Ueber Abraham/Text

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LEBENSBESCHREIBUNG DES WEISEN, DER DURCH UNTERWEISUNG ZUR VOLLKOMMENHEIT GELANGTE, ODER DAS ERSTE BUCH DER UNGESCHRIEBENEN GESETZE, ODER UEBER ABRAHAM

[II p. 1 M.] [1] 1 Das erste Buch der in fünf Büchern niedergeschriebenen heiligen Gesetze trägt die Benennung und die Ueberschrift „Genesis“; es erhielt diese Bezeichnung von der Weltschöpfung, die es im Anfang beschreibt, wiewohl darin viele andere Dinge enthalten sind: alles was auf Frieden oder Krieg Bezug hat oder auf Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit oder Hungersnot und Ueberfluss oder auf die bedeutsamsten Vernichtungen der Erdgeschöpfe durch Feuer oder Wasser oder auf das Gegenteil, das Wachstum und Gedeihen der Tiere und Pflanzen infolge der guten Mischung der Luft und der Jahreszeiten und das der Menschen, die teils tugendhaft teils sündhaft gelebt haben. 2 Allein da diese Dinge teils Bestandteile teils Veränderungen der Welt sind, die Welt aber das vollkommenste und umfassendste ist, so hat er (Moses) nach ihr das ganze Buch benannt. Wie nun die Weltschöpfung dargestellt ist, haben wir in dem vorhergehenden Buche, soweit es möglich war, gründlich erörtert. 3 Da wir jetzt die Gesetze der Reihe [2 M.] nach und in richtiger Aufeinanderfolge erklären müssen, so wollen wir die besonderen als die Abbilder zunächst noch beiseite lassen und zuerst die allgemeineren, die gleichsam die Urbilder sind, erläutern. 4 Es sind dies die Männer, die tadellos und sittlich gelebt haben, deren Tugenden in den heiligen Schriften verewigt sind, nicht blos zu ihrem Ruhme, sondern auch um die Leser anzuregen und zu gleichem Eifer hinzuleiten. 5 Denn die beseelten und vernünftigen Gesetze [97] sind in jenen Männern verkörpert, die er aus zwei Gründen verherrlicht hat: weil er erstens zeigen wollte, dass die gegebenen Verordnungen mit der Natur in Einklang stehen, zweitens, dass es den Gutwilligen nicht viel Mühe machen kann, nach den geschriebenen Gesetzen zu leben, da die Früheren, bevor noch die besonderen Gesetze überhaupt aufgeschrieben waren, leicht und gern nach der ungeschriebenen Gesetzgebung gelebt haben, so dass man wohl sagen muss, dass die gegebenen Gesetze nichts anderes sind als Kommentare zum Leben der Alten, die uns ihre Taten und Worte künden. 6 Denn ohne Zöglinge und Schüler von irgend wem gewesen zu sein und ohne dass sie von Lehrern darüber belehrt waren, was man tun und reden müsse, haben jene Männer, nur der eigenen inneren Stimme folgend und durch sich selbst belehrt, an die Ordnung der Natur sich angeschlossen und in der Ueberzeugung, dass die Natur selbst die älteste Satzung sei, wie sie es in Wahrheit ist, ihr ganzes Leben in schönster Gesetzlichkeit vollbracht, indem sie aus freiem Willen nichts Sündhaftes taten, bei allen Schicksalsfügungen aber Gott anriefen und durch Bitten und Flehen seine Gunst zu gewinnen suchten zur Erlangung einer vollkommenen Lebensführung, die sich teils in vorsätzlichen teils in unbeabsichtigten Handlungen vollzieht.

[2] 7 Da nun aber der Anfang des Gütergenusses die Hoffnung ist und da die tugendhafte Seele, die das wahrhaft Schöne zu erlangen bestrebt ist, die Hoffnung wie eine Verkehrsstrasse bahnt und öffnet, so nannte er den ersten Liebhaber der Hoffnung „Mensch“ und gab ihm in besonderer Bevorzugung den gemeinsamen Namen des Geschlechts – die Chaldäer[1] nämlich nennen den Menschen Enos[2] –, 8 weil nur der in Wahrheit Mensch sei, der das Gute erwartet und auf gute Hoffnungen sich stützt. Hieraus folgt, dass er den Hoffnungslosen nicht für einen Menschen, sondern für ein menschenähnliches Tier hält, dem die beste Eigenschaft der [98] menschlichen Seele, die Hoffnung, genommen ist. 9 Weil er daher den Hoffnungsfrohen sehr schön preisen will, sagt er von ihm: „dieser hoffte[3] auf den Vater und Schöpfer des Alls“ (1 Mos. 4,26), und fährt dann gleich fort: „das ist das Buch der Schöpfung der Menschen“ (5,1), obwohl bereits Väter [3 M.] und Grossväter vorhanden waren. Aber diese, meinte er, seien die Stammväter des gemischten Geschlechts, jener aber (Enos) der Stammvater des reinen und geläuterten, das wirklich vernunftbegabt ist. 10 Denn wie Homer, obwohl es unzählige Dichter gibt, vorzugsweise „der Dichter“ genannt wird, und das, womit wir schreiben, Schwärze[4], wiewohl alles, was nicht weiss ist, schwarz ist, und Archon in Athen der Eponymos[5] und erste von den neun Archonten, nach dem die Zeiten gezählt werden, ebenso nannte er (Moses) den Hoffenden vorzugsweise „Mensch“ und ging schweigend über die Menge der übrigen hinweg, wie wenn sie nicht würdig wären, an derselben Benennung teilzuhaben. 11 Treffend aber sagt er auch: „das Buch der Schöpfung des wahrhaften Menschen“; nicht ohne Grund, denn der Hoffnungsfrohe verdient ein schriftliches Denkmal und Gedächtnis, nicht das Gedächtnis in Büchern, die von Motten zerfressen werden, sondern in der unsterblichen Natur, bei der die tugendhaften Werke verzeichnet bleiben. 12 Zählt man aber von dem Ersten und Erdgeborenen (Adam) ab, so findet man, dass der von den Chaldäern Enos und in griechischer Sprache „Mensch“ Genannte der vierte ist[6]. 13 Unter den Zahlen steht aber die Vier auch bei den andern Philosophen in Ehren, die die unkörperlichen und rein geistigen Substanzen lieben, am meisten aber bei dem allweisen Moses, der die vierte Zahl preist und von ihr sagt, dass sie „heilig und lobenswert“ ist (3 Mos. [99] 19,24)[7]. Aus welchen Gründen sie so bezeichnet wurde, ist in dem vorhergehenden Buche gesagt[8]. 14 Heilig aber und lobenswert ist auch der Hoffnungsfrohe, wie im Gegenteil der Hoffnungslose unheilig und tadelnswert ist, da in allen Dingen die Furcht seine böse Ratgeberin ist; denn nicht, sagt man, sind zwei Dinge einander so feind, wie Furcht und Hoffnung, und mit Recht; beides nämlich ist Erwartung, aber Hoffnung ist die Erwartung des Guten, Furcht dagegen die des Bösen, ihre Naturen aber sind unversöhnlich und unvereinbar.

[3] 15 Soviel genügt es über die Hoffnung zu sagen, die die Natur wie einen Torwächter an die Pforte der im Innern thronenden Tugenden gestellt hat, zu denen man nicht gelangen kann, wenn man nicht vorher jene günstig gestimmt hat. 16 Vielfach sind die Gesetzgeber, vielfach sind die überall geltenden Gesetze bestrebt, die Seelen der Freien mit guten Hoffnungen zu erfüllen. Wer aber ohne Aufmunterung und ungeheissen froher Hoffnung wird, der hat diese Tugend erlernt nach einem ungeschriebenen, aber von selbst erkennbaren Gesetze, das die Natur gegeben hat.

17 Den zweiten Rang nach der Hoffnung erhielt die Reue und Besserung nach Verfehlungen. Daher schildert er nächstdem den Mann, der von einem schlechten Leben zu einem besseren überging, und der bei den Hebräern Enoch heisst, wie die Griechen aber sagen würden, „der Wohlgefällige“[9]; von [4 M.] ihm wird gesagt: „Enoch gefiel Gott wohl und wurde nicht gefunden, weil Gott ihn versetzte“ (1 Mos. 5,24). 18 Die „Versetzung“ bedeutet nämlich eine Wendung und Veränderung; es ist aber eine Veränderung zum Besseren[10], da sie durch [100] Gottes Vorsorge geschieht. Denn alles, was mit Gott geschieht, ist durchaus schön und zuträglich, während das, was ohne göttlichen Ratschluss geschieht, unnütz ist. 19 Gut wird aber von dem Versetzten gesagt: „er ward nicht gefunden“, um auszudrücken, dass das frühere sündhafte Leben ausgelöscht und vernichtet war und nicht mehr gefunden wurde, wie wenn es überhaupt nicht gewesen wäre, oder dass der Versetzte und in eine bessere Stellung Gebrachte seiner Natur nach schwer aufzufinden war; denn weit verbreitet und daher auch vielen bekannt ist die Schlechtigkeit, selten aber ist die Tugend, so dass sie selbst von wenigen nicht erfasst wird. 20 Der Schlechte läuft überdies auf den Markt, in die Theater, in die Gerichtshöfe, in die Rats- und Volksversammlungen und in jede Vereinigung und Gesellschaft von Menschen, da er immer in voller Geschäftigkeit lebt; er lässt seiner Zunge freien Lauf zu mass- und endlosem und unüberlegtem Geschwätz, er verwirrt und vermengt alles untereinander, mischt Falsches mit Wahrem, Verbotenes mit Erlaubtem, Privates mit Allgemeinem, Unheiliges mit Heiligem, Lächerliches mit Ernstem, weil er nicht gelernt hat, was zuzeiten das Schönste ist, das Schweigen; er spitzt die Ohren in geschäftiger Neugier; 21 denn anderer Sachen, mögen sie gut oder schlecht sein, verlangt er zu erfahren, um ihnen sogleich die einen zu missgönnen, über die anderen sich zu freuen. Denn von Natur neidisch, ein Feind des Guten und ein Freund des Bösen ist der Schlechte. [4] 22 Der Weise hingegen ist ein eifriger Verehrer des ruhigen Lebens, er zieht sich zurück und liebt das Alleinsein, er wünscht vor der Menge verborgen zu bleiben, nicht aus [101] Menschenhass – denn er ist ein Menschenfreund, wie nur einer –, sondern weil er die Schlechtigkeit verabscheut, die der grosse Haufe liebt, der sich freut über das, was beklagenswert ist, und betrübt ist über das, worüber man sich freuen müsste. 23 Deshalb schliesst er (der Weise) sich ein, bleibt meistens zu Hause und überschreitet ungern seine Schwelle, oder er geht wegen der häufigen Besucher aus der Stadt hinaus und unterhält sich auf einsamem Felde angenehmer im Verkehr mit den Besten des gesamten Menschengeschlechts, deren Körper zwar die Zeit bereits aufgelöst hat, deren Tugenden aber ihre hinterlassenen Schriften lebendig erhalten, teils in Gedichten, teils in prosaischen Werken, durch die die Seele veredelt werden kann. 24 Deswegen sagt er, dass der Versetzte „nicht gefunden wurde“, weil er schwer zu finden und schwer zu fassen ist. Er wird also versetzt aus Unwissenheit in Bildung, aus Unvernunft in Einsicht, aus Feigheit [5 M.] in Mannhaftigkeit, aus Gottlosigkeit in Frömmigkeit, und weiter aus Genusssucht in Enthaltsamkeit, aus Ruhmliebe in Bescheidenheit. Welcher Reichtum kommt diesen Tugenden an Wert gleich? oder ist der Besitz an Herrschaft und Macht nützlicher? 25 Wenn ich die Wahrheit sagen soll, ist der nicht „blinde“[11], sondern scharfblickende Reichtum der Ueberfluss an Tugenden, den man ohne weiteres als echte und gesetzmässige Herrschaft erkennen muss gegenüber den unechten und fälschlich sogenannten Arten von Herrschaft, da er mit Recht die Oberleitung über alles hat. 26 Man darf aber nicht unbeachtet lassen, dass die Reue die zweite Stufe nach der Vollkommenheit bildet, wie nach dem gesunden Körper der Uebergang aus einer Krankheit zur Gesundheit. Das in der Tugend Beständige und Vollkommene steht der göttlichen Macht am nächsten, hingegen die mit einem gewissen Zeitpunkt beginnende Besserung ist ein besonderer Vorzug einer gut veranlagten Seele, die nicht bei ihren kindlichen Spielen verbleibt, sondern mit reiferen und wirklich mannhaften Gedanken [102] einen ruhigen Gemütszustand zu gewinnen sucht und eifrig nach der Anschauung des Guten strebt.

[5] 27 Daher schildert er der richtigen Reihenfolge entsprechend nach dem Reuigen den Liebling Gottes und Freund der Tugend, der in der Sprache der Hebräer Noah heisst, in der Sprache der Hellenen „Ruhe“ oder „der Gerechte“ (1 Mos. 6,9), Bezeichnungen, die für den Weisen sehr passend sind. Klar ist das bei dem Ausdruck „der Gerechte“, denn nichts ist besser als Gerechtigkeit, die Herrscherin unter den Tugenden, die wie die Schönste in einem Chorreigen den ersten Platz einnimmt. Er wird aber „Ruhe“ genannt, da ja das Gegenteil, die widernatürliche Bewegung, die Ursache der Verwirrungen und Unruhen, der inneren Zwistigkeiten und der Kriege ist: dieser gehen die Bösen nach, das stille, ruhige, beständige, friedliche Leben dagegen suchen die, welche die Rechtschaffenheit hochschätzen. 28 Sich selbst getreu, nennt er auch den siebenten Tag, den die Hebräer Sabbat heissen, „Ruhe“, nicht, wie manche glauben, weil sich die Menge immer nach sechs Tagen der gewohnten Arbeiten enthält, sondern weil in Wahrheit die Siebenzahl in der Welt und in uns selbst immerwährend frei von Unruhe, unkriegerisch, nicht zanksüchtig und die friedlichste unter allen Zahlen ist. 29 Beweis für das Gesagte sind die in uns waltenden Kräfte[12]: denn die sechs bewirken den unaufhörlichen und anhaltenden Krieg zu Lande und zu Wasser, nämlich die fünf Sinne und die durch die Sprache sich äussernde Vernunft; jene sind bei ihrem Begehren nach den sinnlichen Dingen, wenn sie sie nicht erlangen, betrübt, und diese schwatzt mit ungezügeltem Munde vieles von dem aus, was zu verschweigen ist. 30 Die siebente Kraft aber ist die des führenden Geistes, der, sobald er über die sechs das Uebergewicht gewonnen und sie mit seiner stärkeren Macht überwältigt und sich zurückgezogen hat, weil er das Alleinsein liebt, an dem Umgang mit sich selbst seine Freude hat, keines anderen bedarf und sich selbst vollkommen genügt, dann von den Sorgen und Geschäften [103] [6 M.] des Menschengeschlechts befreit einem stillen und ruhigen Leben sich hingibt.

[6] 31 Er preist aber diesen Tugendfreund (Noah) in der Weise, dass er bei der Angabe seiner Abkunft nicht, wie es seine Gewohnheit bei den andern ist, ein Verzeichnis seiner Grosseltern oder Urgrosseltern oder Urahnen liefert (und angibt), wieviel ihrer von Vaters oder Mutters Seite sind, sondern (eine Aufzählung) einiger Tugenden; er erklärt damit geradezu, dass nur Tugenden und tugendhafte Handlungen für den Weisen Haus und Verwandtschaft und Vaterland sind: „dies sind“, sagt er, „die Geschlechtsfolgen Noahs: Noah, ein gerechter Mensch, vollkommen in seinem Zeitalter, war Gott wohlgefällig“ (1 Mos. 6,9)[13]. 32 Man muss aber wohl beachten, dass er hier mit dem Worte „Mensch“ nicht das vernünftige sterbliche Lebewesen im gewöhnlichen Sinne bezeichnet, sondern den vorzugsweise so genannten (Menschen), der diesen Namen in Wahrheit verdient, wenn er die unbändigen und tollen Leidenschaften und die tierischen Laster aus seiner Seele verbannt hat. 33 Beweis dafür ist: zu dem Worte „Mensch“ setzt er „gerecht“ hinzu und sagt: „ein gerechter Mensch“, weil kein Ungerechter ein Mensch sei (richtiger wäre ein solcher ein Tier in Menschengestalt zu nennen), sondern der allein, der ein eifriger Anhänger der Gerechtigkeit ist[14]. 34 Er sagt aber auch, dass er „vollkommen“ war, womit er ausdrückt, dass Noah nicht eine Tugend, sondern alle Tugenden besessen und eine jede stets pflichtgemäss ausgeübt hat. 35 Aber wie einen siegreichen Kämpfer bekränzt er ihn und mit der schönsten Preisverkündigung schmückt er ihn, wenn er von ihm sagt, dass „er Gott wohlgefiel“. Denn was kann es wohl besseres in der Welt geben als dieses? was ist ein klarerer Beweis seines rechtschaffenen Lebens? Denn wenn die Gottmissfälligen [104] unglücklich sind, so sind die durchaus glücklich, denen es gelingt ihm wohlgefällig zu sein. [7] 36 Nachdem er den Mann wegen solcher Tugenden gepriesen, fügt er treffend hinzu, dass „er vollkommen war in seinem Zeitalter“ (1 Mos. 6,9). Damit will er sagen, dass er nicht ganz und gar, sondern im Vergleich zu seinen Zeitgenossen tüchtig war[15]. 37 Denn bald soll anderer weiser Männer Erwähnung geschehen, die eine durch keinen Wetteifer geschmälerte Tugendhaftigkeit besassen, die nicht Schlechten gegenübergestellt oder eines Beifalls und Vorzuges darum gewürdigt wurden, weil sie besser als ihre Zeitgenossen waren, sondern weil sie eine glückliche Natur besassen und diese sich unverändert bewahrten, nicht indem sie bösen Bestrebungen aus dem Wege gingen, sondern indem sie ihnen überhaupt nicht anheimfielen. von vornherein übten sie in Wort und Tat das Gute und schmückten so ihr Leben. 38 Am bewunderungswürdigsten sind also jene Männer, die ihren freien und edlen Trieben folgten, die nicht aus Nachahmung anderer oder im Gegensatz zu anderen, sondern an und für sich das Schöne und Rechte billigten; bewunderungswürdig ist aber auch der Mann, der sich vor seinem Zeitalter auszeichnete und mit dem, was die meisten erstrebten, keine Gemeinschaft hatte; dieser wird den zweiten Rang einnehmen, jenen aber wird die Natur den ersten Preis zubilligen. 39 Der zweite Rang ist aber auch etwas Grosses; denn was ist nicht gross und hochwichtig von dem, was Gott [p. 7 M.] darbietet und verleiht? Ein sehr deutlicher Beweis dafür ist die ausserordentliche Gnade, die diesem (Noah) zuteil wurde. 40 Denn da jene Zeit eine Fülle von Ungerechtigkeiten hervorbrachte und jedes Land und Volk, jede Stadt und Familie und jeder für sich von bösen Bestrebungen erfüllt war, da alle freiwillig und vorsätzlich wie in einem Wettkampf um [105] den Vorrang im Sündigen mit einander wetteiferten – denn mit vollem Ernst stritten sie mit einander, indem ein jeder sich gedrängt fühlte, den Nächsten an Grösse der Schlechtigkeit zu überbieten, und nichts unterliess, was zu einem tadelnswerten und fluchwürdigen Leben gehört –, [8] 41 so zürnte Gott natürlich darüber, dass das Geschöpf, welches das vorzüglichste zu sein schien und der Verwandtschaft mit ihm durch den Anteil an der Vernunft gewürdigt worden war, anstatt, wie es seine Pflicht war, die Tugend zu pflegen, der Schlechtigkeit und allen Arten von Schlechtigkeit nachging; deshalb verhängte Gott über sie die gerechte Strafe, indem er beschloss, alle damals Lebenden, nicht nur die in der Ebene und in den Niederungen, sondern auch die auf den höchsten Bergen Wohnenden, durch eine Ueberschwemmung zu vernichten. 42 Das grosse Weltmeer stieg, wie noch nie vorher, hoch empor und drang mit gewaltiger Wucht durch die Mündungen in unsere Meeresteile ein; ihre Fluten überschwemmten Inseln und Festländer, die Wassermassen der nie versiegenden Quellen und der Quellflüsse und Giessbäche vereinigten sich und ergossen sich ineinander und stiegen zu gewaltiger Höhe empor. 43 Auch die Luft blieb nicht in Ruhe, den ganzen Himmel bedeckte ein tiefes und dichtes Gewölk, es kamen unheildrohende Stürme, Donnergekrach, Wetterstrahlen und Blitzschläge, während unaufhörliche Wolkenbrüche niederstürzten, so dass man glauben konnte, die Teile des Weltalls wollten sich eilends in das eine Element des Wassers auflösen, bis die Wogen, da das von oben kommende (Wasser) nach unten stürzte und das von unten kommende hinauf drängte, so hoch gingen, dass durch sie nicht nur das ebene und tiefliegende Land überschwemmt und unsichtbar wurde, sondern auch die Gipfel der höchsten Berge. 44 Alle Teile der Erde versanken unter dem Wasser, so dass es schien, als ob sie ganz hinweggerissen und das Weltall – was weder zu sagen noch zu denken erlaubt ist – in seiner Vollkommenheit um ein grosses Stück geschädigt und verstümmelt sei. Ja sogar die Luft, ausser einem kleinen Teile in der Umgebung des Mondes, wurde von dem Andrang und der Gewalt des Wassers überwunden und verdrängt, und dieses trat an die Stelle jener. 45 Damals also [106] wurden mit einem Male alle Saaten und Bäume vernichtet – denn die Ueberfülle vernichtet ebenso wie der Mangel –; es starben hin die unzähligen Herden zahmer und wilder Tiere; denn da das beste Geschlecht, das der Menschen, unterging, so war es natürlich, dass auch keines der schlechteren übrig blieb, die doch zum Nutzen der Menschen geschaffen waren und als Sklaven gewissermassen ihren herrischen Befehlen Folge leisten sollten. 46 Wie nun solche und so [8 M.] gewaltige Schläge hereinbrachen, die jene Zeit in Fülle niederströmen liess – denn alle Teile der Welt ausser den himmlischen wurden ja, als ob sie von einer schweren und todesähnlichen Krankheit befallen wären, in unnatürlicher Weise erschüttert –, wurde einzig und allein ein Haus gerettet, das des genannten gerechten und gottgeliebten Mannes, der so die zwei höchsten Gnadengeschenke erhielt: erstens, dass er, wie gesagt, nicht mit allen übrigen unterging, zweitens, dass er wiederum der Ahnherr eines neuen Menschengeschlechts wurde; denn Gott würdigte ihn der Gnade, dass er der letzte und der erste unseres Geschlechts wurde, der letzte der vor der Sintflut und der erste der nach der Sintflut Lebenden.

[9] 47 Solcher Art war der Beste seiner Zeitgenossen und solcher Art der ihm zuteil gewordene Lohn, wie die heilige Schrift zeigt. Ganz harmonisch ist aber die Reihenfolge der drei genannten Männer oder Charaktere: der letzte (Noah) ist der von Anfang an vollkommene; der Entrückte (Enoch) ist der halbfertige Mann, der seine frühere Lebenszeit dem Laster und die spätere der Tugend widmete, zu der er hinwanderte und übersiedelte; der Hoffende (Enos) ist, wie schon sein Name ausdrückt, der unvollkommene Mann, der zwar stets nach dem Edlen hinstrebt, es aber noch nicht erreichen kann, der den Seefahrern gleicht, die sich beeilen in den Hafen einzulaufen, aber noch auf dem Meere bleiben müssen, weil sie nicht landen können.

[10] 48 Dies ist die erste Dreizahl der Männer, die nach Tugend verlangten. Von grösserer Bedeutung ist die zweite Reihe, über die wir jetzt sprechen müssen. Jene erste nämlich gleicht den für das Kindesalter bestimmten Kenntnissen, diese aber den Uebungen athletischer Männer, die sich für [107] die wahrhaft heiligen Kämpfe rüsten, die Leibesübungen geringschätzen und auf die gute Beschaffenheit der Seele bedacht sind durch ernstes Streben nach dem Siege über die widerstreitenden Leidenschaften. 49 Wodurch nun aber ein jeder von diesen einem und demselben Ziele zustrebenden (Männern) sich ausgezeichnet hat, werden wir alsbald genauer angeben; was jedoch vorher über die drei im allgemeinen zu sagen ist, darf nicht mit Stillschweigen übergangen werden. 50 Alle drei gehören einem Hause und einem Geschlecht an – der letzte ist der Sohn des zweiten und der Enkel des ersten –, und alle sind Gottes Freunde und Gottes Lieblinge: sie liebten den wahren Gott und wurden von ihm geliebt, und er würdigte sie, wie die Gottesworte melden, wegen ihres ausserordentlich tugendhaften Lebens des Vorzuges, an seiner Benennung teilzunehmen. 51 Denn seinen eigenen Namen verband er mit den ihrigen und legte sich selbst die aus den dreien zusammengesetzte Bezeichnung bei: „dieses“, sagt er, „ist mein Name auf ewig, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs“ [9 M.] (2 Mos. 3,15); statt des absoluten also der relative Name; vielleicht nicht ohne Grund; denn Gott bedarf (eigentlich) keines Namens, aber trotzdem er keinen nötig hat, schenkte er gleichwohl dem Menschengeschlecht eine passende Bezeichnung, damit sie zu Bitten und Flehen ihre Zuflucht nehmen könnten und nicht ohne gute Hoffnung blieben. [11] 52 Dies scheint nun zwar so gesagt zu sein, als ob es sich nur um fromme Männer handelte; es liegt aber darin eine Bedeutung von tieferer und viel besserer Natur als die Dinge in der Sinnenwelt haben. Die heilige Schrift scheint nämlich Charaktere der Seele vorzuführen und zwar lauter gute, von denen der eine infolge von Belehrung, der andere vermöge seiner Naturanlage, der dritte durch Uebung nach dem Guten strebte. Denn der erste, mit Namen Abraham, ist das Sinnbild der durch Belehrung erworbenen Tugend, der zweite, Isaak, das Sinnbild der natürlichen (angeborenen), der dritte, Jakob, das Sinnbild der durch Uebung erworbenen (Tugend). 53 Allerdings ist nicht zu verkennen, dass jeder von ihnen sich alle drei Fähigkeiten zu eigen machte, allein jeder wurde nach der genannt, die er in hervorragendem Masse besass; [108] denn weder kann Belehrung ohne Naturanlage oder Uebung zur Vollkommenheit gelangen, noch ist die Naturanlage ausreichend, um ohne Belehrung und Uebung zum Ziele zu kommen, noch auch vermag es die Uebung, wenn nicht vorher durch Naturanlage und Belehrung der Grund gelegt ist. 54 Richtig also verknüpfte er die drei aufs engste miteinander, die dem Wortlaute nach Männer, in Wahrheit aber, wie gesagt, Tugenden waren, die Naturanlage, das Lernen und die Uebung; die Menschen nennen sie mit anderem Namen die drei Grazien, entweder weil Gott unserem Geschlecht diese drei Fähigkeiten zur Vervollkommnung des Lebens verliehen hat oder insofern sie sich selbst der vernünftigen Seele als vollkommenes und schönstes Geschenk darbieten[16], damit der ewige in den Gottesworten geoffenbarte Name in Verbindung mit den drei genannt werde, die nicht sowohl Menschen als vielmehr die drei erwähnten Fähigkeiten sind. 55 Denn die Natur der Menschen ist vergänglich, unvergänglich die der Tugenden; vernünftiger ist es aber, das ewige Wesen nach unvergänglichen Dingen statt nach sterblichen zu benennen, denn der Ewigkeit verwandt ist die Unvergänglichkeit, feindlich gegenüber steht ihr der Tod. [12] 56 Man muss ferner auch das beachten, dass er (Moses) den ersten Menschen, den Erdgeborenen, als den Vater der Menschen vorführt, die bis zur Sintflut gelebt haben, und den, der allein mit seiner ganzen Familie wegen seiner Gerechtigkeit und der übrigen Tugendhaftigkeit aus jenem Verderben gerettet wurde, als den Vater des wiederum sich verjüngenden neuen Menschengeschlechts, diese verehrungswürdige und bedeutsame Dreiheit aber als die Ahnen eines Geschlechts, das „Königreich und Priestertum und ein heilig Volk“ (2 Mos. 19,6) in der hl. Schrift genannt wird. 57 Schon der Name kündet dessen Bedeutung; denn in der Sprache der Hebräer wird das Volk „Israel“ genannt, was „Gott sehend“ bedeutet[17]. Das Sehen vermittelst der Augen ist der schönste [109] unter allen Sinnen, da durch ihn allein die schönsten Dinge, die Sonne, der Mond, der ganze Himmel und die Welt, wahrgenommen werden; aber das Sehen vermittelst des führenden [10 M.] Teils der Seele überragt alle ihn umgebenden Kräfte; das ist die Einsicht, das Auge des Geistes. 58 Wem es aber gelang, nicht blos alles andere in der Natur wissenschaftlich zu erfassen, sondern auch den Vater und Schöpfer des Alls zu schauen, der mag überzeugt sein, dass er den Gipfel der Glückseligkeit erreicht hat; denn Höheres als Gott gibt es nicht, und wenn einer, das Auge der Seele auf ihn gerichtet, bis zu ihm gelangt ist, so möge er wünschen, dass dieser Zustand dauere und anhalte. 59 Denn die Wege, die hinaufführen, sind mühsam und langsam, der Weg bergab dagegen, auf dem man mehr hinabstürzt als hinabgeht, ist schnell und leicht. Es gibt nun viele Dinge, die uns mit Gewalt hinabziehen; aber sie erreichen nichts, wenn Gott mit seinen Kräften die Seele emporhebt und mit mächtiger Wucht zu sich heranzieht.

[13] 60 Soviel sei im allgemeinen über die drei Männer vorausgeschickt. Wir müssen nun sagen, worin ein jeder im besonderen sich ausgezeichnet hat, und beginnen mit dem ersten (Abraham). Nachdem dieser ein eifriger Anhänger der Frömmigkeit, der höchsten und wichtigsten Tugend, geworden war, bestrebte er sich Gott zu folgen und seinen Befehlen gehorsam zu sein, indem er als dessen Befehle nicht blos die ansah, die durch Wort und Schrift kundgetan werden, sondern auch die, welche die Natur in deutlichen Zeichen offenbart, und die der wahrhaftigste der Sinne (das Auge) eher als das unzuverlässige und unsichere Ohr in sich aufnimmt. 61 Denn wer die in der Natur herrschende Ordnung und die über jede Beschreibung erhabene Verfassung der Welt betrachtet, der lernt, ohne dass jemand ihm ein Wort sagt, ein gesetzestreues und friedliches Leben führen, das darauf abzielt, dem Vorbild edler Männer gleichzukommen. Am deutlichsten aber sind die Beispiele der Frömmigkeit, die die heiligen Schriften enthalten. Als erstes müssen wir das nennen, was auch an erster Stelle steht. [14] 62 Als ihn ein göttlicher Befehl traf, das Vaterland, die Verwandtschaft und das väterliche Haus zu verlassen und [110] auszuwandern, beschleunigte er die Abreise, wie wenn er aus der Fremde in die Heimat zurückkehrte und nicht vielmehr aus der Heimat in die Fremde ziehen sollte; denn er hielt die schnelle Ausführung des Gebotenen für gleichbedeutend mit der vollständigen Erfüllung. 63 Welcher andere wäre wohl so fest und unerschütterlich, dass er sich von der Liebe zu den Verwandten und zum Vaterlande nicht leiten liesse und ihr nachgeben würde, da doch die Liebe zu diesen einem jeden gewissermassen angeboren ist und mit ihm wächst und noch mehr oder nicht weniger als die einzelnen Gliedmassen zu nimmt? 64 Zeugen dessen sind die Gesetzgeber, die als zweite Strafe nach der Todesstrafe für die der schwersten Verbrechen Ueberführten die Verbannung festgesetzt haben, eine Strafe, die, wie mir scheint, vor dem Richterstuhl der Wahrheit nicht den zweiten Rang einnimmt, sondern viel schwerer ist, da doch der Tod das Ende unglücklicher Verhältnisse ist, die Verbannung dagegen nicht das Ende, sondern der Anfang neuer Leiden, indem sie statt eines schmerzlosen Todes vielfachen Tod und zwar mit Schmerzempfindung herbeiführt. 65 Manche begeben sich auf die See entweder zu Handelszwecken [11 M.] aus Gewinnsucht oder in der Eigenschaft als Gesandte oder aber um aus Liebe zur Wissenschaft die Einrichtungen in der Fremde zu betrachten; die einen haben als treibenden Grund, auswärts zu verweilen, den Handelsgewinn, die andern den Zweck, ihrem Vaterlande zuzeiten in bedrängter und schwieriger Lage zu nützen, die zuletzt genannten aber die Erforschung von vorher unbekannten Dingen, die der Seele Vergnügen und Nutzen verschafft; denn wie Blinde zu scharf Sehenden, so verhalten sich solche, die nie eine Reise gemacht haben, zu Vielgereisten. Alle aber sehnen sich doch danach, den vaterländischen Boden wiederzusehen und zu begrüssen, die Angehörigen zu umarmen und den freudigen und ersehnten Anblick der Verwandten und Freunde zu geniessen; und häufig, wenn sie sehen, dass ihre Geschäfte, um derentwillen sie die Heimat verlassen haben, sich in die Länge ziehen, lassen sie, von gewaltiger Sehnsucht nach den Angehörigen getrieben, alles im Stich. 66 Abraham aber zog sogleich, wie es ihm befohlen wurde, mit wenigen oder auch allein [111] hinaus und wanderte mehr mit der Seele als mit dem Körper, da himmlische Liebe über seine Zuneigung zu Sterblichen den Sieg davontrug. 67 Er kümmerte sich also um niemand, nicht um Stammes- und Volksgenossen, nicht um Gefährten und Freunde, nicht um Blutsverwandte von väterlicher oder mütterlicher Seite, nicht um Vaterland, nicht um frühere Sitten, nicht um Verkehr und Umgang, lauter Dinge, die den Menschen anlocken und von denen er sich nicht leicht losreisst, da sie eine stark anziehende Kraft haben; aus freiem und ungehemmtem Antriebe zieht er so schnell als möglich von dannen, zuerst aus dem Chaldäerlande, einer glücklichen und zu jener Zeit blühenden Gegend, in das Land der Charräer (1 Mos. 11,31. 12,5), nicht lange darauf aus diesem wieder an einen andern Ort, über den wir sprechen werden, nachdem wir vorher noch folgendes angeführt haben.

[15] 68 Die erwähnten Wanderungen geschahen nach der buchstäblichen Auffassung der Schrift durch einen weisen Mann, nach den Regeln der Allegorie aber durch die tugendliebende und den wahren Gott suchende Seele. 69 Die Chaldäer nämlich betrieben vorzugsweise die Sternkunde und schrieben alles den Bewegungen der Gestirne zu; daher glaubten sie, dass alles in der Welt von Kräften geleitet wird, die in Zahlen und Zahlenverhältnissen enthalten sind, und priesen das sichtbare Sein, während sie das unsichtbare und rein geistige nicht begriffen. Bei ihrer Durchforschung der in jenen (Himmelskörpern) herrschenden Ordnung, die in den Kreisbewegungen der Sonne, des Mondes und der übrigen Planeten und der Fixsterne, sowie in dem Wechsel der Jahreszeiten und in den engen Beziehungen zwischen den himmlischen und irdischen Dingen zu Tage tritt, nahmen sie an, dass die Welt selbst Gott sei, indem sie sündhafterweise das Geschaffene dem Schöpfer gleichstellten. 70 Nachdem Abraham in diesem Glauben herangewachsen und lange Zeit Chaldäer (Sternverehrer) gewesen war, öffnete er wie aus tiefem Schlafe [12 M.] das Auge der Seele und begann statt tiefer Finsternis reinen Lichtglanz zu schauen; er folgte diesem Licht und nahm wahr, was er vorher nicht gesehen hatte, einen Lenker und Leiter der Welt, der über sie waltet und in heilsamer Weise [112] sein eigen Werk regiert und allen seinen Teilen, die seiner göttlichen Fürsorge würdig sind, seinen Schutz und Beistand angedeihen lässt. 71 Um nun die ihm offenbarte Wahrnehmung fester seinem Geiste einzuprägen, spricht alsbald die göttliche Stimme zu ihm: „Grosses, mein Lieber, wird oft erkannt durch einen Umriss von kleinerem Massstabe; wenn man auf diesen hinblickt, kann man die Vorstellung bis zu unendlichen Grössen steigern. Lass darum die Himmelsscharen und die chaldäische Wissenschaft beiseite[18] und versetze dich für kurze Zeit aus dem grössten Staate, aus dieser Welt[19], in einen kleineren, durch den du den Leiter des Alls besser wirst begreifen können“. 72 Deshalb heisst es (in der hl. Schrift), dass er die erste Wanderung aus dem Lande der Chaldäer in das der Charräer gemacht habe. [16] Charran heisst nämlich auf Griechisch τρῶγλαι (Höhlungen)[20], ein symbolischer Ausdruck für die Wohnsitze unserer Sinne, durch die wie durch Oeffnungen ein jeder von ihnen hindurchblickt, um die ihm zukommenden Dinge wahrzunehmen. 73 Aber, so kann einer sagen, was nützen diese, wenn nicht ein unsichtbarer Geist wie ein Zauberer von innen seinen Kräften den Ton angibt und dadurch, dass er ihnen bald freien Lauf lässt, bald sie zurückzieht und festhält, seine Zauberkünste jetzt in harmonischer Bewegung und dann wieder in Ruhe zeigt? Wenn du dir dieses Beispiel klar machst, wirst du leicht begreifen, was du gern wissen möchtest. 74 Denn du meinst doch nicht, dass in dir der zum Herrscher eingesetzte Geist es ist, dem die ganze Gemeinschaft des Körpers Gehorsam leistet und ein jeder der Sinne folgt, dass die Welt dagegen, das schönste und grösste und vollendetste Werk, von dem alle übrigen Dinge nur Teile sind, keinen Herrn hat, der sie zusammenhält und gerecht über sie waltet? Dass dieser Herrscher unsichtbar ist, darüber [113] wundere dich nicht, denn auch der Geist in dir ist nicht sichtbar. 75 Wer dies erwägt und nicht aus der Ferne, sondern aus der Nähe, aus sich selbst und seiner Umgebung, Belehrung sucht, der wird klar erkennen, dass die Welt nicht der höchste Gott ist, sondern das Werk des höchsten Gottes und Allvaters, der selbst unsichtbar ist, aber alles offenbart und die Natur der kleinen wie der grossen Dinge deutlich zeigt. 76 Denn mit körperlichen Augen wollte er nicht begriffen sein, vielleicht weil es nicht recht wäre, dass das Sterbliche das Ewige berührt, vielleicht aber auch wegen der Schwäche unseres Sehvermögens; denn nicht könnte es die von dem Seienden ausgehenden Strahlen aufnehmen, da es nicht einmal imstande ist, in die Strahlen der Sonne zu blicken. [13 M.] [17] 77 Ein deutlicher Beweis aber, dass durch diese Auswanderung seine Seele sich von der Astronomie und der chaldäischen Anschauung freimachte, ist dieser: es heisst nämlich sofort nach der Auswanderung des Weisen: „Gott erschien dem Abraham“ (1 Mos. 12,7). Hieraus geht hervor, dass er ihm vorher nicht sichtbar war, als er noch in chaldäischer Anschauung befangen auf die Bewegungen der Gestirne achtete und ausserhalb der Welt und der sinnlich wahrnehmbaren Natur durchaus kein harmonisches und geistiges Wesen erkannte. 78 Nachdem er aber seinen Wohnsitz geändert hatte, musste er erkennen, dass die Welt untertan und nicht selbständig ist, nicht herrschend, sondern beherrscht von einem Urheber, von einem, der sie geschaffen. Damals zuerst hat dies der Geist aufschauend wahrgenommen. 79 Denn vorher hatten die sinnlich wahrnehmbaren Dinge eine dichte Finsternis über ihn ausgebreitet, und erst als er diese durch warme und flammende Lehren zerstreut hatte, vermochte er wie bei klarem Himmel eine Vorstellung von dem früher ihm Verhüllten und Unsichtbaren zu gewinnen; und dieser wies in seiner Menschenliebe die an ihn herankommende Seele nicht zurück, sondern kam ihr entgegen und offenbarte ihr sein Wesen, soweit der Schauende es zu sehen vermag. 80 Darum heisst es nicht, dass der Weise Gott sah, sondern dass „Gott“ dem Weisen „erschien“; war es doch einem Menschen unmöglich, von selbst das wahrhaft seiende Wesen zu begreifen, wenn dieses sich [114] nicht selbst zeigte und offenbarte. [18] 81 Ein Beweis für das Gesagte ist auch der Wechsel und die Veränderung des Namens. Sein ursprünglicher Name war nämlich Abram, später jedoch wurde er Abraham genannt; zwar ist hier lautlich nur ein Buchstabe, das Alpha, verdoppelt[21], er zeigt aber in bedeutsamer Weise eine Veränderung der Sache und der Anschauung an. 82 Abram nämlich wird verdolmetscht „der hochstrebende Vater“, Abraham dagegen „der auserwählte Vater des Tones“[22]; der frühere Name bezeichnet den sogenannten Sterndeuter und Himmelskundigen, der sich um die chaldäischen Anschauungen ebenso kümmert wie ein Vater um seine Kinder, der spätere dagegen den Weisen. 83 Mit dem „Ton“ nämlich meint die hl. Schrift den ausgesprochenen Gedanken und mit dem „Vater“ die leitende Vernunft – denn der in unserem Innern gefasste Gedanke ist seiner Natur nach der Vater des ausgesprochenen, da er der ältere ist und gewissermassen das erzeugt, was zu sagen ist –, mit dem „auserwählten“ aber den sittlich guten Menschen; denn unnütz und gemein ist der schlechte Charakter, der gute aber auserwählt und verdienterweise vor allen ausgezeichnet. 84 Für den Himmelskundigen scheint nun gar nichts Grösseres zu existieren als das Weltall, das er deshalb als Ursache alles Werdens annimmt. Der Weise aber, der mit seinen schärferen Augen sieht, dass es noch ein vollkommneres, rein geistiges, herrschendes und führendes Wesen gibt, von dem alles andere beherrscht und geleitet wird, tadelt sich selbst heftig wegen [14 M.] seines früheren Lebens, weil er wie ein Blinder durchs Leben gewandelt, gestützt auf die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die doch ihrer Natur nach unsicher und schwankend sind. 85 Eine zweite Wanderung aber machte der Weise, wiederum einem göttlichen Ausspruch gehorsam, nicht aus einem Staat in den andern, sondern in ein wüstes Land (1 Mos. 12,9), wo er beständig umherirrte, ohne über das Herumschweifen und das dadurch bedingte unstete Leben missvergnügt zu [115] sein. 86 Welcher andere hätte es nicht unangenehm empfunden, wenn er nicht blos zur Auswanderung aus der Heimat gezwungen, sondern auch aus jedem Staate in unbetretene und unwegsame Gegenden vertrieben wurde? Wer wäre nicht umgekehrt und wieder heimgeeilt, hätte nicht auf Zukunftshoffnungen wenig Rücksicht genommen, wäre nicht schleunigst dem gegenwärtigen Mangel entflohen, hätte es nicht für Torheit gehalten, für unbekannte Güter anerkannte Uebel zu wählen? 87 Nur Abraham war offenbar anders geartet, er hielt das Leben ohne die Gesellschaft der grossen Masse für das angenehmste. Und das ist ganz natürlich. Denn die, die Gott suchen und ihn finden wollen, lieben das von ihm geliebte Alleinsein und sind bemüht, eben darin zuerst dem seligsten und glücklichsten Wesen ähnlich zu werden. 88 Somit haben wir beide Auffassungen erörtert, die buchstäbliche, die sich auf den Mann, und die versteckte (allegorische), die sich auf die Seele bezieht, und haben gezeigt, dass sowohl der Mann als auch der Geist liebenswert ist, der Mann, weil er gehorsam den göttlichen Befehlen aus schwer zu lösenden Banden sich losriss, der Geist, weil er nicht für immer in Selbsttäuschung bei der sinnlich wahrnehmbaren Natur stehen blieb und die sichtbare Welt für die höchste und erste Gottheit hielt, sondern in seinem Denken höher stieg und noch ein anderes Sein, ein besseres als das sichtbare, nämlich das rein geistige wahrnahm und den, der zugleich Schöpfer und Herrscher beider (des sichtbaren und des gedachten Seins) ist.

[19] 89 Das war des Gottgeliebten erstes Auftreten, und ihm folgten andere Ereignisse, die keineswegs gering zu schätzen sind. Ihre Grösse ist nicht für jeden klar, sondern nur für solche, die die Tugend kennen und gewohnt sind das, was bei den meisten als bewunderungswürdig gilt, ob der Grösse der seelischen Güter zu belächeln. 90 Nachdem Gott die erwähnte Tat des Weisen freundlich aufgenommen hatte, machte er ihm sogleich ein bedeutendes Gegengeschenk, indem er ihm seine Ehe, als sie in Gefahr war, von einem mächtigen und zügellosen Manne verletzt zu werden, rein und unversehrt erhielt. 91 Die Veranlassung zu diesem Anschlage war folgende [116] (1 Mos. 12,10ff.). Da geraume Zeit Unfruchtbarkeit herrschte, teils infolge vieler und starker Regengüsse, teils infolge von Trockenheit und Stürmen, wurden die syrischen Städte von anhaltender Hungersnot bedrängt und von den Bewohnern verlassen, die sich nach verschiedenen Richtungen zerstreuten, um Nahrung zu suchen und die notwendigen Lebensmittel herbeizuschaffen. 92 Als nun Abraham erfuhr, dass hinlänglicher Ueberfluss und Erntesegen in Aegypten vorhanden sei, da hier der Fluss zu rechter Zeit die Felder mit seinen Fluten überschwemmt hatte und die Saaten auf den Feldern infolge der guten Mischung der Winde zur Blüte und zur Reife gebracht [15 M.] waren, brach er auf und führte sein ganzes Haus mit sich. 93 Er hatte aber eine Frau, die sowohl in seelischer Hinsicht ausgezeichnet als auch in körperlicher die schönste ihres Geschlechts war. Als nun die vornehmen Aegypter sie erblickten, bewunderten sie ihre Schönheit – denn den Hochgestellten entgeht nichts – und berichteten davon dem Könige. 94 Als dieser die Frau holen liess und ihr schönes Antlitz sah, nahm er wenig Rücksicht auf Sittsamkeit und auf die für Ehrung von Fremden erlassenen Gesetze; er gab seiner Zügellosigkeit nach und gedachte sie zum Schein zu ehelichen, in Wahrheit sie zu entehren. 95 Sie aber, die in dem fremden Lande bei einem zügellosen und gemütsrohen Herrscher niemand hatte, der ihr zu Hilfe kommen konnte – denn auch ihr Mann konnte ihr nicht helfen, da er die von den Mächtigeren drohende Gefahr fürchtete –, nahm zugleich mit ihm schliesslich ihre Zuflucht zur Hilfe Gottes[23]. 96 Und der Allbarmherzige und Gnädige, der Beschützer der Unterdrückten, hatte Mitleid mit den Fremdlingen und brachte unerträgliche Schmerzen und schwere Strafen über den König; er verhängte über seinen Körper und seine Seele mannigfache schwer zu heilende Leiden, so dass ihm alle wollüstigen Begierden vergingen und im Gegenteil nur Sorgen ihn beschlichen wegen der Rettung von den unendlichen Leiden, von denen er Tag und Nacht gequält wurde. [117] 97 An der Bestrafung nahm auch sein ganzes Haus teil, da keiner sich dem ungesetzlichen Tun widersetzte, vielmehr alle durch ihre Zustimmung das Unrecht beinahe mitvollbrachten. 98 So wurde die Keuschheit des Weibes bewahrt, den Edelsinn und die Frömmigkeit des Mannes aber hielt Gott für wert der Welt zu zeigen, dadurch dass er ihm eine hohe Belohnung gewährte, die unverletzte und unangetastete Ehe, die beinahe in Gefahr gewesen war zerstört zu werden, aus der dann nicht eine Anzahl weniger Söhne und Töchter, sondern ein ganzes Volk und zwar das gottgeliebteste hervorgehen sollte, dem, wie mir scheint, zum Heile des ganzen Menschengeschlechts das Priester- und Prophetenamt zuerteilt wurde.

[20] 99 Ich habe jedoch auch naturkundige Männer gehört, die nicht ohne Grund unsere Stelle allegorisch erklären; sie sagen, dass der Mann (Abraham) sinnbildlich den weisen Geist bezeichne, indem sie aus der durch die Uebersetzung gewonnenen Bedeutung des Namens auf die gute Sinnesart in der Seele schliessen, während seine Frau, deren Name chaldäisch Sara lautet, auf griechisch aber „Herrscherin“, die Tugend bedeute, da nichts zum Herrschen und Regieren geeigneter sei als die Tugend. 100 Eine Ehe aber, die die Wollust zusammenfügt, erzielt nur die Vereinigung der Körper, während die von der Weisheit gegründete die Verbindung von Geistern zustande bringt, die nach Reinheit und vollkommenen Tugenden streben. Die genannten Ehen sind durchaus einander entgegengesetzt. 101 Denn in der körperlichen Ehe zeugt das [16 M.] Männliche und empfängt das Weibliche, in der Vereinigung der Seelen dagegen erzeugt die Tugend, die scheinbar die Stelle des Weibes einnimmt, gute Entschlüsse, weise Reden und Vorschläge von heilsamen Grundsätzen, während der Geist, der angeblich an die Stelle des Mannes gesetzt ist, den heiligen und göttlichen Samen aufnimmt. Oder vielleicht ist das Gesagte falsch, weil die Namen irre führen, da ja in der Sprache der Geist männlichen und die Tugend weiblichen Charakter hat. 102 Wenn man jedoch die verhüllenden Benennungen abstreift und die Dinge nackt und rein sehen will, so wird man erkennen, dass die Tugend ihrer Natur nach männlich ist, insofern sie bewegt, anordnet und schöne Begriffe von [118] schönen Handlungen und Worten erweckt, der Geist dagegen weiblich ist, da er bewegt, unterrichtet und gefördert wird, da er überhaupt ein passives Verhalten zeigt und dieser Zustand allein für ihn heilsam ist. [21] 103 Alle nun, auch die Schlimmsten, ehren und bewundern mit dem Munde die Tugend, aber nur zum Schein, die Weisen allein befolgen auch ihre Mahnungen. Darum verstellt sich der König von Aegypten, worunter sinnbildlich der den Körper liebende Geist verstanden ist, er heuchelt wie auf dem Theater, als ob er, der Unmässige, Zuchtlose und Ungerechte, irgend welche Gemeinschaft hätte mit der Enthaltsamkeit, Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit, und er ruft die Tugend zu sich, weil er den Wunsch hat, bei der Menge in gutem Rufe zu stehen. 104 Als dies der Allsehende durchschaute – denn Gott allein kann in die Seele sehen –, verachtete und verwarf er den verlogenen Charakter und strafte ihn mit den schwersten Prüfungen. Mit welchen Werkzeugen aber geschahen die Prüfungen? Ganz und gar mit den Teilen der Tugend, die da, wo sie sich einstellen, schwere Leiden und Wunden verursachen. Denn eine Prüfung für die Unersättlichkeit ist die Genügsamkeit, die Prüfung der Ueppigkeit ist die Enthaltsamkeit; es leidet auch der Ehrgeizige, wenn die Anspruchslosigkeit siegreich ist, und der Ungerechte, wenn die Gerechtigkeit Beifall findet. 105 Unmöglich können nämlich in einer Seele die zwei entgegengesetzten Charaktere wohnen, Laster und Tugend; wenn sie aneinander geraten, entstehen daher unvereinbare und unversöhnliche Zwiespälte und Kämpfe, obgleich die Tugend von Natur sehr friedlich ist; sie lässt es sich, sagt man, angelegen sein, wenn sie sich in ein Handgemenge einlassen soll, zuvor ihre eigene Kraft zu erproben, um, wenn sie stark genug ist obzusiegen, in den Kampf einzutreten, im andern Falle aber sich überhaupt nicht auf den Kampfplatz zu wagen. 106 Denn dass das Laster unterliegt, zu dessen Wesen die Schande gehört, ist nicht schimpflich; wohl aber ist es eine Schmach, wenn die Tugend unterliegt, da ihr vor allem schöner Ruhm zukommt, weshalb sie entweder zu siegen oder unbesiegt sich zu behaupten gewohnt ist.

[119] [22] 107 Soviel sei über die Ungastlichkeit und Zuchtlosigkeit der Aegypter bemerkt. Bewundern muss man demgegenüber die Menschenfreundlichkeit des Mannes, der solche Schlechtigkeit erfahren (1 Mos. cap. 18). Als er um die [17 M.] Mittagszeit drei wandernde Männer erblickte – dass sie göttlicher Natur waren, merkte er nicht –, lief er zu ihnen hin und bat sie dringend, doch nicht an seinem Zelte vorüberzugehen, sondern einzutreten und geziemende Gastfreundschaft zu geniessen. Da die Männer nicht sowohl aus seinen Worten als vielmehr aus seiner Gesinnung erkennen, dass er es aufrichtig meine, willigen sie ohne Bedenken ein. 108 Voll Freude im Herzen betrieb er eifrig die unverzügliche Bewirtung und sprach zu seinem Weibe: „eile und mache drei Mass Kuchen“. Er selbst läuft zu den Rinderherden, nimmt ein zartes und gutgenährtes Kalb und übergibt es einem Diener. 109 Dieser schlachtet und bereitet es aufs schnellste zu; denn im Hause des Weisen ist niemand langsam in der Betätigung der Menschenliebe; Frauen und Männer, Sklaven und Freie stehen bereit zum Bedienen der Gastfreunde. 110 Nachdem sie sich erquickt haben, nicht sowohl an den zubereiteten Speisen als vielmehr an der Gesinnung des Gastgebers und an seiner grossen und unbegrenzten Freigebigkeit, bieten sie ihm eine Belohnung dar, die seine Erwartung übertraf, indem sie ihm für das nächste Jahr die Geburt eines ehelichen Sohnes verheissen, und zwar durch den Mund eines, des vornehmsten[24] von den dreien; denn es wäre unfein, wenn alle zusammen zu gleicher Zeit sprächen, der Anstand erfordert, dass einer spricht und die anderen ihm beistimmen. 111 Allerdings schenkten die Wirte der Verheissung keine Beachtung, weil die Sache so unglaublich war; denn da sie bereits über das Alter hinaus waren, hatten sie wegen dieses ihres hohen Alters die Hoffnung auf die Geburt eines Kindes schon aufgegeben. 112 Es heisst nun, dass die Frau, wie sie das hörte, anfangs gelacht und dann, als jene sagten: „ist denn bei Gott irgend etwas unmöglich“? beschämt ihr Lachen geleugnet [120] habe; denn sie wusste, dass alles bei Gott möglich ist, da sie diese Lehre schon von Kindheit auf empfangen hatte. 113 Da erst bekam sie, wie mir scheint, eine andere Vorstellung von den erschienenen (Fremdlingen), eine würdigere, nämlich die von Propheten oder Engeln, die aus geistigem und seelenartigem Sein in menschenähnliche Gestalt sich verwandelt hätten.

[23] 114 Soviel sei über das gastfreundliche Wesen des Mannes gesagt, das aber nur ein Beiwerk einer grösseren Tugend ist; diese Tugend ist die Gottesfurcht, über die wir schon früher sprachen, für die aber auch das eben in Bezug auf die fremden Männer Erwähnte der deutlichste Beweis ist. 115 Wenn aber manche glauben, dass das Haus ein glückliches und gesegnetes ist, worin Weise sich einfinden und verweilen, die es nicht für recht halten würden, auch nur einen Blick hineinzuwerfen, wenn sie irgend eine unheilbare Leidenschaft in den Seelen der Bewohner wahrnehmen, so weiss ich nicht, welches Uebermass von Glück und Segen ich dem Hause zuerkennen soll, wo einzukehren und Gastfreundschaft von Menschen[25] zu geniessen Engel nicht verschmähten, heilige und göttliche Wesen, Diener und Statthalter des höchsten Gottes, durch die als seine Boten er kündet, was [18 M.] er unserem Geschlecht prophezeien will. 116 Wie hätten sie überhaupt eintreten dürfen, wenn sie nicht gewusst hätten, dass alle Bewohner wie die gut zusammengesetzte Bemannung eines Schiffes einem Befehle gehorsam sind, dem des Vorgesetzten, der gleichsam ihr Steuermann ist? Wie hätten sie sich den Anschein gegeben, als ob sie schmausten und sich bewirten liessen, wenn sie nicht den Gastgeber für einen Verwandten und Dienstgenossen gehalten hätten, der zu ihrem Gebieter seine Zuflucht genommen? Sicherlich aber darf man glauben, dass bei ihrem Eintritt alle Glieder des Hauses an Vortrefflichkeit noch gewannen und von einem Hauche vollendetster Tugendhaftigkeit durchweht wurden. 117 Das Gastmahl aber verlief so, wie es sich geziemt, da die Bewirteten [121] dem Wirte gegenüber ihre Einfachheit im Essen zeigten, ihn mit schlichtem Anstand anredeten und den Umständen angemessene Unterhaltung mit ihm führten. 118 Ein Wunder war es aber, dass sie, ohne zu trinken und zu essen, die Vorstellung hervorriefen, als ob sie getrunken und gegessen hätten[26]. Aber das war nur eine Folgeerscheinung; das erste grosse Wunder besteht darin, dass sie als unkörperliche Wesen dem Weisen zu Gefallen Menschengestalt angenommen haben; denn weshalb geschah das Wunder, wenn nicht zu dem Zwecke, durch eine deutliche Erscheinung dem Weisen bemerkbar zu machen, dass er als solcher dem Allvater nicht verborgen geblieben sei?

[24] 119 Soviel sei zur buchstäblichen Erklärung gesagt; nun wollen wir mit dem verborgenen Sinn beginnen. Die wörtlichen Aeusserungen sind nur Symbole der im Geiste erfassten Vorstellungen. Wenn nun die Seele gleichsam wie zur Mittagszeit durch Gott erleuchtet wird, wenn sie ganz und gar von dem rein geistigen Licht erfüllt ist und die ringsum von ihm ausgehenden Strahlen auffängt, bekommt sie eine dreifache Vorstellung eines einzigen Gegenstandes, einmal die, dass er selbst da ist, und dann die, als ob zwei Schatten von ihm ausstrahlten, wie dies auch denen begegnet, die in einem sinnlich wahrnehmbaren Lichte weilen; denn häufig fallen doppelte Schatten von ruhenden oder bewegten Dingen zusammen ein. 120 Allerdings darf man nicht glauben, dass bei Gott die Schatten im eigentlichen Sinne gemeint sind; wir gebrauchen diesen Ausdruck nur, um die Sache, die erklärt werden soll, deutlicher zu machen, obgleich sie sich in Wahrheit nicht so verhält. 121 Es ist aber – wie einer, der der Wahrheit sehr nahe kommt, sagen könnte – der Vater des Weltalls der mittlere, der in den [19 M.] heiligen Schriften mit seinem eigentlichen Namen „der Seiende“ genannt wird, auf beiden Seiten aber sind die höchsten und nächsten Kräfte des Seienden, die schöpferische und die [122] regierende; die schöpferische heisst „Gott“, denn mit dieser hat er das All (ins Dasein) gesetzt und eingerichtet, die regierende „Herr“, denn es ist billig, dass der Schöpfer über das Geschöpf herrscht und regiert[27]. 122 Begleitet also von diesen beiden Kräften, zeigt der Mittlere dem schauenden Geiste bald die Erscheinung eines Einzigen bald die von dreien; die Vorstellung von dem Einen nämlich, wenn er (der schauende Menschengeist) im höchsten Grade geläutert ist und nicht nur an der Menge der Zahlen, sondern auch an der Nachbarin der Eins, an der Zwei, vorüberziehend zu der ungemischten, nicht zusammengesetzten, für sich durchaus keines andern bedürftigen Idee sich emporschwingt, die Vorstellung von dreien dagegen, wenn er noch nicht in die grossen Mysterien eingeweiht ist und nur erst die geringeren Grade kennt und „das Seiende“ aus ihm allein ohne Mithilfe eines andern nicht zu begreifen vermag, sondern nur aus dessen Wirkungen, als ein schaffendes oder regierendes Wesen. 123 Diese ist nun wohl, wie man zu sagen pflegt, „zweite Fahrt“[28], sie steht aber nichtsdestoweniger in Verbindung mit gottwohlgefälliger Meinung; die andere Vorstellungsart dagegen hat nicht nur Verbindung mit ihr, sondern ist selbst gottgefällige Meinung oder richtiger die Wahrheit, die älter ist als Meinung und höher steht als alles Meinen. Wir müssen aber das Gesagte deutlicher erklären. [25] 124 Es gibt drei Stufen menschlicher Charaktere, und eine jede von ihnen hat eine der erwähnten Vorstellungen zugeteilt erhalten. Die höchste Stufe hat die mittlere (Vorstellung) von dem wirklich Seienden, die zweite stellt sich die rechts [123] stehende „wohltuende“ (Kraft) vor, die „Gott“ heisst, die dritte die auf der andern Seite stehende „herrschende“, die „Herr“ genannt ist. 125 Die höchste Charakterstufe dient dem für sich selbst ohne irgend jemand Seienden und lässt sich durch nichts anderes davon abziehen, weil ihr Streben einzig und allein auf die Verehrung des Einzigen gerichtet ist; von den beiden andern tritt die eine dem Allvater nahe und wird mit ihm vertraut durch die wohltuende Kraft, die andere durch die regierende Kraft. 126 Was ich damit meine, ist folgendes. Sobald die Menschen wahrnehmen, dass manche sich ihnen unter dem Vorwande der Freundschaft nähern, um Vorteile zu erjagen, blicken sie sie misstrauisch an und wenden sich von ihnen ab, da sie die geheuchelte Schmeichelei und Freundlichkeit wie etwas sehr Schädliches fürchten. 127 Gott aber, der ja keinen Schaden erleiden kann, ruft freundlich alle zu sich, die ihn aus irgendwelchem Grunde ehren wollen, und weist überhaupt keinen zurück; er offenbart vielmehr denen, die Ohren in der Seele haben, gewissermassen folgendes: 128 „Der erste Preis ist für solche ausgesetzt, die mir um meinetwillen dienen, der zweite aber für solche, die es um ihrer selbst willen tun, entweder weil sie Gutes zu erlangen hoffen oder weil sie die Erwartung hegen, Befreiung von Strafen zu finden; denn wenn auch der Dienst der letzteren des Lohnes wegen erfolgt und nicht uneigennützig ist, so bewegt er sich nichtsdestoweniger innerhalb göttlicher Kreise [20 M.] und schweift nicht draussen umher. 129 Für solche nun, die mich um meinetwillen ehren, wird eine Belohnung ausgesetzt sein, wie sie Freunden zukommt; jene, die aus eigennützigen Gründen (mir dienen), erhalten zwar nicht denselben Lohn, aber doch einen solchen, dass sie nicht für Fremde angesehen werden. Denn ich nehme sowohl den freundlich auf, der an meiner wohltuenden Kraft Anteil haben will, um Gutes zu erlangen, als auch den, der aus Furcht meine herrschende und gebietende Macht sich günstig stimmt, um Strafe von sich abzuwenden; weiss ich doch sehr wohl, dass sie nicht schlimmer sondern besser werden, wenn sie in ununterbrochener Gottes Verehrung lautere und reine Frömmigkeit üben. 130 Denn wenn auch die Beweggründe [124] sehr verschieden sind, weshalb sie sich Mühe geben mir zu gefallen, so ist ihnen daraus kein Vorwurf zu machen, denn sie haben doch das eine Endziel und den einen Endzweck im Auge, mir zu dienen“. 131 Dass aber die dreifache Vorstellung in Wirklichkeit sich auf einen einzigen Gegenstand bezieht, ergibt sich nicht nur aus der allegorischen Betrachtung, sondern auch aus dem Wortlaut der Stelle der Schrift. Denn wie der Weise die drei Männer, die Wanderern gleichen, bittet bei ihm einzukehren, spricht er zu ihnen nicht wie zu dreien, sondern wie zu einem, denn er sagt: „Herr, wenn ich Gunst bei dir gefunden habe, ziehe nicht vorüber an deinem Diener“ (1 Mos. 18,3); denn die Worte „Herr“, „bei dir“ und „ziehe nicht vorüber“ sind an einen, nicht an mehrere, gerichtet. 132 Und wie die gastlich Aufgenommenen sich ihrem Gastgeber erkenntlich zeigen, verheisst wiederum einer, wie wenn er allein nur anwesend wäre, die Geburt eines ehelichen Sohnes mit folgenden Worten: „zurückkehren werde ich zu dir übers Jahr um diese Zeit, und dein Weib Sara wird einen Sohn haben“ (1 Mos. 18,10).

[26] 133 Sehr deutlich und ganz unzweifelhaft deutet er dies auch im folgenden an (1 Mos. Kap. 19). Das Land der Sodomiter, ein Teil des kanaanitischen Landes, das man später Syria Palaestina nannte, war voll von unzähligen Freveltaten, ganz besonders von solchen, die aus Völlerei und Ausschweifung entstehen, und hatte dazu eine grosse Menge anderer Lüste aufgehäuft; deshalb war es längst von dem Richter des Alls verurteilt. 134 Veranlassung zu dem übermässig zuchtlosen Leben gab den Bewohnern die beständige Fülle von Vorräten; denn das fruchtbare und wasserreiche Land brachte Jahr für Jahr einen reichen Ertrag an mannigfachen Früchten (1 Mos. 13,10). „Die Hauptursache des Bösen ist aber, wie einer mit Recht gesagt hat, ein Zuviel des Guten“[29]. 135 Da sie diesen Ueberfluss nicht ertragen konnten, wurden sie ausgelassen wie übermütige Tiere und warfen das Gesetz der Natur von sich, indem sie [125] sich wüster Zecherei und Schmauserei und gesetzwidrigen Ausschweifungen zuwandten. Sie zerstörten in ihrer Weibertollheit nicht blos fremde Ehen, sondern Männer verkehrten auch geschlechtlich mit Männern, ohne Scheu vor der gemeinsamen Natur, die sie mit ihren Mitschuldigen verband; diese Knabenverführer[30] erhielten zwar den klaren Beweis, dass sie auf diese Weise ihre Manneskraft unnütz vergeudeten, aber der Beweis fruchtete nichts, weil sie von zu heftiger Begierde sich [21 M.] überwältigen liessen. 136 Indem sie nun allmählich Männer daran gewöhnten das zu dulden, was dem weiblichen Geschlechte zukommt, riefen sie bei ihnen die Weiberkrankheit hervor, ein schwer zu bekämpfendes Uebel: nicht nur erzeugten sie in den Körpern weibliche Schwäche und Weichlichkeit, sondern auch in den Seelen brachten sie eine niedrige Gesinnung zustande, und soweit es an ihnen lag, hätten sie das ganze Menschengeschlecht vernichten können. Denn wenn allzumal Hellenen und Barbaren hierin übereinstimmend solchen Verkehr üben wollten, würden die Staaten der Reihe nach wie durch pestartige Krankheit entvölkert werden und alsbald veröden. [27] 137 Aber Gott, der Helfer und Menschenfreund, hatte Erbarmen und verlieh dem natürlichen Verkehr von Männern und Frauen, der nur zum Zwecke der Kindererzeugung gepflegt wurde, reichen Segen; jene widernatürlichen und unsittlichen Verbindungen aber verabscheute er und machte sie zu nichte, und alle, die von Leidenschaft für solche erfüllt waren, verwarf er und bestrafte er, nicht mit den üblichen, sondern mit ganz neuen und aussergewöhnlichen Strafen. 138 Er befahl nämlich plötzlich dem Himmel, sich zu bewölken und einen starken Regen, nicht von Wasser, sondern von Feuer hinabzusenden. Als nun ein Flammenmeer mit grosser Heftigkeit unaufhörlich herniederfuhr, verbrannten Aecker und Wiesen, dichtbelaubte Haine und bewachsene Talgründe und tiefe Waldungen; es brannte die Ebene und alle Getreidefrucht und die übrige Saatfrucht, es brannten auch die baumreichen Stellen des Berglandes, und Stämme samt den Wurzeln gerieten in Brand; 139 auch Gehöfte und Häuser und Mauern und [126] alle privaten und öffentlichen Gebäude verbrannten, an einem Tage wurden reich bevölkerte Städte die Gräber ihrer Bewohner, und die Bauwerke aus Stein und Holz wurden zu Asche und leichtem Staub. 140 Nachdem aber das Feuer alles Sichtbare über der Erde verzehrt hatte, drang es auch in die Tiefe ein und verbrannte die Erde selbst und zerstörte die in ihr vorhandene Lebenskraft bis zu völliger Unfruchtbarkeit, damit sie niemals wieder imstande wäre, Früchte zu tragen oder überhaupt zu grünen. Und sie brennt bis jetzt; denn das Blitzfeuer erlischt nicht, sondern frisst oder glimmt weiter. 141 Ein klarer Beweis dafür ist das, was man dort jetzt noch sieht: ein Erinnerungszeichen des Unglücks, das sich zugetragen hat, ist der immer noch aufsteigende Rauch und der Schwefel, den man dort sucht[31]. Als deutliches Merkmal aber der früheren glücklichen Lage des Landes ist eine Stadt in der Nachbarschaft und das sie umgebende Gebiet übrig geblieben; stark bevölkert ist die Stadt, futter- und ährenreich und überhaupt ertragreich ihr Gebiet, zum Beweis für die durch göttliches Urteil (über jene) verhängte Strafe.

[28] 142 Aber nicht um die Grösse dieses ungewöhnlichen Unglücks zu zeigen, habe ich dies ausführlich erzählt, sondern weil ich feststellen will, dass nach den Worten der h. Schrift von den drei Männern, die dem Weisen erschienen waren, nur zwei sich in das jetzt verödete Land zur Vertilgung [22 M.] der Bewohner begeben haben, während der dritte es nicht für recht hielt mitzugehen[32]. 143 Dieser war eben nach meiner Auffassung der wahrhaft Seiende, der es für angemessen hielt, das Gute in eigener Person zu gewähren, seinen Kräften dagegen aufzutragen, in seinem Dienste das Gegenteil zu vollbringen, damit er ausschliesslich für den Urheber des Guten, nicht aber für den Urheber irgend eines Uebels [127] gehalten würde[33]. 144 Das tun, wie mich dünkt, auch die Könige, die das göttliche Wesen nachahmen wollen, da sie ihre Gnadenbeweise persönlich darreichen, Bestrafungen dagegen durch andere vollziehen lassen. 145 Da aber von den zwei Kräften die eine die wohltuende, die andere die strafende ist, so erscheinen natürlich beide in dem Sodomiterlande, weil von den fünf vornehmsten Städten darin vier verbrannt werden sollten und nur eine frei von allem Bösen und unversehrt bleiben sollte; denn die Zerstörung musste durch die strafende, die Rettung durch die wohltuende Kraft vollzogen werden. 146 Aber da auch der gerettete Teil nicht vollständige und vollkommene Tugend besass, so erhielt er die Wohltat von der Kraft des Seienden, der persönlichen Erscheinung Gottes aber wurde er nicht gewürdigt.

[29] 147 Das ist der offenbare und für die grosse Menge verständliche Sinn; der verborgene aber, der sich nur an wenige richtet, die die Stimmungen der Seele und nicht die Formen des Körpers erforschen, soll sogleich angegeben werden. Sinnbildlich bedeuten die fünf Städte unsere fünf Sinne, die Werkzeuge, durch welche alle angenehmen Eindrücke, kleine und grosse, zustande kommen. 148 Denn wir freuen uns bei dem Anblick der Mannigfaltigkeit von Farben und Formen in unbeseelten und beseelten Dingen oder beim Anhören wohllautender Stimmen oder beim Kosten von Speisen und Getränken oder beim Einatmen wohlriechender Düfte oder bei der Berührung weicher und warmer und glatter Gegenstände. 149 Tierischer und sklavischer Natur sind drei von den fünf Sinnen, der Geschmack, der Geruch und der Tastsinn, von denen die gefrässigsten und geilsten Tiere hauptsächlich beherrscht sind; denn den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch füllen sie sich entweder mit Nahrung an oder sie folgen ihrer Brunst. 150 Zwei Sinne aber sind von feinerer Art und haben die Führerrolle, das Gehör und das Gesicht; nur sind die Ohren langsamer und gewissermassen [128] weiblicher als die Augen, die kühn zu den sichtbaren Dingen vordringen und nicht erst abwarten, bis diese sie erregen, sondern ihnen vorher entgegeneilen und sie im Gegenteil in Bewegung zu setzen suchen. Das Ohr sollte also, weil es langsam und weiblicher ist, den zweiten Rang einnehmen, einen besonderen Vorzug aber sollte das Auge haben; denn [23 M.] Gott erklärte dieses für den König der übrigen Sinne und setzte es über sie alle, und da er ihm gleichsam auf der Burg[34] seinen Sitz anwies, machte er es am meisten der Seele verwandt. 151 Beweisen kann man das aus der Tatsache, dass das Auge bei allen Wandlungen der Seele sich mitverändert; denn wenn Trauer bei ihr einkehrt, sind auch die Augen voll Sorge und Niedergeschlagenheit, bei ihrer Freude andererseits lächeln sie und blicken fröhlich; wenn Furcht die Seele beherrscht, sind sie voller Unruhe und nehmen unsichere und zuckende Bewegungen an; 152 wenn aber Zorn die Seele erfasst, rollt das Auge schneller und ist mit Blut unterlaufen; beim Nachdenken und Sorgen um etwas ist es ruhig und starr und so zu sagen mit dem Geiste angespannt, während es in der Erholung und beim Ausruhen der Seele sich ebenfalls ausruht und schlaff wird. 153 Einem nahenden Freunde kündigt es vorher das Gefühl des Wohlwollens an durch ruhigen und heiteren Blick; wenn es aber ein Feind ist, dann zeigt es die missvergnügte Stimmung der Seele; bei verwegenem Wesen springen und eilen die Augen voran, bei schüchternem dagegen bleiben sie ruhig und sanft. So kann man kurz sagen, dass das Auge mit höchster Kunstfertigkeit als ein Abbild der Seele geschaffen ist, dass es wie in einem Spiegel ein deutliches Bild von der Seele gibt, die von selbst ihrer Natur nach nicht sichtbar ist. 154 Allein nicht nur in dieser Hinsicht überragen die Augen an Schönheit alle übrigen Sinne, sondern auch insofern die Tätigkeit der anderen im Wachsein – denn die Untätigkeit im Schlafe darf man nicht in Betracht ziehen – mangelhaft ist; denn wenn nicht irgend etwas von der Aussenwelt sie in Bewegung setzt, bleiben sie in Ruhe, während die geöffneten [129] Augen in fortwährender und ununterbrochener Tätigkeit sind und niemals überdrüssig werden, also auch damit beweisen, in welch inniger Beziehung sie zur Seele stehen. 155 Nur ist die Seele immer in Bewegung und wach bei Tag und Nacht, den Augen aber, die ja grösstenteils körperlicher Natur sind, ist die vollkommen hinreichende Gabe verliehen, während der Hälfte der ganzen Lebenszeit die ihnen zukommende Tätigkeit auszuüben. [30] 156 Was aber der wichtigste Nutzen der Augen ist, soll nunmehr gesagt werden. Für das Sehvermögen allein unter allen Sinnen hat Gott das Licht hervorgebracht, das unter den existierenden Dingen das schönste ist und zuerst in der h. Schrift „schön“ genannt wurde (1 Mos. 1,4). 157 Das Licht ist aber zweifacher Natur: das eine entsteht aus dem für unsern Gebrauch bereiteten Feuer, es ist ein Vergängliches aus Vergänglichem und unterliegt dem Erlöschen, das andere hingegen ist unverlöschbar und unvergänglich, es kommt von oben, vom Himmel, zu uns herab, indem jedes Gestirn wie aus ewig sprudelnden Quellen Lichtstrahlen entsendet. Mit beiden Arten verbindet sich der Gesichtsinn und mit beider Hilfe gelangt er zu deutlicher Wahrnehmung alles Sichtbaren. 158 Sollen wir nun noch weiter versuchen, mit Worten die Augen zu preisen, da doch Gott ihren wahren Ruhm am Himmel [24 M.] durch die Gestirne verkündigt hat? Denn weswegen ist das Licht der Sonne, des Mondes, der andern Planeten und der Fixsterne geschaffen worden, wenn nicht für die Tätigkeit der Augen zum Zwecke des Sehens? 159 Mit Hilfe des Lichtes also, dieser schönsten aller Gaben, betrachten sie alles in der Welt[35], die Erde, Pflanzen, Tiere, Früchte, die Meeresfluten, die Quellflüsse und die Giessbäche und die verschiedenen Quellen, die teils kaltes teils warmes Wasser hervorfliessen lassen, die Beschaffenheit aller Dinge, die in der Luft existieren – unzählige und nicht mit Worten zu umfassende Formen gibt es –, und schliesslich den Himmel, der in Wahrheit als eine Welt in der Welt geschaffen ist, und alle Herrlichkeiten und göttlichen Wunderwerke am Himmel. [130] Welcher andere Sinn kann sich wohl rühmen, so weit vordringen zu können? [31] 160 Aber lassen wir die Sinne, die an ihren Krippen das uns eingepflanzte Tier, die Begierde, mästen[36], betrachten wir den Gehörsinn, der sich das Wort zu eigen macht. Sein angespannter und vollendetster Lauf macht Halt an der die Erde umgebenden Luft, wenn heftige Stürme und Donnerschläge grossen Lärm und mächtiges Getöse erschallen lassen. 161 Die Augen aber gelangen in einem Augenblick von der Erde in den Himmel und zu den Enden des Weltalls, nach Osten und Westen, in den Norden und Süden, und dort angekommen ziehen sie den Geist an die Erscheinungen heran, dass er sie denkend betrachte. 162 Der Geist aber bleibt nicht untätig, nachdem er den gleichen Eindruck empfangen hat, er erhält, da er wach und immer in Bewegung ist, von dem Gesichtsinn die Anregungen, das rein Geistige schauen zu können, und geht bald zu der Untersuchung über, ob jene Erscheinungen unerschaffen (ewig) sind oder ob sie einen Entstehungsanfang gehabt haben, ob sie unbegrenzt oder begrenzt sind, ob es eine oder mehrere Welten gibt, ob die vier Elemente allen Dingen zu Grunde liegen oder ob der Himmel und die in ihm befindlichen Dinge von besonderer Natur sind und eine göttlichere Substanz erhalten haben, nicht dieselbe wie die übrigen Dinge; 163 und wenn nun die Welt geschaffen wurde, durch wen sie geschaffen ist, wer ihr Schöpfer nach Wesenheit oder Beschaffenheit war, in welcher Absicht er sie gemacht hat und was er jetzt tut und was für ein Leben er führt und was sonst alles ein aussergewöhnlicher und immer denkender Geist zu ergründen pflegt. 164 Dieses und Aehnliches gehört zu den Aufgaben der Philosophie; daraus folgt, dass Weisheit und Philosophie ihren Ausgangspunkt von nichts anderem in uns genommen haben als von dem führenden der fünf Sinne, dem Gesichtsinn, den Gott auch allein dem Bereich des Körperlichen rettend entzog, während er die vier anderen schlechter stellte; denn diese wurden dem Fleische und den Regungen des Fleisches untertan, jener aber erhielt die Fähigkeit, den Nacken zu strecken und zu schauen und andere Freuden [25 M.] [131] aufzusuchen, weit bessere als die leiblichen Genüsse, aus der Betrachtung der Welt und ihres Inhalts[37]. 165 Angemessen war es demnach, dass einer von den fünf Sinnen – wie eine Stadt aus einem Fünfstädteverbande –, der Gesichtsinn, einer besondern Ehre teilhaftig wurde und bei der Vernichtung der andern erhalten blieb; denn er bewegt sich nicht wie jene blos um die vergänglichen Dinge herum, er trachtet vielmehr zu den unvergänglichen Wesen zu gelangen und freut sich an ihrer Betrachtung. 166 Deshalb bezeichnet die h. Schrift diese Stadt sehr gut als „klein“ und „nicht klein“[38], indem sie damit auf den Gesichtsinn hindeutet; klein wird er genannt, weil er nur ein kleiner Teil von uns ist, gross, weil er Grosses erstrebt und eifrig danach verlangt, den ganzen Himmel und die ganze Welt zu betrachten.

[32] 167 Ueber die Erscheinung (der Engel) und über die gerühmte vortreffliche Bewirtung, wobei der Gastgeber zu bewirten schien und (eigentlich) bewirtet wurde, haben wir in gründlicher Erörterung der Stelle, soweit es uns möglich war, gesprochen. Aber eine sehr bedeutsame Tat, die wert ist vernommen zu werden, dürfen wir nicht verschweigen; denn fast möchte ich behaupten, sie übertrifft alle gottgefälligen Werke. 168 Es soll jedoch nur das Hauptsächlichste darüber gesagt werden. Ein ehelicher Sohn wird dem Weisen von seiner Gattin geboren, ein geliebter einziger Sohn, der mit allen Vorzügen des Körpers und der Seele ausgestattet war; denn er zeigte bald Tugenden eines reiferen Alters, so dass der Vater ihn mit grosser Zärtlichkeit liebte, nicht nur aus natürlicher Zuneigung, sondern auch, wie ein Sittenrichter, auf Grund eines bestimmten Urteils[39]. 169 In solcher Gesinnung erhielt er plötzlich und ganz unerwartet den göttlichen Befehl, seinen Sohn auf einem hochgelegenen Hügel weit von der Stadt, drei Tagereisen entfernt, zu opfern. 170 Obwohl [132] er nun mit unsagbarer Liebe an seinem Kinde hing, wechselte er weder die Farbe noch zuckte er in der Seele zusammen; ohne zu wanken, blieb er in seinem festen und unerschütterlichen Glauben wie zuvor; von der Liebe zu Gott beherrscht, überwand er mit aller Kraft alle verwandtschaftliche Liebe und Zärtlichkeit, sagte keinem von seinen Hausleuten etwas von dem göttlichen Auftrag, nahm aus seiner zahlreichen Dienerschaft nur die zwei ältesten und ihm besonders ergebenen Haussklaven und zog mit ihnen und mit seinem Sohne wie zu einer der üblichen Opferhandlungen aus. 171 Als er den ihm bestimmten Ort wie von einer Warte von weitem erblickte, befiehlt er den Dienern zurückzubleiben und gibt seinem Sohne das Feuer und das Holz zu tragen, da er es für angemessen hielt, dass das Opfer selbst mit den zum Opfern nötigen Dingen beladen wird; eine nicht so schwere Bürde, denn nichts macht weniger Mühe als die Frömmigkeit. 172 Indem sie nun in gleichem Schritt, nicht sowohl mit dem Körper als vielmehr mit dem Geiste, den kurzen Weg hinaufschritten, dessen Ziel ein frommes Werk war, langten sie [26 M.] an dem befohlenen Orte an. 173 Sodann trug der Vater Steine zusammen, um einen Altar zu bauen, der Sohn aber, der sah, dass alles andere, was zur Opferung gehört, bereit lag und nur kein Tier vorhanden war, blickte den Vater an und sprach: „siehe, da ist das Feuer und das Holz, Vater, doch wo ist das Opfertier“? 174 Ueber solche Worte wäre wohl ein anderer, der weiss, was er tun soll, und es in seiner Seele verbirgt, ganz bestürzt in Tränen ausgebrochen und hätte, wenn er auch schwieg, durch seine heftige Gemütsbewegung verraten, was geschehen sollte. 175 Er aber erfuhr keine Erschütterung, weder eine körperliche noch eine seelische; mit festem Blick und festem Sinn antwortete er auf die Frage und sagte: „mein Kind, Gott wird sich selbst ein Opfer ersehen, auch in weiter Einöde, wo ein solches, wie du vielleicht denkst, nicht zu finden ist; denn wisse, Gott ist alles möglich, auch was bei den Menschen schwierig und unmöglich ist“. 176 Und während er dieses sagte, ergriff er rasch den Knaben, legte ihn auf den Altar, zog mit der Rechten das Schwert und legte es an, um ihn zu töten; aber Gott der Retter [133] trat dazwischen und verhinderte die Tat durch eine Stimme vom Himmel, durch die er ihm befahl, inne zu halten und den Knaben nicht anzurühren; zweimal rief er den Vater bei seinem Namen, damit er sich umwende und so abgelenkt und gehindert werde die Opferung auszuführen. [33] 177 So wurde der Knabe gerettet, da Gott das Geschenk wieder zurückgab und so den Darbringer für seine fromme Hingebung belohnte. Dem Weisen wurde seine Tat, obwohl sie unvollendet blieb, als eine vollkommene und vollständige angeschrieben und verewigt, nicht nur in den heiligen Büchern, sondern auch in den Herzen ihrer Leser. 178 Den Schmähsüchtigen und Verleumdern freilich, die lieber alles zu tadeln als zu loben pflegen, scheint diese Tat nicht so gross und bewunderungswürdig zu sein, wie wir sie schätzen. 179 Sie sagen nämlich, dass auch viele andere überaus zärtliche und kinderliebende (Eltern) ihre Kinder hingegeben haben, um sie teils für das Vaterland zu opfern als Sühne wegen eines Krieges oder wegen Trockenheit oder Ueberschwemmung oder pestartiger Krankheiten, teils aus hergebrachter Frömmigkeit, wenn es auch keine wahre Frömmigkeit ist; 180 wenigstens hätten hochangesehene Hellenen, nicht nur gewöhnliche Bürger, sondern selbst Könige, keine Rücksicht auf ihre Kinder genommen und durch ihre Opferung grosse und zahlreiche Heeresmassen, die mit ihnen im Bunde waren, gerettet und die der Gegner bei dem ersten Angriff vernichtet. 181 Barbarische Völker hätten lange Zeit den Kindermord als heiliges und gottgefälliges Werk zugelassen, ein Frevel, an den ja auch der göttliche Moses erinnere; denn er macht ihnen Vorwürfe wegen dieser Greueltat und sagt, „dass sie ihre Söhne und Töchter ihren Göttern zu Ehren [27 M.] verbrennen“ (5 Mos. 12,31). 182 Die indischen Gymnosophisten sollen bis zum heutigen Tage, wenn die langwierige und unheilbare Krankheit, das Greisenalter, sich einzustellen beginnt, bevor es sich stark geltend macht, einen Scheiterhaufen errichten und sich selbst verbrennen, auch wenn sie imstande sind sich möglicherweise noch lange Jahre zu erhalten[40]. [134] Auch Weiber, deren Männer gestorben, stürzten sich freudig in denselben Scheiterhaufen und liessen sich lebend mit den Leichnamen jener verbrennen[41]. 183 Diese, die in hohem Masse den Tod geringschätzen und nach ihm verlangen wie nach Unsterblichkeit und ihm entgegenrennen, könne man wirklich wegen ihres Wagemutes bewundern. [34] Weshalb also sollte man jenen (Abraham) preisen, als ob er eine völlig neue Tat zuerst vollbracht hätte, da doch sowohl gewöhnliche Leute als auch Könige und ganze Völker sie zu Zeiten vollbringen? 184 Auf solchen scharfen Tadel habe ich folgendes zu erwidern. Von denen, die ihre Kinder opfern, tun es die einen auf Grund einer bestehenden Sitte, wie man es von einigen Barbaren sagt, die anderen aus unangenehmen und wichtigen Gründen, wenn Staaten und Länder glauben auf andere Weise sich nicht helfen zu können; einige von diesen geben ihre Kinder notgedrungen hin, weil sie von den Mächtigen dazu gezwungen werden, andere weil sie nach Ruhm und Ehre und nach einem guten Namen bei der Mit- und Nachwelt streben. 185 Die Menschen nun, die auf Grund einer Sitte opfern, tun augenscheinlich nichts Grosses; denn eine eingewurzelte Sitte ist oft einer Naturanlage gleich, so dass sie selbst Unerträgliches leicht ertragen lässt und auch ein Uebermass von Schrecklichem mildert. 186 Jene aber, die aus Furcht (ihre Kinder) hingeben, verdienen kein Lob; denn Lob gebührt nur freiwilliger Pflichterfüllung, was aber ungern geschieht, wird anderen Ursachen zugeschrieben, entweder gewissen Zeitumständen oder Zufälligkeiten oder von Menschen ausgeübtem Zwang. 187 Wenn aber jemand aus Ruhmsucht einen Sohn oder eine Tochter hingibt, so darf er wohl mit Recht eher getadelt als gelobt werden, da er mit dem Tode der von ihm am meisten Geliebten Ehre erkaufen will, die er vielmehr, wenn er sie besitzt, zum Heile seiner Kinder preisgeben müsste. 188 Zu untersuchen wäre also, ob Abraham durch irgend eine der genannten Ursachen bewogen seinen Sohn opfern wollte, ob einem Brauche zufolge oder aus Ehrgeiz oder aus Furcht. Einen Brauch, Kinder zu opfern, kennt Babylon und Mesopotamien und das Chaldäervolk nicht, [135] wo er aufgewachsen war und längere Zeit gelebt hat, so dass man etwa annehmen könnte, er sei von einer durch den fortwährenden Anblick solcher Greueltaten ziemlich abgestumpften Vorstellung des Schlimmen beherrscht gewesen. 189 Aber auch Furcht vor Menschen war es nicht, denn von dem ihm allein erteilten göttlichen Befehl wusste ja niemand; auch hatte sich kein allgemeines Unglück ereignet, dessen Abwendung durch die Opferung des ausgezeichneten Sohnes herbeigeführt [28 M.] werden sollte. 190 Oder trieb ihn das Verlangen nach dem Lob der Menge zu seiner Tat? was für ein Lob war denn in der Wüste zu erlangen, da doch niemand zugegen war, der ihn hätte rühmen können, da er sogar die zwei Diener absichtlich in einiger Entfernung zurückgelassen hatte, damit es nicht den Anschein habe, als ob er prahlen und sich brüsten wolle, wenn er Zeugen seiner frommen Tat mitbrachte? [35] 191 Mögen sie also ihren zügellosen und schmähsüchtigen Mund verschliessen und ihren Neid und Hass gegen das Edle mässigen und nicht die Tugenden der Männer verunglimpfen, die trefflich gelebt haben und die darum durch Lob ausgezeichnet werden müssten. Dass jene Tat aber wirklich lobenswert und bewunderungswürdig ist, kann man aus vielen Umständen leicht ersehen. 192 Zunächst liess er sich den Gehorsam gegen Gott, der bei allen verständig denkenden Männern für wichtig und bedeutsam gilt, ganz besonders angelegen sein, so dass er jedes Gebot stets ohne Widerwillen und Missvergnügen beobachtete, selbst wenn es viel Mühe und Beschwerden brachte; daher ertrug er auch das, was ihm hinsichtlich seines Sohnes geboten war, sehr wacker und standhaft. 193 Und da es in seinem Vaterlande nicht, wie bei einigen Völkern, Sitte war Menschen zu opfern, ein Brauch, der durch längere Dauer die Vorstellung des Schrecklichen abzuschwächen pflegt, so sollte er zuerst mit einer ganz neuen und ungewöhnlichen Sache den Anfang machen, die meines Erachtens niemand auf sich genommen hätte, selbst wenn seine Seele mit Eisen oder Stahl gepanzert wäre; denn, wie einer sagt, „mit der Natur zu kämpfen ist eine schwere Aufgabe“[42]. 194 Einen echten Sohn hatte er erzeugt, [136] nur diesen eben besass er, und echt war das Gefühl der Liebe zu ihm, es übertraf alle Beispiele von ernster Neigung und Freundschaft, die eine Berühmtheit erlangt haben. 195 Hinzu kam noch als mächtiger Beweggrund zur Liebe der Umstand, dass er den Sohn nicht im kräftigen Mannesalter, sondern im Greisenalter gezeugt hatte; denn in die spätgeborenen Kinder sind die Eltern beinahe rasend verliebt, entweder weil sie lange Zeit ihre Geburt ersehnt haben oder weil sie auf andere (Kinder) nicht mehr hoffen, da die Natur hier gleichsam an der äussersten und letzten Grenze Halt macht. 196 Dass nun jemand aus einer reichen Kinderschar eins Gott hingibt, gleichsam als ein Erstlingsopfer von Kindern, wäre nicht so widersinnig, da er in der Freude an den lebenden einigermassen Trost und Linderung findet für den Schmerz über das geopferte. Grösseres aber, als mit Worten ausgedrückt werden könnte, vollbringt einer, der den einzigen geliebten Sohn, den er hat, darbringt, da ein solcher sich nicht dem väterlichen Gefühl hingibt, sondern ganz und gar von der Liebe zu Gott leiten lässt. 197 Jene Tat ist also ganz aussergewöhnlich und ward eben nur von ihm (Abraham) vollbracht; denn wenn die anderen zur Rettung des Vaterlandes oder eines Heeres ihre Kinder hingeben, damit sie geopfert werden, bleiben sie entweder daheim oder stehen weit ab von den Altären oder wenden, wenn sie dabei sind, das Antlitz weg, weil sie es nicht mit ansehen können, wie andere die Opferung vollziehen. 198 Abraham aber begann wie ein Priester selbst die Opferhandlung, der zärtlichste Vater [29 M.] an dem in allem ausgezeichneten Sohne; vielleicht hätte er gar dem Opfergesetze gemäss (vgl. 3 Mos. 1,6 u. ö.) bei der Opferung seinen Sohn in Stücke zergliedert. So neigte er nicht auf der einen Seite zu seinem Sohne, auf der andern zur Frömmigkeit, sondern ganz und gar weihte er seine Seele der Heiligkeit und kümmerte sich dabei wenig um das verwandtschaftliche Blut. 199 Was hat also das (von Abraham) Gesagte mit den andern zu tun? was ist hier nicht ausserordentlich und über jedes Lob erhaben? Daher kann wenigstens der nicht von Natur Neidische und Boshafte die überaus grosse Frömmigkeit anstaunen und bewundern [137] und, wenn auch nicht alles was ich gesagt habe, so doch wenigstens einen Teil von allem sich zu Herzen nehmen; denn schon die Vorstellung eines (Gedankens) in irgend einer unbedeutenden Form – unbedeutend ist aber keine Tat des Weisen – ist geeignet, die Grösse und Hoheit seiner Seele zu veranschaulichen.

[36] 200 Allein wir dürfen nicht bei der buchstäblichen Wiedergabe des erzählten Begebnisses stehen bleiben; vielmehr ziemt es sich auch noch den der Menge verhüllten Sinn zu zeigen, den nur die kennen, die das Geistige vor dem Sinnlichen bevorzugen und es zu schauen imstande sind. 201 Dieser (verborgene Sinn) ist aber der folgende. Der geopfert werden sollte, heisst chaldäisch Isaak, wenn aber der Name ins Griechische übersetzt wird, bedeutet er „das Lachen“. Unter „Lachen“ wird aber hier nicht der beim Scherzen entstehende körperliche Zustand verstanden, sondern die Heiterkeit und Freude der Seele. 202 Diese, so heisst es, muss der Weise Gott opfern, und er gibt damit durch ein Sinnbild die Lehre, dass die Freude Gott allein zukommt; denn das menschliche Geschlecht ist trübselig und ängstlich, sei es dass ein Unglück da ist oder erwartet wird, so dass es entweder über gegenwärtige unangenehme Dinge Qual empfindet oder in Unruhe und Furcht vor zukünftigen zittert. Frei von Trauer und Furcht und von jeder Schmerzempfindung ist dagegen das Wesen Gottes, das allein vollkommene Glückseligkeit geniesst. 203 Dem nun, der dieses aufrichtige Bekenntnis ablegt, gibt Gott, der ja seinem Wesen nach gütig und menschenfreundlich ist und Neid von sich fernhält, billiger Weise das Geschenk zurück, soweit der Empfänger Aufnahmefähigkeit besitzt, und spricht zu ihm etwa folgendermassen: 204 „Dass im allgemeinen Freude und Heiterkeit nur mir, dem Allvater, gehört und keines andern Besitztum ist, weiss ich wohl, aber wenn ich sie auch allein besitze, so gönne ich sie doch auch denen, die wert sind sie zu geniessen. Wer aber ist ihrer wohl würdig ausser dem, der mir und meinem Willen folgt? Ihn wird Verdruss und Furcht am wenigsten treffen, wenn er diesen Weg geht, der den Leidenschaften und Lastern unzugänglich ist, der nur von [138] den heiteren Stimmungen und von den Tugenden begangen wird“. 205 Niemand aber glaube, dass die reine und mit keinem Schmerz gemischte Freude vom Himmel zur Erde herniedersteigt; hier ist sie vielmehr aus beiden (Empfindungen) gemischt, [30 M.] aber so dass die bessere überwiegt; ebenso ist ja auch das Licht am Himmel ungemischt und frei von aller Dunkelheit, in der sublunaren Welt aber (auf Erden) erscheint es mit der dunklen Luftschicht gemischt. 206 Aus diesem Grunde hat auch, wie mir scheint, die nach der Tugend benannte Sara, die vorher gelacht hatte, dem Fragenden gegenüber ihr Lachen geleugnet (1 Mos. 18,15), weil sie nämlich fürchtete, dass sie die Freude, die keines Erdgeborenen, sondern nur Gottes Eigentum ist, sich widerrechtlich aneignete. Darum beruhigt sie das Gotteswort, das zu ihr spricht: „fürchte dich nicht, du hast wirklich gelacht und du hast Anspruch auf Freude“. 207 Denn nicht liess der Allvater es zu, dass das Menschengeschlecht nur von unheilbaren Schmerzen, Leiden und Beschwerden verfolgt werde; er mischte etwas von der besseren Substanz hinein und wollte, dass die Seele einst ruhig und heiter werde; die Seele der Weisen aber soll nach seinem Willen sogar den grössten Teil ihrer Lebenszeit an den Wundern der Welt sich erfreuen und ergötzen.

[37] 208 Soviel sei über die Frömmigkeit des Mannes gesagt, obwohl noch eine grosse Menge von anderen Beweisen vorhanden ist. Aber wir müssen auch sein freundliches Benehmen den Menschen gegenüber untersuchen. Denn es gehört zu derselben Naturanlage, fromm und menschenfreundlich zu sein, bei demselben Menschen findet man gewöhnlich beides, Frömmigkeit gegen Gott und Gerechtigkeit gegen die Mitmenschen. Alle seine Taten nun durchzugehen, würde zu weit führen, es genügt wohl zwei oder drei zu erwähnen. 209 Obgleich er sehr reich an Silber und Gold war und zahlreiche Viehherden besass, obgleich er mit den eingeborenen Bewohnern, die hinreichenden Besitz hatten, hinsichtlich des Vermögens wetteifern konnte und reicher geworden war, als es Ansiedler gewöhnlich sind, so wurde er doch von denen, die ihn in ihre Mitte aufgenommen hatten, niemals getadelt, sondern stets von allen, die mit ihm [139] bekannt wurden, sehr gerühmt. 210 Wenn aber einmal, wie es zu geschehen pflegt, ein Streit und Zwist zwischen seinen Dienern und Begleitern mit andern ausbrach, versuchte er ihn in Ruhe zu schlichten, da er bei seinem ernsten Charakter alle Streitsucht, Unruhe und Zwietracht verabscheute und aus seiner Seele verbannt hatte. 211 Und es ist kein Wunder, dass er so gegen die Fremden war, die sich vereinigt und mit stärkerer und mächtigerer Hand gegen ihn gewehrt hätten, wenn er Streit angefangen hätte; denn auch in seinem Benehmen gegen die, die durch Abstammung mit ihm verwandt, an Gesinnung aber ihm entfremdet waren, die vereinsamt und allein standen und weit geringeren Besitz hatten, zeigte er ja das richtige Mass und zog freiwillig den kürzeren, wo er sich Vorteile verschaffen konnte. 212 Er hatte nämlich einen Bruderssohn, der mit ihm gezogen war, als er die Heimat verliess; es war ein unzuverlässiger, unentschiedener Mensch, der hin und her schwankte, bald sich einzuschmeicheln [31 M.] suchte mit freundlichen Liebkosungen, bald störrisch und widerspenstig war infolge seines ungleichmässigen Wesens. 213 Daher war auch seine Dienerschaft streitsüchtig und unruhig, da sie keinen Herrn hatte, der sie zur Besonnenheit mahnte, und am meisten seine Hirten, die von ihrem Herrn weiter entfernt waren; sich frei fühlend entzweiten sie sich aus Rechthaberei mit den Hirten der Herden des Weisen, die wegen der Sanftmut ihres Herrn in den meisten Dingen nachgaben; daher gingen jene in ihrem Unverstand und in ihrer unverschämten Frechheit weiter, indem sie ihrem Groll sich hingaben und die Unversöhnlichkeit in ihrem Herzen nährten, bis sie die von ihnen Angegriffenen zwangen, sich zur Wehr zu setzen (1 Mos. 13,7ff.). 214 Der Streit war schon sehr heftig geworden, da hörte der Weise von dem Zusammenstoss, und in der Erkenntnis, dass seine Schar an Zahl und Kraft überlegen sei, liess er den Streit nicht bis zu entscheidendem Kampfe kommen, damit sein Bruderssohn über die Niederlage seiner Leute sich nicht betrübe; er trat dazwischen und versöhnte die Streitenden mit friedlichen Worten, und zwar nicht nur für den Augenblick, sondern auch für die Zukunft. 215 Denn da er wusste, dass Leute, die [140] zusammenwohnen und an demselben Orte leben, wenn sie verschiedener Meinung sind, mit einander streiten und immerfort Zwistigkeiten und Kämpfe gegen einander erregen, so hielt er es, damit dies nicht wieder geschehe, für vorteilhaft, das Zusammenleben aufzugeben und getrennt zu wohnen. Er ruft seinen Bruderssohn herbei und überlässt ihm die Wahl des besseren Landes; gern gestattet er ihm, sich den Teil zu nehmen, den er sich auswählen würde; denn den Frieden zu gewinnen schien ihm der grösste Gewinn. 216 Welcher andere würde wohl, wenn er der stärkere ist, einem schwächeren Platz machen? wer würde, wenn er siegen kann, lieber den kürzeren ziehen wollen und nicht von seiner Macht Gebrauch machen? Nur dieser (Weise) erblickte das Beste nicht in der Stärke und in der Ueberlegenheit, sondern in einem stillen und, so weit es an ihm lag, ruhigen Leben; daher gewann er auch augenscheinlich die Bewunderung aller.

[38] 217 Wir haben nun die lobende Darstellung (der h. Schrift), insofern es sich um den Menschen handelt, nach ihrem Wortsinn betrachtet; da aber nach denen, die ausser dem buchstäblichen Sinn einen geistigen (allegorischen) annehmen, zugleich seelische Erscheinungen darin ausgedrückt sind, so dürfte es angemessen sein, auch diese zu untersuchen. 218 Solcher gibt es unzählige, die aus unzähligen Gründen in Handlungen mannigfacher Art vorkommen; hier sollen aber nur zwei beurteilt werden, von denen die eine älter, die andere jünger ist; die ältere hält das seiner Natur nach Erste und Herrschende in Ehren, die jüngere das Untertänige und was als das Letzte gelten muss. 219 Aelter sind nun und zum Herrschen berechtigt die Einsicht, die Besonnenheit, die Gerechtigkeit und die Tapferkeit, sowie alles, was zur Tugend gehört, und alle tugendhaften Handlungen [32 M.] jünger dagegen Reichtum, Ruhm, Herrschaft und Adel, nicht der wahre, sondern der, den die Menge dafür hält, und alles übrige, was nach den seelischen und körperlichen (Gütern) den dritten Rang einnimmt, der zugleich der letzte ist[43]. 220 Jeder [141] dieser beiden Charaktere hat gewissermassen Herden im Besitz; der eine, der nach den äusseren Gütern verlangt, hat Silber, Gold, Gewänder, überhaupt alles was zum Reichsein gehört, ferner Waffen, Kriegsmaschinen, Kriegsschiffe, Reiterei und Fussvolk und Seemacht, die Mittel zur Herrschaft, durch die die Macht gesichert wird; der andere, der das sittlich Gute liebt, hat die zu jeder Tugend gehörigen Grundsätze und die Lehren der Weisheit selbst. 221 Ueber beide sind Aufseher gesetzt, sowie Hirten über Herden; die Aufseher der äusseren Güter sind die Streber nach Geld und Ruhm, nach Feldherrnwürde und nach Herrschaft über die Volksmassen; die Aufseher der seelischen Güter sind alle, die die Sittlichkeit und die Tugend lieben, die nicht die unechten Güter den echten, sondern die echten den unechten vorziehen. 222 Es entsteht nun ein natürlicher Streit zwischen ihnen, da sie in keiner Sache derselben Meinung sind, sondern stets über die wichtigste Angelegenheit im menschlichen Leben mit einander uneins sind und streiten, nämlich über die Schätzung der wahren Güter. 223 Eine Zeitlang hat die Seele gekämpft und diesen inneren Aufruhr durchgemacht, da sie noch nicht völlig geläutert war und ihre Leidenschaften und Krankheiten noch das Uebergewicht hatten über die gesunden Gedanken; sobald sie jedoch anfängt mächtiger zu werden und das Bollwerk der entgegengesetzten Meinungen mit stärkerer Kraft zu zerstören, bekommt sie Flügel und wird von mutiger Gesinnung erfüllt und sondert die Sinnesart in ihr, die die äusseren Mittel bewundert, ganz aus und verabschiedet sie und sagt, als ob sie sich mit ihr wie mit einem Menschen unterhielte: 224 du kannst unmöglich mit dem Freunde der Weisheit und Tugend zusammenleben und verbunden sein; gehe also, wandre weiter und entferne dich, da du keine Gemeinschaft mit ihm hast und sie auch nicht haben kannst; denn alles, wovon du glaubst, dass es rechts liegt, das liegt nach seiner Meinung links, und was dir hingegen links erscheint, das hält er für rechts.

[142] [39] 225 Aber nicht blos friedlich und Gerechtigkeit liebend war der Weise, sondern auch tapfer und kriegstüchtig, nicht des Kampfes wegen – denn er war nicht streitsüchtig und zänkisch –, sondern um für die Zukunft den Frieden zu sichern, den die Gegner störten. Ein deutlicher Beweis [33 M.] dafür sind die (folgenden) Tatsachen (1 Mos. Kap. 14). 226 Den östlichen Teil der Erde besassen vier grosse Könige, denen die östlichen Völker untertan waren, die jenseits und diesseits des Euphrat wohnten. Während nun alle übrigen ruhig und den Befehlen ihrer Könige gehorsam blieben und unweigerlich ihren jährlichen Tribut zahlten, begann das Land der Sodomiter allein, bevor es vom Feuer vernichtet wurde, den Frieden zu brechen, da es schon lange auf Empörung sann. 227 Ueber dieses sehr glückliche Land herrschten nämlich fünf Könige, die unter sich die Städte und das Land verteilt hatten, das zwar nicht sehr gross, aber gras- und baumreich und sehr fruchtbar war; denn was andern die Grösse bietet, das gewährte dem Lande Sodom die Fruchtbarkeit, weshalb es auch mehrere Herrscher gleichsam als Liebhaber hatte, die seine Schönheit bewunderten. 228 Diese hatten nun bisher die befohlenen Abgaben den Steuererhebern entrichtet, da sie die mächtigeren Könige, deren Statthalter sie waren, zugleich achteten und fürchteten; nachdem sie sich aber an dem Guten gesättigt hatten und die Sättigung, wie gewöhnlich, Uebermut erzeugte[44], bekamen sie zu grosses Zutrauen zu ihrer Macht und warfen zunächst das Joch ab, dann erhoben sie sich wie schlimme Sklaven gegen ihre Gebieter im Vertrauen auf den ausbrechenden Aufruhr oder auf ihre Stärke. 229 Aber jene waren ihres Adels eingedenk und zogen, da sie sich mit grösserer Macht gerüstet hatten, mit grosser Geringschätzung gegen sie, in der Ueberzeugung, dass sie beim ersten Angriff siegen werden; und als sie mit ihnen zusammenstiessen, schlugen sie einen Teil in die Flucht, einen andern töteten sie auf der Flucht und vernichteten die kriegsfähige Mannschaft, schleppten auch eine grosse Menge [143] Gefangener fort und verteilten diese unter sich mit der übrigen Beute; auch den Bruderssohn des Weisen führten sie fort, der unlängst in eine der fünf Städte übergesiedelt war. [40] 230 Als dies von einem aus der Schlacht Entronnenen dem Abraham gemeldet wurde, war er sehr betrübt und konnte in seinem Schmerze nicht ruhig bleiben; er beklagte den lebenden noch mehr als wenn er seinen Tod erfahren hätte; denn er wusste, dass der Tod, wie schon das Wort besagt[45], das Ende aller und zumal der bösen Lebensschicksale ist, dass dagegen sehr viel Unangenehmes den Lebenden droht. 231 Als er sich aber anschickte, die Verfolgung aufzunehmen, um den Bruderssohn zu retten, fehlte es ihm an Bundesgenossen, da er ja ein Fremdling und Ansiedler war und niemand den Mut hatte, der unwiderstehlichen Truppenmacht so vieler Könige, die eben gesiegt hatten, entgegenzutreten. 232 Aber er fand eine neue Art von Bundesgenossenschaft – denn Hilfe findet sich in der Hilflosigkeit, wenn man sich zu gerechten und edlen Werken gedrängt fühlt – ; er versammelte nämlich seine Dienerschaft und befahl den für Geld gekauften Sklaven zu Hause zu bleiben, denn er fürchtete ihr Davonlaufen, die im Hause geborenen dagegen musterte er aus und teilte sie in Abteilungen von je 100 Mann und rückte in drei Reihen vor, obwohl er nicht auf diese sein Vertrauen setzte, denn es war nur ein geringer Bruchteil der Heeresmassen der Könige, sondern auf Gott, den Beschützer [34 M.] und Vorkämpfer des Gerechten. 233 Mit der grössten Schnelligkeit eilte er vorwärts und liess nicht nach, bis er den rechten Augenblick abpasste und bei Nacht über die Feinde herfiel, die gerade ihre Abendmahlzeit eingenommen hatten und sich zur Ruhe begeben wollten; einige tötete er auf ihrem Lager, andere, die sich ihm entgegenstellten, schlug er gänzlich nieder, über alle aber trug er einen starken Sieg davon, mehr durch die Kühnheit seiner Seele als durch Waffengewalt. 234 Und nicht eher liess er ab, als bis er das feindliche Heer samt den Königen gänzlich geschlagen und [144] vor dem Lager hingestreckt hatte[46]. Seinen Bruderssohn aber führte er zurück; und mit dem glänzenden und ausgezeichneten Siege gewann er auch alle Pferde und andere Zugtiere in Menge und unermessliche Beute. 235 Ihn sah bei seiner Rückkehr der grosse Priester des höchsten Gottes sieggekrönt und unversehrt mit seiner unversehrten Mannschaft – denn keinen von seinen Begleitern hatte er verloren –, und erstaunt über die Grösse des vollbrachten Werkes und mit Recht bedenkend, dass ihm dies nicht ohne göttlichen Rat und Beistand gelungen sei, streckte er seine Hände zum Himmel empor, ehrte ihn mit frommen Wünschen, brachte Siegesopfer dar und bewirtete alle, die am Kampfe teilgenommen hatten, glänzend, da er sich mit ihnen ebenso freute wie über eigenes Glück; und es war wirklich sein eigenes, denn „gemeinsam ist“ nach dem Sprichwort „das Besitztum der Freunde“, ganz besonders das der Guten, die das eine Ziel haben, Gott wohlgefällig zu sein.

[41] 236 So erzählt die h. Schrift dem Wortlaute nach. Alle aber, die die Dinge unkörperlich und nackt sehen können und mehr ein seelisches als ein körperliches Leben führen, werden sagen, dass die vier von den neun Königen unsere vier Empfindungsvermögen Lust, Begierde, Furcht und Traurigkeit bedeuten, die fünf übrigen unsere fünf Sinne, Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch und Tastsinn. 237 Denn sie regieren und beherrschen uns gewissermassen und haben die Macht über uns, aber nicht in gleicher Weise; denn die fünf sind den vieren untertan und zahlen ihnen gleichsam Tribut und notwendige von der Natur festgesetzte Abgaben. 238 Aus dem [145] nämlich, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten, gehen Schmerz und Lust, Furcht und Begierde hervor, da keine dieser Empfindungen von selbst entstehen kann, wenn ihr nicht die Anlässe dazu durch die Sinne geboten werden. 239 Diese sind die wirkenden Kräfte der Empfindungen, entweder mit Hilfe von Farben und Formen oder durch Töne beim Sprechen und Hören oder durch Schmecken oder durch Düfte oder durch Berührung von Gegenständen, die weich und hart oder [35 M.]rauh und glatt oder warm und kalt sind; alle diese Dinge werden einem jeden der Affekte durch die Sinne zugeführt. 240 Und solange die erwähnten Abgaben entrichtet werden, besteht unter den Königen das Bündnis; wenn sie aber nicht mehr gezahlt werden, entstehen sofort Unruhen und Kämpfe. Das geschieht, wie es scheint, wenn das schmerzensreiche Greisenalter kommt, wo die Empfindungen nicht schwächer werden, sondern womöglich noch stärker als früher, wo hingegen die Augen trübe, die Ohren schwerhörig und ebenso alle übrigen Sinne stumpfer werden und nicht mehr in gleicher Weise alles genau unterscheiden und beurteilen und daher nicht dasselbe wie früher (den Affekten) leisten können; natürlich werden sie, wenn sie in jeder Hinsicht schwach geworden und schon von selbst dem Sinken nahe sind, leicht von den gegnerischen Empfindungen niedergeworfen. 241 Ganz ihrer Natur entsprechend heisst es in der h. Schrift (1 Mos. 14,10), dass zwei von den fünf Königen in Brunnen fielen, die drei andern die Flucht ergriffen; denn Tastsinn und Geschmack dringen in das tiefste Innere des Körpers ein und übermitteln den Eingeweiden, was in ihren Bereich gehört, während Augen, Ohren und Geruchsinn meistens nach aussen wandern und der Knechtschaft des Körpers entfliehen. 242 Ihnen allen setzt der Weise nach, und nachdem er wahrgenommen, dass die früheren Bundesgenossen und Freunde leiden und dass Krieg statt Frieden unter den neun Mächten bestehe, weil nämlich die vier mit den fünf um die Herrschaft ringen, passt er den rechten Moment ab und stürzt sich plötzlich auf sie; denn er ist eifrig bestrebt, die Demokratie, die beste der Staatsverfassungen, statt der Tyrannen- und Dynastenherrschaften in der Seele herzustellen und Gesetz und Recht an Stelle [146] von Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit, die so lange geherrscht hatten. 243 Das Erzählte ist aber keineswegs eine Fabeldichtung, sondern eine ganz untrügliche Tatsache, die wir in uns selbst wahrnehmen; denn oft bewahren die Sinne den Empfindungen gegenüber den Frieden und übermitteln ihnen die sinnlichen Gegenstände, oft aber sind sie aufrührerisch und wollen nicht mehr das Gleiche leisten oder können es nicht wegen der Anwesenheit der warnenden Vernunft; sobald diese ihre volle Waffenrüstung angelegt hat, nämlich die Tugenden und ihre Lehren und Grundsätze, also eine unwiderstehliche Macht, trägt sie einen starken Sieg davon; denn Vergängliches darf mit dem Unvergänglichen nicht zusammenwohnen. 244 Die neun Mächte nämlich, die vier Affekte und die fünf Sinne, sind vergänglich und Ursachen der Vergänglichkeit; die Vernunft aber, die sich auf die Tugenden stützt und wahrhaft heilig und göttlich ist, die auch in der Zehn, der vollkommensten Zahl, ihre Stellung hat[47], begibt sich in den Kampf und besiegt alsbald die genannten Mächte kraft ihrer stärkeren göttlichen Machtfülle.

[42] 245 Einige Zeit später stirbt ihm die teure und ganz [36 M.] vortreffliche Gattin, die viele Beweise ihrer Gattenliebe gegeben hat: bei der Trennung von den Verwandten, bei der ohne Bedenken vollzogenen Auswanderung aus der Heimat, bei den fortwährenden und rasch aufeinander folgenden Wanderungen im fremden Lande, in den Entbehrungen während der Hungersnot, in der Teilnahme an seinen Kämpfen. 246 Denn immer und überall war sie dabei, an keinem Orte und zu keiner Zeit blieb sie zurück; sie nahm wirklich teil an seinem Leben und an allen Angelegenheiten seines Lebens, denn sie hielt es für ihre Pflicht, in gleicher Weise das Gute wie das Böse mit ihm zu teilen; nicht ging sie, wie es manche Frauen tun, dem Missgeschick aus dem Wege und lauerte immer nur auf die Glückszustände, sie nahm vielmehr [147] beide Seiten des Menschenloses, wie es einer Gattin zukommt und geziemt, mit voller Bereitwilligkeit auf sich. [43] 247 Ich könnte zwar viel Löbliches von der Frau erzählen, will aber nur eins erwähnen, was ein deutlicher Beweis auch für alles übrige sein wird (1 Mos. Kap. 16). Da sie kinderlos und unfruchtbar war, fürchtete sie, dass das gottgefällige Haus gänzlich ohne Nachkommenschaft bleiben könnte; sie trat deshalb an ihren Mann heran und sprach zu ihm: 248 „Schon lange leben wir zusammen in Wohlgefallen aneinander; aber Kindersegen, um dessentwillen wir selbst uns verbunden haben und die Natur die Vereinigung von Mann und Weib angeordnet hat, ist uns nicht zu teil geworden und auch in Zukunft bei mir, da ich schon zu alt geworden bin, nicht zu erwarten. 249 Doch du sollst durch meine Unfruchtbarkeit keinen Schaden haben; da du Vater werden kannst, sollst du dich aus Liebe zu mir nicht zurückhalten lassen; denn eifersüchtig würde ich nicht werden gegen eine andre, die du nicht aus unvernünftiger Begierde, sondern in Erfüllung eines notwendigen Naturgesetzes dir nehmen wirst. 250 Darum will ich es nicht hinausschieben, dir die Braut zuzuführen, die dir das ersetzen soll, woran es mir gebricht; und wenn meine Wünsche hinsichtlich des Kindersegens in Erfüllung gehen, so werden die Sprösslinge deine leiblichen Kinder sein und meine Adoptivkinder. 251 Damit aber kein Gedanke an Eifersucht aufkomme, nimm dir, wenn du willst, meine Dienerin, die zwar in leiblicher Hinsicht eine Sklavin, aber von freier und edler Gesinnung ist, die ich in langer Zeit geprüft und erprobt habe seit dem Tage, an dem sie zuerst in mein Haus gebracht wurde, ihrer Abstammung nach eine Aegypterin, nach ihren Anschauungen aber eine Hebräerin. 252 Wir haben einen bedeutenden Besitz und grossen Reichtum, nicht wie Ansiedler – denn wir überragen schon die Eingeborenen, die sich in glänzenden Vermögensverhältnissen befinden –, aber kein Erbe und Nachfolger hat sich eingefunden; den können wir bekommen, wenn du meinem Rate folgen willst“. 253 Der Weise bewundert noch mehr die stets neue und jugendfrische Gattenliebe seines Weibes und ihr Sinnen und Sorgen für [148] die Zukunft und nimmt die von ihr empfohlene (Dienerin) zu sich bis zur Geburt eines Kindes, wie jedoch gründliche [37 M.] Erklärer meinen, nur bis sie schwanger wurde; nachdem sie es alsbald geworden, habe er sich von ihr ferngehalten, sowohl infolge seiner natürlichen Enthaltsamkeit als auch aus Achtung gegen seine Gattin. 254 Damals also ward ihm ein Sohn von der Dienerin geboren, lange Zeit später aber ward ihnen, als sie die Hoffnung auf eigenen Kindersegen schon aufgegeben hatten, ein ehelicher Sohn geboren, da der allgütige Gott ihnen für ihre Tugendhaftigkeit einen über alles Erwarten hohen Preis gewährte.

[44] 255 Diese Probe von dem Verhalten der Frau möge genügen; zahlreicher sind die rühmlichen Taten des Weisen, von denen ich bereits einige erörtert habe. Ich will aber auch noch sein Verhalten bei dem Tode der Frau erwähnen, worüber schweigend hinwegzugehen nicht recht wäre. 256 Nachdem er nämlich eine solche Gefährtin seines ganzen Lebens, wie wir sie geschildert haben und die heilige Schrift sie kennzeichnet, verloren hatte, bezwang er wie ein Held den Schmerz, der sich seiner bemächtigen wollte und in seiner Seele kämpfte; er stärkte und kräftigte die natürliche Gegnerin der Gefühle, die Vernunft, die er das ganze Leben hindurch zu Rate zog und der er jetzt ganz besonders folgen wollte, da sie das Beste und Nützlichste empfahl. 257 Ihr Rat aber ging dahin, weder übermässig zu jammern wie über ein ganz neues und nie dagewesenes Unglück noch auch ganz empfindungslos zu bleiben, als ob nichts Schmerzliches sich ereignet hätte, sondern den Mittelweg statt der beiden Extreme zu wählen und zu versuchen, den Schmerz zu mässigen, der Natur, die den schuldigen Tribut fordert, nicht zu zürnen, sondern das Geschehene ruhig und gelassen zu ertragen[48]. 258 Ein Zeugnis dafür liegt in den heiligen Büchern [149] vor, die man nicht falschen Zeugnisses beschuldigen darf: sie erzählen nämlich, dass er, nachdem er kurze Zeit die Tote beweint hatte, alsbald „von der Leiche sich erhob“ (1 Mos. 23,3); denn offenbar war er der Meinung, dass ein Uebermass von Trauer unvereinbar sei mit der Weisheit, die ihn gelehrt hatte, den Tod nicht als ein Auslöschen der Seele, sondern als eine Loslösung und Trennung von dem Körper zu betrachten, da sie dahin geht, woher sie gekommen ist; gekommen aber ist sie, wie in der „Weltschöpfung“ gezeigt worden ist[49], von Gott. 259 Sowie nun kein Verständiger betrübt sein wird, wenn er eine Schuld abzahlt oder ein anvertrautes Gut dem zurückgibt, der es ihm zur Aufbewahrung übergeben hat[50], ebenso glaubte er auch nicht hadern zu dürfen, wenn die Natur das ihrige zurücknahm, sondern das Unabänderliche ruhig hinnehmen zu müssen. 260 Als nun die Angesehensten jener Gegend herbeikamen, um an seiner Trauer teilzunehmen, und nichts von alldem sahen, was in ihrer Mitte bei Trauerfällen üblich war, kein Jammern, keine Totenklage, kein Schlagen an die Brust, weder von Männern noch von Weibern, sondern nur stille und massvolle Trauer des ganzen Hauses, wunderten sie sich nicht wenig, wiewohl sie auch schon früher über die ganze Lebensweise des Mannes erstaunt waren. 261 Da konnten sie das Lob über so grosse und so herrliche Tugend – denn alles an ihm war ja ausgezeichnet – nicht in ihrer Seele verschliessen; [38 M.]sie traten an ihn heran und riefen aus: „ein König von Gott (gesandt) bist du unter uns“ (1 Mos. 23,6). Eine sehr richtige Bezeichnung; denn alle andern Regierungen werden von Menschen eingesetzt, in Kriegszeiten, bei Feldzügen, infolge von manchem Bösen, das die Herrschsüchtigen einander zufügen, indem sie sich gegenseitig aufreiben und Fussvolk und Reiterei und Seetruppen gegen einander aufstellen. Das Königtum des Weisen dagegen verleiht Gott, und wenn der [150] Tugendhafte es erhält, so fügt er keinem etwas Böses zu, sondern vermittelt allen seinen Untergebenen den Besitz und Genuss des Guten, indem er ihnen Frieden und gesetzliche Ordnung verheisst.

[45] 262 Es ist aber auch noch ein ausdrücklich verzeichnetes Lob vorhanden, das ihm durch einen göttlichen Ausspruch bezeugt wird, den Moses empfangen hat; von ihm wird (über Abraham) gesagt, dass „er Gott vertraute“ (1 Mos. 15,6), was sehr leicht auszusprechen, sehr schwer aber durch die Tat zu beweisen ist. 263 Denn wem anders soll man vertrauen? etwa der Macht oder dem Ruhm und Ehren oder ausserordentlichem Reichtum und vornehmer Geburt oder der Gesundheit und dem Besitze gesunder Sinne oder der Stärke und Schönheit des Körpers? Ist doch jede Macht etwas Schwankendes, da sie unzählige Gegner hat, die ihr Nachstellungen bereiten; und wenn sie auch einmal gesichert wird, so geschieht dies nur mit Hilfe vielfachen Leides, das die Machthaber bereiten und erdulden. 264 Auch Ruhm und Ehren sind ein sehr schwankender Besitz, denn er ruht unsicher auf urteilslosen Gesinnungen und flüchtigen Worten nicht erprobter Menschen; und wenn der Ruhm auch andauert, so enthält er doch seiner Natur nach kein echtes Gut. 265 Reichtum und edle Abkunft fallen auch den Schlechtesten zu; aber wenn sie auch den Tugendhaften allein zufallen, so ist das doch ein Verdienst der Vorfahren und des Schicksals, nicht der Besitzer. 266 Aber auch auf die körperlichen Güter darf man nicht stolz sein, da hierin die unvernünftigen Tiere uns überlegen sind; denn welcher Mensch ist stärker und kräftiger als der Stier unter den zahmen, als der Löwe unter den wilden Tieren? wer ist scharfsichtiger als der Falke oder der Adler? wer ist hinsichtlich des Gehörs so günstig gestellt wie das trägste Tier, der Esel? wer hat einen schärferen Geruchsinn als der Hund, von dem die Jäger behaupten, dass er mit seiner Spürnase zu der entfernten Jagdbeute zielbewusst hinläuft, ohne sie vorher gesehen zu haben? Denn was das Auge den andern Tieren ist, das sind die Nasenlöcher den Jagd- und Spürhunden. 267 Sehr gesund ist ferner und nahezu frei von Krankheiten die Mehrheit [151] der vernunftlosen Tiere. Aber in dem Wettstreit um die Schönheit können, wie mir scheint, selbst einige von den seelenlosen Dingen die Wohlgestalt von Männern und Frauen schlagen und übertreffen, nämlich Bildsäulen, Schnitzwerke, Gemälde, überhaupt alle gelungenen Werke der Malerei und Bildhauerkunst, die in diesen beiden Künsten geschaffen werden, und die Hellenen wie Barbaren sehr hoch schätzen, da sie sie zum Schmuck der Städte an hervorragenden Plätzen [39 M.] aufstellen. [46] 268 Ein wahres und sicheres Gut ist demnach allein das Vertrauen auf Gott, (worin enthalten sind) der Trost des Lebens, die Erfüllung guter Hoffnungen, das Fehlen alles Bösen und eine Fülle des Guten, das Aufgeben des Gefühls der Unseligkeit, die Erkenntnis der Gottesverehrung, der Besitz der Glückseligkeit und in jeder Hinsicht eine Veredlung der Seele, die sich fest stützt auf den Urheber aller Dinge, der alles vermag und das Beste will. 269 Denn wie die Menschen, die auf schlüpfrigem Wege wandeln, oft straucheln und hinfallen, während die auf trockener und vielbenutzter Strasse wandernden ihren Weg ohne Anstoss zurücklegen, so gewöhnen die, die ihre Seele den Weg der körperlichen und äusseren Dinge führen, sie nur daran zu fallen, denn diese sind ja schlüpfrig und sehr schwankend; die aber auf dem Wege der Tugendlehren zu Gott hinstreben, führen sie einen sichern Weg, auf dem sie nicht straucheln kann. So kann man in Wahrheit sagen: wer auf jene Dinge vertraut, hegt Misstrauen gegen Gott, wer aber jenen Dingen misstraut, der vertraut auf Gott.

270 Doch nicht blos das Vertrauen auf Gott, die Königin der Tugenden, bezeugen ihm die göttlichen Aussprüche; sie haben auch ihn zuerst als „den Aelteren“ bezeichnet (1 Mos. 24,1)[51], obwohl die Männer vor ihm dreimal und vielmal soviel Jahre gelebt haben; es wird uns aber von keinem von ihnen berichtet, dass er dieser Bezeichnung gewürdigt worden ist. 271 Und wohl mit Recht; denn die wahre Bezeichnung „der [152] Aeltere“ ist nicht in der Länge der Zeiten, sondern in einem lobenswerten und vollkommenen Leben begründet. Solche nun, die ein langes Leben nur mit dem Körper hinbringen, ohne Streben nach dem Schönen und Guten, muss man langlebige Kinder nennen, da sie niemals des grauen Haares würdige Kenntnisse sich angeeignet haben; wer dagegen Einsicht und Weisheit und Gottvertrauen liebt, kann mit Recht „ein Aelterer“ genannt werden, ebenso wie „der Erste“. 272 Denn der Weise ist in Wahrheit der Erste des Menschengeschlechts, wie der Steuermann auf dem Schiffe (der erste ist), der Herrscher im Staate, der Feldherr im Kriege, wie auch die Seele im Körper und die Vernunft in der Seele und wie der Himmel in der Welt und Gott im Himmel. 273 Und da Gott an dem Manne das Vertrauen zu ihm bewunderte, gab er ihm das Vertrauen zurück durch die eidliche Bekräftigung der Gnadenbeweise, die er ihm verheissen hatte, indem er, nicht nur wie sonst mit einem Menschen, sondern wie ein Freund mit dem Freunde sich mit ihm unterhielt; denn er sagt: „bei mir habe ich geschworen“ (1 Mos. 22,16); bei Gott ist zwar das Wort ein Eid, (aber er schwor,) damit die Seele unerschütterlich und fest, noch mehr als früher, vertraue. 274 Der „Aeltere“ und „Erste“ ist also und soll genannt werden der Weise, der „Jüngere“ und „Letzte“ dagegen jeder Unverständige, der nach Neuerungen strebt und nach Dingen, die als die letzten anzusehen sind. Soviel darüber. 275 Zu der Menge und Grösse der Lobsprüche über [40 M.] den Weisen setzt Moses gleichsam als krönendes Ende hinzu, dass dieser Mann das göttliche Gesetz und alle göttlichen Gebote beobachtet hat (1 Mos. 26,5), nicht durch Schriften belehrt, sondern ohne Schrift von der Natur, weil er sich eifrig bemühte, ihren gesunden und lebensfrischen Anregungen zu folgen. Was aber die Verheissungen Gottes betrifft, (so frage ich): was geziemt sich anders für die Menschen, als unerschütterliches Vertrauen in sie zu setzen? 276 Solcher Art ist das Leben des ersten Stammvaters unseres Volkes gewesen, ein gesetzestreues, wie manche sagen werden, wie aber meine Darstellung gezeigt hat, war es selbst Gesetz und ungeschriebene göttliche Satzung.


  1. Philo gebraucht bei sprachlichen Erklärungen den Ausdruck „Chaldäer“ gleichbedeutend mit „Hebräer“.
  2. Die Worte Χαλδαῖοι – καλοῦσιν sind als Parenthese zu fassen. [L. C.]
  3. Philo folgt der Uebersetzung der Sept., die statt אָז הוּחַל‎ (damals ward angefangen) זֶה הוֹחִל‎ (dieser hoffte) gelesen zu haben scheint.
  4. Der griechische Ausdruck für „Tinte“ ist τὸ μέλαν (das Schwarze).
  5. d. h. der, nach dem das Jahr benannt wird.
  6. Da Seth als Ersatz für Abel bezeichnet ist, so zählt Philo wohl folgendermassen: Adam, Kain, Seth, Enos.
  7. Die Septuaginta übersetzt קדש הלולים‎ durch ἅγιος αἰνετός Philo bezieht die von der Frucht des vierten Jahres gebrauchten Worte mit auf die Zahl vier.
  8. Vgl. Ueber die Weltschöpfung § 47ff.
  9. Diese Etymologie beweist Philos Unkenntnis des Hebräischen; er leitet nämlich חנוך‎ von חֵן‎ ab.
  10. Philo deutet Enoch wegen des Ausdrucks μετετέθη (wie die Septuaginta das hebräische Wort לקח‎ übersetzt) als Symbol der Reue über früheres unfrommes Leben. Ebenso heisst es im griechischen Text des Jesus Sirach XLIV 16: Ἐνὼχ εὐηρέστησε κυρίῳ καὶ μετετέθη ὑπόδειγμα μετανοίας ταῖς γενεαῖς WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt (Enoch gefiel Gott und wurde versetzt, ein Beispiel der Reue für die Geschlechter). Aber eine Handschrift hat διανοίας für μετανοίας und der jüngst aufgefundene hebräische Text hatאות דעת‎ (ein Beispiel der Erkenntnis). Also ist μετανοίας im Sirachtext, wie schon Z. Frankel (Einfluss d. paläst. Exegese S. 44) vermutete, spätere Korrektur (aus Philo?). Vgl. R. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach (Berlin 1906) S. 421. Die palästinische Haggada erklärte den Bibelvers umgekehrt dahin, dass Enoch von Gott hinweggenommen wurde, weil er in seiner Frömmigkeit schwankend war; vgl. Beresch. R. c. 25. Dieselbe Auffassung zeigt der Verfasser der Weish. Sal. IV 11: „er wurde entrückt, damit nicht Schlechtigkeit seinen Sinn änderte oder Arglist seine Seele betörte“.
  11. „Der blinde Reichtum“ ein Lieblingsausdruck Philos zur Bezeichnung des Besitzes an äusseren Gütern. Die Redensart ist aus Plato entlehnt (Gesetze p. 631 c πλοῦτος οὐ τυφλὸς ἀλλ' ὀξὺ βλέπων).
  12. Philo unterscheidet hier sieben Seelenkräfte; sonst hat er die stoische Einteilung in acht. Vgl. Ueber die Weltschöpfung § 117.
  13. Aehnlich deutet der Midrasch diesen Vers. Beresch. R. c. 30: „Worin bestehen die Früchte des Gerechten? In treuer Pflichterfüllung und guten Werken.“ Tanchuma Noach 2: „Die Nachkommenschaft des Gerechten sind seine guten Werke“.
  14. Aehnlich wird im Midrasch Beresch. R. c. 30 zu den Worten איש צדיק‎ bemerkt: „Ueberall wo das Wort ‚Mann‘ vorkommt, ist ein Gerechter gemeint“.
  15. Auch der Midrasch findet in dem Worte בדרתיו‎ „in seinen Zeiten“ eine Einschränkung. Manche legen es zu seinem Tadel, manche zu seinem Lobe aus. Zu seinem Tadel: im Vergleich mit seiner Umgebung konnte Noah als gerecht und vollkommen gerühmt werden, nicht aber im Zeitalter eines Moses oder Samuel. Zu seinem Lobe: trotz seiner sündhaften Umgebung war er gerecht, aber im Zeitalter eines Moses oder Samuel wäre er es noch viel mehr gewesen. Beresch. R. c. 30.
  16. Die griechische Benennung der Grazien (Χάριτες) und der Ausdruck, der „verleihen, schenken, anbieten“ bedeutet (χαρίζεσθαι), gehören zu demselben Stamm.
  17. Philo deutet in seinen allegorischen Erklärungen Israel als ὁρῶν θεόν „Gott schauend“; er erklärt nämlich nach einer sonderbaren Etymologie ישראל‎ durch איש ראה אל‎.
  18. Vgl. Beresch. R. c. 44 zu 1 Mos. 15,5: „Gott sprach zu ihm: ein Prophet bist du und kein Astrolog.“ Talm. Nedarim f. 32a: צא מאיצתגנינות שלך‎ „reisse dich los von deinen astrologischen Irrtümern“.
  19. Vgl. Ueber die Weltschöpfung § 19.
  20. Philo leitet חרן‎ von חר‎ (Höhle) ab.
  21. Im Griechischen lauten die beiden Namen Ἄβραμ und Ἀβραάμ.
  22. Philo deutet אברם‎ als אב רם‎ und אברהם‎ als אב בר הם (המון)‎.
  23. Auch der Midrasch erzählt, dass Sara, als sie bei Pharao war, die ganze Nacht zu Gott betete, und dass Gott ihr Gebet erhörte. Beresch. R. c. 41 zu 1 Mos. 12,17.
  24. Aehnlich sagt der Midrasch Beresch. R. c. 48 zu 1 Mos. 18,3: „er redete, wie R. Chija lehrte, den grössten unter ihnen an, den (Engel) Michael“. Vgl. auch Talm. Schabuot f. 35b.
  25. Die Lesart der Handschrift C πρὸς ἀνθρώπων verdient hier den Vorzug vor der der übrigen Hss. πρὸς ἀνθρώπους. [L. C.]
  26. Dasselbe sagt der Midrasch. Vgl. Talm. Baba Mezia fol. 86 b, Midr. Beresch. R. c. 48 zu 1 Mos. 18,8 u. Targ. Jonathan z. St. Ebenso Josephus Altert. I § 197.
  27. Philo deutet in seinen Schriften häufig die in der Septuaginta gebrauchte Bezeichnung θεός (= אלהים‎) als die schöpferische und wohltuende und die Bezeichnung κύριος (= יהוה‎) als die regierende und strafende Kraft Gottes. Vgl. Einl. S. 19. Das Wort θεός bringt er nach einer alten Etymologie (Herodot 2,52) mit dem Verbum τίθημι (setzen) zusammen. Wenn übrigens Philo an unserer Stelle den Mittleren den nennt, „der in der heiligen Schrift der Seiende genannt wird“, so denkt er vermutlich an die Stelle 2 Mos. 3,14, wo die Septuaginta übersetzt ἐγώ εἰμι ὁ ὤν (ich bin der Seiende) und ὁ ὢν ἀπέσταλκέν με (der Seiende schickt mich).
  28. Sprichwörtliche Redensart von einem, der einen zweiten Versuch macht, nachdem ihm der erste misslungen.
  29. Ein Zitat aus einem Stücke des Komödiendichters Menander.
  30. παιδοσποροῦντες ist wohl in παιδοφθοροῦντες zu korrigieren. [L. C.]
  31. Vgl. Weish. Salom. X 6. 7. Josephus, Jüd. Krieg IV § 483f. Altert. I § 194f.
  32. Auch nach dem Midrasch hatte einer der drei Engel den Auftrag, Sara die Botschaft zu bringen, die beiden andern, Sodom zu zerstören und Lot zu retten. Vgl. Beresch. R. c. 50 zu 1 Mos. 19,1. Talm. Baba Mezia f. 86b. Joseph. Altert. I § 198.
  33. S. die Anm. z. „Weltschöpfung“ § 75. Vgl. auch Echa R. c. 2 zu Echa 2,1. Tanchuma P. Tasria 9 bei Erklärung des Psalmwortes (Ps. 5,5) לא יגורך רע‎.
  34. d. h. im Kopfe.
  35. Dass die Augen des Lichts bedürfen, um zu sehen, lehrte Aristoteles (de anima II 7 p. 418 b).
  36. den Geschmacksinn, den Geruchsinn, den Tastsinn.
  37. Vgl. Ueber die Weltschöpfung § 53f. Der Gedanke stammt aus Plato (Tim. p. 47).
  38. Philo nimmt hier keine Rücksicht darauf, dass die Worte der Septuaginta über die gerettete Stadt (1 Mos. 19,20) οὐ μικρά ἐστι ein Fragesatz sind.
  39. Ebenso beginnt Josephus Altert. I § 222 die Erzählung von der Opferung Isaaks mit der Bemerkung, dass Isaak wegen seiner Tugenden die zärtliche Liebe seiner Eltern ganz besonders verdiente.
  40. Gymnosophisten hiessen bei den Griechen die Brahmanen, die als Büsser und Einsiedler ein beschauliches Leben führten und oft freiwillig dem Leben entsagten (vgl. Lassen, Ind. Altertumsk. III 362ff.)
  41. Die indische Sitte der Witwenverbrennung war zu Philos Zeit aus den Berichten des Megasthenes und anderer griechischer Historiker bekannt.
  42. Woher Philo dieses Zitat hat, ist nicht bekannt.
  43. Philo unterscheidet, wie Aristoteles, drei verschiedene Güterklassen: seelische Güter (τὰ περὶ ψυχήν, die Tugenden), körperliche Güter (τὰ περὶ σῶμα, Gesundheit, Schönheit, Stärke) und die äusseren Güter (τὰ ἐκτός, WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt Reichtum, Ehre, Ruhm, edle Abstammung). Die Geringschätzung der äusseren Güter ist besonders stoische Anschauung.
  44. „Sättigung erzeugt Uebermut“, ein altes griechisches Sprichwort, das zuerst aus einem Gedichte Solons zitiert wird.
  45. Die griechischen Worte für Tod (τελευτή) und Ende (τέλος) gehören zu demselben Stamm.
  46. Aehnlich ausgeschmückt ist die Erzählung bei Josephus Altert. I § 177: „Nachdem er (Abraham) beschlossen hatte, ihnen zu Hilfe zu kommen, zögerte er nicht, sondern zog eilends heran und überfiel die Assyrer in der fünften Nacht ...; er drang auf sie ein, bevor sie noch zu den Waffen greifen konnten, und tötete die einen, die sich schon niedergelegt hatten, ohne dass sie merkten, was geschah, die andern, die noch nicht zur Ruhe gegangen waren, aber vor Trunkenheit unfähig waren zu kämpfen, wandten sich zur Flucht. (178) Abraham aber verfolgte sie ...; er lieferte den Beweis, dass der Sieg nicht von der Zahl und Menge der Streiter abhängt, dass vielmehr der entschlossene Mut und die tapfere Gesinnung der Kämpfenden mehr wiegt als die Zahl“.
  47. Die Vernunft steht als zehnte Macht der Neunzahl der (fünf) Sinne und der (vier) Affekte gegenüber. Ueber die 10 als vollkommenste Zahl vgl. Ueber die Weltschöpfung § 47.
  48. Philo sieht in Abrahams Verhalten beim Tode Saras die Befolgung der philosophischen Grundsätze über die Trauer, wie sie in den von Philosophen verfassten Trostschriften erörtert zu werden pflegten. Schon der Akademiker Krantor hatte in seinem Buche über die Trauer die Metriopathie, d. h. den rechten Mittelweg zwischen massloser Schmerzäusserung und vollständiger Gefühllosigkeit, als für den Weisen allein passend empfohlen (Cic. Acad. II 135 Tusc. III 12. Plut. Consol. ad Apoll. 3).
  49. Ueber die Weltschöpfung § 185.
  50. Vgl. Abot R. Nathan c. 14: (R. Eleasar sagte zu R. Jochanan b. Sakkai): „dein Sohn wurde sündenfrei von dieser Welt abberufen, deshalb tröste dich, dass du den dir zur Aufbewahrung anvertrauten Gegenstand unversehrt zurückerstattest“.
  51. Die Septuaginta übersetzt die Worte ואברהם זקן‎ durch καὶ Ἀβραάμ ἦν πρεσβύτερος (ein älterer Mann). Das Wort πρεσβύτερος hat aber zugleich die Bedeutung „ehrwürdig“. Vgl. auch Midr. Beresch. R. c. 59 zu 1 Mos. 24,1.
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