taufscheine und dem Todtenscheine), sowie dessen Festschrift und die werthvolle biographische Einleitung zur Brockhaus’schen Ausgabe der ausgewählten Dramen, Rudolf Genée’s Einleitung zu seiner Bearbeitung der Hermannsschlacht, H. v. Treitschke’s Abhandlung über H. v. K. in den Preußischen Jahrbüchern, December 1858, die Quelle der Kleist’schen Erzählung Michael Kohlhaas von Emil Kuh in Kolatschek’s Stimmen der Zeit, 1861, Nr. 31. A. R. Schillmann, H. v. K., seine Jugend und die Familie Schroffenstein. Hebbel’s Abhandlungen über K. in dessen sämmtlichen Werken, Bd. XI und XII. Briefe von Tieck, hrsg. v. Holtei. Schwarze’s Artikel im Frankfurter Publizisten, 1876 und in d. Gegenwart X, Nr. 44 über Kleist’s Familienverhältnisse. O. Wenzel’s Beitrag z. Lebensgeschichte H. v. Kleist’s in der Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung, Nr. 37 u. 38, Jahrg. 1880. K. Siegen’s H. v. K. u. seine Familie in d. Gegenwart v. 13. Mai 1882. Mein Aufsatz über den Prinzen von Homburg in Rötscher’s Jahrbüchern für dramatische Kunst und Litteratur, Bd. II und die bereits näher besprochenen jüngeren Arbeiten von Lindau, Zolling und Biedermann.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ästethische
  2. Vorlage: französichen