Georgien. Natur, Sitten und Bewohner/Die georgische Litteratur

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Kutais Georgien. Natur, Sitten und Bewohner
von Arthur Leist
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Die georgische Litteratur.

Unter den Kulturvölkern Vorderasiens nehmen die Georgier, Grusier oder Kartweler, wie sie in ihrer Sprache heissen, eine jedenfalls hervorragende Stelle ein und ihre frühere Bedeutung in der Geschichte jener Gegenden Asiens fällt noch mehr ins Gewicht, wenn man ihre geringe Kopfzahl in Betracht zieht. Nie betrug diese im Laufe der Vergangenheit mehr als eine Million, und demungeachtet errangen sie sich die Oberherrschaft in ganz Kaukasien und boten lange Jahrhunderte hindurch der Macht der Perser, Araber, Türken und Tataren Trotz, ohne dabei ihre Verteidigungsmittel völlig zu erschöpfen. Zwar mussten sie in diesen langwierigen Kämpfen oft der Übermacht unterliegen und sich vor dem fremden Joche beugen, aber immer wieder gelang es ihnen Kräfte zu sammeln und ihre Selbständigkeit herzustellen. Trotz eines mächtigen Andranges feindlicher Elemente bewahrten sie ihren christlichen Glauben und ihre nationale Individualität bis auf unsere Tage und stehen heute als ein Volk da, welches ernste Anstrengungen macht, ein modernes Kulturvolk zu werden und seine zivilisatorische Arbeit mit der der Völker Europens zu vereinigen. [92] Eine Nation, die in ihrer Vergangenheit eine solche Ausdauer bewiesen und so hartnäckig ihre Kultur gegen asiatische Barbarei verteidigte, verdient jedenfalls der Beachtung und es lohnt wohl der Mühe, ihr Wirken auf geistigem Gebiete kennen zu lernen.

Die Abstammung der georgischen oder kartwelischen Sprache ist bis heute noch nicht genügend festgestellt trotz zahlreicher in dieser Richtung unternommener Forschungen. Der vor ein paar Jahren verstorbene Professor der Petersburger Akademie, der Franzose Brosset, welcher diese Sprache besser als irgend wer kannte und ziemlich klar ihren Entwicklungsprozess dargelegt hat, bemerkte in ihr viel Verwandtschaft mit den indo-europäischen Sprachen, wobei er jedoch die Behauptung aufrecht erhielt, dass ihr eigentlicher Kern nichts mit diesen Sprachen gemein habe. Es ist also anzunehmen, dass die georgische Zunge nicht indo-europäischer Abstammung ist, dass aber ihre Entwicklung vom Persischen, dem Sanskrit und der Zendsprache beeinflusst wurde, was wahrscheinlich durch Vermittelung des Armenischen geschah. In ihrem heutigen Zustande besitzt die georgische Sprache viele fremde Ausdrücke, besonders arabische und persische und seitdem man begonnen sie den modernen Anforderungen gemäss zu entwickeln und zu bereichern, ist die Zahl der Fremdwörter in ihr noch bedeutend gewachsen, was natürlich nichts zu ihrer Verschönerung beitragen konnte. Gegen diese willkürliche Verstümmlung kämpfen jedoch gegenwärtig einige georgische Philologen, die zunächst bemüht sind, die schon angenommenen Fremdwörter durch eigene zu ersetzen.

Was den Wohlklang des Georgischen anbetrifft, so ist dieser trotz eines gewissen Reichtums an Vokalen ein geringer und steht dem mancher anderen orientalischen Sprache nach.

Als Beispiel diene die nachfolgende Strophe eines Gedichtes von Elias Tschawtschawadse:

[93]

Elegia.

Mkrtall nateli sawse mtwarisa,
Mschobels kwekanas seel mohpenoda.
Da tetri soli schoris mtebisa,
Lashward siwrceschi tschaintkeboda.

Auf Deutsch:

Im Schlummerlicht der blassen Vollmondstrahlen
Liegt träum’risch da mein liebes Heimatsland
Und über ihm in Himmelsfernen malen,
Die Riesengletscher ihre Silberwand.

Die Erfindung ihrer Schriftzeichen schreiben die Georgier dem Könige Farnawass zu, der der Gründer ihres Reiches war und zur Zeit Alexanders des Grossen gelebt haben soll. Diese Schrift war Zendischen Ursprungs, und um sie ihrer heidnischen Kennzeichen zu entledigen, nahm die christliche Geistlichkeit im vierten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung eine Änderung vor, indem sie die eckige Gestalt der Schriftzeichen in eine runde umwandelte. Diese Form erschwert nicht wenig das Lesen, welches schon der zahlreichen (38) Buchstaben wegen nicht ohne Schwierigkeiten ist. Dafür ist aber wieder die Rechtschreibung sehr erleichtert, denn wer genau den Laut eines jeden Schriftzeichens kennt, wird leicht ohne Fehler georgisch schreiben. Es ist das eine grosse Vereinfachung, welche die anfänglichen Schwierigkeiten beim Lernen der Buchstaben reichlich vergütigt.

Bei einer so frühzeitigen Aneignung der Schrift und der unmittelbaren Berührung mit den damaligen Kulturvölkern Vorderasiens, musste sich natürlich auch bald in Georgien ein Schrifttum ausbilden und wahrscheinlich besassen seine Bewohner schon im heidnischen Altertume ihre geschriebenen Religionsbücher, die aber wahrscheinlich später bei Einführung des Christentums der Vernichtung preis gegeben wurden, denn es sind keine Spuren von litterarischen Erzeugnissen aus der Heidenzeit Georgiens vorhanden. Die ältesten Litteraturdenkmäler stammen schon [94] aus der christlichen Epoche und zwar sind das Übertragungen der Bibel und anderer theologischer Bücher.

Wie überall so wurden auch in Georgien die Wissenschaften anfänglich nur von der Geistlichkeit gepflegt, deren Hauptbestreben es zunächst war, das Christentum im Lande zu befestigen. Zu diesem Zwecke übersetzte sie die namhaftesten theologischen Werke jener Zeit, deren Originale fast ausschliesslich griechisch geschrieben waren. Die Griechen waren nämlich die ersten Lehrer der Georgier und bis zum elften Jahrhunderte hatten sie fast alle höheren Kirchenämter in Georgien inne. Byzanz beeinflusste damals das gesamte Leben dieses Landes, so dass sich seine Kultur nach griechischen Vorbildern entwickelte, bis endlich die kräftige Regierung des Bagratidenhauses, sowie der allmälige Verfall des byzantinischen Reiches diese Abhängigkeit verminderten. Trotzdem blieben die Griechen noch lange die Unterweiser der Georgier, und auch dann, als sich schon in ihrem Lande ein nationales Kulturleben entwickelt hatte, schöpften sie noch ihr Wissen aus dem Schatze griechischer Gelehrsamkeit und zahlreiche Jünglinge besuchten die Schulen von Athen und anderen griechischen Städten.

Im elften Jahrhunderte zeigen sich in Georgien die ersten Erzeugnisse der weltlichen Litteratur, nämlich Übersetzungen griechischer Klassiker, welche die Grundlage der heimischen weltlichen Litteratur wurden und auch in dieser Richtung die Schaffenskraft wach riefen.

Die eigentliche Blütezeit der mittelalterlichen Litteratur der Georgier war im zwölften Jahrhundert, als dieses Volk in seiner an Ereignissen und Erschütterungen so reichen Vergangenheit die höchste Macht besass. Sein jugendlicher Rittergeist begann schon damals zu schwinden, obgleich die Kriege, welche die Georgier um diese Zeit führten, noch grösstenteils glücklich waren und ihre politische Macht auf dem Gipfel ihrer Höhe stand. Für die [95] Nachbarn waren die Georgier im zwölften Jahrhundert fürchterlicher als je, denn teils übertrafen sie sie durch ihre höhere Kultur, teils waren sie ihnen an Mut, Begeisterung, Vaterlandsliebe und Kriegszucht überlegen. Trotzdem aber scheint die rohe Jugendkraft dieses Volkes damals schon im Abnehmen begriffen gewesen zu sein, denn immer mehr entwickelte sich das innere Kulturleben, immer mehr griff die Sucht nach einem bequemen Verweilen am häuslichen Herde um sich und mit dieser der Vergnügungsgeist. Glückliche Kriege und die fortwährende Zufuhr reicher im Felde gemachter Beute, sowie die Befestigung der inneren Sicherheit erhöhten natürlicher Weise den Wohlstand des Landes und mit dem Wohlstande machte auch die materielle Kultur bedeutende Fortschritte. Städte blühten empor, zahlreiche Kirchen, Klöster und Schlösser entstanden und die nationale Architektur erreichte bei diesem bewegten Treiben einen Höhepunkt, den sie in der Folge nicht mehr überschritten zu haben scheint. Mit dem materiellen Wohlstande entwickelte sich auch der Luxus, und so entstand ein geräuschvolles, fröhliches Ritterleben, dessen glänzender Mittelpunkt der Hof der schönen Königin Tamara war.

Auch hatten sich die Sitten der Georgier schon bedeutend gemildert und die Sittlichkeit stand wohl in den vergangenen Jahrhunderten nie in ihrem Lande höher als zu dieser Herrscherin Zeiten, deren mildernder Einfluss sich in allen Erscheinungen des damaligen Lebens wahrnehmen lässt. Sie war eine sanfte, fromme Frau, die jede Gewaltthat verabscheute und daher mag wohl auch an ihrem Hofe Zucht und Sitte gewaltet haben, wenn auch den damaligen Anschauungen gemäss das Leben geräuschvoll, prunkhaft und vor allem genussreich war. In den Ritterkreisen waltete Galanterie, schönen Frauen wurden Huldigungen dargebracht und in Minneliedern ihre Reize besungen.

[96] So herrschte lange Jahre Lust und Frohsinn in der georgischen Hauptstadt, wenn auch dieses Festtagsleben einer mit sich selbst zufriedenen Ritterschaft oft von Waffengeklirr und Kriegsgeräusch unterbrochen wurde. Nach den fast stets siegreichen Feldzügen glich die Rückkehr des Heeres nach Tiflis immer einem Triumphzuge, dessen Pracht oft fabelhaft war, denn ausser zahlreichen Trophäen brachten die Sieger eine Beute heim, deren Wert unberechenbar schien. Alle Schatzkammern in den Schlössern der Ritter füllten sich mit Schätzen; Gold und Edelsteine wurden massweise verhandelt und die Pferde der in die Hauptstadt einziehenden siegestrunkenen Krieger stampften über kostbare Teppiche, die bei dem Zufluss so reicher Schätze keinen Wert mehr hatten. Es waren das geräuschvolle Zeiten und das heutige stille Tiflis mochte wohl damals ein ganz anderes Bild gewähren. Ohne Unterlass weilten in seinen Mauern ein paar Tausend vergnügungssüchtiger Ritter, lange Karawanen durchzogen seine Strassen und Festgesänge ertönten in seinen Palästen, die von reich geschmückten Männern und Frauen bevölkert waren. Eine wissenschaftliche Akademie verbreitete dabei die mildernden Strahlen geistiger Kultur, zahlreiche Jünglinge gingen und kamen von Athen oder anderen Schulen Griechenlands, eifrige Geistliche disputierten. Dichter sangen und griechische Baumeister und Maler schmückten die Kirchen und Schlösser der Reichen.

Fügen wir noch den heiteren Glanz des georgischen Himmels hinzu, die herrliche Natur, ihre üppigen Früchte und besonders den Feuerwein, dann die Reize zahlloser schöner Frauen und wir werden im stande sein uns jenes Leben zu vergegenwärtigen, welches in Georgien pulsierte, als die geistige Entwicklung seiner Bewohner im Blütenalter stand.

Die einem solchen Leben entkeimte Poesie kann natürlich nichts anderes sein als sein unmittelbarer Ausdruck, [97] seine Abspiegelung, denn angesichts des damals allgemein herrschenden “Wohlstandes und einer gewissen behäbigen Zufriedenheit mussten alle Bestrebungen nach einer Änderung der Dinge völlig überflüssig sein und daher auch jegliche Zukunftspoesie fehlen.

Fast alle im zwölften Jahrhundert entstandenen Geisteserzeugnisse der Georgier spiegeln das damalige Leben ab und geben den Gefühlen und Anschauungen der an demselben teilnehmenden Gesellschaft Ausdruck. Zunächst war es eine stark entwickelte und mit Vorliebe gepflegte lyrische Poesie, in welcher diese Lebensmomente widerhallten, aber von diesen Gemütsergüssen ist heute fast jede Spur geschwunden und nur in anderen zeitgenössischen Litteraturdenkmälern findet sich der Beweis, dass die Lyrik wirklich im zwölften Jahrhundert in Georgien geblüht hat.

Ein bleibenderes Dasein erwarb sich die Epik der damaligen Epoche, denn mehrere wertvolle Werke dieser Art haben sich bis auf unsere Tage erhalten und sind noch heute eine Zierde des georgischen Parnasses. In ihnen liegt die Glanzzeit des mittelalterlichen Georgiens verewigt da und sie zeugen mehr für seinen damaligen Kulturzustand und sein rüstiges Leben als alle geschichtlichen Überlieferungen.

Das bedeutendste Epos aus der klassischen Epoche, die grösste dichterische Schöpfung der Georgier ist das „Wepchwis Tkaosani“ der „Mann im Tigerfelle“ von Schota Rustaweli. In schwungvollen, meisterhaft gefeilten Versen schildert in ihm der Dichter das zeitgenössische Leben seiner Landsleute, verlegt jedoch, um seiner Erzählung einen höheren poetischen Reiz zu verleihen, die Handlung nach Arabien. Dadurch verliert jedoch seine Schilderung nichts an lokaler Färbung, Land, Leute und Sitten sind georgisch und der mit der Geschichte Georgiens vertraute Leser erkennt sogar in den Haupthelden [98] mehrere dem zwölften Jahrhunderte angehörige geschichtliche Persönlichkeiten.

In den Vordergrund tritt natürlich das damalige Hofleben und bei seiner Schilderung übergeht der Dichter fast keine Seite, keine wichtigere Einzelheit desselben. Alle möglichen Episoden dieses Lebens kommen im bunten Zauberspiegel seiner Erzählung vor und gleich im Anfange tritt dem Leser eine glänzende Ritterversammlung entgegen. Der Dichter beschreibt hier eine Thronentsagungsfeierlichkeit und gleich darauf den Akt der Thronbesteigung; Gelage und Jagden füllen das reichhaltige Bild des Hoflebens aus. Dann erzählt Rustaweli die Wanderungen des eigentlichen Haupthelden seiner Dichtung, Autandil, wobei er Sitten und Gebräuche der Städtebevölkerung schildert. Mit einem Worte, das gesamte damalige Leben Georgiens ist im „Mann im Tigerfelle“ ausgemalt und selbst Schlachtenbilder fehlen nicht zur Vervollständigung dieses Zeitgemäldes. Die eigentliche Fabel der dichterischen Schöpfung Rustawelis umfasst eine lange, ziemlich weitschweifige mit anderen kleineren Geschichtchen verknüpfte Erzählung, die natürlich nicht frei ist von orientalischer Überschwänglichkeit, aber mit wahrhaft genialer Erfindungsgabe ausgearbeitet ist und etwas Grosses, Erhabenes an sich hat.

Der alte König von Arabien, Rostewan, entsagt dem Throne zu Gunsten seiner Tochter Tinatina und könnte wohl seine Tage kummerlos beschliessen, wenn er nicht eben ein sonderbarer Kauz wäre. Er bildet sich nämlich ein, dass es im ganzen Reiche keinen Ritter giebt, der ihm an Mut und Tapferkeit gleicht und dieser Gedanke bereitet ihm Kummer. Da erbietet sich einer seiner Heerführer, Autandil, ihm zu beweisen wie unbegründet seine Meinung sei und schlägt dem Könige vor eine Jagd zu veranstalten, auf welcher er ihm von seiner Tüchtigkeit und der Gewandheit, die Waffen zu gebrauchen, Zeugnis [99] ablegen könne. Die Jagd findet statt, giebt aber dem Könige nur Grund zu neuer Trauer, denn seine Gefährten finden im Walde einen weinenden, in ein Tigerfell gehüllten Jüngling, der dem Könige höchst geheimnisvoll erscheint. Er trägt daher seinen Dienern auf, den Jüngling um die Ursache seiner Betrübnis zu befragen, doch dieser entflieht und verbirgt sich im Dickicht des Waldes. Der König ist in Folge dessen trostlos und verfällt in noch schwereren Kummer. Da beschliesst seine Tochter, die schöne Tinatina, Alles zu thun, um die Ursache der Betrübnis des Vaters zu beseitigen und verspricht demjenigen der Ritter ihre Hand, welcher ihr genaue Nachricht über den geheimnisvollen Jüngling bringt. Autandil, der längst im Stillen die Königstochter liebt, erbietet sich auszuziehen und nach dem Manne im Tigerfelle zu forschen. Drei Jahre wandert er umher, bis es ihm endlich gelingt den Jüngling aufzufinden und seiner Geliebten die erwünschte Aufklärung zu bringen. Diese sträubt sich auch nicht seine Gemahlin zu werden und glänzende Hoffeste beschliessen die Erzählung.

Diese, sowie die anderen mit ihr verflochtenen Fabeln mögen dem heutigen Leser naiv erscheinen, aber der Endzweck des Dichters, ein Lebensbild seiner Zeit zu schaffen, ist gross und ernsthaft. Dabei ist die Dichtung in einer Sprache geschrieben, die klassisch genannt zu werden verdient und neben farbenreichen Bildern zieren sie kernige Gedanken, die manches gefeierten Dichterfürsten würdig sind. Fast nie verfällt Rustaweli in’s Abgeschmackte und oft erinnert seine feierliche Einfachheit an Vater Homer. Nur in den Vergleichen sündigt er viel, denn in dieser Hinsicht kann er sich seines orientalischen Wesens nicht entschlagen und wird überschwänglich.

Um dem Leser wenigstens eine flüchtige Einsicht in den Farbenreichtum der Rustawelischen Dichtung zu ermöglichen, [100] gebe ich hier einige Stellen aus dem ersten Gesänge in metrischer Übersetzung.

Die Königstochter Tinatina schildert der Dichter folgendermassen:

Der König hatte eine einzige Tochter,
Ein Bild der Sonne selbst im Morgenlande.
Herz, Seele und Verstand entriss sie Allen,
Die jemals sie geschaut von Angesicht.

Die Schönheit Autandils und seine Liebe zur Königstochter malt er mit nachstehenden Worten:

Ein Rittersohn war Autandil, der erste
Der Obersten im Heer des tapfern Königs,
An Schlankheit übertraf er die Cypresse
Und hell und schön war seiner Augen Glanz.
Zwar jung noch, glich doch seiner Seele Stärke
Der edlen Härte eines Diamanten.
Der schönen Königstochter Feuerblicke
Entzündeten gar bald sein junges Herz
Und schlugen Wunden ihm, die nimmer heilen.
Gar lange hielt er heimlich seine Liebe
Und in der Trennung mit der Teuren schwand
Die Rosenröte seiner frischen Wangen.
Doch als das Los ihn wieder zu ihr führte,
Drang bald des Herzens Glut ihm ins Gesicht
Und wieder öffnete sich seine Wunde.
So quält geheime Liebe junge Herzen.

Bei ihrer Thronbesteigung verteilt Tinatina reiche Geschenke unter das Volk:

An jenem Tag verteilte sie die Schätze,
Die sie von früher Kindheit an gesammelt.
Wie Beute nach der Schlacht ergriff das Volk
Die ihm so reichlich zuerteilten Gaben.
Die einen nahmen prächtig schöne Rosse,
Die andern Perlen, Gold und Edelsteine.
So fegt der Wind den trocknen Schnee hinweg.
Wie sie der Schätze Last bei Seite schafften.
Kein einziger ging heim mit leeren Händen.

[101] Dem Bilde, welches der Dichter von der Jagd entwirft, die der König veranstaltet, um sich mit Autandil zu messen, gebricht es auch nicht an plastischer Schönheit:

Scheu, in gedrängten Herden flieht das Wild,
Gehetzt von einer dichten Schar von Treibern,
Des ganzen Waldes Tiervolk scheint zu fliehen:
In langen Sätzen springen hier die Rehe,
Dort tobt der schlanken Hirsche Schar vorüber,
Vor Wut wirft sich der Eber ins Gedränge
Und dichte Rudel anderen Getiers.
Die Jäger dringen vor. Welch’ prächtig Bild!
Mit Pfeil und Bogen harren sie der Beute.
Vom Hufschlag ihrer Rosse bebt die Erde
Und Wolken dichten Staubes steigen auf.
Die Pfeile schwirren und bald bedecken Lachen
Vergossenen Bluts den aufgewühlten Boden.

Der „Mann im Tigerfelle“ ist reich an ähnlichen Stellen und erst eine gute Übersetzung des Ganzen würde dem deutschen Leser seinen Stoffreichtum sowie alle seine Schönheiten aufdecken.

Ein Ritterepos ist diese Dichtung wohl eigentlich nicht, vielmehr ist seine Fabel im Plane eines mittelalterlichen Romans angelegt und seinem Verfasser kommt daher die Erfindung dieser Dichtungsart im Orient zu.

Vorbilder hatte er hierzu nicht, denn die abendländische Litteratur war ihm unbekannt und in der orientalischen suchen wir vergebens nach einem Seitenstück zum „Manne im Tigerfelle“. Ein einziges Werk, welches einige Ähnlichkeit mit ihm hat, lässt sich in der arabischen Litteratur auffinden und das sind die Makamen des Hariri. Auch hier haben wir Reisebeschreibungen und Abenteuer, deren Gesamtbild eine Charakteristik des zeitgenössischen Lebens bildet, aber ihm fehlt das unserem heutigen Romane nahe kommende Gewebe, welches im Rustaweli’schen Werke geradezu frappiert.

Über den Verfasser dieser Meisterschöpfung, die noch [102] heute auf dem georgischen Parnass wie eine Perle prangt und die keinem Georgier, selbst dem schlichtesten Landmann unbekannt ist, sind wenig Einzelheiten bis auf unsere Tage bewahrt worden. In seiner Jugend hielt sich Schota Rustaweli längere Zeit seiner weiteren Ausbildung wegen in Athen auf und in sein Vaterland zurückgekehrt, wurde er Schatzmeister der schönen Königin Tamara, die er auch heimlich geliebt haben soll. Gegen Ende seines Lebens wurde er von ihr mit einer beträchtlichen Geldsumme nach Jerusalem gesandt, um die dortige georgische Kirche umbauen zu lassen. In Jerusalem starb er und wurde dort beerdigt.

Nach Rustaweli sind in jener Glanzepoche noch mehrere Schriftsteller zu verzeichnen, deren Werke sich gleichfalls bis auf unsere Zeit erhalten haben, aber dem „Manne im Tigerfelle“ an Wert nachstehen.

Moses Choneli ist der Verfasser eines Ritterromans in zwölf Abschnitten „Daredschaniana“, so benannt nach, der Heldin Daredschan. Mehr noch als Rustaweli priesen die Zeitgenossen den Dichter Johannes Schawteli, dessen bedeutendste Schöpfung jedoch verloren gegangen ist. Die von ihm verbliebenen kleineren Gedichte rechtfertigen dieses Lob nicht zur Genüge. Von Sarkis Tmokweli hat sich eine ächt morgenländische Erzählung „Wisramiani“, sowie der Ritterroman „Dilariani“ erhalten. Von der ersten Erzählung, in welcher der Dichter die unglückliche Liebesgeschichte einer Königin Wis schildert, behaupten übrigens manche Orientalisten, sie sei die Übersetzung eines verloren gegangenen persischen Originals. Schliesslich ist noch Tschachruchadse zu erwähnen, dessen Dichtung zu Ehren der Königin Tamara höchst gewandt geschrieben ist

Ausser diesen Schriftstellern war die Zahl der Übersetzer sehr bedeutend und die hervorragendsten der griechischen klassischen Werke wurden in dieser Epoche ins [103] Georgische übertragen. Nebenbei wurde auch in streng wissenschaftlicher Beziehung Bedeutendes geleistet, da besonders die Geistlichkeit mit der Abfassung oder Übersetzung philosophischer, naturwissenschaftlicher und historischer Bücher beschäftigt war.

Alle Dichterwerke des zwölften Jahrhunderts tragen deutlich den nationalen Charakter an sich, obgleich sie nicht ganz frei sind von der Beeinflussung des arabischen Geistes, zumal in der vorhergehenden Epoche die Araber über Georgien geherrscht und nicht wenig auf die Entfaltung der Wissenschaften und Dichtkunst in diesem Lande eingewirkt hatten. Nach ihnen fingen die Georgier an die persische Litteratur zu studieren und alle Schriftsteller des zwölften Jahrhunderts kannten die persische sowie auch die griechische Sprache. Ihre Geisteswelt war also keineswegs beschränkt und nach sicheren Thatsachen zu urteilen, standen die Wissenschaften damals in Georgien in hohen Ehren und wurden von den Königen eifrig gefördert. Um dieselbe Zeit entstand auch wahrscheinlich die georgische Staatschronik. „Kartlis zchowreba“ („Das Leben Georgiens“,) obgleich dafür keine unumstösslichen Beweise vorhanden sind, wie überhaupt die Quellen zur mittelalterlichen Geschichte Georgiens mehrfach unsicher sind.

Nach dem goldenen Zeitalter geriet mit dem Schwinden der politischen Macht dieses Landes auch seine Litteratur in Verfall, und wenn auch von Zeit zu Zeit ein schriftstellerisches Talent auftauchte so mangelte es ihm doch an Kraft einen nachhaltigen Einfluss auszuüben und inmitten des unaufhörlichen Kriegslärms war an keine Geisteskultur zu denken. So vergingen mehrere Jahrhunderte, während welcher das georgische Volk nur aus der Überlieferung die Namen seiner einstigen Dichter kannte, denn ihre Werke ruhten ungelesen in den Bibliotheken der Klöster. Viele der alten Handschriften gingen [104] auch zur Zeit feindlicher Einfälle verloren, denn die mahomedanischen Eroberer vernichteten stets mit vandalischer Wut alles Geschriebene, das sie bei ihren Plünderungen vorfanden. Die Wiedergeburt der lateinischen Litteratur, welche im fünfzehnten Jahrhundert so sehr das geistige Leben Italiens und anderer Länder beeinflusste, erreichte Georgien nicht und es scheint sogar, dass seine Bewohner bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die lateinischen Klassiker gar nicht gekannt haben.

Die Gründung einer Druckerei in Tiflis im Jahre 1712 brachte endlich wieder einen Strahl geistigen Lebens in das Land und König Wachtang VI., welcher selbst Schriftsteller war, liess sogleich eine ansehnliche Zahl Bücher religiösen und weltlichen Inhalts drucken.

Der noch vor ihm lebende Sulchan Arbeliani bereicherte nun das Schrifttum seines Vaterlandes wieder mit einigen wissenschaftlichen Werken, von denen eins einen unbestrittenen Wert besitzt. Es ist das ein georgisches Wörterbuch, welches an 25000 Wörter enthält, die der emsige Verfasser im Laufe von dreissig Jahren aus den Werken früherer Schriftsteller ansammelte. Sulchan Arbeliani’s Lebenslauf war übrigens reich an Abenteuern, denn er reiste viel in Europa herum und nahm hier auch die katholische Religion an, der er jedoch gegen Ende seines Lebens wieder entsagte. Seine Reiseerlebnisse erzählt er in einer „Reise durch Europa“ und ist ausserdem auch der Verfasser einer „Fabelsammlung“, in welcher er mit viel Humor die Makel seiner Landsleute geisselt.

Die schwache Bewegung, welche unter König Wachtang eingetreten war, schwand bald wieder, denn nicht lange darauf fielen die Perser in Georgien ein und zerstörten nicht nur die Tifliser Buchdruckerei, sondern verbrannten auch viele schon gedruckte Bücher. Ein gleiches Schicksal erfuhr die zweite vom Könige Heraklius II. [105] gegründete Druckerei während des letzten Einfalles der Perser im Jahre 1795.

Das achtzehnte Jahrhundert war also für Georgien ebenso unheilvoll wie die vorhergehenden und seiner durch unaufhörliche Einfälle der Mahomedaner und Thronstreitigkeiten gequälten Bevölkerung war die Zukunft des Landes fast gleichgültig geworden, denn selbst das Menschenleben galt in jener Zeit nicht viel. Von den fortwährenden Unruhen war sie völlig erschlafft, jede Thatkraft war erschöpft und nur wenige dachten an eine Änderung der Lage. Einige Aufklärung brachten in dieser Zeit katholische Missionäre in das Land, deren Bekehrungseifer jedoch die gedeihliche Verbreitung, des von ihnen hierher verpflanzten abendländischen Wissens unmöglich machte und mehr Zwistigkeiten unter der einheimischen Bevölkerung anfachte als die von ihnen gegründeten Schulen Nutzen brachten. Ihre Missionserfolge waren ziemlich unbedeutend und auch heute beträgt die Zahl der georgischen Katholiken nicht mehr als ein paar Tausend.

Die letzten nennenswerten Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts waren der Katholikos Antonius und der Sohn des Königs Wachtang VI., Wachtuschy. Unter den Werken des ersteren ist besonders eine „Geschichte Georgiens“ von Bedeutung. Auch wurde in derselben Zeit auf Veranlassung Wachtangs die georgische Chronik durchgesehen und auf Grundlage zahlreicher in Klöstern und Privathäusern vorgefundener Dokumente umgearbeitet, so dass diese fast einzige Quelle zur mittelalterlichen Geschichte Georgiens heute nicht mehr in ihrer ursprünglichen Abfassung existiert. Dass die Thatsächlichkeit manches darunter gelitten hat, ist nicht zu bezweifeln, denn der Parteienhader stand damals in Georgien in voller Blüte, so dass also von einer unparteiischen Geschichtsforschung nicht die Rede sein konnte.

Ausser einigen wissenschaftlichen Werken haben die [106] Georgier im achtzehnten Jahrhunderte kein Geistesprodukt von Wert aufzuweisen und in der schönen Litteratur sind nur zwei Schriftsteller zu nennen, deren Werke auch heute noch gelesen werden. Es sind das die Dichter Guramoschwili und Sawatnawa. Der letztere war der Liebling des Königs Heraklius II., und seine Lieder werden heute noch vom Volke gesungen. Im übrigen schlummerte die schöne Litteratur und erst um die Mitte unseres Jahrhunderts erwachte sie von neuem.

Ehe sich noch in den Sechziger Jahren die neue Kulturbewegung sichtlich bemerkbar machte, traten Lyriker auf, die den damals die georgische Gesellschaft durchstürmenden Vergnügungsrausch mit ihren Liedern begleiteten.

Der erste unter ihnen war Alexander Tschawtschawadse, ein Anakreontiker, der jedoch vom Byronismus angesteckt war und deshalb mit seiner Muse auf Irrwege geriet. Er, der ein mittelmässiger georgischer Hafiz hätte werden können, verfiel in sinnliche Verweichlichung und schrieb Sehnsuchtslieder, die wenig aufrichtiges Gefühl atmen und noch weniger männliche Kraft. Der Byronismus hatte ihn nichts weiter als den Schmerz gelehrt, aber den Schmerz fühlte er nicht mächtig genug, um ihn kräftig ausdrücken zu können. Auch haftet an ihm noch viel orientalische Überschwänglichkeit, und wenn er das Dunkel der Nacht mit dem Dunkel der Locken seiner Geliebten oder den Schneeglanz ihres Busens mit dem Glanze des Blitzes vergleicht, so müssen dergleichen Absonderlichkeiten dem Europäer höchst unpoetisch vorkommen.

Ernsthafter ist der Byronismus seines Zeitgenossen Nikolaus Barataschwili, der den Weltschmerz zu begreifen schien und der erste georgische Dichter war, der in die Gedankenwelt des europäischen Westens eindrang und Child Harolds misantropische Klagerufe in der Litteratur seines Vaterlandes widerhallen liess. Trotz seines Byronismus [107] war jedoch Barataschwili durch und durch ein Georgier und wenn er auch seine Landsleute an Kraft der Reflexion bedeutend überholte, so vermochte er es doch nicht in der düstern Sphäre des Zweifels auszuharren und sehnte sich bald wieder in die romantische Gedankenheimat seiner ersten Jugendtage zurück. Er war weder ein gelangweilter Weltbürger, noch ein mysteriöser Philosoph, sondern ein Dichter voller Kraft, der von den Klängen der Byronschen bezaubert, sich eine Zeit lang dem Weltschmerze ergab, aber bald seinen Fehltritt bereute und mit einer des Georgiers würdigen Verzweiflungskraft das Joch abzuschütteln suchte.

Nachstehendes Gedicht zeigt, wie sehr er es beklagte, dem Phantome Child Harolds gefolgt zu sein und welchen Schauder er vor seinem dämonischen Verführungsreize empfand:

O böser Geist, wer hat dich auserkoren.
Dich mir zum schnöden Führer hergesandt,
Auf dass ich folgte so in dich verloren,
Den irren Blick dem Bösen zugewandt?

Sag’ an, wohin nahmst du den Seelenfrieden,
Der mir in schönern Tagen eigen war.
Und den ich hielt für’s grösste Glück hieniden.
Da mich der Glaub’ noch schützte vor Gefahr?

Und das vollbrachtest du an meinem Leben,
Du, der du mir der Freiheit Gut geschenkt.
Mir statt der Leiden nur Genuss gegeben
Und jeden Wunsch ins Meer der Lust gelenkt!

Wo sind denn die Verheissungen geblieben.
Mit denen du den Sinn mir einst bestrickt?
In eine Hölle hast du mich getrieben
Und nun ist plötzlich deine Macht entrückt!

Verflucht sei jene unheilvolle Stunde,
Da deinen Heuchelworten ich Gehör einst gab
Und lüstern beitrat zu dem sündigen Bunde,
Der hin mich riss in meines Glückes Grab.

[108]

Seit jener Stund’ hat mich die Ruh’ verlassen,
Kein Wollustmeer löscht der Begierden Glut,
Und Alles möchte ich heut’ fliehen und hassen,
Was mir einst heilig schien und wert und gut.

Was bin ich heute in der Menschen Kreise,
Da bittrer Zweifel meinen Geist nur quält,
Und mir die Rast zuwider wie die Reise!
O wehe dem, der deiner Macht verfallt!

Von Gedanken und Unglück geplagt, betrachtete sich Barataschwili für ein Opfer der Verirrung und war überzeugt, dass sein Beispiel manchem seiner Landsleute zum Heil gereichen würde. Nicht ohne Reiz ist das Gedicht, in welchem er diese Hoffnung ausspricht und sich mit Resignation seinem Schicksale ergiebt:

Mein Ross.

Fort trägt mich mein Ross auf ganz spurlosen Stegen,
Ein Rabe nur folgt mir mit wildem Geschrei,
Spreng vorwärts, o Ross, meiner Zukunft entgegen
Und mach mich von meiner Gedankenlast frei!

Jag fort über Felsen und gähnende Gründe,
Ras’ weiter und kürz mir der Zeit trägen Lauf,
Scheu’ weder die Hitze noch eisige Winde,
Denn Alles ertrag ich, kein Schreck hält mich auf.

Gern flieh ich die Heimat, die Freunde und Lieben
Und die, die ich koste in seliger Stund.
Ich wandre von quälender Sehnsucht getrieben
Und gebe mein Herzleid den Sternen nur kund.

Die Seufzer, die manchmal die Brust mir noch regen,
Die mag übertönen der Raben Geschrei.
Spreng vorwärts, o Ross, meiner Zukunft entgegen,
Und mach mich von meiner Gedankenlast frei!

Mag fern von der Heimat der Tod meiner harren.
Damit keine Thräne benetze mein Grab.
Der Rabe soll mich in der Wüste verscharren,
Der Sturmwind sing brausend das Grablied mir ab!

[109]

Anstatt falscher Thränen von Heuchlern vergossen,
Befeuchte mein Grab einst nur himmlischer Tau.
Trag weiter, o Ross, deinen treuen Genossen,
Mich schreckt nicht des Schicksals vernichtende Klau’!

Mein Tod soll in Niemandem Mitleid erregen,
Und selbst die Geliebte kein Herzleid mir weih’!
Spreng vorwärts, o Ross, meiner Zukunft entgegen
Und mach mich von meiner Gedankenlast frei!

Nicht spurlos wird bleiben der Pfad meiner Leiden
Und mancher, der nach mir verirrt ihn betritt.
Wird meiner gedenkend den Abgrund vermeiden,
Die Klippen umgehen mit vorsichtigem Schritt.

In seinen Liebesliedern ist er ein ächter Georgier und erinnert sogar in gewissem Grade an Hafiz, wenn ihm auch dessen Humor völlig mangelt:

Der Schöpfer sei gelobt, der dich erschuf
Und dir so schöne, dunkle Augen gab.
In deren Glanze ich mich ganz verlier
Und meine Seelenruhe fand ihr Grab.

Von Sehnsucht dich zu sehen, leb’ ich nur.
Und lieb ist mir selbst deines Namens Klang;
Ach, heil den Schmerz, den ich um dich erfuhr.
Von dem so blass geworden meine Wang’.

Zwar bin ich arm, mein Mantel und mein Ross
Und dieser Dolch sind all mein Hab und Gut,
Doch wärst du mein, wär ich so reich und gross,
Wie’s der nicht ist, dess Haupt auf Seide ruht.

Barataschwili war der einzige Dichter, welcher als wirklicher Vertreter des Byronismus in der georgischen Litteratur angesehen werden kann, während der ihm zeitgenössische Georg Eristawi, welcher mitunter mit einigen Dosen Weltschmerz hervortritt, nur dem Zeitgeiste Folge zu leisten schien. Jedenfalls ahmte er den grossen Sohn Albions ohne Begeisterung nach und hatte auch eigentlich keine Ursache zu einer pessimistischen Lebensanschauung, da seine irdische Pilgerfahrt eine höchst glückliche war. [110] Sogar die Verbannung, in die er in den Dreissiger Jahren für seinen Anteil an einer gegen die russische Regierung angezettelten Verschwörung geschickt wurde, brachte ihm manchen Vorteil, indem sie ihm Gelegenheit bot das europäische Kulturleben näher kennen zu lernen. Anfänglich wurde ihm Wilna zum Aufenthaltsorte angewiesen und hier verliebte sich in den galanten georgischen Kavalier eine schöne Polin, die wohl auch in ihm das Interesse wachgerufen haben mag, das er später der polnischen Litteratur gegenüber an den Tag legte. Von Wilna wurde er nach Warschau geschickt, wo er gleichfalls manches Damenherz zu bestricken wusste. Eifrig studierte er nun die polnische Sprache und übersetzte zahlreiche Gedichte von Mickiewicz ins Georgische. Dann folgten seine Übersetzungen mancher Gedichte von Schiller, Petrarca und Puschkin und durch diese Übertragungen erwies er der Litteratur seines Vaterlandes einen grossen Dienst, indem er neue Ideen, neuen Geschmack und neue Vorbilder in dieselbe einführte. So wurde Georg Eristawi gewissermassen der Vorbereiter einer neuen Dichterschule, denn er streute Samen zu neuem Schaffen aus. In sein Vaterland zurückgekehrt, schritt er zur Gründung einer georgischen Nationalbühne, für die er auch eine Anzahl Lustspiele verfasste.

Nach ihm schlug kein georgischer Dichter mehr den Ton des Weltschmerzes an, denn die damalige georgische Gesellschaft, welcher die Lebensübersättigung fremd war und die ausser der rein praktischen Philosophie keine andere kannte, suchte im Gegenteil für ihr Geistesleben eine ideale Grundlage, die doch unmöglich der Byronismus sein konnte. Vom Instinkt geleitet wandten sich die Georgier bald ihrer Vergangenheit zu und der grelle Kontrast, welchen diese mit ihrer damaligen Lage verglichen, darbot, erweckte in ihnen mächtiges Leid, um die entschwundene Grösse und mit diesem zugleich den Drang nach einer besseren Zukunft.

[111] Fast alle nun folgenden Dichter versuchten es, den früheren Glanz Georgiens so blendend als möglich zu schildern und hörten nicht auf, mächtige Mahnrufe an ihre Landsleute zu richten. Der Fortschritt wurde ihr Ideal, für das sie den Schild erhoben und mit den Gegnern Lanzen brachen. Der erste Dichter, welcher sich der Vergangenheit zuwandte, war Gregor Orbeliani, eine edle, begeisterte Sängerseele. Erst vor zwei Jahren haben ihn die Georgier als achtzigjährigen Greis zu Grabe geleitet und die Trauer, welche sein Tod im ganzen Vaterlande hervorrief, war der beste Beweis für seine ächt nationale Wirksamkeit als Schriftsteller. In Allem war Orbeliani noch ein Georgier der patriarchalen Zeit und wenn er auch mitunter seine Landsleute zum Fortschritte ermahnt, so thut er dies doch mit väterlicher Milde und greift nie zum bittern Vorwurfe. Der Kampf war ihm in dieser Hinsicht fremd und mit Liebe hing er noch am Althergebrachten. Seine fast durchweg lyrischen Gedichte zeichnen sich durch eine erhabene, malerische Sprache und seltene Gefühlskraft aus.

Weihevoll und feierlich sind seine Gedichte, in denen er des Vaterlands Vergangenheit besingt und seine entschwundene Grösse betrauert:

Vor dem Bildnis der Königin Tamara.

Mit einem unaussprechlich heil’gem Schauer
Blick ich dein Bild an, edle Königin,
Und demutsvoll ich mich vor dir verneige.
Denn Ehrfurcht flösst mir ein dein hehrer Sinn.

Ich freue mich, dass ich dein Antlitz schaue
Und möchte nimmer mehr von dannen gehn,
Denn hier ich die Erniedrigung vergesse,
In der ich heut’ Georgien muss sehn.

Verwelkt ist längst dein einst so blühender Garten
Seitdem erloschen deiner Grösse Strahl.
Ja, seine Schönheit ist nicht mehr dieselbe
Und aufgedrückt hat ihm die Zeit ihr Mal.

[112]

Wie eines schönen Traums, der uns erquickte,
Wie einer Sonne, die längst unterging,
Gedenken wir mit Wonne deiner Zeiten,
An denen schon der Ahnen Herz gern hing.

Ein schwacher Greis, der schwer gebeugt vom Alter,
Steh wieder ich, o Königin, vor dir
Und fleh’ dich an um Segen für Georgien,
Erbitt bei Gott ihm Gnade für und für.

O segne es, damit sich seine Söhne
Ermannen und von Wissen aufgeklärt
Sich wieder Macht und edlen Ruhm erwerben
Und darnach streben, was des Strebens wert.

Ja, mag sich wieder unser Geist beleben.
Mag Rustawelis Sprache neu gedeihn.
Und unsre Heimatsliebe Früchte tragen.
Uns neu bestrahlen hehren Ruhmes Schein.

Doch ach, o Königin, die du gen Himmel,
Die Blicke richtest, du erkennst wohl kaum
In mir Verlassenen einen Sohn Georgiens
Und unser Elend ist dir wie ein Traum!

Soll denn für alle Zeiten das schon welken,
Was einmal seinen Blütenglanz verlor,
Soll das, was fiel, unaufgerichtet bleiben
Und nie erlangen seinen frühern Flor?

O Welt der Unbill und der ew’gen Lüge,
Du in den Trug versunknes Jammerthal,
Kein wahrer Glanz kann je in dir bestehen
Und alles Edle kommt in dir zum Fall.

Blieb nichts mehr übrig von Georgiens Grösse
Als die Ruinen, die ich heute seh,
Blieb nichts vom Ruhm, der einst durch Asien strahlte,
Blieb keine Thatenfrucht? O weh, o weh!

Kraft und ein mitunter fast ungestümes Gefühl zeigt Orbeliani in seinen Liebesliedern:

Schänk keinen Wein mehr ein, denn längst schon trunken.
Bin ich von hoffnungsloser Lieb’ zu dir.

[113]

Halt ein, denn leicht verrät mich meine Zunge
Und spricht, was Keinem kund ist ausser mir.
O, leicht verrät sie, was ich heimlich wahre.
Die heisse Liebe und der Sehnsucht Schmerz,
Den bangen Kummer und die stillen Thränen;
Schänk keinen Wein mehr ein, mich quält dein Scherz!

Kaum reicht mir die Vernunft, das Herz zu zähmen
Und doch willst du sie schwächen noch durch Wein,
Ach, glaube mir, dass deine süssen Blicke
Mich der Vernunft berauben schon allein.
Und lächelnd du mir noch den Becher füllst.
Halt ein, mit Wein du meinen Durst nicht stillst!

O quäl mich nicht mit deinem Scherz! Die Rose
Versprichst du mir, wenn ich den Becher leer!
Viel lieber küsst’ ich deine Rosenwangen –
Und dann, reich mir den Todesbecher her!
Schänk keinen Wein mehr ein, mein Kopf ist wirr
Von heisser, hoffnungsloser Lieb’ zu dir.

Schon oft verglich ich, dir ins Antlitz schauend
Der Mandelblüte deiner Wangen Rot.
Fast bebt mein Mund sie einmal zu berühren;
O hör mich an, denn Wahnsinn mich bedroht.
Wie Gift tobt durch die Adern mir das Blut,
Schänk keinen Wein mehr ein, ich sterb vor Glut!

Der Trennungsabend.

Schon senkt die Sonne sich zum Untergange
Und zärtlich spielt ihr letzter Abendschein
Am Kaukasus, als wär’s ihr leid und bange.
Der neuen Trennung schon so nah zu sein.

In weiter Himmelshöhe mächtig schimmert
Der Riesenberge ew’ger Gletscherschnee,
Um sie herum ein Wolkenchaos flimmert.
Das allen Thalen droht mit Not und Weh.

Darunter prangt der Wälder Märchendunkel,
Bis in die Thäler reicht ihr grün Gewand.
Von Klippen stürzen Bäche mit Gefunkel,
Wild tobt der Terek an die Felsenwand.

[114]

Betrübt schau hin ich in die bange Ferne,
Dort rollt ein Wagen, der mir die entführt,
Die wert mir war gleich meinem Lebenssterne,
Mit der mein Herz sein Alles nun verliert.

Leb wohl! so lang ich atme, wird mein Segen
Dir folgen und stets dein Begleiter sein,
Mir aber nun auf meinen Lebenswegen
Für immer schwinden aller Freude Schein.

Hin rollt der Wagen und in schnellem Fluge
Entführt er meines Herzens Liebste mir.
Schon schwindet er verdeckt vom Nebelzuge.
Wozu schau ich noch hin? Doch nicht nach ihr?

O sprich, worin kann ich denn Trost noch finden,
Wenn du dich nicht geweigert mich zu fliehn.
Wenn du mir nicht vergolten mein Empfinden?
Wer wird mich dieser Trauer nun entziehn?

Nie dachte ich an dieser Wonne Ende;
Nun ist es da! Leb wohl, leb wohl, mein Lieb!
Ich aber ring vor tiefem Schmerz die Hände
Und frag, was mir noch in der Welt verblieb.

Schon dunkelt’s und mit meiner Herzenstrauer
Bin ich in dieser Stille hier allein,
Den Kaukasus umhüllt ein Nebelschauer,
Am Kasbek glänzt des Abendsternes Schein.
Vom Berge stürzend rauscht der Wasserfall,
Der Terek heult und brüllt im Felsenthal.

Orbelianis Gedichte atmen immer einen reinen Edelmut, alles ist Harmonie in seiner Seele und so empfindungsvoll wie er das Vaterland und dessen Naturschönheiten besingt, ebenso gefühlvoll ist sein Herz, wenn er des ärmsten und unglücklichsten seiner Landsleute gedenkt:

[115]

Der Muscha[1] Bokuladso.

Warum blickst du auf mich mit solchem Staunen,
Siehst du zum ersten Male einen Muscha,
Den Mann, des aufgedeckte Brust vom Schweisse
Und Strassenstaube schwarz wie Kot geworden?
Den armen Mann mit sonnverbranntem Antlitz,
Den Mann, den längst das Schicksal hat vergessen.
Den seit der Wiege Elend nur verfolgt.
Den Mann, dess Leben nur ein endlos Leiden,
Ein Kampf mit Hunger und Entbehrung ist?

Warum blickst du auf mich mit solchem Staunen?
Die tiefen Furchen auf der schwarzen Stirne,
Das weisse Haar in meinem schmutz’gem Barte,
Sind nur die Spuren meiner Herzensqualen,
Der ew’gen Mühsal um mein täglich Brot,
Der immer bittern, hoffnungslosen Träume.
Sahst du denn niemals Arme und Verlassene,
Die nur deswegen leiden, weil sie leben?

O staune nicht! blick lieber in mein Herz
Und lies dort die Geschichte meiner Qualen:
Verrat vom Bruder, Neid und Hass vom Nächsten,
Vom Freunde Judasküsse und von ihr.
Der Teuren, unheilbare Herzenswunden.
Von aller Welt erbarmungslos verstossen,
Hab ich, was ich einst war, schon längst vergessen.
Im Schweisse triefend schwere Lasten schleppen.
Das ist’s, was mir beschieden hier auf Erden.

O wundre dich nicht über meinen Trübsinn!
Du weisst nicht, wie dies Elend schwer zu tragen!
Ich klage, andre singen frohe Lieder.
Aus jenen Gärten schallt Musik herüber.
Ach, wie ich gern in dieses Lied einstimmte.
Doch ach, es klingt ja nicht für mich Verlassenen!
Tief in mein Innres meine Seufzer bergend.
Wisch ich mit schwerer Hand die Thränen ab.
Denn ach, was kümmert Glückliche mein Elend!

Wer bin ich also? Wie soll ich mich nennen.
Da ich nicht einen Tag des Glücks gehabt?

[116]

Schon in der Kindheit kannte ich nur Mühsal
Und trüb und hoffnungslos ist meine Zukunft,
Kein Freudenstrahl wird jemals sie erhellen.
Verflucht sei der, der mich zu segnen wagt,
Mich, der ich jedes Erdenheil entbehre
Und wie das Vieh im schweren Joche ächze.

Was schaust du mich noch an, mich Unglückseligen?
Ja, grau ist nun mein Haar, ich altre schon
Und nichts blieb mir von diesem Erdenleben
Als die Erinnerung an schwere Leiden.
Was hab ich Gutes in der Welt erfahren?
So sterb ich, ohne vor dem Tod zu bangen.
Arm, elend wie ich kam, geh ich von hinnen;
Wie ich in diesem Leben war vergessen,
Werd’ ich es auch nach meinem Tode sein.
Wozu ward ich denn eigentlich geboren.
Da doch nur bittres Elend meiner harrte!
Wen soll ich dafür preisen, wen verfluchen?
Ich weiss es nicht; ich weiss nur, dass ich leide.
Doch nicht, wofür. Ich trage keine Schuld.

Warum blickst du mich an mit solchem Staunen?
Glaubst du vielleicht, ich sei kein Mensch wie du?
Glaubst du, dass ich das Gute nicht erkenne.
Weil ich bedeckt nur bin mit schmutzigen Lumpen?
Mein Herz regt sich wie deins, wenn ich die Worte,
Die einst der Heiland sprach, verkünden höre.
Von diesem Himmelstrost erstarke ich
Und der Verzweiflung Stimme schweigt in mir.
In solchen Stunden denk ich an die Kindheit,
An meiner lieben Mutter Zärtlichkeit,
Ich höre ihre sanftmutsvolle Stimme,
Die mir einst über alles teuer war.
O, da verfluch ich mein Geschick nicht mehr.
Die Last der schweren Leiden wird mir leichter
Und froh entschlummre ich in solcher Nacht.

O Sohn der Freude, der du schwelgst im Glücke,
Für dich ist alle Erdenlust geschaffen.
Der Wiesen Grün, das Azurblau des Himmels,
Des jungen Lenzes Blumenpracht und Düfte,
Auch schöner Mädchen holde Liebesblicke
Und ihrer weichen Arme selig Kosen,

[117]

Ist nur für dich, denn ich bin ja geboren,
Um dir im Schweisse meines Angesichts
Zu dienen. Früh, wenn du noch schlummerst,
Ächz ich schon unter meinem schweren Joche,
Um dir des neuen Tags Genuss zu sichern.
Und wenn du dann an mir vorüber schreitest,
Versagst du mir noch einen Mitleidsblick.
Warum? wofür? ich trage keine Schuld.

Engerischer und mit mehr Jugendkraft als Orbeliani tritt Akaki Zereteli für den Fortschritt ein. Seine Lyrik ist schwungvoll, oft hinreissend und zeichnet sich besonders durch jenen feierlich einfachen Ton aus, der das Gemüt ergreift und es in eine poetische Stimmung versetzt. Neue Bahnen hat er der georgischen Poesie nicht gebrochen, aber er hat viel der deklamatorischen Nichtssagerei entgegengewirkt und die Dichtkunst auf eine Stufe gebracht, die zur Vollkommenheit führt. Die Verse Zereteli’s sind dabei meisterhaft gefeilt, elegant und überhaupt frei von orientalischer Derbheit; ein Beweis, dass auch im Oriente eine moderne Dichtkunst erblühen kann.

Die Vaterlandsliebe ist auch in ihm lebhaft, auch er hofft mit Zuversicht auf eine bessere Zukunft und hält mit Mut und edler Hingebung an seiner Nationalität fest:

Noch nicht gestorben ist die Liebe, nein!
Sie schlummert nur und wird erwachen,
Wer sie auf ewig will dem Tode weihn,
Dem droht weit eh’r des Todes Rachen.

Vom langen Kampfe ist sie nur erschlafft
Und wird erstarken bald im Frieden.
Wer zweifelt an des Schicksals ew’ger Kraft,
Dem ist des Irrtums Fluch beschieden!

Das Herz im Busen sich noch kräftig regt,
Auch hört der Geist nicht auf zu hoffen,
Dass einst des Glückes Stunde wieder schlägt
Und uns der Zukunft Thür steht offen.

[118]

Heut ist die Heimat arm zwar und verwaist,
Doch woll’n wir lieben sie und schätzen
Und unsrer grossen Ahnen ehernen Geist
Durch eherne Geduld ersetzen.

Und sollten wir um ihrer willen Not
Und bittres Elend schier erfahren,
So war uns süss noch solcher Mühsal Brot
Und leicht die Pflicht ihr Treu zu wahren.

Noch nicht gestorben ist die Heimat, nein!
Sie schlummert nur und wird erwachen
Und einst vielleicht noch denen Ruhm verleihn,
Die für ihr Wohl die Kräfte brachen.

Wunsch.

Ewig Glück wünsch ich dem Heimatlande,
Will, dass Niemand es zu schrecken wage,
Noch es täusch mit schmeichlerischem Tande
Oder heuchlerisch ihm Gunst entgegen trage!

Mag sein teurer Name wieder klingen,
Hehr wie einst, auf dass ihn Alle kennen.
Mögen brüderlich sich die umschlingen,
Die sich stolz Georgiens Söhne nennen.

Rustawelis Laute mag erschallen
Und die Alle wecken auf vom Schlummer,
Die wie Schatten durch[WS 1] das Leben wallen
Und erschlafft schon sind vom langen Kummer.

Zereteli ist ein gefeierter Lyriker, aber vor Allem ist er Dichter und hat sich auch der Aufgabe, ein nationales Epos zu schaffen, gewachsen gezeigt. Sein diesartiges Werk, „Der Statthalter Tomiki“, welches eine bewegte Episode des mittelalterlichen Georgiens behandelt, ist eine gross angelegte und mit Geschick ausgeführte Dichtung, die dem georgischen Parnass zur wahren Zierde gereicht. Zereteli, der heute in Georgien so beliebt ist, dass ihn seine Landsleute zärtlicher Weise ihren Akaki nennen, steht noch in der Blüte der Jahre und ist eine höchst angenehme [119] Erscheinung. Oft tritt er auch als öffentlicher Redner auf und seine Vorträge gehören zu dem Besten, das bis jetzt in dieser Hinsicht in Georgien geleistet worden.

Derselben Geistesrichtung, der Zereteli angehört, folgt auch Elias Tschawtschawadse, der als Lyriker fast ausschliesslich nur sein Heimatsland und dessen Vergangenheit besingt, wobei er jedoch mutvoll in die Zukunft schaut und nicht aufhört seine Landsleute zum Fortschritte aufzumuntern. Bei ihm gilt jeder Gedanke, jeder Atemzug dem Vaterlande und wo er auch herum wandere, überall denkt und fühlt er für die Heimat:

Am Kur.

So hör ich wieder dein vergess’nes Rauschen,
O Heimatsstrom! und aufgewacht vom Schlummer
Regt meine Seele wieder schwerer Kummer,
Denn nur betrübt darf ich dein Spiel belauschen.

Ja, wieder deckt sich auf die alte Wunde,
Der Schmerz ums Land einst so erhaben,
Als läg’ in deiner Flut die Pracht begraben,
Die einst geglänzt auf dieser Berge Runde.

Von jener Zeit, die hehr dahingegangen,
Reicht kaum zu uns noch ein Erinn’rungsschimmer,
Drum Heimatsstrom, der du heut rauschst wie immer.
Klag’ jener Zeit mein Weh und mein Verlangen!


Elegie.

Im Schlummerlicht der blassen Vollmondstrahlen
Liegt träum’risch da mein liebes Heimatsland,
Und über ihm in Himmelsfemen malen
Die Riesengletscher ihre Silberwand.

So still! Die Heimat flüstert selbst dem Sohne,
Dem eignen Kind kein trautes Wörtchen zu.
Doch hör! mit welchem bangen Schmerzenstone
Schwer der Georgier stöhnt in seiner Ruh.

[120]

Ich steh allein! – der hohen Berge Schatten
Sind wie die Hüter dieser langen Nacht.
Ach Land! wann wirst denn du vom Schlaf ermatten,.
Wann kommt die Zeit, da auch dein Lenz erwacht?

An die Aragwa.

Aragwa, Zeugin meines Volkes Lebens!
Kein andrer Strom ist mir so wert und teuer.
Bei dir stand einst der Markstein unsres Strebens,
Bei dir erlosch das letzte Schlachtenfeuer.

Die Ruhmespracht des lieben Heimatslandes
War lang die schönste Zierde deiner Fluren,
Hier war die Wiege unsres Ritterstandes,
Hier stolze Feinde seine Kraft erfuhren.

In deinen ewig ungestümen Wellen
Liegt unsrer Vorzeit lange Mähr begraben,
Und jede Scholle bis zu deinen Quellen,
Mag unsrer Ahnen Blut gesogen haben.

An deinem Ufer, wo es jetzt so öde,
Stand einst der Bagratiden Königsveste,
Hier donnerte oft tapfrer Helden Rede,
Hier weilten sieben Könige einst[WS 2] als Gäste.

Fort wogten deine Wellen, es verflossen
Jahrhunderte, von Herrlichkeit umschimmert;
Mit ihnen schwanden jene Kampfgenossen,
Die heut kaum ein Erinn’rungsstrahl umflimmert.

Wie oft schau ich nicht hin auf deine Wellen,
Als wollt’ ich jenen Glanz zurückverlangen!
Doch wie mit Eile sie vorüberschnellen
Und eilend lispeln sie mir zu: Vergangen!

Auch der neu erwachende Frühling erinnert ihn nur ans Vaterland und macht seinen Wunsch, es wieder aufblühen zu sehen, rege:

Wieder lacht die milde Sonne
Und die Lerche singt,
Alles schwelgt in süsser Wonne,
Die der Frühling bringt.

[121]

Längst schon prangt um junge Reben
Grünes Maigewand.
Wann erwachst denn du zum Leben,
Teures Vaterland?

Dabei ist jedoch Tschawtschawadse kein müssiger Elegiendichter, er beschränkt sich nicht auf wehmutsvolle Klagen, sondern spornt zur That an und verlangt von seinen Landsleuten eine neue Bahn zu betreten:

An die georgische Mutter.

O Mutter! in vergangnen Ruhmeszeiten
War heilig unsern Frau’n das Vaterland,
Zu tapfern Helden sie die Söhne weihten
Und hielten wacker stets im Unglück Stand.

Der Riesenberge mächtig Donnerrollen
War jener Söhne rauhes Wiegenlied,
Und nie erschreckte sie der Feinde Grollen
Denn stets ihr Heldenmut den Sieg entschied.

Die Zeit ist hin und schweren Elends Schläge
Erschütterten, o Mutter, deine Kraft,
Und Schatten gleich ziehn hin am Lebenswege
Heut’ deine Söhne, längst vom Schmerz erschlafft.

Sag an, wo ist der Heldengeist der Ahnen,
Ihr hoher Rittersinn, der uns heut fehlt?
Zerrissen sind die alten Siegesfahnen,
Kein Freudenstrahl Georgiens Flur erhellt.

Doch eitel ists, den Glanz noch zu beklagen,
Der längst entschwand und nimmer wiederkehrt.
Schon hat der Neuzeit Stunde uns geschlagen
Und uns aus langem Schlummer aufgestört.

Heut gilt es unsre Zukunft zu bereiten
Und zu betreten eine neue Bahn.
Lass deine Söhne mutig vorwärts schreiten
Und meine Hoffnung bleibt vielleicht kein Wahn.

Hier ist, o Mutter, deines Wirkens Anker,
Hier magst du ausstreu’n deiner Tugend Saat;

[122]

Gieb deinen Söhnen Kraft, auf dass sie wacker
Der Heimat beistehn stets mit Rat und That.

Begeistre sie für wahre Bruderliebe,
Für Gleichheit, Freiheit, edle Menschlichkeit,
Weck ihrer jungen Herzen beste Triebe,
Lehr wirken sie im Geist der neuen Zeit!

O lehr sie, Mutter, nur dem Guten dienen.
Mag ihnen leuchten stets der Wahrheit Licht,
Und glaub’ es mir, von ihrem Stern beschienen,
Verderben ihrer Mühe Werke nicht!

Seine schriftstellerische Laufbahn begann Tschawtschawadse zu Anfang der Sechziger Jahre und zwar trat er damals so energisch gegen alles Rohe und Willkürliche auf, das noch am Leben seiner Mitbürger haftete, dass er sie wie aus tiefem Schlummer aufrüttelte. Seine erzählende Dichtung „Aus dem Leben eines Räubers“ war wie ein Verdammungsurteil für alle georgischen Gutsbesitzer, die die ihnen untergebenen Bauern knechteten und aus deren letzten Schweisstropfen noch Nutzen für sich ziehen wollten. Einen wahren Aufruhr riefen die Bekenntnisse des Räubers Sakro hervor, aber noch mehr Aufregung verursachten seine in Prosa geschriebenen Erzählungen. Die Masse der georgischen Gesellschaft war daran gewöhnt, Alles für gut zu finden, was georgisch war und mit einem Male riss ihnen Tschawtschawadse den Schleier von den Augen und zeigte, wie elend, zerfahren und verknöchert ihr Leben sei. Von allen Seiten wurde der kühne Dichter, der es gewagt hatte seinen Landsleuten die Wahrheit zu sagen, des Verrats und des Hasses gegen sein Vaterland beschuldigt, und nur Wenige erkannten seine edle Absicht und zollten ihm dafür ihr Wohlwollen.

Doch Tschawtschawadse erschrak nicht vor diesem Sturm der Missgunst, sondern blieb fest und unerschütterlich auf seinem Posten stehen und kämpfte mutig fort gegen alles Rohe und Niedrige. Erst nach der Ablösung [123] der Bauern vom Frohndienste, da diese freie Staatsbürger geworden waren und sich Manches in Georgien zum Bessern gewendet hatte, trat er von seinem Posten ab und widmete nun seine schriftstellerische Thätigkeit der Verherrlichung des Vaterlandes. Jetzt liess auch der Sturm, der gegen ihn gewütet, allmählich nach und die meisten seiner Landsleute gestanden ihm zu, dass er ihnen zur Selbsterkenntnis verholfen hatte.

In seinem historischen Gedichte „Mutter und Sohn“ zeigte er die Macht der Vaterlandsliebe, wie sie einst die Georgier der Vorzeit beseelte. Die Mutter soll ihren einzigen Sohn in den Kampf ziehen lassen, aber ihr Mutterherz wird wankelmütig, denn der Sohn ist ja die einzige Freude und Hoffnung ihres Lebens. Doch die Liebe zum Vaterlande siegt endlich in ihr und wie eine Spartanerin ruft sie aus: „Er ist die einzige Stütze meines Alters, aber nimm ihn hin, o Vaterland, er gehört dir! Ja, es betrübt mich, dass ich dir an einem so verhängnisvollen Tage nur einen Verteidiger opfern kann.“

Nicht minder erhaben erscheint der Patriotismus in einem anderen gleichfalls historischen Gedichte „Die Selbstaufopferung des Demetrius.“ Im „Phantome“ lässt der Dichter die Vergangenheit Georgiens vorüberziehen und mit folgenden Worten charakterisiert er das ehemalige Geschick und die Mission seines Vaterlandes: „O Georgien, du Perle und Zierde der Erde! Wieviel Leid und Elend hast du nicht für den Christusglauben ausgestanden! Sag’ an, welches andere Land hatte einen so dornigen Pfad zu durchschreiten wie du? Wo ist ein Land, welches einen so erschöpfenden, zwanzig Jahrhunderte währenden Kampf ausgehalten hätte ohne von der Erde zu verschwinden? Du, Georgien hast es allein vermocht! Kein anderes Volk kommt dem deinigen an Ausdauer gleich. Wie oft vergossen nicht deine Söhne zu deiner Verteidigung ihr Blut! Jede Spanne deines Bodens ist damit befruchtet. Und [124] wenn sie sich auch mitunter vor der Übermacht beugten, erhoben sie doch wieder mutig das Haupt. Glauben und Freiheit waren ihre Ideale!

Fast alle diese Dichtungen stammen aus der Jugendzeit Tschawtschawadses, welcher dann während einer Reihe von Jahren tiefes Schweigen beobachtete, aber dafür auf dem Gebiete aller das Gemeinwohl betreffenden Angelegenheiten eine rege Thätigkeit entwickelte und seit ungefähr zehn Jahren die Monatsschrift „Iweria“ herausgiebt, die schon viel zur Hebung der Wissenschaft und Litteratur in Georgien beigetragen hat.

Vor ungefähr einem Jahre veröffentlichte er wiederum eine längere lyrische Dichtung „Der Einsiedler“, welche eine Volkslegende zum Vorwurfe hat.

Ausser Tschawtschawadse hat bis jetzt noch kein zweiter georgischer Schriftsteller so nachhaltig und kühn für den Fortschritt das Wort geführt und sein Verdienst ist es teilweise, dass sich heute der moderne Liberalismus ohne grössere Hindernisse in Georgien verbreitet.

Während die drei letztgenannten Dichter hauptsächlich den patriotischen Faktor im weitesten Sinne behandeln, weiht Raphael Eristawi seine Muse ganz der ländlichen Natur oder lässt alte Volkslieder in neuem Gewande aufleben. Das Leben des einfachen Landmannes, die Freuden ländlicher Zurückgezogenheit bilden meistens den Gegenstand seiner Gedichte und nur selten berührt er das Treiben der grösseren Welt.

Nachstehende Proben mögen genügen:

Die Heimat des Chewsuren.[2]

Dort, wo geboren sind mein Pfeil und Bogen,
Wo meine Väter lebten, wo ihr Grab,
Wo ich zum wackern Manne ward erzogen,
Dort ist mein Heim, das Liebste, das ich hab’.

[125]

Nichts ist mir teurer als der Heimat Thale,
Als jene Felsen, wo der Adler haust,
Wo wild der Giessbach tobt in seinem Falle,
Wo von der Firne die Lawine saust.

In eurer Ebne ich an Sehnsucht leide,
Mein Herz strebt rastlos zu den Bergen hin.
Hier ist für mich das Leben keine Freude
Und dort möcht’ ich selbst vor dem Tod nicht fliehn

Kein Zauber lockt mich in der Städte Mitte,
Mag Lust und Reichtum anderen gedeihen.
Ich geb’ dafür nicht meine Sennenhütte,
Noch meiner harten Schwelle Ruhestein.


Bewahre Gott!

In deine Kirche komm ich, Herr, in Demut,
Sei gnädig mir und mein Gebet erhör,
Bewahre mich vor allem Erdenübel,
Vor Pharisäern aber, Herr, noch mehr!

Stärk mein Gedächtniss, auf dass nützlich Wissen
Fürs ganze Leben eigen mir mög’ sein.
Jedoch bewahre mich vor dummen Lehrern,
Vor Genusregeln, Griechisch und Latein!

Geld hab ich nicht, wer will denn welches borgen?
Auch hab ich alte Schulden schon genug.
Bewahre mich vor allen Leihanstalten
Und der armenischen Wucherer Betrug!

Den Hof mach ich mit Eifer allen Frauen,
Nur alten Jungfern weich ich aus.
Bewahre mich vor alten Klatscherinnen,
Halt fern dies Volk von meinem Haus!

Ich lieb die Heimat und die Muttersprache.
Herr, segne mein Georgierland,
Bewahre es vor gier’gen Argonauten,
Vor ihnen schütz’ uns deine Hand!

[126] Im übrigen hat die Lyrik in Georgien noch manchen Pfleger und fast jede Zeitungsnummer bringt ein oder mehrere Gedichte, denn unter seinen mit einer so üppigen Einbildungskraft begabten Söhnen sind gar viele zum Dichten geneigt, aber nur wenige Auserlesene scheinen wirklich dazu berufen zu sein.

Weit weniger entwickelt als die Poesie ist die prosaische Erzählungslitteratur, die bereits im zwölften Jahrhunderte in Georgien gepflegt wurde und nun in unserer Zeit von neuem aufblühte. Ihre ersten Anfänge waren höchst naive Plaudereien, die noch ganz der orientailischen Phantasie angehörten und an unsere Ammenmärchen erinnerten.

Den wirklichen, den modernen Anforderungen entsprechenden Roman schuf erst der schon erwähnte Dichter Elias Tschawtschawadse, indem er wichtige sein Volk interessierende Lebensfragen berührte, eine künstlerische Charakterzeichnung einführte und den Stil verbesserte.

Seine Erzählungen, die zu Anfang der Sechziger Jahre erschienen, verursachten eine grössere Aufregung der Gemüter als es seine Gedichte vermochten, denn er übte an allen damals bestehenden Lebenszuständen eine scharfe Kritik und zeigte sich als entschiedener Gegner aller derer, die dem mittelalterlichen Schlendrian treu, in den Tag hineinlebten.

In der ersten Erzählung „Ist das ein Mensch?“ enthüllte Tschawtschawadse die moralische Gesunkenheit des damaligen Landjunkertums. Der Held ist ein wohlhabender Gutsbesitzer Luarsab Tatkaridse, welcher mit sich selbst zufrieden auf seinem Landgute lebt und dem ausser der Leibesnahrung und dem weichen Lager nichts weiter Sorge macht. Alles, was ausser dem Bereiche dieser täglichen Bedürfnisse liegt, existiert nicht für ihn und er ist bereit, jeden einen Thoren zu nennen, der sich mit anderen Dingen etwas zu schaffen macht. Alle Bequemlichkeiten geniesst er mit einer grossen Gewissenhaftigkeit, denn ihr [127] Genuss steht ihm ja nach göttlichem Rechte zu und in dieser Hinsicht ist jegliche Änderung unmöglich, da er eine solche eben nicht begreift. Er hat von seinen Vorfahren ein grosses Vermögen geerbt und zieht daher ohne Arbeit und Sorge daraus Nutzen. Das ist Alles, das Übrige Unsinn. Mit dieser Ordnung der Dinge sollten Alle zufrieden sein, auch der Bauer, den er knechtet, denn er selbst ist ja damit zufrieden. Sein tägliches Leben ist höchst zwecklos, fast tierisch. Am Morgen hat Tatkaridse stets eine lange Besprechung mit seinem Koche wegen des zuzubereitenden Mittagsmahls, worauf er die Pfeife anzündet und auf dem Sopha ruhend die Fliegen an der Zimmerdecke zählt. Nach dem üppigen Mahle, von welchem er natürlich halb angetrunken aufsteht, schlummert er und des abends treibt er derbe Scherze mit seiner Ehehälfte oder lässt sich Räubergeschichten erzählen.

Das war der Durchschnittstypus eines georgischen Landjunkers vor ein paar Jahrzehnten und es ist begreiflich, dass die Titelfrage des Verfassers „Ist das ein Mensch?“ Schamröte auf den Gesichtern der Betroffenen hervorrufen musste.

In seiner zweiten Erzählung „Bekenntnisse eines Bettlers“ lässt Tschawtschawadse energischere, grellere Charaktere auftreten und manche Szenen, die er hier schildert, zeigen wieviel Rohheit noch an dem damaligen Leben der Georgier haftete. Andererseits mildert er jedoch wieder diese dunklen Züge und stellt dem leidenschaftlich ungestümen Gutsbesitzer einen edlen, tugendhaften Bauer entgegen.

Im eigentlichen Sittenromane steht Tschawtschawadse bis heute in Georgien allein da, denn seine Nachfolger wandten sich wieder der tendenzlosen Novelle zu. Auch der beliebteste Belletrist der Gegenwart, Motschchubaridse (Kasbek) behandelt meist nur kleinere, wenig in das Sittenleben der georgischen Gesellschaft eingreifende Sujets, [128] wobei er allerdings mitunter höchst interessante Episoden aus dem Treiben der kaukasischen Bergbewohner schildert. Es ist das ein noch junger, begabter und sehr fruchtbarer Erzähler, der in kurzer Zeit der Liebling der georgischen Leserwelt geworden und dessen Novellen fast ununterbrochen das Feuilleton der Zeitung „Dronba“ („Die Zeit“) füllen. Den Stoff holt er sich stets aus den kaukasischen Bergen, weshalb auch seine Erzählungen eine seltene Naturfrische besitzen, aber an einer fast schematischen Wiederholung der Fabel leiden. Die Menschen, die er schildert, sind noch treue Kinder der Natur, leidenschaftlich, ungestüm, mitunter roh, aber auch edel, tapfer und tugendhaft. Mit viel dichterischer Begabung malt Motschchubaridse die Naturschönheiten der Gebirgslandschaften und diese Schilderungen übertreffen bei weitem seine Charakterzeichnungen.

Auch die historische Erzählung hat schon in der georgischen Litteratur Eingang gefunden, obwohl alle derartigen Werke noch viel zu wünschen übrig lassen. Rtscheulis historische Romane „Königin Tamara“ und „Königin Anuka“ sind die gelesensten.

Im Ganzen genommen ist die georgische Belletristik noch im Werden begriffen und wenn auch so tüchtige Schriftsteller wie Akaki Zereteli an ihrer Förderung arbeiten, ist sie doch noch nicht zur künstlerischen Vollendung gelangt.

Der neueste Zweig des georgischen Schrifttums ist die dramatische Poesie, die erst mit der Errichtung des georgischen Theaters im Jahre 1850 aufkam. Ihr Schöpfer war der Dichter Georg Eristawi, welcher auch die Nationalbühne gründete und zwar begann er hierbei nicht mit der Zurechtschneidung fremder Schwanke und Possen, sondern suchte gleich dem Theater eine nationale Grundlage zu geben, indem er mehrere Lustspiele verfasste, denen das georgische Leben zum Vorwurfe diente. Auf [129] diese Weise brachte er gleich im Anfange das Charakterspiel auf die Bühne und half seinen Landsleuten den wahren Zweck des Theaters begreifen. Besonders gelang ihm die Schilderung des Landjunkers und des Kaufmannes.

Ihm folgten bald eifrige Nachahmer, aber nur wenige von ihnen waren zur Bühnenschriftstellerei befähigt. Erst Akati Zereteli und Motschchubaridse brachten wieder Gediegeneres auf die Bretter und gegenwärtig ist es A. Zagareli, welcher im Lustspiele Namhaftes leistet und dessen Stücke auch wirklich Erfolg haben. Seine Lieblingstypen sind der kleine Gutsbesitzer, der Kleinhändler und der Bauer und diese höchst charakteristischen Gestalten weiss er wirklich geschickt und mit einer Beimischung gesunden Humors zu schildern. Sein bestes Lustspiel ist „Jetzt sind andere Zeiten“, in welchem er ein Stück komischen Lebens vorführt und den verknöcherten Landjunkern gehörig die Meinung sagt, sie aber dabei bis zur Karrikatur verzerrt.

Die Mängel der meisten georgischen Originalstücke sind noch sehr zahlreich, aber glücklicherweise ist die Kritik sehr rührig und arbeitet darauf hin, aus den Mustern des Abendlandes Nutzen zu ziehen. Wo Shakespeares Dramen vor vollen Bänken gespielt werden, dort ist vorauszusetzen, dass der Kunstsinn in Zunehmen begriffen ist, wenn auch Vieles noch hinkt und nicht gehörig „klappt“.

Vollkommenheiten darf man eben im georgischen Geistes- und Kunstleben noch nicht suchen, wohl aber eifrige Bestrebungen. Es ist schon genug, wenn sich ein Volk in wenigen Jahrzehnten aus einer fast vollständigen Kulturlosigkeit zu dem Standpunkte emporgearbeitet hat, auf welchem heute die Georgier stehen. Alle Faktoren des modernen Lebens sind bei ihnen rege geworden, zwar teilweise nur schwach, aber wenigstens sind ihre Keime erschlossen und die Zeit wird wohl ihr Wachstum fördern. Auch in der Wissenschaft beginnt es sich bei ihnen zu [130] regen und rüstige Lehrer wie Gogobaschwili, Guladse und andere schreiben gediegene Unterrichtsbücher, wobei ihnen deutsche Werke zum Vorbilde dienen, Kipiani fördert die Kenntnis der georgischen Sprache und der unermüdliche Bakradse sowie der Pfarrer Gwaramadse bringen durch ihre gewissenhaften Forschungen immer mehr Licht in die Vergangenheit ihres Vaterlandes.

Ja, Georgien arbeitet an seinem modernen Kulturleben und die Zukunft wird zeigen, ob seine Dichter Recht hatten, als sie ihm einen neuen Lebensfrühling prophezeiten!



  1. Muscha ist ein Lastträger, siehe unter „Tiflis“.
  2. Georgischer Hochländer.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: duch
  2. Vorlage: eint