Georgien. Natur, Sitten und Bewohner/Tiflis

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Von Batum nach Tiflis Georgien. Natur, Sitten und Bewohner
von Arthur Leist
Auf dem Lande
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Tiflis.

Obgleich wir erst gegen Mitternacht in Tiflis ankommen, so herrscht doch noch ein geräuschvolles Leben auf seinen Strassen, denn Tiflis schläft fast nie, es sei denn zur Mittagsstunde, wenn die Sonne ihre brennend heissen Strahlen auf seine Strassen herniedersendet und die Bewohner in ihren Häusern gefangen hält. Ja, die Sonne ist hier um die Mittagszeit wie ein Gefängniswärter, der streng die Ausgänge aller Häuser bewacht. Um diese Tageszeit erstirbt alles Leben auf den Strassen, die Fenster werden geschlossen und mit dichten Vorhängen verhangen, die Gallerieen und Balkone sind menschenleer, Pferde, Esel und Büffel ruhen irgendwo im Schatten, auf dem Bazar stockt aller Verkehr und die Kaufleute hocken halb verschlafen tief im Innern ihrer Läden.

Gegen sechs Uhr abends, wenn sich schon die Sonne dem Horizonte zuneigt, erwacht das Leben von neuem. Die Fenstervorhänge verschwinden, ihre Flügel werden geöffnet, die Gallerieen beleben sich, auf den Strassen zeigen sich Menschen und Tiere und eine lange Wagenreihe zieht hinaus nach Muschtaid oder anderen Vergnügungsgärten.

[10] Von dieser Stunde an währt das rege Treiben fast bis zum Morgen und von der Strasse her erschallt ein ununterbrochenes Wagengerassel, aus den Gärten tönt Musik und Gesang. Die Georgier lieben nämlich das Vergnügen und halten gern lange dabei aus, so dass während der Sommernächte in vielen Häusern und Gärten die Lichter nicht erlöschen. In einer solchen Nacht lohnt es der Mühe, einen der die Stadt umgebenden Berge zu besteigen und von dort auf das in einem Lichtmeere schwimmende Häuserlabyrinth niederzuschauen. Das Bild der ziemlich umfangreichen Stadt gewährt da mit seinen vielen, gleichfalls im Lichterglanze schwimmenden Gärten, durch die sich der glitzernde Kur wie ein mächtiger Silberpfad hindurchschlängelt, einen wirklich schönen Anblick. Tiflis liegt überhaupt sehr malerisch und wäre es noch mehr, wenn die es umgebenden Berge mit Wäldern oder Gärten besetzt wären. So aber beschränkt sich sein Reiz auf die Verschiedenartigkeit seiner Stadtteile, während seine nächste Umgebung jedenfalls reizlos ist. Die Mannigfaltigkeit der Stadt selbst wird durch zahlreiche Paläste und Kirchen noch bedeutend gehoben.

Auch im europäischen Stadtteile sind viele der Häuser und Paläste im georgischen Style gebaut, nämlich nur einstöckig und von der Vorder- und Rückseite mit einer Gallerie oder einem Balkon umgeben, deren Gitter oder Geländer gewöhnlich ziemlich geschmackvoll aus Holz geschnitzt sind. Der Styl dieser Holzschnitzereien scheint aus Persien zu stammen, wenigstens erinnert er in hohem Grade an den persischen Styl und besteht wie dieser aus Verzierungen von Arabesken, Blumen und Blättern. Alle Gallerieen und Balkone sind mit einem Dache versehen, dessen Tragpfeiler gleichfalls mit Schnitzereien verziert sind. Auf diesen Balkonen, die immer von zwei Seiten des Hauses errichtet sind, um zu verschiedenen Tageszeiten Schutz gegen die Sonne zu gewähren, kann man des [11] Abends manch schönes Mädchenantlitz erblicken. Ja, es zittern hier noch allabendlich jene kleinen Füsschen, die Bodenstedt in seinen Liedern des Mirza Schaffy besingt, denn die Gewohnheit der Tifliser Frauen und Mädchen, den Abend auf dem Balkon zu verbringen, hat sich wohl seitdem in nichts geändert. Den Namen unseres deutschen Dichters kennen übrigens alle gebildeten Georgier, wenn auch nicht alle seine Lieder kennen. Auch unter den georgischen Frauen zählt Bodenstedt zahlreiche Verehrerinnen, denn er hat ja nicht wenig zur Verbreitung ihres Schönheitsruhmes beigetragen.

Das Innere der georgischen Häuser hat heute schon viel von seiner früheren Originalität verloren, denn die Wohnungen aller nur irgendwie wohlhabenden Leute sind nach europäischem Muster eingerichtet und nur einzelne Möbelstücke, wie die langen und niedrigen mit runden Kissen versehenen Sophas, die reichen persischen Teppiche und mitunter wohl auch die Möbelüberzüge erinnern den Besucher, dass er sich im Morgenlande befindet. Das Klavier, dieser Leierkasten der Salons, wie es Heine genannt hat, ist auch ein unentbehrliches Möbel im Salon eines jeden wohlhabenden Georgiers oder Armeniers. Die schwarzäugigen Töchter des Landes spielen dasselbe mit grosser Fertigkeit, aber wenn sie erst demselben die Töne eines ungestümen Nationalliedes entlocken, hat ihr Spiel für den Europäer einen noch gewaltigeren Reiz.

Die alten georgischen Häuser haben gewöhnlich nur ein Stockwerk und wohnen in einem Hause nicht mehr als zwei Familien. Dabei hat jede Wohnung ihren besonderen Eingang von der Strasse, besondere Treppen und Gallerieen.

Der grösste Teil dieser Häuser befindet sich in der Altstadt, die auch die asiatische genannt wird, und hier scheint sich seit hundert Jahren, nämlich seit der Zeit der Einverleibung Georgiens in das russische Reich nicht viel [12] verändert zu haben, denn die Häuser sind durchweg sehr alt und Strassen und Gassen erbärmlich krumm. In diesem Stadtteile herrscht wirklich noch Asien in seiner bunten, mannigfaltigen, aber auch teilweise widerwärtigen Sonderheit. Deshalb kommt auch der Europäer nur selten hierher und wenn er es thut, thut er es wohl nur um seine Neugierde zu befriedigen, wozu er hier allerdings Stoff zur Genüge findet.

Tifliser Gepäckträger.

Die Altstadt erstreckt sich zu beiden Seiten des Kurflusses bis zu den felsigen Bergen hin, welche Tiflis von allen vier Himmelsgegenden umschliessen und viel zur Erhöhung seiner Sommerhitze beitragen. Die Gassen, welche schon unten im Thale ziemlich eng sind, verengen sich noch mehr auf den Bergabhängen, wo die Häuser oft amphitheatralisch über einander stehen und ungemein schwer zugänglich sind. Es ist schwer zu begreifen, warum diese Schwalbennester auf den steilen Berghöhen erbaut wurden, zumal unten im Thale, wo sich heute das [13] europäische Stadtviertel hinzieht, Raum zur Genüge war. Dank der grossen Enge der Strassen und Häuser, die noch dazu von einer zahlreichen, überwiegend armen Menschenmenge bewohnt werden, ist die Luft in der Altstadt äusserst ungesund und für den Europäer geradezu unerträglich. Beim Anblicke der in diesen Häusern herrschenden Unreinlichkeit, glaubt man wirklich an die Beschreibungen der schrecklichen Verheerungen, welche die Pest hier, wie in ganz Georgien, im Jahre 1797 anrichtete. Es war das zu einer Zeit, da das Land durch einen Bürgerkrieg zwischen den Prinzen des königlichen Hauses der Bagratiden beunruhigt, noch die Leiden eines Einfalles der Perser ertragen musste. Und zu diesen Verwüstungen durch Feuer und Schwert gesellten sich noch die Schrecken der Pest, der selbst der König zum Opfer fiel. Was sich damals in diesen engen, schmutzigen Gassen und übelriechenden, von zahlreichen Menschen angefüllten Häusern, bei der unter diesem Himmelsstriche herrschenden Sonnenhitze zugetragen haben mag, das ist schwerlich mit Worten zu schildern.

Etwas reinlicher und luftiger sind die unmittelbar am Kur belegenen Strassen der Altstadt, denn hier sind teils die Höfe geräumiger, teils auch die Häuser von Gärten umgeben. Da die Ufer des Kur sehr steil sind und die Häuser gewöhnlich dicht am Rande derselben stehen, so befinden sich die Galerieen schon über dem Wasserspiegel und bieten daher an Sommerabenden ziemlich angenehme Kühlungsplätze.

Das Strassenleben der Altstadt gewährt natürlich mehr Eigentümlichkeiten, als der Verkehr auf den Strassen des europäischen Stadtteiles, wo schon Sitte und Tracht des Abendlandes vorherrscht. Wie überall im Oriente wohnt man auch hier mehr draussen als in den Häusern, zumal besonders der ärmere Teil der Bevölkerung seine häuslichen Beschäftigungen unter freiem Himmel verrichtet. Die [14] Läden der kleineren Kaufleute und die Werkstätten der Handwerker sind zudem von der Strassenseite völlig offen, so dass jeder Vorübergehende Einschau halten kann, ohne dass seine Neugierde irgend Jemandem auffiele. Auch auf den Gallerieen und Balkonen spielt hier täglich ein Stück häuslichen Lebens; man wäscht, näht, speist und plaudert hier, ohne sich von den Vorübergehenden stören zu lassen. Niemand schämt sich seiner Armut, denn Jeder ist daran gewöhnt, täglich die häusliche Einrichtung Anderer zu sehen, die vielleicht noch ärmer sind als er; Jeder weiss, womit sich seine Nachbarn beschäftigen, was sie essen und trinken und wessen Besuche sie empfangen, sei es auch, dass er mit ihnen keine persönlichen Beziehungen habe und nie in ihrer Wohnung war.

Unter den die Altstadt bewohnenden Kaufleuten und Handwerkern findet man ungemein charakteristische Gestalten, die sehr oft an den ächt polnischen Typus erinnern. Auch das Kostüm der Georgier hat grosse Ähnlichkeit mit dem der Polen, indem ihr Oberrock dem polnischen Kontusch im Schnitte sehr nahe kommt.

So oft ich die Bewohner der Tifliser Altstadt in ihrem intimen Leben voll Einfachheit und Laune betrachtete, kamen mir unwillkürlich Bodenstedt’s Gedichte in den Sinn und es schien als ob in der That aus den funkelnden Augen dieser derben Spiessbürger Mirza Schaffy's Witz spräche und wenn erst ihren Mund ein Lächeln umflog oder ihre Lippen einer vorübergehenden Schönheit eine launige Höflichkeit zusandten, glaubte ich in ihnen leibhaftige Mirza-Schaffys vor mir zu sehen. Ja, Bodenstedt hat den Humor und die praktische Lebensweisheit der Orientalen wie kein anderer Dichter der Neuzeit verstanden, aber in seinen Gedichten malt sich nur der Geist und Charakter des Städters, nicht aber der stolze Sinn, der Rittermut der Bewohner der Berge Georgiens. Seine Gedichte aus Mirza-Schaffys Nachlass sind Kinder des Hafisischen [15] Geistes, wie er wohl auf der Tifliser Stadtbevölkerung ausgeprägt ist, aber bei weitem umfasst er noch nicht alle Charakterzüge dieser launigen Menschen.

Der am meisten die Neugierde erweckende Teil der Altstadt ist der Bazar, welcher vom Morgen bis zum Abend mit Ausnahme der heissen Mittagsstunden ein höchst verschiedenartiges Bild gewährt. Hier kann man allen Typen des Kaukasus und Westasiens begegnen und infolge dieses bunten Völkergemisches scheint hier ein ununterbrochenes Kostümfest stattzufinden. Das Gedränge und der Lärm der umherwogenden Menge sind geradezu unbeschreiblich, denn neben den Einwohnern der Stadt und ihrer nächsten Umgebung schlendern hier stets zahlreiche Ankömmlinge aus allen Gegenden des Kaukasus umher. Die vielen Lasttiere, wie Pferde, Esel und Büffel vermehren noch dieses Gedränge und hemmen oft völlig den Verkehr.

Hier schreitet eine Schar Tataren mit hohen Schafsmützen die von ihren Köpfen wie wollene Pyramiden emporragen. Hinter ihnen reitet ein bis an die Zähne bewaffneter Tscherkesse, der ziemlich hochmütig auf die vor ihm ausweichenden Mongolen herabschaut. Er trägt den dunkeln tscherkessischen Oberrock und eine elegante niedrige Schafsmütze, während an seiner Seite eine Pistole und ein in silberner Scheide steckender Kinschal hängen. Ihm folgt ein bärtiger Lesgier, gleichfalls hoch zu Ross und nicht minder gut bewaffnet als der Tscherkesse. Mit gierigen Augen schaut er auf die zu beiden Seiten der Strasse, vor den Läden aufgetürmten Waaren, die in hohem Grade seine nur eingeschlummerte Raublust wachrufen. Heute sind die Lesgier übrigens scheinbar friedliche Leute geworden, aber bei der ersten Gelegenheit würden wohl diese beurlaubten Räuberhelden wieder scharenweise in Georgien einfallen und wie früher die schönsten Mädchen und fettesten Hammel wegholen. Der kartalinische Bauer, [16] welcher ruhig nebenhergeht und ausser seinem Kinschal keine andere Waffe bei sich trägt, schaut ziemlich grimmig zum Lesgier hinauf, der seit lange her sein erbitterter Feind ist. Weiter erscheint gleichfalls hoch zu Ross eine Schar Chewsuren, denen natürlich auch der Kinschal nicht fehlt und die auf den Köpfen die unvermeidliche, aber auf wahrhaft wilde Art zerzauste Schafsmütze tragen. Diese Art Kopfbedeckung erscheint hier in den verschiedensten Formen und sitzt ewig auf diesen schwarzhaarigen Köpfen, auch, dass der Schweiss stromweise über das Gesicht herabtriefe. Der praktische Orientale zieht sie des Abends nur nach hinten und bedient sich ihrer beim Schlafen als Kopfkissen, das gewiss oft weicher ist als sein ganzes Lager. Auch der scheinbar ernste und pfiffige Perser, der es besser als irgend Jemand versteht, Käufer in seinen Laden zu locken und seine Waaren an den Mann zu bringen, trägt gleichfalls eine hohe Schafsfellmütze, obgleich ihm eine aus Fuchsfell verfertigte Kopfbedeckung weit besser stände, denn dieser so süss lächelnde und noch süssere Worte umherspendende Kunde ist gewöhnlich ein durchtriebener Betrüger. Ein morgenländisches Sprüchwort lautet: Ein Grieche betrügt drei Juden, ein Armenier drei Griechen, ein Perser drei Armenier!

Die Gallerie der Typen und bunten Gestalten ist lange noch nicht erschöpft, denn ausser den Vertretern der oben erwähnten Völkerstämme beleben den Tifliser Bazar noch viele andere und auch der deutsche Kolonist fehlt nicht in ihrer bunten Menge. Seit nahezu vierzig Jahren wohnen nämlich in der Umgegend von Tiflis deutsche Ansiedler, die grösstenteils aus Würtemberg stammen und bis heute Tracht und deutsche Sitte bewahrt haben. Die meisten von ihnen sind längst wohlhabende Leute, denn ausser dem Ackerbau betreiben sie auch Handwerke, die hier zu Lande sehr nutzbringend sind.

Auch der Jude fehlt nicht in dem den Bazar belebenden [17] den Menschengewühl, obgleich er in Georgien eine ziemlich seltene Erscheinung ist und in der Menge fast verschwindet. Nur in der Stadt Kutais ist ihre Zahl eine bedeutendere und sie wohnen dort sogar noch nach mittelalterlicher Art abgesondert in einem eigenen Stadtviertel.

Tscherkesse.

Was die Bazarkaufleute anbetrifft, so sind diese grösstenteils Armenier, Perser, mitunter Tataren, selten jedoch Georgier, da die letzteren wenig Hang zum Handel besitzen und sich mehr mit Handwerken beschäftigen. Dagegen ergeben sich die Armenier und Perser mit grosser Vorliebe dieser Beschäftigung und haben auch den Handel in Tiflis fast ausschliesslich in ihren Händen.

Ausser den Männern begegnet man auf dem Bazar [18] auch vielen Frauen, besonders Georgierinnen und Armenierinnen, die fast dieselbe Tracht tragen und sich nur durch den Gesichtstypus von einander unterscheiden. Frauen und Mädchen der ärmeren Klassen tragen gewöhnlich weite dunkelfarbige oder völlig schwarze Kleider und als Kopfbedeckung ein gesticktes Sammetkäppchen mit einem über die Schultern herabwallenden Schleier. Oft vertritt den Schleier ein schwarzes Tuch, welches wie dieser einen keineswegs geschmackvollen Kopfputz abgiebt und zudem noch die Haare völlig verdeckt.

Über die Schönheit der Georgierinnen hat man schon viel geschrieben und zwar widersprechen einander in dieser Hinsicht die Meinungen vieler Schriftsteller. Schöne Georgierinnen giebt es allerdings nicht wenig, aber es wäre Übertreibung zu versichern, dass unter ihnen die hässlichen nur zu den seltenen Ausnahmen gehörten. Dem ist nicht so und der Umstand, dass alle Georgierinnen dieselben regelmässigen Gesichtszüge haben, verleiht ihren Reizen eine gewisse Einförmigkeit, die zuletzt langweilt. Aus ihren grossen, dunkeln Augen spricht viel Sanftmut, aber nur wenig Glut, die doch jedem schönen Frauenantlitze so viel Zauber verleiht. Wenn sich die Georgierin beim Tanze oder einer fröhlichen Unterhaltung etwas aufregt, wird sie allerdings entzückend, aber dagegen gleicht sie einer leblosen Bildsäule, wenn sie schweigend und mit niedergeschlagenen Augen fast bewegungslos dasitzt.

Übrigens ist die Schönheit und Frische der Georgierinnen nicht von Dauer, für sie besteht nur ein Lenz, der Sommer aber ist schon Herbst, denn im Alter von einigen zwanzig Jahren beginnen ihre Reize zu welken und sie welken schnell wie alle Blumen unter den glühenden Strahlen der Sonne Georgiens. Deswegen sind hier hingewelkte Schönheiten eine äusserst gewöhnliche Erscheinung und die meisten Frauen sind schon alt ehe sie noch ihr vierzigstes Jahr erreicht haben.

[19] Jedenfalls jedoch kommt den Georgierinnen neben den Tscherkessinnen, was Körperschönheit anbelangt, die erste Stelle unter den Frauen des Kaukasus zu und die Armenierinnen stehen ihnen schon bedeutend in dieser Hinsicht nach. Die letzteren unterscheiden sich von den Georgierinnen sowohl durch ihren dunkleren Teint, als auch durch weniger grosse Augen, aus denen jedoch mitunter viel Glut und Energie spricht.

Es wäre hier am Orte auch den in Tiflis wohnenden Perserinnen und Tatarinnen einige Worte zu spenden, doch diese geheimnisvollen Wesen verbergen sich sehr sorgfältig vor den Blicken der Männer und wenn sie auf dem Bazar erscheinen, so sind nicht nur ihr Gesicht, sondern die ganze Gestalt in dichte Tschadren gehüllt. Nur zwei Musulmaninnen gelang es mir zu Gesicht zu bekommen und zwar geschah dies ganz zufällig, als ich eines Tages in den engen Gassen der Altstadt umherschlenderte, denn weder Sulejma noch Fatma vermuteten wohl, dass unter ihren Balkonen ein neugieriger Frengi vorbeischleiche. Sulejma, eine bildhübsche Brünette mit wahrhaften Feueraugen näherte sich eben in ihrem Morgengewande dem Balkongeländer, um ein mit Wasser gefülltes Waschbecken auf die Strasse auszugiessen. Doch in demselben Augenblicke bemerkten mich die Gazellenaugen des Mädchens, es trat einen Schritt zurück, ihre Hände begannen zu zittern und o Xantippe! die halbe Füllung des Waschbeckens floss auf mich herab.

— Merçi, ma belle fille! rief ich aus und Sulejma errötete wie eine Rose. Fatma überraschte ich, neugierig durchs Fenster blickend, beim Spiegel, als sie ihre herrliche Zöpfe flocht.

Ausser diesen zwei kostbaren Perlen die nur den einzigen Makel hatten, dass ihre Kleider etwas schmutzig waren, habe ich keiner Perserin oder Tatarin ins Antlitz geschaut und vielleicht hege ich auch nur deswegen einen [20] so hohen Begriff von der Schönheit der Musulmaninnen. Nach den malerischen Gestalten, die sich auf dem Bazar wie Schauspieler auf der Bühne herumbewegen, giebt es hier auch zahlreiche Gegenstände, die die Blicke mächtig an sich locken. Alles, was den Töchtern des Orientes zur Hebung ihrer Reize dient, alle Luxussachen ihrer Wohnungen und tausend andere Gegenstände liegen hier ausgebreitet da und harren ihrer Käufer. Goldene Ohrringe, Halsgeschmeide, Armspangen, Talismane, Ringe besetzt mit den verschiedensten Edelsteinen, silberne Gürtel und Dolche blinken hier verführerisch den Vorübergehenden entgegen und werden tausendmal des Tages von zarten Damenhänden umgedreht und von lüsternen Augen angeschaut. Wo anders liegen prachtvolle Seidenzeuge, bei deren Anblick manche Schöne in Zittern gerät, teure persische Teppiche, Tücher, Tschadren, Schleier mit phantastischen Mustern, und wieder wo anders silberne Ketten, Uhren, Becher, kleine Säbel, silberne Knöpfe, Nadeln und Schnallen, Alles emailliert und kunstvoll gearbeitet. Weiter sieht man verschiedensten Formen, Pantoffeln, Kissen, Pelzmützen und tausend, tausend andere Sachen, denn der Orient ist bunt, verschwenderisch und malerisch. Der Orient liebt die Farbenpracht, den Glanz und die mächtigen Eindrücke, der Orient verachtet die Mode, denn der Wechsel der Farben, des Glanzes und der Eindrücke erregt mehr als der Wechsel des Schnittes, der Schattierung oder Theorie!

Nicht weniger interessant als der Bazar ist für den Ankömmling aus dem Norden der Gemüse- und Obstmarkt. Hier herrscht gleichfalls viel Buntfarbigkeit und der Anblick der Hügel von verschiedenen Gemüsen und Obstarten ist sogar in gewisser Hinsicht malerisch. In einem Lande, wo das Klima so den Pflanzenwuchs begünstigt wie in Georgien, gehören natürlich Früchte und Gemüse zu den gewöhnlichsten und wohlfeilsten Nahrungsmitteln. Zu Markte bringt man sie auf hohen, langen, [21] zweirädrigen Wagen, die gewöhnlich von Büffeln gezogen werden, oder auch in runden von Eseln getragenen Körben. Meistens hat eine ganze Reihe solcher Lasttiere nur einen Treiber und der Anblick dieser kleinen Karawanen ist nicht ohne einen gewissen poetischen Reiz, besonders wenn man ihr im Gebirge, in einer wildromantischen, menschenleeren Gegend begegnet. Die Esel sind übrigens auf den Strassen von Tiflis eine sehr gewöhnliche Erscheinung, und ich sage dies ohne die geringste Anspielung auf die zweifüssigen Bewohner dieser Stadt. Auf Eseln bringt man hier auch Heu, Kohlen, Wasser und Holz zu Markte, so dass man sie, besonders Vormittags, scharenweise auf allen Strassen sehen kann.

Wie alle grösseren Städte hat auch Tiflis seine charakteristischen Strassentypen, von denen in erster Reihe der Kohlenverkäufer in die Augen fällt. Es ist das ein Köhler par excellence, dem nicht nur seine Kleidung und Gesichtsfarbe gleichen an Schwärze der Kohle, sondern auch sein Haar und seine Augen. Eine nicht minder interessante, typische Gestalt ist der Wasserverkäufer, ein sonnenverbrannter Bursche, der fast ohne Unterbrechung cchalli, cchalli! Wasser, Wasser! ausruft und zwar mit so klagend singender Stimme, dass man zu glauben geneigt ist, er litte selbst Tantalusqualen. Seine Waare bringt er einem grossen über den Rücken eines Pferdes oder eines Esels gehängten Lederbalge in die Stadt. Das Wasser ist übrigens in Tiflis wegen der weiten Entfernung der Brunnen ziemlich kostbar und deswegen bewacht auch der Wasserverkäufer seine Waare sehr aufmerksam und hat oft Händel mit Strassenjungen oder Eckenstehern, die es wagen aus seinem Wasserbeutel unentgeltlich ihren Durst zu löschen. In ähnlichen Bälgen, die gewöhnlich aus dem ganzen Felle eines Büffels oder Schafes verfertigt werden, verschickt man hier auch oft den Wein, was natürlich seinem Wohlgeschmacke nachteilig ist.

[22] Zu den interessantesten Strassentypen gehört noch der Muscha oder Lastträger, welcher in Tiflis eine hervorragende Rolle spielt, denn im Morgenlande werden die Menschenschultern mehr als irgendwo zum Tragen von Lasten in Anspruch genommen. Diese Lasten sind oft

Ossete.

fabelhaft und nicht minder fabelhaft ist die Körperkraft des Muscha. Er ist die Personifizierung von Stärke und Gesundheit, obgleich seine Nahrung eine sehr bescheidene und meistens nur aus Brot, Zwiebeln und Obst besteht. Trotzdem aber ist er ein wahrer Herkules und schleppt seine Last nicht selten im Trabe fort, wobei er gewöhnlich ein wehmütiges Liedchen jodelt, das allerdings keine Lebensfreude ausdrückt. Den Muschen begegnet man hier [23] überall, denn da sie oft halbe Tage lang auf Beschäftigung harren müssen, so lagern sie gewöhnlich scharenweise im Schatten der Bäume oder vor den Thüren der Weinschänken.

Am besten kann man die Tifliser Bevölkerung bei den sogenannten Ringkämpfen studieren, die gewöhnlich in einem der öffentlichen Gärten stattfinden und zu denen sich immer ein zahlreiches Publikum versammelt. Bei diesen Ringkämpfen treten gewöhnlich Leute auf, die diese Art Zweikampf als Handwerk betrachten und daher in ihrem Berufsfache eine gewisse Übung besitzen. Während meines Aufenthaltes in Tiflis erregte die Bewunderung der Volksmassen ein gewisser Gdaneli, der in ganz Georgien als tüchtiger Ringer bekannt ist und fast immer den Sieg davontrug. Das Publikum begrüsste ihn stets mit wahrer Begeisterung wie einen grossen Künstler und Gdaneli, der sich ausser seltener Körperkraft und Gewandtheit auch durch ein angenehmes Äussere auszeichnet, verstand es, mit Würde und Grazie für diese Huldigungen zu danken. Die Ringkämpfe bestehen übrigens in Georgien schon seit alten Zeiten und wahrscheinlich wurden sie einst von den Griechen hier eingeführt.

Wie überall, so hat auch in Tiflis das öffentliche Leben seine Schattierungen, die jedoch hier nicht nur von der Verschiedenheit der Bevölkerungsklassen, sondern auch von der Anwesenheit zweier einander fremden Elemente, dem asiatischen und europäischen, herrühren. Der letztere Unterschied tritt auch im europäischen Stadtteile zu Tage, wo nicht nur das Strassenleben sondern auch das Äussere der Häuser und Paläste zweifachen Charakter an sich tragen. Bodenstedt besingt Tiflis als eine Stadt der Paläste und wirklich giebt es ihrer hier eine beträchtliche Anzahl, denn die meisten der wohlhabenderen georgischen Gutsbesitzer besitzen hier ihre Wintersitze. Die innere Einrichtung der Häuser in Tiflis wie überhaupt in ganz [24] Georgien ist ziemlich bescheiden und erinnert nur selten an den wahrhaft orientalischen Luxus. Im Übrigen zeichnet sich die Zimmereinrichtung in den Wohnungen wohlhabender Leute durch guten Geschmack aus und die Mischung europäischer und orientalischer Möbel nimmt sich im Ganzen ziemlich gut aus. Ausser niedrigen Sophas, Teppichen und anderen Kleinigkeiten findet man hier auch wenig, was an Asien erinnerte. Die Fontäne, die in mohamedanischen Ländern selten im Hofe eines Hauses fehlt, sieht man in Georgien nirgends. Nur in der fernen Provinz giebt es noch zahlreiche Häuser, in denen sich die örtliche Einrichtung erhalten hat. Dort lebt noch mancher Georgier nach alter Sitte, entbehrt Sessel und Stuhl, indem er nach der Gewohnheit der Orientalen mit gekreuzten Beinen auf dem niedrigen Sopha kauert. Bei solcher Lebensweise ist natürlich auch die Zimmereinrichtung eine weit spärlichere.

Neben den alten georgischen Palästen stehen heute im europäischen Stadtteile schon zahlreiche im europäischen Style gebaute Häuser, die jene durch ihre Eleganz teilweise verdunkeln. Dasselbe betrifft die öffentlichen Lokale, deren beste nach europäischem Muster eingerichtet sind. Hier kann man oft ganz und gar vergessen, dass man im Morgenlande befindet.

Es sind das jedoch nur Oasen im Tifliser Labyrinthe, wo dicht daneben in den öffentlichen Gärten der Orient in seiner ganzen malerischen Sonderheit wieder hervortritt.

Der eigentliche Herd des hiesigen öffentlichen Lebens ist in der schönen Jahreszeit der Muschtaid und die in seiner Nähe belegenen Gärten. Hier herrscht von fünf Uhr abends bis spät in die Nacht hinein oder oft bis zum Morgen ein ungemein lebhafter, verschiedenartiger Verkehr und ein lustiges, geräuschvolles Leben, denn sowohl die Georgier als auch die Armenier lieben Musik, Gesang und laute Unterhaltung. Muschtaid heisst ein sehr umfangreicher und schöner Park, welcher in der Nähe des Kurflusses [25] liegt und von zahlreichen Alleen und Wegen für Wagen und Fussgänger durchschnitten wird. Alle Alleen sind mit prachtvollen Bäumen besetzt und haben ausserdem zu beiden Seiten lebende Zäume von wilden Rosen oder anderen Sträuchern. Die für Fussgänger bestimmten Wege sind mit üppigen Weinlauben umwölbt, deren Ranken schon im Juni im grünen Traubenschmucke prangen. In diesem schattigen Parke versammelt sich jeden Abend die schöne Welt von Tiflis, durch die Alleen rollen Wagen dahin, Reiter und Reiterinnen sprengen vorüber und überall wogt eine dichte, bunte Menge von Spaziergängern. Es zeigen sich da alle Trachten des Kaukasus und schmucke, junge Leute von ritterlichem Aussehen schlendern an den langen Bänkenreihen entlang, wo die schönen, schüchternen Töchter Georgiens fast regungslos dasitzen. Viele von ihnen tragen weisse Schleier, andere sind wieder ganz europäisch gekleidet und unter dem Strohhute, der die üppigen Zöpfe sehen lässt, blitzen die grossen, schwarzen Augen hervor.

Im Muschtaid hört das Leben gewöhnlich schon bald nach zehn Uhr auf, aber fast bis zur Morgendämmerung währt es in anderen Gärten. Hier tönt die Surnamusik die ganze Nacht hindurch, fröhliche Zecher singen Lieder, die wieder mitunter von lautem Gelächter oder den Tanzklängen der Lesginka unterbrochen werden.

Noch reizvoller und poetischer wird dieses bunte, muntere Treiben, wenn die schönen Gärten vom Monde beschienen sind.

In einer solchen Nacht lohnt es der Mühe, an das Ufer des nahe vorbeifliessenden Kur zu treten und auf seine reissenden, im Mondsilber glitzernden Wellen zu schauen. Auf dem gegenüberliegenden Berge ragen die Ruinen der alten Festung, des einstigen Schildes der georgischen Königsstadt, empor. Wie viele Triumphzüge mögen diese riesigen Mauern gesehen haben, wie viel Siegesfeste, die Georgien einst in den Tagen seines Glanzes [26] feierte, wieviel Pracht in den Ritterzeiten der Königin Tamara, wieviel Elend, Schrecken und Trauer in späteren Tagen, da Georgiens Glücksstern schon gesunken war!

Hier in diesen schattigen Gärten wandelte vielleicht einst Rustaweli, dieser Tasso Georgiens, der erhabenste Sänger des Kaukasus und Geliebte der schönen Königin Tamara.

Georgische Musik.


Rustaweli und Tamara! diese beiden Zaubernamen klangen mir oft im Ohr, wenn ich in den schattigen Alleen dieser Gärten sass und die Surna wehmütige, die Vergangenheit herbeireissende Lieder spielte.

Die Nationalmusik der Georgier, welche von der europäischen weit abweicht, besteht aus dem Tschunguri, einer Art Geige und der Surna, welche eine kleine Kapelle ausmacht und aus Trommel und klarinettenartigen Pfeifen besteht. Anfänglich scheint diese Musik ein blosser Lärm ohne jegliche Melodie zu sein, wenn man ihr jedoch aufmerksam lauscht, bemerkt man bald, dass sie gewisse [27] Regeln der Harmonie und bestimmte Melodieen besitzt. Diese Weisen sind fast ohne Ausnahme traurig, oft sogar verzweiflungsvoll und der geringen Abwechslungen wegen, eintönig. Auch fehlt ihnen meist ein melodischer Abschluss, denn oft bricht das Lied bei ziemlich hohen Tönen ab, was auf den Europäer einen unangenehmen Eindruck macht.

Zur Begleitung von Gesängen dient gewöhnlich das Tschunguri, denn dieses Instrument ist am wenigsten geräuschvoll und giebt am treuesten die melancholische Leidenschaftlichkeit der georgischen Volksweisen wieder. Die Surna spielt unter anderen auch den georgischen Kriegsmarsch, der mit seiner geräuschvollen, wild dahinbrausenden Melodie Alle hinreisst und selbst im Europäer eine sonderbare Begeisterung hervorruft. Beim Klange desselben streift jeder Georgier sein erworbenes europäisches Wesen ab und wird für eine Weile zum ungestümen, von Mut beseelten Sohne Asiens. In solchen Augenblicken blitzen Dolche, Schüsse krachen und es erklingen laute, leidenschaftlich hinreissende Lieder. Rasende Begeisterung ergreift ganze Zecherkreise und der Toaste und Erinnerungen an Georgiens Vergangenheit ist kein Ende, denn die vormalige Grösse des Vaterlandes steht jedem seiner Söhne stets lebhaft vor Augen. Nur diejenigen, die diese Vergangenheit kennen, sind im Stande die wehmutsvollen und oft wie aus Klagetönen zusammengesetzten Lieder zu verstehen und einen Widerhall im eigenen Herzen zu empfinden. Die Vergangenheit Georgiens ist reich an Ruhm, aber auch wieviel Elend und Trübsal musste dieses Land erleiden! Mehr als zehnmal wurde Tiflis und andere Städte zerstört und niedergebrannt, zahlreiche Dörfer in Schutthaufen verwandelt, Hab und Gut der Einwohner wurde geraubt, die Felder und Gärten verwüstet, die Männer fielen in der Schlacht, die Frauen wurden nach Persien oder in die Türkei geschleppt um dort die Harems reicher [28] Wüstlinge zu bevölkern. Solche Niederlagen wiederholten sich in der letzten Zeit der Selbstständigkeit Georgiens so oft, dass das Land mitunter Jahrzehnte lang die Trauer nicht ablegte und kein Freudenstrahl das Leben seiner unglücklichen Bewohner erhellte. In solchen Zeiten des Missgeschicks wurden auch die Lieder der Georgier immer trauriger und trauriger, denn es sangen sie Witwen, Mütter, die ihrer Söhne beraubt waren, Kinder, die ihre Eltern verloren hatten. Und sie sangen sie auf den Schutthaufen ihrer Wohnungen, auf den Trümmern ganzer Städte und Dörfer, wo sie nimmermehr die Stimme ihrer Lieben vernehmen sollten, denn diese waren im Kampfe gefallen oder stöhnten in persischer oder türkischer Gefangenschaft.

Ebenso traurig klingen die Tisch- und Zechlieder, sei es auch, dass ihr Inhalt Frohsinn atme. Bei keinem georgischen Gastmahle oder Gelage fehlt der Gesang und sogar die Toaste und gewöhnlichen Trinksprüche sind in Reime gekleidet und werden von allen am Gelage teilnehmenden Männern gesungen. Beim Beginne des Gastmahles wählt man gewöhnlich einen Vorsitzenden, „Tolumbascha“, der Tafelordnung führt und dessen Obliegenheit es ist, die jedem der Tischgenossen zukommenden Toaste auszubringen. Beim Ausbringen des Toastes ruft man gewöhnlich: Auf die Gesundheit Wachtangs, Allawerdi sei mit dir! worauf geantwortet wird: Jakschi woll! (Glückliche Reise!). Es sind das tatarische Ausdrücke, die auf Grund eines historischen Ereignisses in der georgischen Sprache Eingang gefunden haben. Als Schach Abbas von Persien das durch langwierige Kämpfe mit seinen Nachbarvölkern erschöpfte Georgien mit Krieg überzog, verzagte der georgische König Georg IX. und konnte sich nicht entschliessen, dem mächtigen Perserheere offen in einer Feldschlacht gegenüberzutreten. Er schickte daher zu Abbas eine Gesandtschaft mit reichen Geschenken und versprach einen Tribut zu zahlen, wenn dieser sein Land verliesse. Als man Schach [29] Abbas die Bitte des georgischen Königs mitteilte, ass er gerade eine Pfirsiche; er stiess mit dem Absatz seines Stiefels ein Loch in den Boden, legte den Pfirsichkern hinein und sagte: Ich verlasse Georgien nicht eher, bevor nicht aus diesem Kern ein hoher Baum emporgewachsen ist! Als der Gesandte sah, dass das Land auf dem Wege eines Vertrages nicht zu retten sei, wandte er sich an den Verbündeten der Perser, Allawerdi, den Anführer der tatarischen Reiterei und bat ihn, zu den Georgiern überzutreten. Zur Belohung dafür versprach er ihm das Teuerste, was er auf dieser Welt habe, nämlich seine schöne Gattin. In eine Tschadra gehüllt, führte er sie in das Zelt des tatarischen Heerführers und als er ihren Schleier lüftete, riefen Alle vor Entzückung aus: Ericha! (Leute, bewundert!). Allawerdi, gerührt durch die Opferwilligkeit des georgischen Gesandten, gab ihm die Gattin zurück und versprach seine Bitte zu erfüllen. Während der Schlacht ging er mit seinem Heere zu den Georgiern über, wodurch er ihnen zum Siege verhalf, fiel aber selbst im Kampfe. Nach errungenem Siege hielten die Georgier und Tataren auf dem Schlachtfelde ein Zechgelage.

— Wo ist Allawerdi? rief plötzlich ein Georgier, welcher noch nichts von seinem Tode wusste.

— Jakschi woll! (Glückliche Reise!) antworteten die Tataren.

Seit diesem Ereignisse kamen diese Worte bei Trinkgelagen in Gebrauch, obgleich sie eigentlich ihre Bedeutung verloren haben.

Fast immer trinken die Georgier auf das Wohl aller am Gastmahle Teilnehmenden, was natürlich mitunter eine gehörige Zahl von Toasten ausmacht. Hierbei hält der Tolumbascha gewissenhaft die Ordnung aufrecht und sieht darauf, dass Jeder sein Glas bis auf den Boden leere, womit jedoch nicht gesagt ist, dass es voll sein müsse. Wenn bereits auf das Wohl aller Anwesenden getrunken worden, [30] treten „Solisten“ auf und der Tolumbascha legt nun sein Amt nieder.Der „Solist“ schänkt sich vier Gläser ein und bringt vier verschiedene Toaste aus, worauf er die Gläser seinem Nachbar übergiebt, der nun dasselbe zu thun verpflichtet ist. Bei sehr feierlichen Gelegenheiten bedient man sich grosser Füllhörner, die drei, vier und mehr Flaschen Wein fassen, zu deren Leerung sich jedoch nur wirkliche „Meistertrinker“ bereitwillig zeigen. Übrigens ist der Kachetinerwein, welcher fast ausschliesslich in Georgien genossen wird, immer rein von Alkohol und nicht sehr stark, so dass man ein bedeutendes Mass ohne unangenehme Folgen vertilgen kann. Auch ist man des Klimas wegen auf den Genuss des Weines angewiesen und das Wasser ist wegen des hier oft herrschenden Fiebers geradezu schädlich. In der Provinz Kachetien giebt es Häuser, wo nie Wasser auf den Tisch kommt, da man es gar nicht für ein dem Menschen geziemendes Getränk betrachtet.

Nach Beendigung des Mahles erheitert sich die Tischgesellschaft gewöhnlich noch lange durch Gesänge, besonders wenn die Klänge des Tschunguri oder der Surna die Gäste dazu aufmuntern.

Den Gesängen folgen oft Tänze, von denen die „Lesginka“ der beliebteste ist. Sobald ihre Klänge erschallen, erheben sich Alle von ihren Sitzen, um am Tanze Teil zu nehmen oder ihn wenigstens zu bewundern, denn die Lesginka entspricht mehr als jeder andere Tanz dem Temperamente des Georgiers. Getanzt wird sie von einem Manne in Begleitung einer Frau oder eines Mädchens, wobei sich jedoch die Tänzer nicht an den Händen halten, sondern getrennt die verschiedenen Figuren ausführen. Während des Reigens nimmt der Tanzwirbel immer schnellere Wendungen an und erreicht schliesslich eine fast rasende Geschwindigkeit, wodurch jedoch die Bewegungen der Tänzer weder an Grazie, noch an Anstand verlieren. Wenig Tänze erfordern soviel Körpergewandtheit und einen so [31] edlen Schwung der Bewegungen wie die Lesginka, deren Figuren eine höchst ansprechende Harmonie besitzen und doch dabei fast ungestüm in ihren Wendungen sind.

Wenn der Tanz beginnt, bildet die ganze Gesellschaft einen Kreis um die Tänzer und klatscht mit den Händen nach dem Takte oder sucht die Tanzenden durch Rufe aufzumuntern, wofür diese wieder mit einer Verbeugung, einem Lächeln oder freundlichen Blicken danken. Diese Dankesbezeigungen verleihen besonders Frauen und Mädchen einen unwiderstehlichen Reiz, so dass oft ihr Fächeln oder ihre Verbeugungen von neuem stürmischen Beifall hervorrufen.

Am besten tanzen die Lesginka die Bewohner der Berge, besonders die Tscherkessen, deren Frauen im ganzen Morgenlande durch ihre ungewöhnliche Schönheit bekannt sind. Die Nationaltracht der Tscherkessinnen ist zwar keineswegs geschmackvoll, aber sie selbst sind fast durchweg reizend und oft geradezu bezaubernd. Wie die Georgierinnen sind sie auffallend schüchtern, aber ihre fast kindliche Schüchternheit ist nicht die Folge angeborener Furcht, denn im Gegenteil sind die Tscherkessinnen sehr mutig und nie überkommt sie ein Zittern, wenn ihr Tänzer in unmittelbarer Nähe den Dolch schwingt oder während des Tanzes eine Pistolenkugel vor ihren Füssen in den Erdboden schlägt. Nein, diese Tochter der Berge, die täglich in die schrecklichsten Abgründe schaut und auf feurigem Rosse an den Rändern tiefer Klüfte dahinsprengt, die von Kindheit an den Donner der Lawinen, das Brausen der Stürme und Geheul der Wölfe und Hyänen gewöhnt ist, diese schöne Rose der Berge kennt keine Furcht und ruhig bleibt ihr reizvolles Auge im Augenblicke der Gefahr.

Heute ist die Lesginka noch in ganz Georgien sehr beliebt, jedoch in den grösseren Städten wie Tiflis und Kutais, wo sich schon ein fast ganz europäisches Salonleben [32] herausgebildet hat, wird immermehr durch die europäischen Tänze verdrängt, und vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, da das Theater ihr einziger Zufluchtsort sein wird. Diese Bretter, die die Welt bedeuten, sind es ja, die so manches Lebensbild der Vergangenheit bewahren und immer noch die Menschheit an jenes buntfarbige Spiel der Vorzeit erinnern, über deren Wesen und Geist sie sich längst hinaus zu sein dünkt. Ja, mit wahrhaft kindischer Freude kehren wir zu jener „überwundenen" buntfarbigen Bilderei zurück und laben uns wie Kinder an ihr, denn die graue Prosa unseres scheinbar hohen Kulturlebens genügt uns einmal nicht und sie wird auch den eifrigsten Materialisten nie befriedigen.

Theater giebt es drei in Tiflis, nämlich je ein russisches, georgisches und armenisches. Über die reichsten Mittel verfügt von ihnen das russische, während die beiden andern diesem in jeder Hinsicht weit nachstehen. Das Tifliser georgische Theater, welches bis jetzt das einzige in ganz Georgien ist, hatte Augenblicke, die ihm eine glänzende Zukunft zu prophezeien schienen, aber es waren das nur kurze Flitterwochen und heute ist seine Lage eine keineswegs glänzende. Gegründet wurde die georgische Nationalbühne im Jahre 1850 vom Fürsten Georg Eristawi, welcher auch der erste georgische Bühnendichter war und sich daher um die Förderung der dramatischen Kunst in seinem Vaterlande nicht geringe Verdienste erworben hat. Während des 34jährigen Bestehens dieses Theaters war man bemüht sie auf die Höhe seiner Bestimmung zu erheben, aber trotz eines verhältnismässig reichhaltigen Repertoires von Originalstücken und Übersetzungen, ist die georgische Bühne noch keine Nationalbühne im wahren Sinne des Wortes. Ohne Zweifel fehlt es eben der georgischen Gesellschaft noch am wahren Kunstsinne und den Leitern des Theaters an der gehörigen Kenntnis der dramatischen Kunst. Hierbei ist jedoch hinzuzufügen, dass in der letzten [33] Zeit ziemlich ernsthafte Anstrengungen gemacht wurden die künstlerische Entwicklung dieser Nationalbühne zu fördern, deren nutzbringende Folgen jedoch noch nicht abzusehen sind.

Die dramatische Litteratur der Georgier werde ich weiter unten, im Kapitel, welches ihr Geistesleben behandelt, besprechen.

Ehe ich zur Betrachtung der Tifliser Altertümer übergehe, kann ich nicht umhin des kaukasischen Museums zu erwähnen, dessen Gründer und umsichtiger Erhalter unser Landsmann Dr. Gustav Radde ist. Dr. Radde ist als Ornithologe und Naturforscher weit und breit in Gelehrtenkreisen bekannt, aber wenige dürften von seinen Verdiensten gehört haben, die er sich um die Schöpfung und wahrhaft kunstvolle Einrichtung des kaukasischen Museums in Tiflis erworben hat. In seinen umfangreichen, reich ausgestatteten Sälen tritt dem Besucher ein wahrhaftiges Lebensbild der kaukasischen Länder entgegen und zwar ist sowohl deren Vergangenheit als auch ihr heutiger Zustand berücksichtigt. Alte Schmucksachen, Gefässe, Münzen, Abbildungen von Ruinen oder noch bestehenden Kirchen und Klöstern geben uns Aufschluss über die Vergangenheit des Kaukasus. Reiche Sammlungen von Mineralien, ausgestopften Tieren, Insekten u. s. w. gestatten uns einen Einblick in die grossartige Natur dieses Landes. Zahlreiche Gruppen lebensgrosser Figuren zeigen uns die Nationaltrachten aller den Kaukasus bewohnenden Völkerstämme, während wieder hölzerne Miniaturnachbildungen ihrer Häuser, Haus- und Ackergeräte das alltägliche Leben dieser Völker und ihren materiellen Kulturzustand kennzeichnen. Der Naturfreund, der Altertumsforscher sowie der Laie finden hier reichlichen Stoff zur Befriedigung ihrer Wissbegier und vor Allem hilft ihnen dieses Museum ihr Bild von Land und Bewohnern des Kaukasus vervollständigen.

[34] Sieht man die altertümliche Hauptstadt Georgiens in ihrem heutigen, halb europäischen Gewande, so empfindet man unwillkürlich das Verlangen, manche Überreste ihrer glänzenden Vergangenheit kennen zu lernen. Leider besitzt Tiflis verhältnismässig wenig Altertümer, denn mehr als andere Orte Georgiens war diese Stadt stets den Angriffen der der Feinde ausgesetzt, die sie als Herz des Landes betrachtend, stets nach ihrer Einnahme strebten und in ihrem Besitz die Hauptbedingung der Eroberung Georgiens sahen. Am meisten litt dieses Land im Laufe seiner Vergangenheit von den Persern und Türken, obgleich es auch andere Nachbarvölker wie Lesgier und Tataren in hohem Grade beunruhigten. Alle diese Völker bekennen sich zum Glauben Mahomeds, weshalb es natürlich ihr erstes Bestreben war, das christliche Georgien und dessen Einrichtungen nach mahomedanischen Mustern umzumodeln. Da ihnen jedoch in diesen Bestrebungen die Georgier stets hartnäckigen Widerstand leisteten, so suchten sie bei jedem ihrer Einfälle, alle grösseren Städte und festen Plätze, die dem Lande Schutz verliehen, zu zerstören. Seit undenklichen Zeiten besass Tiflis starke Ringmauern, die auf dem Scheitel der die Stadt umgebenden Berge dahinliefen und stellenweise von Festungswerken unterbrochen waren. Der Zahn der Zeit hat diese Riesenmauern noch nicht völlig vernichtet und noch heute zeugen sie für die Anstrengungen, die die Georgier anwandten, um ihren Feinden Trotz zu bieten. Ausser diesen Ringmauern und dem Schlosse des letzten Königs Heraklius, einem Gebäude, das heute der russischen Militärverwaltung zugehört, sind in Tiflis fast gar keine anderen Gebäude verblieben, die für die einstige Macht Georgiens zeugen könnten, denn selbst das alte Königsschloss, in welchem die Bagratidenherrscher in der Glanzperiode residierten, ist spurlos verschwunden. Nach örtlichen Angaben zählte es dreihundert Gemächer und innerhalb seiner Hofmauern befanden sich [35] vier Kirchen, ein Tiergarten und ein umfangreicher Lustgarten. Mit ihm sind auch andere Paläste der Bagratidenfürsten verschwunden, sodass heute Tiflis fast nichts mehr von seiner königlichen Herrlichkeit besitzt, die ihm einst so grosse Bedeutung verlieh. Der Grund dieses Mangels an Baudenkmälern aus der Vergangenheit Georgiens ist hauptsächlich im Charakter der letzten Epoche der Unabhängigkeit dieses Landes zu suchen. In diesem Zeitraume war Georgien der Schauplatz fast ununterbrochener innerer Kriege wie auch häufiger und verheerender Überfälle von Seiten der Perser, sodass Tiflis im Laufe mehrerer Jahrzehnte den grössten Verwüstungen ausgesetzt war und ein bedeutender Teil seiner prächtigsten Gebäude zerstört wurde. Als um das Jahr 1800 die Russen das Land in Besitz nahmen, lag Tiflis teilweise in Trümmern und wenn es auch später wieder auferstand, wie das schon in früheren Jahrhunderten oft geschehen war, so erlangte es doch seinen früheren Glanz nicht wieder und das Ritterleben, das einst in seinen Mauern pulsiert hatte, war für immer erloschen. Dort, wo sich früher umfangreiche Gärten erstreckten, entstanden neue Häuser, deren Zahl heute schon so bedeutend ist, dass sie fast eine neue Stadt ausmachen.

Dauerhafter als die Stätten fürstlicher Pracht und weltlichen Prunkes waren die Denkmäler der Religiosität der alten Georgier, denn einige der noch heute bestehenden georgischen Kirchen in Tiflis stammen aus den ersten Jahrhunderten des Christentums. Die prachtreichste von ihnen ist die alte Domkirche, welche im fünften Jahrhunderte vom Könige Wachtang erbaut wurde und lange Zeiten hindurch der Sitz des Katolikos, des höchsten geistlichen Würdenträgers in Georgien war. Sie ist aus gelbem Steinmaterial aufgeführt und hat wie alle georgischen Kirchen nicht sehr hohe mit achteckigen Kuppeln versehene Türme. Ihre heutige Architektur und innere Ausstattung stammen aus späteren Zeiten, denn im dreizehnten [36] Jahrhunderte wurde sie vom Sultane Dschelal-eddin, dann aber von Timur zerstört. Als im sechzehnten Jahrhunderte Schach Ismael Tiflis verheerte, wurde sie gleichfalls hart mitgenommen und vieler ihrer Kostbarkeiten beraubt. Bis heute noch wird in dieser Kirche ein für die Georgier wertvolles Kleinod aufbewahrt, nämlich ein von der heiligen Nina, der ersten Bekehrerin Georgiens stammendes, mit ihren Haarflechten gebundenes Kreuz aus Weinreben. Dieses Kreuz ist gewissermassen das Sinnbild der georgischen Nationalkirche, die zwar aus dem Schosse der griechisch-orientalischen entstanden ist und sich auch in ihren Grundsätzen von dieser nicht unterscheidet, doch später eine gewisse Selbstständigkeit erlangte und ihren eigenen Oberhirten im Katolikos von Georgien besass. Dank dieser Selbstständigkeit entwickelte sich auch in der georgischen Kirchenarchitektur ein besonderer Stil, dem allerdings griechisch-byzantinische Vorbilder zur Grundlage dienten. Nach der Vereinigung Georgiens mit Russland hat die russische Regierung die georgische Kirche mit der russischen vereinigt und seitdem verwaltet sie ein Exarch russischer Nationalität.

Um die Hälfte unseres Jahrhunderts wurde die Tifliser georgische Kathedrale fast gänzlich umgebaut, wodurch sie natürlich viel von ihrem altertümlichen Charakter verloren hat. Ausser ihr giebt es in Tiflis noch andere sehr alte Kirchen, von denen die Davidskirche der Erwähnung verdient. Sie steht auf einem Berge, der denselben Namen trägt und ist Dank dieser hohen Lage weithin sichtbar. Neben ihren Mauern befindet sich das Grabdenkmal des russischen Schriftstellers Gribojedow, des Verfassers des bekannten Lustspiels „Wehe dem, der Verstand hat!“ Wie Lermontow liebte auch Gribojedow das Zauberland Georgien und ihm galten alle Träume seiner letzten Lebensjahre. Auf diesem Denkmale hat seine Gattin, eine Georgierin, folgende Inschrift anbringen lassen: „Deine Werke [37] haben dich deinem Vaterlande unsterblich gemacht, aber warum soll dich deine Nina überleben!“

Die übrigen georgischen Kirchen sind weniger altertümlich oder zeichnen sich nicht besonders durch ihre Architektur oder innere Ausstattung aus. Überhaupt besitzt Tiflis mehr armenische als georgische Kirchen, was ziemlich auffallend ist, da doch die Georgier hier stets das herrschende Element waren und bei ihnen der religiöse Sinn nie schwächer als bei den Armeniern.

Die letzteren[WS 1] kamen aus ihrem Vaterlande vertrieben, als Flüchtlinge nach Georgien und da sie hier gastfreundliche Aufnahme fanden, liessen sie sich hier nieder, besonders aber in Tiflis, welches als Hauptherd des nationalen Lebens ihren Hang zu Handel und Gewerbe sehr begünstigte. In anderen Gegenden Georgiens giebt es ihrer weniger und in manchen Gegenden sind sie gar nicht anzutreffen. Jedenfalls ist jedoch ihre Zahl gross genug um ein Volk im Volke zu bilden und zur Verarmung der einheimischen Bevölkerung beizutragen. Seit einer geraumen Zeit spielen die Armenier in Georgien die Rolle der Juden, indem sie Handel und Gewerbe in ihren Händen behaupten und sich allmählich immer bedeutendere Existenzmittel erwerben. Als Georgien noch ein unabhängiges Reich war und sein Adel mehr Macht und Einfluss besass als heute, muss wahrscheinlich die Stellung der Armenier eine weniger hervorragende gewesen sein als gegenwärtig. Ohne Zweifel betrieben sie damals ihre Sache mit mehr Schüchternheit als heute, obgleich sie wohl von Seiten der Georgier keine Bedrückungen erfahren haben mögen, denn sie hatten Zutritt zu vielen und sogar hohen Ämtern und ihre Nationalität entwickelte sich ungestört neben der georgischen, die sie in letzter Zeit in mancher Hinsicht sogar überflügelt hat.

Im Charakter unterscheiden sich die Armenier von den Georgiern um ein Bedeutendes. Während nämlich [38] die letzteren viele Rittereigenschaften besitzen, haben die ersteren wieder mehr Hang zum stillen, betriebsamen Leben und das Kriegshandwerk scheinen sie eben so wenig wie die Juden zu lieben. Dieser auffallende Unterschied zwischen dem Temperamente und Charakter dieser zwei Nachbarvölker

Armenierin.

lässt sich teilweise durch klimatische Ursachen erklären.

Armenien, das eigentliche Vaterland der Armenier, ist ein rauhes, unfruchtbares Hochland, dessen Sommerhitze nicht weniger empfindlich ist als die Kälte während des fast sechs Monate dauernden Winters. Es besitzt [39] weder jene paradiesischen Landschaften, die die Zierde Georgiens sind, noch seinen Fruchtreichtum, denn sein felsiger Boden bringt nur kärgliche Frucht hervor. Die Natur hat also den Armenier nicht verweichlicht, sondern sein Organismus hat sich vielmehr im Kampfe mit ihr gestählt: er ist ausdauernd, geduldig und mit weniger Einbildungskraft begabt als der blühende und fruchtbare Thäler bewohnende Georgier. Reichtum an Ackerland besitzt der Armenier nicht und ist daher genötigt durch Gewerbe und Handel sein Brot zu verdienen. Auch hat sich in ihm eine gewisse Schlauheit ausgebildet, denn die seit Jahrhunderten dauernden Bedrückungen, die sein Volk von den Persern und Türken erleiden musste, haben in ihm das Aufrichtigkeitsgefühl erstickt und ihn Heuchelei gelehrt. Es ist das eine Eigenschaft, die für stolze und eitle Gegner stets gefährlich ist und solche haben auch die Armenier fast überall, wo sie sich eine zweite Heimat gegründet haben. Zudem besitzt der Armenier noch eine beträchtliche Dose von Habgier, die gewöhnlich Völkern eigen ist, welche aus ihrem Vaterlande verdrängt in fremden Ländern ihr Dasein fristen müssen. Eine derartige Lebenslage bringt fast immer eine rege Gewinnsucht hervor, denn ohne dauerhafte Grundlage seiner Existenz bangt dem Menschen um seine Zukunft und er strebt daher nach schneller Bereicherung, um wenigstens im Gelde einen Stützpunkt zu haben, der ihm anderweitig fehlt. Wie sehr die Armenier diesem Umstande ihre Aufmerksamkeit widmen, sieht man in den im ganzen Oriente bestehenden Verhältnissen, wo die Armenier die Herren des Handels sind und die grössten Kapitale in ihren Händen haben.

Mit einem Volke, das seine Stellung so nachhaltig zu befestigen und zu schützen weiss, ist es für die gutherzigen, leichtgläubigen und zur Verschwendung geneigten Georgier nicht leicht den Wettstreit auszuhalten. Daher vermindern sich auch ihre Besitztümer mit jedem Jahre, [40] indem sie in die kräftigen Hände der Armenier übergehen, deren heute schon viele bedeutende Ländereien besitzen. Die Georgier sind zwar nicht blind für diese Änderung ihrer materiellen Lage und machen Anstrengungen, um das wirtschaftliche Übergewicht im Lande auf ihrer Seite zu behaupten, aber es ist fraglich, ob es ihnen schliesslich gelingt die Goldflut zu hemmen, die bis jetzt aus ihren Beuteln in die der schlauen Söhne Haiks zieht.

Die letzteren verstehen es besser ihre Sache zu fördern als jene Exritter, die ein bequemes Leben lieben und sich mehr als sie vom Gewissen leiten lassen.

Auch an der Hebung der Aufklärung unter dem Volke arbeiten Armenier ziemlich energisch, denn sie wissen wohl, dass Bildung und Kultur die Kräfte jeder Nation vermehren hilft. Ihre Schulen sind teilweise musterhaft und ein bedeutender Teil der armenischen Jugend studiert in den höheren Lehranstalten Russlands und Westeuropas. Daher findet man auch unter ihnen viele Leute mit höherer Bildung und gediegenen Sprachkenntnissen. Überhaupt ist der Stand der Volksaufklärung unter den Armeniern ein weit höherer als man ihrer geographischen Lage nach anzunehmen geneigt ist, und in Vorderasien sind sie dasjenige Volk, welches am nachhaltigsten den Fortschritt betreibt.

Schon seit einigen Jahrzehnten haben sie eine Presse, die jetzt aus mehr als dreissig Blättern besteht und deren gediegenste in Konstantinopel erscheinen. Diese Stadt ist Hauptherd des geistigen Lebens der Armenier im allgemeinen und ihre hier erscheinenden Zeitungen übertreffen bei weitem die türkischen an Gediegenheit des Inhalts und fortschrittlichen Grundsätzen.

Der Herd der geistigen Bewegung der kaukasischen Armenier ist Tiflis, woselbst gegenwärtig sechs armenische Zeitungen erscheinen. Die bedeutendste derselben ist das Tageblatt „Mschak“ (der Arbeiter), welches von Dr. Arzruni [41] herausgegeben wird. Es ist das eine geschickt redigierte und dem Inhalte nach sehr reichhaltige Zeitung, in welcher dem fortschrittlichen Leben Westeuropas, besonders Deutschlands, sorgfältige Beachtung gewidmet wird. Zu ihren Feuilletonmitarbeitern gehört unter anderen der Novellist Raffi, welcher auch als Übersetzer deutscher Novellen bekannt ist. Der Redakteur selbst hat an der Heidelberger Hochschule studiert und spricht das Deutsche mit grosser Fertigkeit, wodurch sich auch zahlreiche andere armenische Schriftsteller auszeichnen. Die zweite Zeitung ist der „Nor Dar“ (Die neue Zeit), dessen Redakteur Spandarjan gleichfalls seine höhere Ausbildung in Deutschland genossen hat. In diesem Blatte sind die fortschrittlichen Grundsätze der Jungarmenier ausgeprägter vertreten als im „Mschak“, weshalb es auch gewissermassen auf der äussersten Linken steht. Eine dritte, wöchentlich dreimal erscheinende Zeitung ist die „Megu Hajastani“ (Die Biene Armeniens), die schon seit einem Vierteljahrhunderte besteht und mehr konservativen Grundsätzen huldigt. Ausserdem erscheint noch ein ziemlich reichhaltiges Wochenblatt, das „Ardsagank“ (Echo), welches von Josseliani redigiert wird. Die armenischen Lehrer haben ihr Organ in der Monatsschrift „Waraschan“ (Die Schule), während die armenische Kinderwelt Unterhaltung und Geistesnahrung aus dem „Aigpjur“, nämlich aus der „Quelle“ schöpft.

Wie in allen Zweigen ihrer nationalen Wirksamkeit zeichnen sich die Armenier auch in der Litteratur durch praktischen Sinn aus und der Wert ihrer litterarischen Werke beruht mehr auf dem wissenschaftlichen Gehalte derselben als auf schöpferischer Dichterkraft. Ihr Schrifttum hatte einst seine klassische Blütezeit, aus der uns ein bedeutender Schatz von wissenschaftlichen, besonders geschichtlichen und theologischen Werken verblieben ist. Grosse Dichter hatten jedoch die Armenier eigentlich nie, wenn auch manchem Sänger der klassischen Epoche weder [42] Kraft noch Begeisterung abzusprechen ist. Ihre mittelalterliche Poesie war grösstenteils religiöser Art und als solche hat sie allerdings eine ansehnliche Höhe erreicht. Dies besonders die Lieder von Narses Schnorgali, Gregor Narekazi und Chartschatur Wartapet. Die Hymnen dieser von aufrichtigem Glauben beseelten Dichter werden noch heute in den armenischen Kirchen gesungen und die Lieder von Schnorgali wurden sogar in mehrere europäische Sprachen übertragen. Dieser letztgenannte Dichter hat auch eine Geschichte Armeniens von der Schöpfung der Welt bis zu der ihm zeitgenössischen Epoche in Versen verfasst, wofür ihm von den Gelehrten des Abendlandes der Titel eines armenischen Livius zuerkannt wurde. Allerdings mag es ein eitles Beginnen sein, die Geschichte eines Volkes von der Schöpfung der Welt an zu schreiben, aber für die Armenier, die über Noah und seine nächsten Nachkommen sehr genaue Berichte haben und auch genau wissen, dass Noah armenisch sprach, mag ein solches Unternehmen leichter als für irgend Jemand sein. Unter den weltlichen Dichtern der klassischen Epoche war der bedeutendste Gregor Magistros, welcher im fünften Jahrhunderte lebte.

Nach dem Untergange des armenischen Reiches zerstreute sich ein grosser Teil seiner Bewohner über Westasien und Osteuropa und gründete dort zahlreiche Kolonien. Trotz des drückenden Schicksals, welches seitdem den Armeniern zuteil ward, vernachlässigten sie jedoch nie ihr Geistesleben und pflegten sogar in weiter Fremde ihre vaterländische Kultur. Der beste Beweis hierfür sind die zahlreichen armenischen Druckereien, welche in vielen Städten Asiens und Osteuropas bis auf unsre Zeit bestanden haben. Wo sich nur eine bedeutendere Anzahl Armenier zusammenfand, schritten sie sofort zur Gründung einer Druckerei und Herausgabe von Büchern, um ihre Sprache und Litteratur vor dem Untergange zu bewahren.

[43] In neueren Zeiten ist das Schrifttum der Armenier wiederum aufgeblüht und entwickelt sich nunmehr den modernen Anforderungen gemäss. Da die Ethik und der Charakter eines Volkes auf dessen Geistesfrüchte einen grossen Einfluss ausüben, tritt natürlich auch in der litterarischen Wirksamkeit der Armenier ein Übergewicht von praktischer Reflexion hervor, während in ihr die schöpferische Thätigkeit der blossen Einbildungskraft in geringerem Masse vorhanden ist.

In der schönen Litteratur wird vor allem die Erzählung gepflegt, für die auch die Armenier grosse Vorliebe zu haben scheinen. Kärglicher ist es um die Poesie bestellt, welche nur wenig und grösstenteils nur mittelmässige Vertreter hat.

Der heutige Roman der Armenier folgt in seiner Entwicklung streng den Mustern des Abendlandes und hat mehr gemein mit morgenländischem Fabulieren. Seinen Stoff schöpft er aus dem Gesellschaftsleben und ist gewissermassen ein Spiegel desselben. Die bedeutendsten Erzähler sind Raffi, Dserenz, Proschjanz, Abowjanz und Agajanz. Des Ersten Novellen gehören zu den gelesensten und behandeln das Leben der Armenier in verschiedenen Verhältnissen. Im „Blödsinnigen“ schildert Raffi Szenen aus dem russisch-türkischen Kriege, in den „Funken“ malt er Bilder aus dem Leben der in Persien und der Türkei wohnenden Armenier, während er im „Goldhahn“ vom Handel und Wandel der armenischen Kaufleute im Kaukasus erzählt.

In den neuesten Schöpfungen der armenischen Belletristik macht sich deutlich eine realistische Strömung geltend, indem sich in ihnen das wirkliche Leben abspiegelt und Charaktere vorkommen, die keineswegs idealisiert sind. Allerdings scheint es dabei an einer pessimistischen Färbung nicht zu fehlen, aber selbst auch diese lässt sich mitunter durch die Wirklichkeit rechtfertigen. Fast immer ist es [44] das Kaufmannsleben, das mit seinem Stoffe herhalten muss, sodass es fast aussieht, als ob die armenischen Belletristen dem Kaufmanne das Heldenmonopol zusprechen wollten.

Um dem Leser einen Einblick in diese neuarmenische Romanwelt zu ermöglichen, will ich hier kurz den Inhalt zweier Erzählungen wiedergeben, welche treu realistisch abgefasst sind und also zugleich auch als wahre Lebensbilder angesehen werden dürfen. In der ersten „Schirwansadse“ schildert der Verfasser das Leben eines armenischen Kaufmannes, indem er von seinen Knabenjahren anfängt und die allmähliche Entwicklung seiner Fähigkeiten zu dem ihm vorschwebenden Berufe geschickt auseinanderlegt. Die Entwicklung ist aber hier nur eine allmähliche Hinabgleitung auf den Pfad des Betruges und schon im Jünglinge steckt ein mächtiger Hang zur rücksichtslosen Bereicherung. Aga Arutschanjanz der Held der Erzählung, ist ein eigennutziger Wicht, der selbst durch seine Verheiratung ein Geschäft machen will und um seinen Zweck zu erreichen, selbst vor den nichtswürdigsten Mitteln nicht zurückschreckt. Sein Prinzipal hat eine hübsche Tochter, die eine hübsche Mitgift besitzt und diese Mitgift einzuheimsen, ist sein einstweiliger Lebenstraum. Doch der Prinzipal hat andere Gedanken und verschmäht den unbemittelten Handlungscommis, weshalb dieser in der Stadt das Gerücht verbreitet, er stehe zur Tochter seines Brotgebers in sehr vertraulichen Beziehungen. Sein Plan gelingt wirklich denn die jungen Leute der Stadt verschmähen nun die Hand des verleumdeten Mädchens und der Vater sieht sich schliesslich gezwungen, dem Aga seine Tochter zur Frau zu geben. Dieser gewinnt nun plötzlich Boden unter seinen Füssen, wird ein wohlhabender Mann und kann sich nun nach einem andern Lebenstraume umsehen, der aber immer nur seiner Gewinnsucht geweiht sein wird.

In einer anderen Erzählung „Der Fabrikenbrand“ [45] schildert der Verfasser den Brand einer Petroleumgrube und zwar mit den treuesten Einzelheiten des Realismus. Der Held der Erzählung, der Besitzer grosser Petroleumquellen, Johannes Marutjanz läuft wie rasend umher und fleht seine Arbeiter an ihm doch die Gefälligkeit zu erweisen und sich zur Rettung seiner Fabrik in die Flammen zu stürzen, da sonst sein Geschäft zu Grunde gehen könne. Der cynische Eigennutz dieses Marutjanz erinnert stark an den Eigentümer des Sklavenschiffes von Heine.

Ein ähnlicher Realismus tritt in der dramatischen Litteratur der Armenier zu Tage, deren hervorragendster Vertreter, Gregor Sundukianz der ausgeprägteste Realist ist. Seine Bühnenstücke, die in den armenischen Theatern grossen Erfolg haben, obgleich man ihnen einen übertriebenen Pessimismus vorwirft, behandeln auch grösstenteils Vorwürfe, die dem Kaufmannsleben entnommen sind und meist dessen Schattenseiten ans Tageslicht fördern. Diesen scheinbar einseitigen Gegenstand weiss jedoch Sundukianz zu variieren, indem er seine Helden in den verschiedensten Lebenslagen und Verhältnissen aufsucht und stets dem Stücke eine neue Fabel zu Grunde legt. Seine Bühnenwerke haben Schwung, sind geschickt ausgearbeitet und entbehren nicht jener feinsinnigen Zusammenstellung der Handlung, die Spannung erregt.

Andere armenische Lustspieldichter verdienen weniger der Beachtung des Ausländers. Auch das armenische Drama hockt noch in den Kinderschuhen, obgleich die Geschichte der Armenier ziemlich reich an wirklich dramatischen Episoden ist und überhaupt das gesamte Leben dieses Volkes viel Stoff zu dramatischen Verarbeitungen bietet.

Im Ganzen genommen kämpft das armenische Theater noch um sein Dasein, obgleich es ihm weder an einem verhältnismässig reichhaltigen Repertoire, noch an erträglichen Darstellern fehlt. In der letzten Zeit zeigte sich [46] auf den armenischen Bühnen sogar ein Künstler ersten Ranges, Namens Adamian, der besonders in Shakespeareschen Rollen ungewöhnliches leistet. Da ihm aber wahrscheinlich das vaterländische Theater nicht genügende Vorteile verspricht, tritt er nunmehr nur auf den französischen und italienischen Bühnen des Orientes auf.

Ausser der dramatischen Kunst wird bis heute noch keine andere von den Armeniern in dem Grade gepflegt, dass man ihrer Wirksamkeit in diesem Bereiche eine nationale Bedeutung beilegen könnte. So hat die Musik der Armenier noch nicht ihre künstlerische Entwicklung erreicht und in der Malerei ist Ajwasjan oder Ajwasowski, wie sein Name russifiziert heisst, ihr einziger namhafter Vertreter. Dieser bekannte Marinist darf wohl aber kaum als national-armenischer Künstler betrachtet werden, denn erstens will er wohl selbst nicht für einen solchen gelten und zweitens ist die See, der beständige Vorwurf seiner Gemälde, ein Armenien fremdes Element.

Überschaut man die gesamte geistige Thätigkeit der Armenier, so gelangt man zur Überzeugung, dass sie sich auf dem Wege rastlosen Fortschrittes befinden und die Förderung ihrer nationalen Kultur mit nachhaltiger Energie betreiben.

Das ist also das Volk, welches in Georgien neben der einheimischen Bevölkerung einen wichtigen Standpunkt einnimmt und augenscheinlich darnach strebt, sich im Lande das Übergewicht zu erringen. Möglicher Weise werden aber diese Bestrebungen nie ihren Endzweck erreichen, denn erstens ist die Zahl der Georgien bewohnenden Armenier zu gering, auf dass es ihnen möglich wäre endgültig den Georgiern die Vorherrschaft abzugewinnen und zweitens ist die nationale Kultur der letzteren schon zu einer solchen Stufe der Entwicklung gelangt, von wo der Rückschritt schwieriger als der Fortschritt zu sein pflegt. Nur in materieller Hinsicht ist die Konkurrenz mit [47] den Armeniern für die Georgier gefährlich, zumal sie von jenen in der Kunst materielle Mittel zu erwerben und zu erhalten, weit übertroffen werden.

Bei solchen Verhältnissen sind natürlich auch die gegenseitigen Beziehungen dieser beiden Völker ziemlich gespannt oder bestehen teilweise gar nicht. Der Georgier achtet gewöhnlich den Armenier sehr gering, lernt seine Sprache nicht und hält sich so viel als möglich fern von ihm, wobei er verlangt, dass dieser den Rechten, die stets dem heimischen Elemente zustehen, Rechnung trage und sich den örtlichen Verhältnissen füge. Der Armenier thut das auch ohne Zaudern, lernt bereitwillig die georgische Sprache und richtet sich überhaupt in vielem nach der Landessitte, wobei er natürlich seinen eigenen Vorteil und Nutzen, den er aus einer solchen Fügung ziehen kann, zunächst im Auge hat.

Ähnlich verhält sich auch der Armenier den Russen gegenüber, in welchen er, die Macht schätzend, ein Element sieht, mit dem er leichter auf freundschaftlichem als gespanntem Fusse fortzukommen meint.

Obgleich sowohl die Armenier wie die Georgier ihre Unabhängigkeit eingebüsst haben, so war doch ihre Vergangenheit eine verschiedene und während die ersteren schon im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts vor dem Halbmonde die Waffen streckten, führten die Georgier noch fast zwei Jahrhunderte lang den Kampf um ihre Selbstständigkeit fort. Die letzteren erfüllten ihre Mission nicht ohne Ruhm und ihre Geschichte ist ungemein reich an Heldenthaten und seltener Aufopferung für Glauben und Freiheit. Dieser edle Zug schwand allerdings immer mehr mit dem Verfalle des Rittertums und Georgien wurde schliesslich der Schauplatz anarchischer Gesetzlosigkeit und langwieriger Bürgerkriege, aber trotzdem bewahrten seine Bewohner gewisse Rittertugenden und büssten nie völlig ihre Männertüchtigkeit ein.

[48] Anhaltende Thronstreitigkeiten zwischen den Prinzen des Bagratidenhauses führten endlich den Untergang seiner Selbstständigkeit herbei und um das Jahr 1800 bemächtigte sich Russland dieses Landes.

Der Verlust der Unabhängigkeit änderte natürlich in vieler Hinsicht die Lage der Dinge in Georgien, seine Institutionen wurden grösstenteils durch russische ersetzt und überhaupt verschiedene Assimilierungsmittel angewandt, um aus seinen Bewohnern nicht nur russische Unterthanen, sondern auch Russen zu machen. Manche dieser Mittel waren nicht völlig erfolglos, denn anfänglich verblendete einen Teil der georgischen Gesellschaft die europäisch-russische Kultur, welche durch die neuen Herren bei ihnen eingeführt wurde. Mit der Zeit erwachte jedoch wieder in ihnen das Nationalbewusstsein, sie erinnerten sich, dass sie selbst eine alte Kultur besassen und machten sich daran, diese den modernen Anforderungen gemäss zu entwickeln. Seitdem ziehen die Georgier zwar aus den russischen Institutionen Nutzen, sind für die russische Regierung friedliche Unterthanen, aber nichtsdestoweniger arbeiten sie an ihrer eigenen Entwicklung und streben darnach, ein den Völkern Europas ebenbürtiges Kulturvolk zu werden.

Die Beeinflussungen, welchen die Georgier im Laufe Vergangenheit unterlagen, waren verschieden und haben auch mehr oder weniger Spuren auf ihren Institutionen, Sitten, ihrer Sprache und ihrem Geistesleben zurückgelassen. Ursprünglich wurde ihre Kulturentwicklung von dem Verkehr beeinflusst, welchen sie lange Jahrhunderte hindurch mit den Byzantinern unterhielten und welcher mit Einführung des Christentums in Georgien seinen Anfang nahm. Für lange Zeit verdrängte er den Einfluss, den bisher Persien auf dieses Land ausgeübt hatte. Dieser Verkehr wurde in der Folge immer reger und Byzanz errang sich mit der Zeit die Vormundschaft über Georgien [49] und zwar sowohl in politischer wie auch in kirchlicher und kultureller Hinsicht, denn da seine Missionäre die endgültige Bekehrung dieses Landes sowie die Gründung seiner ersten kirchlichen Institutionen durchführten, gelang es ihnen auch leicht die Leitung derselben zu behaupten. In Folge dessen war die georgische Kirche anfänglich völlig von der griechischen abhängig und erst in der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts war es dem Könige Adarnasse möglich, sie von dieser Abhängigkeit zu befreien. Er entzog sie der Obhut des Patriarchen von Antiochia und schuf das Amt des Katholikos von Georgien, welcher nunmehr der oberste Würdenträger der Landeskirche war und in seiner Person deren Unabhängigkeit repräsentierte. Die Geschichte und das Schicksal der Kirche waren in der Kulturentwicklung der Georgier höchst bedeutungsvolle Faktoren, da sie lange Zeit die einzige Institution war, von welcher sich die Strahlen der Aufklärung über die Nation verbreiteten. Diese Aufklärung war natürlich fast durchweg griechisch, denn aus Griechenland und Byzanz kamen ohne Unterbrechung neue Scharen von Geistlichen nach Georgien und ihrem Einflusse hatten Bewohner zu verdanken, dass sie in verhältnismässig kurzer Zeit ihre ursprüngliche Barbarei abstreiften. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit der Landeskirche durch den König Adarnasse, wurde auch der Einfluss der Griechen schwächer, aber er hörte noch keineswegs auf. Im Gegenteil, das hinsiechende und verknöcherte byzantinische Kaisertum war noch lange für die Georgier die Kulturquelle und die Griechen trugen auch viel zur Hebung ihrer materiellen Zivilisation bei, indem sie in Georgien ihre Kenntnisse der Baukunst, der Malerei und Handwerke in Anwendung brachten. Die Architektur der georgischen Kirchen und viele in denselben erhaltenen Gemälde zeugen deutlich für diesen Einfluss.

Ehe jedoch diese Kulturanfänge zur gehörigen Entfaltung [50] gekommen waren, wurde Georgien von den Arabern erobert, deren Herrschaft hier vierhundert Jahre währte, obwohl gleichzeitig neben ihnen mehrere kleine unabhängige Fürstentümer bestanden, die von Prinzen aus dem Hause der Bagratiden regiert wurden. Die Araber brachten ihre junge Kultur mit und erweckten in Georgien mehr Leben als ihm die herabgekommenen Griechen zu geben vermocht hatten. Tiflis wurde von ihnen fast völlig umgebaut und mit vielen Schulen bereichert, die für die einheimische Bevölkerung nur den einzigen Nachteil besassen, dass sie der Verbreitung der islamitischen Glaubenslehren Vorschub leisteten. Diese unter der Leitung der Araber sich steigernde Kulturbewegung drohte sogar den Georgiern mit grosser Gefahr, denn sie konnte leicht für immer ihr nationales Leben vernichten und das Christentum verdrängen. Deshalb wurden auch ohne Unterlass Mönche und junge Laien nach Griechenland geschickt, um sich dort auszubilden und dann in der Heimat nachhaltig dem Umsichgreifen des arabischen Einflusses entgegenzuwirken. In dieser Zeit wurden auch zahlreiche Übersetzungen älterer und zeitgenössischer griechischer Werke über Theologie und Philosophie ausgeführt und diese Erwerbungen trugen nicht wenig zur Befestigung des Christentums bei.

Es geschah dies hauptsächlich zur Regierungszeit des Königs Bagrat III., welcher im Jahre 1008 alle unter anderen Bagratiden oder abchasischen Fürsten stehenden Teile Georgiens unter seinem Szepter vereinigte. Mit seiner Regierung begann für Georgien die Zeit der Blüte, die Epoche seiner grössten politischen Macht, obgleich diese Glanzperiode für einige Jahre durch den Einfall der Seldschuken unterbrochen wurde. Bagrat III. brachte sein Land auf eine Höhe, auf der es früher noch nie gewesen war, denn indem er seine Grenzen erweiterte, erhöhte er auch seine politische Bedeutung. Zu seiner Zeit entstanden die zwei grossartigsten Kirchen Georgiens, die [51] Dome zu Kutais und Mzchet. Beide wurden von griechischen Baumeistern mit einem ungeheuren Aufwande von kostbarem Material und edlen Metallen aufgeführt und noch nach Jahrhunderten, als Georgien schon seine frühere Macht eingebüsst hatte, zeugten diese Gotteshäuser noch für den Unternehmungsgeist und den religiösen Sinn längst entschwundener Geschlechter.

Gegen Ende des elften Jahrhunderts fielen die Seldschuken in Georgien ein, aber trotz mehrmaliger Verheerungen, denen sie das Land überlieferten, war doch ihr Einfluss auf die Lage der Dinge nur ein geringer und schon dem Könige David, dem „Erneuerer“, dem Urgrossvater der Königin Tamara gelang es, sie vollständig zu vertreiben. Unter seiner Regierung erhob sich die Macht Georgiens noch mehr, aber ihren Gipfel erstieg sie erst unter der Königin Tamara, deren Zeit für Georgien die Zeit des höchsten Glanzes und Ruhmes war. Ihr Hof war ein Abbild des Hofes der Kalifen in dessen glänzendsten Tagen, denn ausser tapferen und siegestrunkenen Rittern bevölkerten ihn auch Dichter, deren bedeutendster der unsterbliche Verfasser des schönen Epos, „Der Mann im Tigerfelle“, Schota Rustaweli war.

Nach diesen Jahren des Glanzes lagerte bald trübe Nacht über Georgien, denn schon unter der Regierung der Tochter Tamarens, der lasterhaften Russudan, begann ein langes Drama, welches erst mit dem Untergange des Bagratidenreiches sein Ende erreichte. Was dieses Land in den folgenden Jahrhunderten gelitten, lässt sich schwerlich in kurzen Worten schildern, denn von nun an schwieg fast nie der Kriegslärm, selten erloschen die Feuersbrünste. Dieses Elend erlitt jedoch Georgien nicht nur von den beutegierigen Scharen der Perser, Türken und Tataren, sondern es erfuhr auch viel Unbill von seinen eigenen Söhnen, von eigenen Verrätern, eigenen Fürsten, deren mehrere die Saat früherer Helden vernichteten. Nach [52] Alexander I. dem Grossen, welcher in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts regierte, zerfiel Georgien in drei Königreiche und seit dieser Zeit hörten die Kämpfe zwischen diesen fast gar nicht mehr auf, so dass sich das Land in einem beklagenswerten Zustande befand, als für seine Selbständigkeit die letzte Stunde schlug.

Viele Städte lagen halb in Trümmern, die Dörfer waren verwüstet, das Volk war in einen halb verwilderten Zustand zurückgesunken und dachte nur an blutige Kämpfe oder an die Vorbereitungen zu solchen. Von Gewerbe war keine Rede, der Ackerbau war völlig vernachlässigt, die einst blühenden Schulen waren in Verfall geraten und das Schrifttum hatte man inmitten des fortwährenden Waffengeklirrs und der Kriegsnot fast ganz vergessen.

Die Georgier behaupten, dass es damals bei ihnen keineswegs an Reformbestrebungen fehlte und es vielen ihrer Väter darum zu thun war, mit Westeuropa regeren Verkehr anzuknüpfen und überhaupt die Kultur des Landes zu heben. Dass solche Bestrebungen wirklich bestanden haben, ist nicht zu bezweifeln, aber sie waren der Verwilderung der Massen und der allgemeinen Gesetzlosigkeit gegenüber machtlos.

In den Dörfern herrschten wie früher Fürsten und Adel von der schweren Arbeit der ihnen untergebenen Bauern lebend, denn mit voller Kraft blühte hier noch ein mittelalterlicher Feudalismus, welcher dem des Abendlandes ziemlich nahe verwandt war. Den ersten Stand bildeten die Mtabaren oder Tawaden (Fürsten), denen einst alle grösseren Feuda zugehört hatten. Ihnen folgte der Adel, gewissermassen das Lehngefolge der Fürsten. In den Städten wohnten die Mokalaken oder Bürger, aber ihre Zahl war damals sehr gering, denn die einst blühenden Städte waren grösstenteils entvölkert. Den vierten Stand bildeten die Glechen oder Bauern, welche den Fürsten und dem Adel untergeben waren. Alle vier Stände bestehen [53] heute noch, obgleich sich ihre Bedeutung und ihre gegenseitigen Beziehungen sehr verändert haben, denn der höhere wie der niedere Adel besitzt heute keine Vorrechte mehr und die Bauern sind nun nach ihrer im Jahre 1862 erfolgten Ablösung vom Frohndienste, freie Gutsbesitzer.

Als Georgien aufhörte ein selbständiger Staat zu sein, sah sich seine Gesellschaft plötzlich in ganz neue und ihr völlig fremde Verhältnisse versetzt. Der Adel hatte jetzt seinen eigentlichen Beruf verloren, denn seine Thätigkeit als Rittergenossenschaft war überflüssig geworden. Daher ergab er sich nun dem Müssiggange und wohnte grösstenteils auf seinen Landgütern, von einer zahlreichen Dienerschaft umringt und von den Arbeitsfrüchten seiner Sklaven lebend. Das Dasein der letzteren war oft bedauernswert, denn neben verschiedenen Lasten des Frohndienstes hatten sie noch viele Bedrückungen von Seiten ihrer Herren zu ertragen.

Ein grosser Teil des Adels kümmerte sich um nichts, was in der Welt vorging und hatte selbst die frühere Blütezeit der Heimat vergessen, denn wenn er auch der Vergangenheit oft erwähnte, so kannte er sie nur als eine Zeit des Krieges und ewigen Waffengeklirrs. Es war das also eine Gesellschaft ohne Strebsamkeit, eine Gesellschaft, die ein in jeder Hinsicht zielloses Leben führte, dessen Gang sich im alten, patriarchalischen Geleise hinschleppte und höchstens von geräuschvollem Gelage unterbrochen wurde. In Hinsicht des Vergnügens und der Unterhaltung war der damalige Georgier keineswegs wählerisch und seine Anforderungen waren in dieser Beziehung höchst bescheiden. Ein üppiges Mahl, benetzt mit Kachetinerwein, dann ein Mittagsschläfchen, Jagden und Besuche in der Nachbarschaft waren Alles für ihn; andere Vergnügen konnte er nicht haben und verlangte sie gewöhnlich auch nicht. Er kannte weder Theater, Konzerte oder Zeitungen noch sonst eine von höherer Kultur zeugende Unterhaltung. [54] Von Zeit zu Zeit las er den „Mann im Tigerfelle“ von Rustaweli oder ein anderes seine Phantasie aufregendes Buch, lauschte des Abends naiven Erzählungen von Helden und Gespenstern, zitterte dabei fortwährend vor Räubern und legte sich mit der Pistole in der Hand zu Bette. Sein Leben war also reizlos und fade, wenn nicht gar elend. Dabei fehlte es im Lande an Sicherheit und erträglichen Verkehrsstrassen und überhaupt an den Mitteln, die zu einem mässig bequemen Leben erforderlich sind. Der orientalische Luxus war nur in der Hauptstadt bekannt, die trotz des Stillstandes in Handel und Gewerbe noch einigen Verkehr mit der Aussenwelt unterhielt. Die Häuser der Landgutsbesitzer waren grösstenteils nicht nur bescheiden, sondern sogar ärmlich eingerichtet und von Luxus war hier nur selten die Rede, denn es herrschte in ihnen die dem Orient eigene Leere und Teppiche und Sophas waren oft die einzigen Möbel. War der Gutsbesitzer wohlhaband, so besass er zwar viele Silbergefässe, Kleinode, kostbare Waffen und Teppiche, aber ausserdem nichts, was seiner Wohnung ein elegantes Aussehen verliehen hätte. Sogar der reiche Georgier war trotz seiner Kostbarkeiten und umfangreichen Ländereien arm und im Genusse seiner Reichtümer sehr eingeschränkt. Neben diesen Entbehrungen lastete noch auf seinem Leben eine gesellschaftliche Gezwungenheit, denn manche aus der Zeit der Mahomedanerherrschaft in Georgien verbliebenen Gebräuche und Vorurteile hemmten in hohem Grade den häuslichen wie den geselligen Verkehr. Obgleich die Frauen in Georgien[WS 2] stets in hoher Achtung standen und sich nie in einer solchen Lage wie die Frauen mahomedanischer Länder befunden haben, waren sie doch in früheren Zeiten auf eine gewisse Absonderung angewiesen und ihr Anteil am Gesellschaftsleben war ziemlich beschränkt. Viele Frauen mieden sorgfältig das Zusammensein mit Männern, die nicht dem Hause angehörten, und wenn sie sich öffentlich sehen [55] liessen, waren sie wie Mahomedanerinnen verschleiert, obgleich sie diese verachteten und stolz auf ihren christlichen Glauben waren. Übrigens unterschieden sich auch damals schon die georgischen Frauen von den Mahomedanerinnen durch ihre höhere Bildung und ihre Stellung in der Familie, denn stets waren sie die Herrinnen im Hause und die ersten Lehrerinnen ihrer Kinder. Auch waren sie durch ihre Tugenden bekannt, und wenn es in früheren Zeiten unter ihnen manche Kleopatra oder gar Messalina gegeben hat, so waren das jedenfalls nur Ausnahmen.

In den ersten Jahrzehnten nach der Besitzergreifung Georgiens durch Russland änderte sich die allgemeine Sachlage in diesem Lande nur wenig, denn das in einen patriarchalischen Stillstand versunkene Volk trat nur ungern aus seiner Verschlossenheit heraus und zog seine hergebrachten Zustände und Sitten allen Neuerungen vor.

Als endlich dann die höhere Gesellschaft aus dieser Zurückgezogenheit heraustrat, um doch von dem neu eingeführten, mit dem Zauberglanze der Zivilisation übertünchten Leben zu kosten, fand sich bald eine zahlreiche Menge ein, die an diesem Schmause Teil zu nehmen geneigt war und sie schmausten solange ihnen eben die Mittel zur Bezahlung der neuen Leckerbissen ausreichten. Georgien schien aus seinem Schlummer erwacht zu sein, denn in den Häusern und Palästen seiner Reichen regte es sich wirklich und in ihren alten Mauern ertönten Lieder, Musikklänge und Vivatrufe. Dieser Vergnügungsrausch währte ziemlich lange, denn er besass ja den Schein eines neu erwachten Lebens und die ihn begleitende Festtagsstimmung hielt mancher für Begeisterung, welche die zum modernen Leben bekehrten Ritter der europäischen Zivilisation entgegenbrachten. Sogar ernste und der Überlegung nicht abgeneigte Gemüter verblendete diese Bewegung, denn auch die längst verrosteten Saiten der georgischen Dichterlaute erklangen von neuem und ihre Töne [56] erhoben nur noch mehr den allgemeinen Festtagsrausch. Alexander Tschawtschawadse und Nikolaus Barata-schwili besangen die Reize bezaubernder Frauen, die Schönheit der georgischen Natur und das Abenteuerliche romantischer Liebesgeschichten. Der im Abendlande in jenen Jahren schon verabschiedete Child Harold irrte damals in Georgien umher und riss manches Gemüt zu jener abenteuerlichen Begeisterung hin, die in diesem romantischen Lande mehr als irgendwo begründet erscheinen mochte. Ja, der Byronismus drang auch nach Georgien und zwar wurde er hier durch Puschkins und Lermontows Muse eingeführt, deren Lieder doch in hohem Grade seinen Geist atmeten. In ihnen lag erstens der Reiz der Neuheit, dann eine grosartige Macht der Leidenschaft und schliesslich verherrlichten sie auch die Naturschönheiten Georgiens und Kaukasus. Solchen Reizen vermochten die Herzen der Töchter und Söhne dieses Zauberlandes nicht zu widerstehen und gern liessen sie sich von dieser mit Byronismus angehauchten Poesie hinreissen.

So hatte also die geräuschvolle und flitterhafte Bewegung, welche sich in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Georgien offenbarte, auch ihre ästhetische Färbung und Kurzsichtige mochten glauben, dass dieses Land in Wirklichkeit seine moderne Auferstehung feiere. Dem war jedoch nicht so, denn hinter diesem bewegten Schlaraffenleben regte sich nichts und die Masse der Nation war noch in Unwissenheit und mittelalterlichen Stillstand versunken. Die wirkliche Wiedergeburt der Georgier nahm erst um die Mitte unseres Jahrhunderts ihren Anfang und seit dieser Zeit macht sie auch ungestörte Fortschritte.

Im sechsten Jahrzehnte entstanden die ersten Zeitungen und es war das eine Neuheit, die bei den einen Freude, bei den andern aber Erstaunen und Befremden hervorrief, denn was konnten den am Althergebrachten festhaltenden [57] Georgier die Angelegenheit der Aussenwelt beschäftigen! Er lebte abgesondert von aller Welt und verstand also nichts von Dingen, die der Gesamtheit am Herzen liegen. Daher hatten auch die ersten periodischen Blätter, welche Nachrichten aus Europa brachten und die Auseinandersetzung und Besprechung verschiedener, die georgische Gesellschaft näher angehenden Fragen betrieben einen harten Stand und konnten nur Dank der Willenskraft und Opferwilligkeit ihrer Gründer den Kampf ums Dasein bestehen.

Mit der Zeit erlangte jedoch die neue Kulturbewegung einige Kraft und nachdem es ihr gelungen war, die ersten Schwierigkeiten zu überwinden, zog sie immer mehr Elemente an sich heran und fand allmälig nachhaltigere Unterstützung.

Mit dieser Wendung der Dinge hörte auch der frühere Vergnügungsrausch auf, man begann die importierte Zivilisation für etwas anderes als ein Spielzeug zu betrachten und immer schwächer wurde die Jagd nach ihren Oberflächlichkeiten, denn die Wirklichkeit zeigte auch schon ihre Schneide, indem die materielle Lage vieler vordem reicher Familien erschüttert war. Die Worte Brot und Arbeit waren nun nicht mehr leere Begriffe, sondern wurden die Losungsworte der Notwendigkeit.

So erwachte also dieses Rittervolk und als es sah, dass in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das Leben selbst in Georgien keine Tändelei mehr ist, machte es sich an die Arbeit. Viele vom höheren und niederen Adel gingen unter die Litteraten, Lehrer, Beamten oder wurden gar Handwerker und so entstand ein neues Leben, das mit den Anforderungen unserer Zeit im Einklange steht und dieses bisher so vergessene Land möglicherweise in der Zukunft der zivilisierten Weit näher bringen wird.

Heute befindet sich die georgische Nation in einer [58] Übergangsphase; zahlreiche seiner einst wohlhabenden Edelleute und Gutsbesitzer verlassen die Scholle und ziehen in die Städte, in welchen sich infolge dessen ein immer stärkerer Bürgerstand ausbildet. Dieser wird vielleicht einst die Seele des ganzen Volkes werden und die Führerschaft des nationalen Kulturlebens übernehmen, bis heute jedoch ist davon noch keine Rede. Die gebildetere georgische Gesellschaft besteht gegenwärtig noch überwiegend aus Leuten, die dem Adel angehören, während in ihr der Bürgerstand bei weitem die Minderheit bildet. Übrigens existiert hier weder im öffentlichen noch im gesellschaftlichen Leben jener Standesunterschied, der in Europa soviel Zerwürfnisse verursacht und im Allgemeinen lässt sich eine lobenswerte Gemeinschaftlichkeit beobachten. Bildung und Verdienst bedeuten in Georgien mehr als ein leerer Titel und wenn sich mitunter bei einzelnen Individuen wirklicher Adelsstolz zeigt, so wurde dieser wahrscheinlich im hoch zivilisierten Europa erworben.

Nur Dank dieser Eintracht konnte sich der Fortschritt entwickeln, dessen sich die Georgier bereits erfreuen, denn in einem kaum eine Million Köpfe zählenden Volke hat jeder Einzelne schon etwas zu bedeuten. Mit jeder öffentlichen Angelegenheit, sei sie intellektueller oder materieller Natur, beschäftigt sich gewöhnlich die gesamte Intelligenz gemeinschaftlich und persönliche Zwiste werden in solchen Fällen fast immer bei Seite geschoben. Auch giebt es bis heute unter den Georgiern keine eigentlichen Parteien und wenn auch zwischen den Anhängern des Fortschritts und denen des Althergebrachten eine gewisse Kluft besteht, so ist diese jedoch nicht so gross, dass sie im Falle der Notwendigkeit unübersteiglich wäre. Dem Vereine für Hebung der Volksaufklärung gehören Leute aus allen Schichten der Gesellschaft an und obgleich sie in ihren Überzeugungen mitunter sehr von einander abweichen, ist doch die Wirksamkeit dieses Vereins eine einmütige [59] und alle seine Mitglieder verfolgen denselben Endzweck, nämlich die Hebung der Volksbildung. Weniger Einigkeit scheint im Vereine für die Förderung der dramatischen Kunst zu herrschen, dessen Mitglieder grösstenteils der litterarischen Welt angehören und schon deshalb nicht alle ganz frei von Selbstüberschätzung sind.

Neben diesen zwei Vereinen bestehen noch andere mit verschiedenen Bestimmungen und ihre Wirksamkeit wird wohl mit der Zeit nicht erfolglos bleiben.

Es sind das lauter neu erworbene Faktoren, vermöge deren die Georgier ihr Kulturleben auf moderne Weise zu entwickeln bestrebt sind. Dass dieser Endzweck in der Folge erreicht wird, ist nicht zu bezweifeln, aber an dem heutigen Junggeorgiertum haftet noch sehr eine dilettantenhafte Anfängerei, während wiederum in vieler Hinsicht noch der Stillstandsgeist vorherrscht. In der weiten Provinz wohnen nämlich noch zahlreiche eifrige Konservatisten, die fest am Althergebrachten hängen und wenig oder gar keinen Anteil an der fortschrittlichen Bewegung nehmen. Dabei mangelt es auch dem Durchschnittsgeorgier an Ausdauer und dieser Umstand trägt wenig zur Förderung des Fortschrittes bei. Lebhafte Einbildungskraft und ein gewisses Misstrauen gegen die europäische Zivilisation scheinen wiederum die Masse des Volkes noch an dem Zauber der alten, heimischen Zustände zu fesseln und der ihrem Temperamente nicht in allem zusagenden modernen Kultur fern zu halten.

Trotz dieser moralischen Hindernisse macht die georgische Nation mit jedem Jahre immer grössere Fortschritte, mit jedem Jahre vergrössert sich die Phalanx seiner Pioniere und es ist zu hoffen, dass ihre Bestrebungen, mit der Zeit ein den Völkern Europas ebenbürtiges Kulturvolk zu werden, nicht erfolglos bleiben.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: lezteren
  2. Vorlage: Geogien