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ADB:Herder, Johann Gottfried

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Artikel „Herder, Johann Gottfried“ von Rudolf Haym in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 12 (1880), S. 55–100, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Herder,_Johann_Gottfried&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 15:30 Uhr UTC)
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Band 12 (1880), S. 55–100 (Quelle).
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Herder: Johann Gottfried H. wurde am 25. August 1744 in dem ostpreußischen Städtchen Mohrungen „in einer dunklen, aber nicht dürftigen Mittelmäßigkeit“ geboren. Sein Vater, der Sohn eines aus Schlesien eingewanderten Ackerbürgers, versah, nachdem er das Weberhandwerk aufgegeben, den Dienst eines Glöckners, Cantors und Elementarlehrers und hatte sich in zweiter Ehe mit Anna Elisabeth Pelz, der Tochter eines Mohrunger Huf- und Waffenschmiedes, verheirathet. Johann Gottfried war das dritte von fünf Kindern und, da ein jüngerer Bruder früh starb, der einzige überlebende männliche [56] Sproß dieser Ehe. Als „ein verwöhntes und mütterliches Kind“ wuchs er auf. Der Zärtlichkeit der frommen, häuslich fleißigen Mutter hielt indes der Ernst des stilleren, treu in seinem Berufe wirkenden Vaters und das Ganze der häuslichen Lage das Gleichgewicht. Strenge Ordnung, Friede und altväterische Frömmigkeit walteten in dem einfachen Hause, das den begabten Knaben einschränkte, aber seinem weichen Gefühl zugleich unvertilgbare Eindrücke fürs Leben mitgab; hier ist ihm die Bibel über alle Bücher lieb geworden, hier haben die Lieder des Gesangbuchs zuerst seinen Sinn für Poesie und Musik geregt. Nachdem er seine Elemente im elterlichen Hause gelernt hatte, besuchte er die Mohrunger Stadtschule. Ueber etwa 30 Köpfe regierte in dieser als unumschränkter Alleinherrscher ein kränklicher und daher übellauniger alter Mann, der Rector Grim. Mit harter Zucht, nach einer groben pedantischen Methode brachte derselbe seinen Schülern das nöthigste von den höheren Schulkenntnissen bei; begabtere und strebsamere Lieblingsschüler förderte er in besonderen Stunden weiter: ihm verdankte H. eine gründliche Kenntniß der lateinischen Grammatik, das nöthigste Griechisch bis zum Homer, die Anfänge des Hebräischen und einen Vorschmack der theologischen und philosophischen Universitätsdisciplinen. Mit unersättlicher Lern- und Leselust kam der Knabe dem Lehreifer seines Rectors entgegen; gegen die trockne und geistlose Härte der Schulunterweisung aber wehrte er sich innerlich durch ein Niemandem als ihm selbst vertrautes Phantasie- und Empfindungsleben. Es war früh seine Gewohnheit, in einsamem Verkehr mit der Natur, in seinem Garten oder auf Lieblingsspaziergängen in der bescheiden-anmuthigen Gegend Gedankenträumen, belebt von Plänen des Ehrgeizes, nachzuhängen oder mit poetischen Bildern zu spielen, zu denen neben den geliebten Feen- und Zaubermärchen die Dichtungen des Alterthums und die Bibel Beiträge lieferten und die am öftesten die Farbe des Erhabenen, des Rührenden und des Schaurigen trugen. Einem so gestimmten Gemüth stellte sich natürlich der geistliche Beruf als das erwünschteste Ziel vor; das Beispiel und die Meinung des ehrwürdig milden Pfarrers Willamovius[WS 1], des Freundes seiner Eltern, der ihn zur Confirmation vorbereitete, der „Eindruck von Kirche und Altar“, dem Küsterssohne so nahe gelegt. – Alles wirkte in derselben Richtung. Allein seit seinem fünften Jahre entstellte eine Thränenfistel am rechten Auge das Gesicht des Knaben. Darum und wegen der geringen Mittel der Eltern rieth der Amtsgenosse des alten Willamovius, der im J. 1760 an der Mohrunger Stadtkirche als Diaconus angestellte Trescho durchaus vom Studiren ab. Einstweilen bis der Körper des Knaben sich gefestigt und ihm die Erlernung eines Handwerks möglich gemacht haben würde, nahm er ihn als Famulus in sein Haus. Der eigenliebige Mann hatte dabei mehr seinen als des Knaben Vortheil im Auge; denn ein unermüdlicher Vielschreiber, der immer eine schöngeistige, pietistisch-erbauliche Schrift nach der anderen in die Welt setzte, konnte er sich keinen besseren Abschreiber wünschen, als den kenntnißreichen jungen Mann mit der zierlichen Handschrift. Es war ein harter Dienst, den unter allerlei unwürdigen Zumuthungen der strebsame Knabe zu erdulden hatte. Ein Dienst nichtsdestoweniger, der ihm mannichfache Gelegenheit gab, sein litterarisches Wissen zu erweitern. Der Lehrjunge eines routinirten Schriftstellers, sah er diesem die Handwerksgriffe ab und lernte in weitem Umfange die Hülfsmittel des Handwerks kennen. Die freie Benutzung der Bibliothek seines Prinzipals machte ihm manchen griechischen und römischen Autor, manchen der älteren, vor allem aber die neuen deutschen Dichter bekannt, mit denen Trescho selbst in seiner Weise sogern gewetteifert hätte und unter denen Kleist und Lessing bald neben Klopstock des Knaben Lieblinge wurden. Das war die gute Seite des drückenden Verhältnisses. Der Druck selbst konnte nicht wohlthätig auf die [57] weiche jugendliche Seele wirken. Sie schloß sich schüchtern und verbittert zusammen, sie sammelte und steigerte in unnatürlicher Spannung ihre Kräfte, die sie nach außen zu richten verhindert war, sie wurde im Dulden reizbar und entschädigte sich für die versagte Freiheit durch verdoppelte Einbildsamkeit. Die außergewöhnliche Wißbegierde und die Begabung seines Famulus war dem Herrn Diaconus nicht verborgen geblieben, aber seinen Sklaven freizugeben, konnte er trotzdem nicht über sich gewinnen. Einstmals hatte der Jüngling – er war nun über 17 Jahre alt – heimlich eine Manuscriptsendung von Trescho an den Buchhändler Kanter in Königsberg mit einem anonymen eigenen Gedicht auf die Thronbesteigung des Czaren Peters III. – „Gesang an den Cyrus“ – begleitet. Das schwungvolle, von Kanter sofort gedruckte Gedicht war in Königsberg bewundert worden; allein für den jungen Dichter, der sich nun vor seinem Prinzipal verrathen sah, blieb auch dieser Vorfall ohne Folgen. Erst einem Fremden sollte er seine Befreiung aus einem Zustande verdanken, in dem er „betäubt, unwissend, blindlings“ verharrte, um an seine höhere Bestimmung nur träumend zu glauben. Um dieselbe Zeit, im Winter von 1761 auf 62 stand ein aus dem siebenjährigen Kriege zurückkehrendes Regiment Russen zu Mohrungen. Der Regimentschirurgus – er soll Schwarzerloh geheißen haben – lernte in Trescho’s Hause den begabten Jüngling kennen. Er erbot sich, wenn er ihm nach Königsberg folgen wolle, ihm gegen einen litterarischen Gegendienst zur Erlernung der Chirurgie behülflich sein zu wollen und eröffnete ihm die Aussicht, daß er in diesem Berufe später in Petersburg sein Glück machen könne. Wie fremd die Aussicht war – H. ergriff mit Begier die rettende Hand. Den zweiten Act der Befreiung übernahm er selbst. In Königsberg angelangt, durchkreuzte er die Pläne, die sein gütiger Patron mit ihm vorhatte. Rasch entschlossen, ließ er sich am 10. August 1762 als Studiosus der Theologie immatriculiren, um fortan, einzig auf sich gestellt, sich selbst und dem Rufe seines Genius zu folgen.

Unmittelbar mit seiner Immatriculation hatte er Aufnahme im Collegium Fridericianum gefunden. Als Inspicient an dem Pensionate dieser Anstalt und als Lehrer angestellt, gewann er in einer eifrig und glücklich geübten pädagogischen Thätigkeit sehr bald die Anerkennung seiner Vorgesetzten und mit dem Erfolg dieser Thätigkeit Zutrauen zu sich selbst. Wenige, aber innig gehegte Freundschaftsverhältnisse mit gleichgesinnten Altersgenossen gaben seinem Herzen Befriedigung. Auch in die Häuser gebildeter Familien eröffnete sich ihm der Zutritt, und so fiel das Gefühl der Armuth und des Verlassenseins, die ihm früher eigene Blödigkeit von ihm ab. Nicht eben viel boten dem längst an Selbststudium und an ausgedehnte Lectüre Gewöhnten die theologischen Fachvorlesungen. Aber Kant, der damals noch jugendliche Magister Kant, war sein Lehrer. Noch ein Menschenalter später, noch als Gegner der kritischen Philosophie, hat er bezeugt, was er dem persönlichen Umgang mit dem verehrten Manne und den Vorlesungen desselben verdanke, die den Reiz der Erfahrungswissenschaften mit dem Zauber sokratischer Strenge und Laune verbanden. Dort fand ebenso sehr sein Wissensdurst, wie seine Empfänglichkeit für große, erhebende Ideen Nahrung. In freier Reproduction des Gehörten machte er sich den Sinn Kant’s zu eigen, der eben damals unter dem Einfluß der englischen Erfahrungsphilosophie vom Wolf’schen Dogmatismus sich losrang. Von Kant wurde er namentlich auf Hume und Rousseau gewiesen, und begeistert versuchte er es, Kant’sche und Rousseau’sche Gedanken in überschwängliche Verse zu kleiden. Denn ein drangvolles Empfinden, das gern eine poetische Form finden möchte, ringt in seiner Seele mit einem Chaos von unentwickelten Gedankenkeimen, von bunt sich drängenden Lesefrüchten und Wissensfragmenten. Solch einen Jüngling zu verstehen, [58] ihn zu befruchten und zu leiten, war mehr noch als Kant der merkwürdige Mann geeignet, der damals bereits durch seine Sokratischen Denkwürdigkeiten und die Kreuzzüge des Philologen den Kampf gegen den aufklärerischen Zeitgeist begonnen hatte, der die Aufgabe seines Lebens wurde. Sehr bald war H. mit Hamann, dem Magus im Norden, bekannt geworden und, gefesselt von dessen Persönlichkeit, schloß er sich innig an den um 14 Jahre Aelteren an. Von ganzer Seele erwiderte Hamann die Zuneigung des Jünglings. Nicht blos ins Englische, in die Kenntniß und das Verständniß Shakespeare’s – in eine Welt von Anschauungen, die sich alle schließlich um den einen Punkt drehten, daß das Lebendige sich nicht durch Begriffe erschöpfen, daß alles Geistige nur aus dem Ganzen der Menschennatur zu verstehen sei, führte er seinen Jünger ein. Zu Allem – es ist nicht zu viel gesagt – was H. im Laufe der Jahre entwickelt und verkündet hat, liegen die Keime irgendwie in den ihm durch Hamann gewordenen Anregungen. Mannigfach sind diese Anregungen durch die Einflüsse anderer bedeutender Geister gekreuzt worden; er ist zeitweise weit von der Sinnesweise des Mannes abgelenkt worden, aber doch nur um nach jeder Entfernung immer wieder zu ihr zurückzulenken und um noch zuletzt versichern zu können, sein Glaubensbekenntniß sei Hamann’s Glaubensbekenntniß, die Philosophie Hamann’s die einzig wahre von der Zeit bewährte Philosophie.

Auch zu Gedichten und Recensionen für die von Kanter 1764 gegründete Königsbergische Zeitung wurde H. durch Hamann, der eine kurze Zeit lang dieselbe redigirte, herangezogen. Durch diese und ähnliche Leistungen war Hamann’s Freund, der den schönen Wissenschaften eifrig ergebene Rector Lindner in Riga auf den auch als Schulmann gerühmten jungen Mann aufmerksam geworden. Ihm verdankte er die nächste wichtige Wendung seines Lebensschicksals – seine Berufung zum Collaborator an die städtische Domschule in Riga. Nicht ganz drittehalb Jahre hatte sein Studienaufenthalt in Königsberg gedauert. Am 22. Novbr. 1764 verließ der Zwanzigjährige die Stadt, wo er „gelehrt, studirt und geschwärmt“ hatte. Er trat in eine völlig andere Situation. In die gastlichen Kreise der Rigaer Bürgeraristokratie, unter denen das Berens’sche Haus (vgl. Bd. II. S. 359) obenan stand, eingeführt, bewegte er sich hier in ausgebreiteter Geselligkeit. Während er den Verkehr mit dem ihm von Königsberg her befreundeten, jetzt als Buchhändler in Riga eingesessenen Hartknoch fortsetzen, eine Zeit lang auch mit dem nach Mitau verschlagenen Hamann Besuche wechseln konnte, knüpfte sich mit der Frau des Kaufmanns Busch ein Verhältniß empfindsam vertraulicher, theilnehmend hülfreicher Freundschaft – das Vorbild manches späteren Verhältnisses zu Frauen, die von der Wärme seines Herzens, der Zartheit seines Verständnisses, der Liebenswürdigkeit seiner Mittheilung sich angezogen fühlten. Aber nicht blos durch gesellige Talente, sondern durch sein ganzes Auftreten und Wirken gewann er die Zuneigung der Rigenser. In seinem Lehramt bewährte er sich als den anregendsten Lehrer. Neben seinem litterarischen war es sein pädagogischer Ruf, der ihm im April 1767 eine Vocation als Inspector einer Petersburger Lehr- und Erziehungsanstalt eintrug. Die Rigenser wußten ihn zu halten, indem sie ihm zu seinem Schulamt ein Predigtamt, die eigens für ihn geschaffene Stelle eines Pastor adjunctus an den beiden vorstädtischen Kirchen übertrugen. Schon damals übte er diesen Predigerberuf, zu dem ihn ein erstes theologisches Examen schon 1765 befähigt hatte, mit Vorliebe. Er übte ihn in verwandtem Sinn wie seinen Lehrerberuf. Es galt ihm, gestützt auf die Bibel, in freier, herzlicher, undogmatischer Weise Kultur und Menschenverstand, „menschliche Philosophie“, wie er sich ausdrückt, unter den ehrwürdigen Theil der Menschen zu bringen, den man Volk nenne. Der Zug aufs Praktische und Nützliche, der alles Bildungsstreben in der rührigen [59] Handelsstadt begleitete, übte sichtbar seinen Einfluß auf ihn. Unwillkürlich bequemte er sich diesem realistischen Geiste, indem er ihn zugleich von höheren Gesichtspunkten und idealen Motiven aus zu vertiefen und zu veredeln wußte. In gleicher Absicht, zur Verkündigung und Ausbreitung jener „menschlichen Philosophie“ betheiligte er sich auch mit einzelnen Beiträgen an den „Rigischen Anzeigen“, wurde er ein Mitglied der dortigen Freimaurerloge. Mehr noch. Auch mit den politischen Interessen seiner neuen Mitbürger wuchs er, je länger je mehr zusammen. „Riga“, heißt es in der Schulrede, die er bei seiner feierlichen Einführung in die Domschule hielt, „das unter russischem Schatten beinahe Genf ist“. Er liebte diese Republik, wo er völlig frei leben, lehren und handeln konnte. Ein guter Rigenser, war er, den sein preußisches Geburtsland durch seine militärischen Einrichtungen abgestoßen hatte, zugleich ein russischer Patriot. Namentlich die Festschrift, die er auf Anlaß des am 11. Oct. 1765 eingeweihten neuen Gerichtshauses über die Frage: „Haben wir noch jetzt das Publicum und Vaterland der Alten?“ verfaßte, athmet ganz diese patriotische Gesinnung. Bei alledem ging er in dieser Localwirksamkeit und diesen Localgesinnungen nicht auf. Wol wirkte die Umgebung, in der er stand, die Rücksichten, die er in seinem zwiefachen Amte auf gerade dieses Publicum und gerade diese Verhältnisse zu nehmen sich gedrungen fühlte, auf seine ganze Anschauungsweise bedeutsam ein: aber daß er so lebendig, so zuversichtlich und mit nie versagender Begeisterung in die Aufgaben eingreifen konnte, die ihm hier gestellt waren, daß er zum Träger einer höheren Bildung für die Rigenser wurde, das floß aus dem, was er schon vorher besaß. Die während dieser Zeit entstandenen Zeitungsbeiträge – diese kleinen Aufsätze und Recensionen, diese Festschriften, Reden und Gelegenheitsdichtungen waren doch nur einzelne Funken, welche zufällig aus der Werkstätte seines Geistes nach außen stoben. Ganz andere Materialien hatten sich längst in dieser Werkstätte angehäuft, und Werke waren von ihm in Angriff genommen, die zu fördern er jede freie Stunde benutzte, die Amt und Gesellschaft ihm übrig ließen. Von Königsberg her hatte er die Themata und die Entwürfe dazu mitgebracht. Neben theologischen und philosophischen Studien hatte er schon dort sich von der Strömung forttragen lassen, welche unserem geistigen Leben eben damals einen ganz neuen Impuls gab, von dem auf die ästhetische Kritik, auf die Ergründung des Wesens der Dichtung gerichteten Streben. Im Zusammenhang mit seinen eigenen unreifen Versuchen, sich auf die Höhe der Ode und des Dithyrambus zu schwingen, hatte er schon in Königsberg eine Abhandlung über die Ode begonnen. Gerade in den Mittelpunkt der Poesie, in die geheimnißvolle Region der Empfindung, aus welcher die Lyrik entspringt, trug ihn der Zug seiner Natur. Fußend auf dem Hamann’schen Worte, daß „Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“ sei, glaubt er behaupten zu dürfen, daß die Muttersprache der Dichter das Lied, daß die Ode „das erstgeborene Kind der Empfindung, der Ursprung der Dichtkunst und der Keim ihres Lebens“ sei. Weil das lyrische Gedicht von der Logik des Affekts, nicht von der Logik des Verstandes beherrscht ist, so ist die Einheit desselben eine sinnliche Einheit, und daher denn der durch und durch individuelle Charakter und wiederum dieses individuellen Charakters wegen die Proteusnatur dieser Dichtungsgattung, die er daher sofort in einer genetischen Geschichte der Dichtkunst überhaupt zu verfolgen sich anschickt. Diese Arbeiten indeß blieben als Bruchstücke liegen. Seine Ideen öffentlich vorzutragen, bedurfte der junge Mann der Anlehnung an ein fremdes Werk. Es waren die berühmten „Briefe die neueste Litteratur betreffend“, jene zwischen 1759–65 erschienene kritische Zeitschrift, in welcher vor allem Lessing im Bunde mit Mendelssohn und Nicolai, dann, nach Lessing’s Rücktritt, Abbt Umschau über die zeitgenössische [60] deutsche Litteratur gehalten und zu einem höheren Streben den Grund gelegt hatten. Begierig hatte H. die Briefe gelesen und wieder gelesen. Im Lesen und Excerpiren war er selbst zum Kritiker geworden. Unter der Hand waren ihm zahlreiche Exkurse und Zusätze zu den Briefen entstanden. Jetzt in Riga, von Hamann beständig berathen, arbeitet er sie um, und so erscheinen anonym im Herbst 1766 eine erste und zweite, zur Ostermesse 1767 eine dritte Sammlung von Fragmenten „über die neuere deutsche Litteratur“, „Beilagen“, wie es auf dem Titel weiter lautete „zu den Briefen die neueste Litteratur betreffend“. Wir stehen – da doch das kleine, noch vor den Fragmenten 1766 erschienene theologische Schriftchen: „Ueber einen neuen Erläuterer der Dreieinigkeit“ offenbar nur eine erweiterte Recension ist – vor Herder’s bedeutendem Erstlingswerk. Man fühlt sich in demselben wie in ein anderes geistiges Klima versetzt. Denn bei allem Anschluß an die Urtheile eines Mendelssohn, Abbt und Lessing schwebt diesem Autor doch ein ganz anderes Ideal der Kritik vor. Er verlangt, daß der Kunstrichter als Freund und Gehülfe des Verfassers lese, daß er „ein Pygmalion seines Autors werde“ – er stellt der zersetzenden eine mehr hülfreich suchende, der negativen eine positiv-charakterisirende Kritik gegenüber. Und nun thut sich vor unseren Augen der Naturboden aller Litteratur auf, nun öffnet sich eine große geschichtliche Perspective. H. zeigt, wie die litterarischen Erzeugnisse jeder Nation durch den Genius ihrer Sprache bedingt sind, wie überall Gedanke und Ausdruck innigst zusammenhängen und wie in den aufeinanderfolgenden Lebensaltern einer Sprache sich die schöpferische Thätigkeit allmählich von der einfachsten Poesie zu den Formen der Prosa erhebt. Nach allen Seiten hin diese Gesichtspunkte verfolgend, redet er den Idiotismen und Inversionen das Wort, spricht er aufs Einsichtigste über Synonymik und über die Bedingtheit des Versmaßes durch die Natur der Sprache. Weiter beschäftigt den Verfasser die Untersuchung, was für unsere Dichtung durch die so oft angepriesene Nachahmung zu gewinnen sei. Er zeigt, wie nichtig im Grunde dieses ganze Nachahmen sei, wenn doch die orientalische Poesie z. B. bedingt ist durch die von der unsrigen so gänzlich verschiedene orientalische Natur, Religion, Sprache und Denkweise. Nicht anders in Beziehung auf die Nachahmung der Griechen. Eingehendes Studium des fremden Geistes, durch Uebersetzungen gefördertes Verständniß der fremden Werke, Versetzung in die poetische Denkart aller dichtenden Völker – das sind die Mittel, die eigene Schöpfungs- und Erfindungskraft zu wecken. Noch nachdrücklicher endlich wendet sich die dritte Sammlung gegen die verhängnißvolle Herrschaft, welche so lange Zeit die lateinische Sprache und Litteratur auf die geistige Entwickelung unserer Nation ausgeübt habe, um daran die Mahnung zu knüpfen, daß wir uns auf unsere Eigenthümlichkeit von neuem besinnen, zu unserer eigenen älteren Sprache und Litteratur zurückgreifen möchten. Parallel aber den Auseinandersetzungen über das Nachahmen schärft ein Abschnitt über den neueren Gebrauch der Mythologie noch einmal den Fundamentalsatz ein: nicht die Erfindungen, sondern die Kunst des Erfindens, die Technik der mythologisirenden Einbildungskraft haben wir den Alten abzulauschen, ihre Mythologie als eine poetische Heuristik zu studiren.

Die „Fragmente“ waren nach dem ursprünglichen Plan mit diesen drei Sammlungen noch nicht abgeschlossen. Es ist indes die Regel bei H., daß immer eine Schrift durch eine andere verdrängt wird. Für diesmal war es die Nachricht von dem Tode Thomas Abbt’s, desjenigen Mitarbeiters der Litteraturbriefe, zu dem er am meisten sich hingezogen fühlte, wodurch er von der Fortführung der Fragmente abgelenkt wurde. Ihm und mit ihm zwei anderen Todten, deren Schriften für seine eigene Bildung bedeutsam geworden waren, dem Philosophen Baumgarten und dem Theologen Heilmann, wollte er jetzt ein [61] Erinnerungsschrift widmen. Nur ein Bruchtheil dieses Plans kam zur Ausführung. „Ueber Thomas Abbt’s Schriften. Der Torso von einem Denkmal, an seinem Grabe errichtet. Erstes Stück“, so lautet der Titel der wenigen Bogen, die zu Anfang des J. 1768 – anonym wie die Fragmente – erschienen. Eine sinnige, mit begeisterter Wärme geschriebene Einleitung über die Kunst, eines Anderen Seele abzubilden, ist in dem Büchlein als Rest des ursprünglich weiter gefaßten Vorhabens stehen geblieben; es folgt „das Bild Abbt’s im Torso“, in welchem der Verfasser der Schriften vom Tode fürs Vaterland und vom Verdienst als ein Schriftsteller für die Menschheit, ein Weltweiser des Volks geschildert und zwar in einer Weise geschildert wird, welche deutlich erkennen läßt, daß dem Maler die Züge seines eigenen Bildes unwillkürlich mit denen des ihm verwandten, so hoch von ihm geschätzten Mannes zusammenflossen. In einem zweiten und dritten Stück des Torso wären dann die einzelnen Schriften Abbt’s zur Besprechung gekommen, und die Besprechung wäre, wie das handschriftlich davon Erhaltene erkennen läßt, eine Fortsetzung der Litteraturfragmente geworden.

Allein diese selbst, in allen Theilen Deutschlands eifrig gelesen, von den Berlinern so beifällig aufgenommen, daß Nicolai den Verfasser alsbald zur Mitarbeit an seiner „Allgemeinen deutschen Bibliothek“ geworben hatte, forderten eine zweite Auflage. Die Umarbeitung der ersten und zweiten nahm daher alle Kräfte des Autors in Anspruch. Es handelte sich dabei um eine völlige Umschmelzung. Das Buch mußte eine von dem Text der Litteraturbriefe, die es commentirte, unabhängigere Gestalt annehmen, die Materien mußten in bessere Ordnung gebracht, Zusätze und Erweiterungen mußten eingefügt, der Stil endlich, dessen „pantomimische“, anspielungsvolle Absonderlichkeit alle Welt an das Hamann’sche Vorbild erinnert hatte, mußte, soweit es sich thun ließ, gereinigt werden. Erst nach Herder’s Tode jedoch ist die erste Sammlung in dieser umgearbeiteten Gestalt in die erste Gesammtausgabe der Herder’schen Werke aufgenommen und so dem großen Publicum bekannt geworden; damals 1768, blieb sie, gedruckt, im Magazin des Verlegers, die umgearbeitete zweite Sammlung ungedruckt im Pulte des Verfassers liegen. So aber geschah es, von den Fragmenten, ebenso von der Schrift über Abbt wandte sich H. wie von verstoßenen Kindern ab in Folge der Behandlung, welche beide Schriften in den kritischen Journalen der Klotzischen Partei erfahren hatten. Hatten doch jene Journale das Incognito, in dem er aufgetreten war, verrathen und das Publicum mit seinen Personalien unterhalten, hatte doch Riedel, einer aus dieser Klotzischen Clique, aus einem per fas et nefas erlangten Exemplar der neuen Fragmentenauflage einzelne Stellen in feindseliger Absicht vorzeitig dem Publicum zum Besten gegeben. H., aufs äußerste gereizt, antwortete auf all’ dies Unwesen mit einer Erklärung im December der Vossischen Zeitung vom J. 1768 und flüchtete sich übrigens mit seiner Erbitterung gegen Klotz, Riedel und Genossen – in eine neue namenlos erscheinende Schrift, die, ursprünglich für andere Materien bestimmt, alles dasjenige in sich aufnahm, was schon die Fortsetzung des Torso Polemisches hatte enthalten sollen. „Kritische Wälder“, so betitelte sich diese neue Schrift; ein erstes und zweites Wäldchen erschien zu Anfang, ein drittes im Sommer des J. 1769.

Weit überwiegend beruht der Werth dieser neuen Schrift auf jenen anderen Materien, und zwar steht im Vordergrunde die im ersten Wäldchen enthaltene Auseinandersetzung mit Lessing’s inzwischen erschienenem, begierig von H. studirten Laokoon. Zustimmend, anwendend, bestreitend hatte er sich schon in den Fragmenten mehrfach zu Lessing in Bezug gesetzt; vom Standpunkte der lyrischen Empfindung aus hatte er unter anderem die religiöse Poesie Klopstock’s gegen die [62] rationalistischen Angriffe Lessing’s vertheidigt. Das Wäldchen über den Laokoon, in einer von Lessing sichtlich beeinflußten Sprache geschrieben, wirft sofort das vollste Licht auf das Verhältniß der beiden Kritiker und läßt den jüngeren als den Ergänzer des älteren erscheinen. Wie schön, bald zu Anfang, die charakterisirende Vergleichung Lessing’s und Winckelmann’s! Zwischen diese beiden in die Mitte tretend, stellt sich der Verfasser doch im Ganzen mehr auf des letzteren Seite. Denn wie Winckelmann’s Urtheile von der begeisterten Anschauung, so sind die seinigen von der begeisterten Empfindung getragen; mit Winckelmann überdies, den er andächtig, wie einen der Alten gelesen, theilt er den, bei Lessing entschieden zurücktretenden historischen Sinn. Wenn er an Scharfsinn und Präcision hinter dem Verfasser des Laokoon zurückbleibt, so gewinnt er ihm durch feinfühlige Achtsamkeit auf das Individuelle, auf das durch Zeit, Ort und Umstände Bedingte wieder den Vorsprung ab. Für H. wird man sich in den meisten auf Homer bezüglichen Fragen erklären müssen, wie wenn er für die sinnliche Individualität und für die „schöne Sichtbarkeit“ der Homerischen Götter eintritt, oder wenn er das Handelnde, Fortschreitende im Homer nicht sowol aus den Gesetzen aller, als vielmehr aus dem durchweg epischen Charakter gerade der Homerischen Dichtung ableitet. Mit Recht behauptet H., daß man die Grenzen der Poesie zu sehr verenge, wenn man der Poesie alle malerischen Wirkungen abspreche. Die Poesie, so setzt er auseinander, hat in der That einen malerisch-plastischen, sie hat andererseits einen musikalischen Bestandtheil, und eben hierauf beruht die eigenthümliche Bedeutung des von Lessing so gut wie ganz übersehenen lyrischen Gebietes. Es ist wahr, nicht blos die einseitigen Härten, sondern auch die scharfe Bestimmtheit der Lessing’schen Theorie stumpft H. ab; er berichtigt seinen Vorgänger vielfach, aber nur unvollkommen gelingt es ihm, die Lessing’schen Grenzbestimmungen zwischen Poesie und Bildnerei durch andere zu ersetzen: er bleibt einstweilen für eine positive Theorie der Künste unser Schuldner.

Schon in einem vierten kritischen Wäldchen zwar machte er in Bestreitung von Riedel’s zusammengebettelter „Theorie der schönen Künste“ auf höchst geistvolle und eigenthümliche Weise einen Ansatz, diese Schuld einzulösen – aber nur geschrieben, nicht veröffentlicht hat er für jetzt (1769) dieses vierte Wäldchen, dessen werthvollsten Inhalt, gereinigter und gereifter, er erst neun Jahre später in der „Plastik“ dem Publicum vorlegte. Ganz dem Streit mit Klotz dagegen war das zweite und dritte Wäldchen gewidmet. Wären sie nur etwas bündiger, etwas weniger hastig und declamatorisch geschrieben: sie bildeten das schönste Seitenstück zu Lessing’s gleichzeitigen Antiquarischen Briefen! Siegreich bewährt sich auch in ihnen wieder der Standpunkt der auf das Historische und das Individuelle dringenden Kritik. Denn, sei es, daß er gegen den Beurtheiler des Homer und Virgil oder gegen den Horazerklärer oder den dilettantisch ästhetisirenden Archäologen Klotz zu Felde zieht – immer ist der Refrain, daß es für litterarische Erzeugnisse, überhaupt für Culturerscheinungen keinen abstracten Maßstab gebe, sondern daß der Beurtheiler sich in die örtlichen, zeitlichen und seelischen Bedingungen ihrer Entstehung zu versetzen habe, daß man „mit biegsamer Seele“ die fremde Natur nachfühlen, „mit den Hebräern ein Hebräer, mit den Arabern ein Araber, mit den Skalden ein Skalde, mit den Barden ein Barde“ werden müsse.

Und in weitem Umfange machte H. für sich mit diesen Forderungen Ernst. Gleichzeitig mit den Kritischen Wäldern entstand ihm der Entwurf eines Werkes, in welchem die Geschichte der Dichtung sich mit der Religionsgeschichte berührte. Ebenso nahe wie die griechische Kunst und Dichtung, ging ihn, den Theologen, den Schüler Hamann’s, der überdies eifrig den Forschungen eines Ernesti, Semler [63] und Michaelis gefolgt war, die Bibel an. Die ältesten, poetisch-religiösen Nationalsagen der Hebräer, die Anfangscapitel der Genesis, dachte er dem engherzigen theologischen Vorurtheil, dem Ungeschmack dogmatisirender Auslegung zu entreißen und sie poetisch-historisch aus ihrem eigenen Genius heraus zu erklären – es sollte eine „Archäologie der Hebräer“ werden. So wenig indes wie die für das vierte Kritische Wäldchen bestimmte ästhetische Theorie kam für jetzt diese Auslegung der Mosaischen Urkunde zum Abschluß. Seine ganze schriftstellerische Thätigkeit vielmehr sollte demnächst eine jähe Unterbrechung erfahren. Schon längst nämlich hatte er bei allem, was er Riga und den Rigensern zu danken hatte, auch das Hemmende seiner dortigen Lage empfunden. Ein Litteratus von so weitgreifenden geistigen Interessen konnte sich unmöglich auf die Dauer an einem Kaufmannsorte heimisch fühlen. Ein doppeltes Amt lag auf ihm und unterwarf ihn einer Menge Rücksichten, die der ehrgeizig strebende Schriftsteller nicht brauchen konnte. Wie sehr ihm der Beifall seiner Gemeinde, die Anhänglichkeit seiner Freunde, die Gunst der Stadt und des Gouvernements schmeichelte: immer doch empfand er den Mangel gelehrten Umgangs und gelehrter Hülfsmittel schmerzlich. Zu früh in das geistliche Amt gekommen, fürchtete er sich vor der „Predigerfalte“, sehnte er sich danach, die Welt auch anderswo und von anderen Seiten kennen zu lernen. Die Art und die Folgen seines schriftstellerischen Auftretens brachten ihn endlich dergestalt ins Gedränge, daß seine Unzufriedenheit und sein unruhiges Verlangen nach Veränderung in einen raschen Entschluß umsprangen. Er hatte thörichter Weise geglaubt, Klotz angreifen und doch unerkannt bleiben zu können. Erkannt, leugnete er öffentlich die Autorschaft der Kritischen Wälder ab. Von neuem von den Klotzianern angegriffen, erwiderte er mit einer zweiten Ableugnung und gab auf diese Weise der Bosheit seiner Gegner nur größere Blößen. Aus dieser zum Theil selbst verschuldeten Verwirrung gab es nur Einen Ausweg. Eben als es im Werke war, ihn durch die Aussicht auf wichtigere Aemter als seine bisherigen noch mehr an Riga zu fesseln, reichte er, Anfang Mai 1769, bei dem Rathe der Stadt das Gesuch um Entlassung behufs einer Reise ein. Nach vergeblichen Versuchen, ihn in seinem Entschluß wankend zu machen, wurde das Gesuch in ehrenvollster Weise bewilligt. Man rechnete darauf, und er selbst versprach, daß er wiederkehren werde. Für die Mittel zur Reise sorgte in erster Linie sein Freund Hartknoch. In Gustav Berens, den seine Geschäfte nach Frankreich riefen, fand er den willkommensten Begleiter. Am Abend des 5. Juni stach das Schiff in See, welches Beide an Bord führte.

Als nächstes Ziel seiner Reise hatte sich H. Kopenhagen gedacht, wo er im Verkehr mit dem Klopstock’schen Kreise seinen vollen Antheil an dem neuen Leben unserer Litteratur werde nehmen dürfen, um dann über Kiel und Hamburg nach Deutschland zu gehen. Vor Helsingör indeß, wo man landete, entschied er sich anders. Der Gelegenheit und dem Zureden seines Freundes Berens nachgebend, blieb er in dessen Begleitung und stieg erst nach einer weiteren vierwöchigen Fahrt am 15. Juli bei Painboeuf ans Land, von wo er Tags darauf nach Nantes fuhr. Von einer dem Berens’schen Hause befreundeten Familie gastlich aufgenommen, angezogen von der Gesellschaft, von dem Reiz der Gegend, bereitete er sich hier in monatelanger Rast, vor allem durch das Studium der französischen Sprache und Litteratur, auf die Weiterreise vor. Zum ersten Mal in seinem Leben genoß er Freiheit in vollen Zügen, und wie er so zu sich kam, so überschaute er alle Schätze und alle Weiten seines eigenen projectenreichen Geistes, blickte er zurück auf seine Vergangenheit und vorwärts auf seine Zukunft. Hier zum größten Theil hat er jenes merkwürdige Reisetagebuch niedergeschrieben, das wichtigste Document wie für die innere Geschichte seines Geistes, [64] so für das faustartige Streben der ganzen eben jetzt emporkommenden Litteraturgeneration, deren Sturm und Drang sich in Keinem, selbst Goethe nicht ausgenommen, so mächtig, so vielseitig regte als in ihm, dem Führer dieser Generation. Die erste Stimmung, die in diesem Tagebuche laut wird, ist der Nachklang des Verdrusses und Unwillens über die leidenschaftlichen Voreiligkeiten seines bisherigen, namentlich seines letzten litterarischen Auftretens. Hinfort will er nichts schreiben als „was der Summe dessen, was der menschliche Geist zu allen Zeiten gedacht, neue Gedanken hinzusetzt“, und er fühlt voll Stolz, daß er das Zeug dazu in sich hat; sein Herz schlägt ihm „in den Gedanken der Einsamkeit und in würdigen Anschlägen“. In dem zum Manne reifenden Jüngling erkennen wir den ehrgeizig-träumenden Knaben wieder. Jeder erste Eindruck – so schildert er selbst den „Schnitt seiner Denkart“ – gehe bei ihm ins gothisch-Große, ins Groteske, ins Sombre, Düstere, Erhabene; sein Leben komme ihm vor wie ein Gang durch gothische Wölbungen mit endlosen Perspectiven, und wieder an anderer Stelle spricht er von der Unruhe und Vielbegehrlichkeit, von der Hast und der „gräulichen Unordnung seiner Natur“. Seine Projecte, bald zu bestimmter Gestalt sich verdichtend, bald ins Nebelhafte verschwebend, bestätigen diese Selbstschilderung. Noch auf dem Schiffe hatte er seine Ideen über eine zweckmäßigere Einrichtung der Domschule aufgesetzt und an seine Freunde im Rigaer Senat geschickt. Seine Designation aber zum Rectorate der kaiserl. Ritterschule, die er scheidend mitgenommen, lenkt seinen Reformeifer auf diese andere Anstalt. Er entwirft also einen vollständigen Lehrplan für dieselbe, dessen leitende Idee die Durchführung eines kräftigen Realismus an Stelle des Gelehrtenmäßigen, des Todten und Abstracten ist. Zugleich indeß tritt dieses realistische System unter den Gesichtspunkt des Nationalen. Die Schule soll soviel wie möglich Provinzial- und Nationalfarbe bekommen – es ist damit abgesehn auf eine „livländische Vaterlandsschule“. Vielmehr aber, dieser ganze Schulplan mit seinem realistischen und doch zugleich idealen Bildungsziel wird unserem Projectenmacher unter der Hand nur zum Postamente eines viel größeren politischen Plans. Er träumt sich einen Reformator der Rigaischen Stadtverfassung; ja, er sinnt darüber nach, das ganze russische Reich in neue Bahnen der Bildung hinüberzuleiten. Statt „Kritischer Wälder“ – an deren viertem Theil er doch fortarbeitete – will er, anknüpfend an die liberalisirende Gesetzgebung der Kaiserin Katharina, eben für die Kaiserin ein politisches Werk im Geiste Montesquieu’s schreiben: „Ueber die wahre Cultur eines Volkes und insonderheit Rußlands“. So verknüpfen sich ihm pädagogische und politische Ideen, während dazwischengestreute Reflexionen über den Zustand der französischen Litteratur und über den Charakter der einzelnen französischen Autoren in der Fortsetzungslinie seiner Litteraturfragmente liegen. Auch diese Reflexionen hinwiederum, indem sie das Ueberlebte und Alternde der französischen Aufklärungsbildung und Schriftstellerei betonen, begegnen sich mit jenen praktischen Ideen. Dem Psychologen stellt sich der Gedanke an ein Werk „Ueber die Jugend und Veraltung menschlicher Seelen“ dar: dem praktischen Reformator schwebt der Plan vor, das in Hypercultur, Deismus und Vernunftverfeinerung veraltende Europa zu neuer Jugendlichkeit zu beleben. Auf diesen Mittelpunkt bezieht sich das Vorhaben, sich ein Journal der Menschenkenntniß zu halten, ein Vorhaben, an das sich sofort weitere litterarische Entwürfe ohne Zahl anschließen. Er hat nicht aufgehört, Theolog zu sein. Eine Dogmatik, eine Homiletik, eine Kirchengeschichte, eine deutsche Bibel, ein Leben Jesu will er schreiben. Es öffnet sich endlich, als letzte Perspective, der Blick auf eine Geschichte der Wissenschaften, eine Geschichte der menschlichen Seele überhaupt. Alles Menschliche will er, geschichtlich will er es umfassen: vor seinen Augen steht die Idee eines Werkes, welches [65] die Culturgeschichte aller Völker und Zeiten nach den verschiedensten Richtungen hin überblicken müßte – die Idee einer „Universalgeschichte der Bildung der Welt“.

Wie erstaunlich nun diese Fülle von Rissen und Entwürfen zu künftigen Werken erscheint: es ist doch nur die einfache Wahrheit, daß sie sämmtlich, theils vollkommener, theils unvollkommener von dem späteren H. ausgeführt worden sind. Das Leben Herder’s ist, wie kein zweites, ein Schriftstellerleben: man erzählt von seinen Thaten, wenn man von seinen Schriften erzählt. Seine praktisch politischen Pläne sind Träume geblieben: von seinen Schriftstellerplänen ist kein einziger gänzlich verloren gegangen. Daß es so kam, lag in der Art seiner Begabung; es lag nicht minder in der äußeren Wendung seines Lebens: er sollte den Schauplatz jener politischen Pläne, er sollte Livland und Riga nie wieder sehen.

Am 4. November endlich hatte er Nantes verlassen, um sich mit der nun ausreichend erworbenen Herrschaft der französischen Sprache in den Strom des Pariser Lebens zu wagen. Er fand sich keineswegs behaglich in dem seiner deutschen Natur fremdartigen Elemente. So sehr er neuen Eindrücken zugänglich ist, so rasch ist er übersättigt. Wenige Wochen sollen dem ungeduldigen Manne genügen, um das Louvre, das Palais royal, um Gallerien und Lustschlösser zu „durchtraben“. Kaum indeß, daß ihm auch nur dazu Zeit gelassen wurde. Er hatte nur eben diese Sehenswürdigkeiten überblickt, hatte namentlich das französische Schauspiel studirt und mit Männern, wie d’Alembert, Diderot, d’Arnaud, Thomas, den französischen Enzyklopädisten und Akademikern Bekanntschaft gemacht, als ihn, Anfang December, ein schon längst für ihn bestimmter Ruf des Fürstbischofs von Lübeck traf. Als Lehrer und Reiseprediger sollte er dessen einzigen Sohn, den Erbprinzen Peter Friedrich Wilhelm, drei Jahre hindurch auf Reisen begleiten. Nur zaudernd und nachdem er sich die Freiheit des Rücktritts gesichert hatte, nahm er den Antrag an, der ja seinem Wunsch, die Welt zu sehen, entgegenkam. Noch im December brach er in Folge dessen von Paris auf, sah Brüssel und Antwerpen und gelangte nach einem überstandenen Schiffsabenteuer nach dem Haag. Nur einen kurzen Aufenthalt machte er in Leyden und Amsterdam und ging von da durch Friesland nach Kiel, wo der junge Prinz mit seinem Hofmeister, Herrn v. Cappelmann, damals verweilte. Der Weg nach Kiel führte ihn über Hamburg, und hier sah und sprach er bei der Durchreise in den ersten Tagen des März und wieder bei einem späteren Versuche im April den Mann, mit dem seine ersten kritischen Schriften sich so vielfach beschäftigt, der seiner in der ehrenvollsten Weise öffentlich Erwähnung gethan hatte, dessen Geist ihm noch später so oft nahe treten sollte: es fügte sich glücklich, daß Lessing seine bevorstehende Uebersiedelung nach Wolfenbüttel zu verschieben genöthigt gewesen war. Hamburg bot ihm noch mehr. Er trat mit Lessing’s Freund, Bode, mit dem Reimarus’schen Hause, mit Götze und Alberti in Beziehung, er lernte den Pädagogen Basedow kennen, er schloß vor allem ein enthusiastisches Herzensbündniß mit dem liebenswürdigen Claudius, dem Mann „von sonderbarem Geist und einem Herzen, das wie Steinkohlen glüht, still, stark und dampfig“. Am Hofe zu Eutin, der Residenz der fürstlichen Eltern seines nunmehrigen Zöglings, verbrachte er die nächsten Monate. Die Achtung und das Zutrauen des Herzogs und der Herzogin machten ihm seine neue Situation lieb, der Umgang mit dem gebildeten Adel des Landes, unter dem er sich namentlich in dem Grafen Friedrich v. Hahn auf Neuhaus einen Freund erwarb, ist ihm zeitlebens in angenehmer Erinnerung geblieben und noch von Weimar aus hat er sich wol zuweilen nach dem „schönen, grünen Holstein“ [66] zurückgesehnt. Mit der Abreise von Eutin, Mitte Juli 1770, sollte sich Alles ändern. Ueber Hannover, Cassel, Hanau ging es von Hof zu Hof. Als man in Darmstadt anlangte, wo ein längerer Aufenthalt gemacht werden sollte, da die Mutter des Prinzen eine Verwandte des darmstädtischen Fürstenhauses war, hatte es sich bereits herausgestellt, daß der Reisebegleiter und Cabinetsprediger neben dem Oberhofmeister eine schlechte Rolle spiele. Er mußte sich sagen, ja, er hatte es vorausgesehen, daß er weder Gewinn und Genuß von der Reise haben, noch im Stande sein werde, unter den gegebenen Umständen einen wohlthätigen Einfluß auf den gutmüthigen, aber verstandesschwachen jungen Prinzen zu üben. Der Aufenthalt in Darmstadt war nichtsdestoweniger für H. von der höchsten Bedeutung. Im Kriegsdepartement angestellt, lebte hier, damals ein Dreißiger, Johann Heinrich Merck, der vielseitig gebildete Mann, der, zugleich Hofmann, Gelehrter, Schriftsteller, Kunstkenner und Unternehmer, dem litterarischen und gesellschaftlichen Leben der Hauptstadt den Stempel seines scharfen Geistes aufdrückte, jener räthselhafte Charakter, der es ebenso gut verstand, liebens- wie hassenswürdig zu erscheinen, die Freundschaft und das Vertrauen der Besten jetzt zu erobern, jetzt wieder zu verscherzen. Er eroberte jetzt auch H. Mit der jugendlichsten Aufwallung warf sich dieser ihm in die Arme, da er bei ihm das theilnehmendste Verständniß, Urtheil und Rath für seine litterarischen Interessen fand. Für Eins aber sollte er ihm Lebenslang verpflichtet bleiben. Durch Merck kam er in das Haus des Geheimerath Hesse und lernte hier dessen Schwägerin, Maria Caroline Flachsland, die jüngste hinterlassene Tochter des württembergischen Amtsschaffners Flachsland zu Reichenweier, kennen und lieben. Auf Spaziergängen, im Austausch der Empfindungen über die schönsten Stellen aus Kleist und Klopstock kam man sich näher. Eine Herder’sche Predigt öffnete in dem Mädchen jedes verschlossene Gefühl, und an seinem Geburtstag, 25. August, erfuhr sie aus einem ihr von ihm übergebenen Briefe, daß er sie über Alles liebe. Ohne ausgesprochenes Verlöbniß waren die Beiden fürs Leben gebunden, als man am 27. August sich trennen mußte. Es war der Tag der Abreise nach Straßburg, woselbst die prinzliche Reisegesellschaft, nachdem H. noch während eines achttägigen Aufenthalts in Karlsruhe Gelegenheit gehabt hatte, in Markgraf Karl Friedrich von Baden-Durlach den trefflichsten Fürsten kennen zu lernen, am Abend des 4. September anlangte.

Das reine Gefühl des Glückes, ein treues Herz dem seinigen verbunden zu haben, wurde indessen dem innerlich unruhigen und unentschlossenen Manne in mehr als einer Weise verkümmert. Während das Verhältniß zu der Geliebten selbst, zwischen Ueberschwänglichkeit und Zurückhaltung schwankend, die Probe manches, im brieflichen Verkehr nicht immer leicht zu lösenden Mißverständnisses zu bestehen hatte, so drückte ihn je länger je mehr seine Situation zum Prinzen. Schon kurz vor der Abreise von Eutin war ihm eine, in manchem Betracht verführerische Aussicht gekommen, in eine andere Stellung überzutreten. Jene Denkschrift auf Thomas Abbt nämlich hatte die Blicke des Grafen Wilhelm zur Lippe, in dessen Diensten Abbt während seines letzten Lebensjahres gestanden hatte, auf ihn gelenkt. Der Graf wünschte ihn als Hauptprediger und Consistorialrath nach Bückeburg zu ziehen. Zum zweiten Male war ihm derselbe Antrag in Darmstadt zugegangen. Nur halb und bedingt hatte er sich bereit erklärt; allein als Antwort erhielt er hierauf in Straßburg den förmlichen und definitiven Ruf, und dieser gab ihm nun den Muth oder zwang ihn vielmehr, das Verhältniß zum Prinzen zu lösen. Anfang October war der erbetene Abschied vom Eutiner Hof in seinen Händen; von Bückeburg aus aber wurde ihm bereitwillig ein Aufschub bewilligt, da er den Straßburger Aufenthalt benutzen wollte, um bei dem berühmten Operateur Lobstein Heilung für sein krankes [67] Auge zu suchen. Die Operation wurde zu einem langen Martyrium für ihn. Bis zum Frühjahr 1771 fesselte ihn die schmerzhafte und zuletzt doch erfolglose Behandlung an Straßburg und ans Krankenzimmer. Wol hatte er Ursache, unmuthig zu sein, und reichlich geben seine Straßburger Briefe von seiner Verstimmung Zeugniß. Dieselben Briefe jedoch, eine bewunderungswürdige Abhandlung und die Erzählung Goethes in Dichtung und Wahrheit belehren uns, wie trotz aller Verstimmung die guten Geister in ihm mächtig blieben und wie kein Leiden im Stande war, den Genius in ihm zu ersticken. Aus Goethe’s Erzählung ist es bekannt, wie der in Straßburg studirende junge Poet sich rasch die Beachtung des berühmten, um fünf Jahre älteren Mannes gewann und wie er dann mit wenigen Anderen, besonders dem Deutsch-Russen Pegelow und Jung Stilling, ein regelmäßiger Besucher des einsamen Kranken wurde. „Er hatte“, so zeichnet Goethe den damaligen H., „etwas Weiches in seinem Betragen, das sehr schicklich und anständig war, ohne daß es eigentlich adrett gewesen wäre. Ein rundes Gesicht, eine bedeutende Stirn, eine etwas stumpfe Nase, einen etwas aufgeworfenen, aber höchst individuell angenehmen, liebenswürdigen Mund. Unter schwarzen Augenbrauen ein Paar kohlschwarze Augen, die ihre Wirkung nicht verfehlten, obgleich das eine roth und entzündet zu sein pflegte“. Und er berichtet weiter, wie bezaubernd der Mann war, wenn er sich mit der Wärme seines Gefühls in strömender Rede dem Empfänglichen mittheilte – wie abstoßend dann wieder, wenn ihn, den Kranken, die Laune des Scheltens und Neckens überkam! Eine Fülle von Anregungen und Belehrungen drängte sich nichtsdestoweniger in die wenigen Wochen zusammen, in denen die Beiden zusammen lebten. Alles, sagt Goethe, was H. nachher allmählich ausführte, ward damals im Keime angedeutet. Es war eben das, was in den Fragmenten, den Kritischen Wäldern, den nur erst angefangenen Schriften über die Plastik und die hebräische Archäologie, endlich in dem Reisetagebuch eine erste Aussprache gefunden hatte. Im Vordergrunde von Herder’s Interesse aber stand während der Straßburger Zeit die englische Litteratur, die jetzt die französische bei ihm verdrängte, Shakespeare, Ossian, die Percy’sche Sammlung altenglischer Volkslieder, überhaupt die Welt der Dichtung. Denn dahin eben führte ihn die gegenwärtige Verfassung seiner Seele, dahin die Freiheit von strengeren Arbeiten, zu der er sich verurtheilt sah, und als die wichtigste Offenbarung, die ihm aus Herder’s Munde geworden, kann Goethe eben deshalb den Satz bezeichnen, „daß die Dichtkunst eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten Männer“. Noch ehe er sich indeß auf diese Spiel- und Mußebeschäftigung reducirt sah, hatte der Unermüdliche ein Schriftchen vollendet, das sich auf ein der Dichtung nahe verwandtes Thema bezog. In wenigen Wochen zu Ende des Jahres 1770 schrieb er, veranlaßt durch eine Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften, die köstliche Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Sie ist von grundlegender Bedeutung für die philosophische Sprachwissenschaft geworden. Denn unter Zurückweisung der älteren mystischen, der äußerlich rationalistischen und der umstandslosen sensualistischen Lösung des Problems führt sie sinnreich aus, wie der Mensch kraft des Charakters seiner Gattung, der Merkmale suchenden „Besonnenheit“, unterstützt von der ihn tönend umgebenden Natur, sich nothwendig Sprache und mit der Sprache lebendig personificirende Poesie habe erschaffen müssen. So fein wie anschaulich erörtert sie, wie gerade das Gehör als ein mittlerer Sinn, sich am besten zum Universalorgan der Verständigung für gefühlte und verdeutlichte Vorstellungen eigne, und mündet endlich, mit einem Blick auf die Bedingungen der fortschreitenden Entwickelung der Sprachen, in die geschichtsphilosophische Betrachtung der an und mit den verschiedenen Nationalsprachen [68] sich zu einer Kette zusammenschließenden Bildung des menschlichen Geschlechts. Mit vollem Recht wurde die Abhandlung gekrönt und in Folge dessen zu Anfang des J. 1772 „auf Befehl der Akademie“ veröffentlicht.

Der verdrießliche und kostspielige Straßburger Aufenthalt ging endlich zu Ende. Anfang April reiste H. über Karlsruhe, wo er diesmal auf den Wunsch des Markgrafen predigte, nach Darmstadt. Seine Umstände waren so, daß sie eine sofortige Verbindung mit der Geliebten zu verbieten schienen, und da obenein unberufene Freunde, unter ihnen der sentimentale Leuchsenring, sich mit kritischen Glossen und mit mißtrauischen Lauschermienen in das Verhältniß mischten, so diente das kurze Wiedersehen nur dazu, den brieflichen Verkehr der beiden für einander bestimmten Menschen in der nächsten Zeit auf einen wunderlich Platonischen Ton zu stimmen. Auch in Bückeburg aber, wo er am 28. April Abends ankam, fand H. die Dinge ganz anders, als er sie erwartet hatte. Graf Wilhelm hatte ein Leben voll Abenteuer und Heldenthaten hinter sich. Glänzend hatte sich sein militärisches Genie in Portugal bewährt, und noch immer beschäftigten militärische Entwürfe und Experimente seinen vorzugsweise für das Heroische eingenommenen Geist. Zu dieser Form seines Geistes, zu seinen Liebhabereien und Gewohnheiten bildeten die Verhältnisse des Ländchens, das er zu regieren hatte, einen beinahe lächerlichen Contrast. Er vereinigte in sich den Helden und den Philosophen, den großen Mann und den Sonderling. Er liebte Musik und Malerei; er schätzte jedes, auch das dichterische Verdienst, aber auch hier zog ihn mehr das Große als das Anmuthige, mehr die strenge, ja gesuchte Form als das Natürliche an. Etwas Verschiedeneres als diesen Mann und H. konnte es kaum geben. Beide zu groß, zu einsichtig, zu edel, als daß sie sich, so nahe gestellt, nicht gegenseitig hätten achten sollen, aber so ungleich der Eine dem Anderen in Anlagen und Neigungen, in Denk- und Gefühlsweise, in der Richtung ihrer Interessen und Ideale, daß eine wirkliche Zuneigung unmöglich zwischen ihnen Platz greifen konnte. Der Eigensinn des reizbaren Gelehrten stieß sich an dem festgeschlossenen Sinn des soldatischen Fürsten, dessen militärische Bestrebungen jenem fremd, ja verhaßt waren. So wenig Sinn aber H. für den Stand und Charakter des Soldaten, so wenig hatte der Graf für den Stand und Charakter des Geistlichen. Die eintönigen philosophischen Betrachtungen des fürstlichen Weltweisen, ein Gemisch von Stoicismus und Skepticismus, langweilten den ungeduldig von Idee zu Idee eilenden, des Hörens ungewohnten Gefühlsphilosophen, und jener war zu alt, zu fertig in sich, als daß ihn die enthusiastischen Ergüsse dieses etwas hätten lehren können, wenn sie nicht zufällig eine schon von selbst in ihm klingende Saite berührten. Und so erwies denn der Graf, stolz auf den Besitz des berühmten Mannes, demselben jede denkbare Aufmerksamkeit; H., nicht unempfindlich für Höflichkeit und Auszeichnung, fühlte sich geehrt – und belästigt: Alles in Allem stand man sich fern und fremd gegenüber.

Allein nicht blos die Persönlichkeit des Grafen war es, was H. mit seiner Bückeburger Stellung unzufrieden machte. Wenn er die Auftritte seines früheren Lebens überdachte, wie schaal und öde mußte da dem Verwöhnten der Aufenthalt in der kleinen Residenz, einem elenden westfälischen Neste von nur 2000 Einwohnern vorkommen! Die Bückeburger Gesellschaft war die schlechteste, die es wenigstens für ihn gab. Außer in dem Hause des Polizeidirectors Westfeld – eben des Mannes, der seine Berufung vermittelt hatte – kaum ein Mensch, mit dem er ein wissenschaftlich förderndes Gespräch hätte führen können. Unbefriedigend endlich auch seine Amtsthätigkeit. Er mußte sich, da die Stelle, die er bekleidete, so lange unbesetzt gewesen war, eine Gemeinde erst erpredigen, erst durch die Confirmation der Kinder sich einen Platz in den Herzen der [69] Bückeburger erobern. Das verfallene Schulwesen zu heben, fehlten in einem Lande, in welchem der militärische Apparat Alles verschlang, die Mittel. In dem kleinen Consistorium endlich stieß sich seine Ungeduld an dem Schlendrian des Geschäftsganges, sein scharfer Gerechtigkeitssinn an dem, was ihm als Mißbrauch des juristischen Formalismus erschien.

Bei so viel Schatten fehlte dennoch das Licht nicht. Mit neu erwachtem Naturgefühl genoß der Einsame in seinem Garten und auf Streifereien in die Nachbarschaft die Reize der schön bewaldeten bergigen Gegend. Ein der Bibliothek wegen im Februar 1772 unternommener Ausflug nach Göttingen trug ihm die Freundschaft Heyne’s und seiner Frau ein. Der schönste Stern aber ging ihm in unmittelbarer Nähe auf. Es war am Neujahrstage 1772, als ihm die Gemahlin seines Herrn, die Gräfin Maria, auf Anlaß des üblichen Neujahrsgeschenks ihren ersten Brief schrieb. Er lernte die schönste Seele, ein Gemüth voll Unschuld, Demuth und Frömmigkeit kennen. Er erfuhr, daß er doch nicht ganz vergebens, wenigstens Einer verstehenden und bedürftigen Seele zum Frommen, an diesem Orte lebe und wirke. Die gebotenen Schranken des Verhältnisses erhöhten nur den Werth des Vertrauens, das ihm hier so ungesucht entgegengetragen wurde und das er nun zu erwidern sich beeilte. Nur selten sah und sprach er die hohe Frau, deren äußere Erscheinung ein treuer Spiegel ihres Inneren war – „ein Bild der Carita, der Sanftmuth, Liebe und Engelsdemuth“: aber ein regelmäßiger Briefwechsel entschädigte ihn dafür. Offen machte er sie mit seiner äußeren und inneren Lage in Bückeburg bekannt; sie sprach ihm Muth und Geduld ein, während sie zugleich durch ihren Einfluß auf den Grafen zu einem besseren Verhältniß auch mit diesem wirkte. H. hinwiederum theilte ihr Bücher und Predigtabschriften mit; er wurde ihr geistlicher Berather; er suchte ihre pietistisch-ängstlichen religiösen Begriffe zu läutern; er erbaute sich hinwiederum an ihrem himmlisch frommen Sinn und gewann für sein eigenes Innenleben neue Kraft und festeren Halt.

Niemand indeß lebt von Manna allein. Zu lange hatte sich auch der Briefwechsel mit seiner Braut in einer Höhe gehalten, auf der seine natürlichen Pflichten gegen sie sich ihm selbst hinter einer Wolke erhabener moralischer Sentimentalität versteckt hatten. So oft er es sich und der Geliebten auch sagte, daß dieses elende Bückeburg, wenn er sie an seiner Seite hätte, sich aus einer Wüste in ein Paradies verwandeln müßte – niemals doch hatte er ernstliche Anstalten gemacht, seine Angelegenheiten diesem Wunsche gemäß in Ordnung zu bringen; über allem Träumen und Zweifeln, über dem Spielen mit Möglichkeiten und Einbildungen war er noch immer nicht zu dem Entschlusse gekommen, die Braut heimzuführen. Diese endlich war es, die unter dem Druck der peinlichen Lage, in der sie sich im Hause ihres Schwagers befand, durch die rührendste und naivste Offenheit den Zaudernden zu dem männlichen Wort drängte, das er zu seinem eigenen Heile längst hätte sprechen sollen. In einer Goethe’schen Dichtung, dem Fastnachtsspiel vom „Pater Brey, dem falschen Propheten“ spiegeln sich die Ansichten des Darmstädter Kreises, in dem jetzt Goethe ein häufiger Gast war, über das so lange in der Schwebe gehaltene Verhältniß zwischen H. und Caroline. Kurz ehe H. erschien, um die Braut zu holen, muß diese Dichtung entstanden sein. Der 2. Mai 1773 war der Tag der Hochzeit, welcher auch Goethe beiwohnte.

Und nun wurde es anders in Bückeburg. Wie von Stund’ an die Bückeburger ihren Oberprediger mit anderen Augen ansahen, so faßte auch er jetzt ein Herz zu denen, die ihm unerwarteter Weise die aufrichtigste Theilnahme bezeugten. Caroline trat mit ein in die Freundschaft zu der edlen Gräfin; sie nahm an allem, was den geliebten Mann bewegte oder bedrückte, ihren vollen Antheil. [70] Er aber – um Carolinens eigene Worte zu wiederholen – „stand auf sicherem Grund und Boden mit einem Wesen, das ganz einzig mit ihm harmonirte und das er sich, als nun ganz ihm angehörig, zubildete“. Kein Wunder, daß das Frühjahr 1773, der Beginn seines ehelichen Verhältnisses, wie für das Leben, so insbesondere für die geistige Wirksamkeit, für die Schriftstellerei Herder’s Epoche machte.

Zu jeder größeren Arbeit hatte es ihm durchaus in den zwei Jahren seiner bisherigen Einsiedelei an Aufschwung und Trieb gefehlt. Die Plastik war liegen geblieben; zur hebräischen Archäologie hatte er nur Vorarbeiten machen und Materialien sammeln können. Nur die dichterische Beschäftigung, das Uebersetzen und Nachbilden der Percy’schen Liedersammlung und verwandter poetischer Stücke hatte ihn von Straßburg nach Bückeburg begleitet. Er hatte endlich doch seinem Freunde Bode Wort halten müssen, dem er schon in Hamburg einen Beitrag für die beabsichtigte Fortsetzung der sog. schleswigschen Litteraturbriefe versprochen hatte. So waren die beiden bedeutenden Aufsätze „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker“ und „Shakespeare“ niedergeschrieben worden, um, da jene Fortsetzung nicht zu Stande kam, zusammen mit dem Goethe’schen Aufsatz über deutsche Baukunst und einem Möser’schen über deutsche Geschichtschreibung zu dem kleinen Heft „Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773“, vereinigt zu werden. Es war die Summe dessen, was er über die Natur des Volksliedes und über Shakespeare’s dramatischen Genius dachte. Der unechte Macpherson’sche Ossian enthielt echte Poesie genug, um dem geistvollen Manne zum Schlüssel für das Verständniß des Wesens aller Volksdichtung zu werden. Er zeigte an allerlei Probestücken, wie das Eigenthümliche derselben sich in dem Wurfe der Empfindung, in sinnlichem Leben, in Klang und Ton offenbare. Er stellte dieser naturwüchsigen Poesie die „todten Letternverse“ gegenüber, aus denen dermalen die Masse der Dichtung bestehe, und er forderte endlich auf, aller Orten, „auf Straßen und Gassen und Fischmärkten“ nach den Resten solcher echten Laute dichterischer Empfindung zu suchen. Nicht geringer ist das Verdienst des Shakespeare-Aufsatzes, in welchem er durch die nachdrückliche Geltendmachung des historisch-genetischen Standpunkts wieder einmal als der Ergänzer Lessing’s erscheint. Er entwickelt, wie verschieden der Ursprung und eben deshalb der Bau und Charakter des Shakespeareschen von dem des griechischen Dramas, wie aber trotzdem, weil hier wie dort die echte Menschennatur die Grundlage bilde, Shakespeare „des Sophokles Bruder“ sei. Unter Seitenblicken auf jenes leblose Nachbild des griechischen Theaters, das sich bei den Franzosen finde, feiert er die Größe und die schöpferische Kraft des britischen Dramatikers, dessen Stücke voll des Geistes der Geschichte, jedes eine Welt von Charakteren, Ereignissen, Situationen, zusammengehalten von Einer Hauptempfindung, seien. Er schließt, wie den Ossian-Aufsatz mit einem Hinweis auf Klopstock, so den Shakespeare-Aufsatz mit einer Beglückwünschung seines jungen Straßburger Freundes, der es in seinem Götz gewagt, mit dem Briten zu wetteifern. Er selbst wagte eben das in seiner Weise. In skizzenhafter Manier, als ein „Drama für die Musik“ entwarf er, der sich immer schon so gern auf dem Rain zwischen Poesie und Musik bewegt hatte, einen „Brutus“ und dedicirte denselben seinem Grafen. Andere Dichtungen religiösen Gehalts, gleichfalls für die Composition bestimmt, eine Anzahl von Cantaten, widmete er der Gräfin. Neben diesen Aufsätzen und diesen poetischen Uebungen, zu denen noch einzelne unbedeutende Beiträge für Boie’s Musenalmanach und für seines Claudius’ Wandsbecker Boten kamen, hatte er nur eben so viel Luft und Muße gefunden, um sich wieder des altgewohnten Recensionshandwerks anzunehmen. Noch von Riga her war er Nicolai’s Schuldner für die „Allgemeine [71] Deutsche Bibliothek“; er tilgte jetzt diese Schulden, indem er u. A. Klopstock’s Oden und Lessing’s Vermischte Schriften besprach. Noch „geworfener“ waren die Recensionen, die er, Merck zu Liebe, für die von diesem seit 1772 in die Hand genommenen „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ lieferte. So wenig ihrer waren: sie drückten, zusammen mit den in gleichem Geiste geschriebenen Goethe’schen, der Zeitschrift den Stempel jener Sturm- und Drangkritik auf, die sich zusammenhängender in den „Fliegenden Blättern von deutscher Art und Kunst“ hatte vernehmen lassen. Die eine war ein ziemlich leichtfertiger Angriff auf Schlözer’s programmartiges Schriftchen über Universalgeschichte. Sie zog dem Recensenten eine grobe und weitschweifige Zurechtweisung von Schlözer zu, die er weise genug war unerwidert zu lassen.

Das Alles lag vor dem Zeitpunkt seiner neuen häuslichen Einrichtung. Erst mit diesem Zeitpunkte brach der Strom seiner Schriftstellerei gewaltsam durch. Aeußere Rücksichten, voran seine alten Verpflichtungen gegen Hartknoch, wirkten mit der zuversichtlich gehobenen Stimmung und dem neu belebten Schaffens- und Arbeitsdrange zusammen, um ihm eine ganze Reihe, wieder, gleich den früheren, anonym erscheinender Schriften zu entlocken. Den Anfang machte 1774 der dreitheilige erste Band der hebräischen Archäologie oder, wie nun der Titel lautete, der „Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts“, dem 1776 ein zweiter, den vierten Theil enthaltender Band folgte, ohne daß damit das Buch schon zu Ende geführt worden wäre. Gleichfalls noch im Jahre 1774 publicirte er die kleine Schrift: „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ und die andere: „An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter“. Das J. 1775 endlich brachte zwei weitere theologische Schriften, die „Briefe zweener Brüder Jesu in unserm Kanon“ und die „Erläuterungen zum Neuen Testament aus einer neu eröffneten morgenländischen Quelle“, während in demselben Jahre die Berliner Akademie seine, abermals von ihr gekrönte, Preisabhandlung über die „Ursachen des gesunkenen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern, da er geblühet“, veröffentlichte. Eine Fruchtbarkeit ohne Gleichen – und die doch durch das bisher Genannte noch lange nicht erschöpft ist! Denn um von einzelnen Journalbeiträgen, von dem schönen, die gleichnamige Lessing’sche Abhandlung ergänzenden Aufsatz „Wie die Alten den Tod gebildet“ im Jahrgang 1774 des Hannoverschen Magazins, von einigen 1776 für die Lemgoer Auserlesene Bibliothek verfaßten Recensionen und Aehnlichem zu schweigen, so wurde in eben diesen Jahren eine Anzahl anderer, zum Theil umfangreicher Arbeiten geschrieben, um, wenigstens fürs Erste, unveröffentlicht liegen zu bleiben. Ohne Erfolg concurrirte er 1774 und von neuem 1775 bei der Berliner Akademie über die Preisfrage vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Nur das Accessit wurde ihm 1774 von der Göttinger Societät der Wissenschaften für die Preisabhandlung „Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden“, zuerkannt, und ein ähnliches Schicksal hat die lateinisch abgefaßte Abhandlung über die Gründe des raschen Sturzes der karolingischen Dynastie im Pulte zurückgehalten. Nur einem engeren Kreise wurde für jetzt auch die schon 1775 zu einem ersten Abschluß gediehene Schrift „Johannes’ Offenbarung“ mitgetheilt. Eine zweitheilige Sammlung von Volksliedern endlich in vier, mit einleitenden Abhandlungen ausgerüsteten Büchern lag 1773 für den Setzer bereit, ja, ein erster Bogen war schon gedruckt, als sie von dem Herausgeber 1775 aus Scheu vor dem zu erwartenden Urtheil der tonangebenden zeitgenössischen Kritiker zurückgezogen wurde.

Es scheint, wenn wir den mannigfaltigen Inhalt dieser Arbeiten übersehen, daß die unermeßlichen litterarischen Projecte des Tagebuchs von Nantes in Begriff waren, zur Ausführung zu kommen. Anders freilich zur Ausführung [72] zu kommen, als ursprünglich beabsichtigt war. Denn der Herder der Bückeburger Schriftstellerperiode ist in mehrfacher Beziehung nicht mehr der nämliche, der er von Riga bis Straßburg gewesen. Er ist ein Anderer in Stil und Darstellungsweise, er ist ein Anderer oder, richtiger zu reden, ein Geänderter in seiner Denkart geworden. Die früheren Schriften waren beinahe ausschließlich ästhetisch-kritischen und philosophischen Inhalts: in den nunmehrigen überwiegt das Theologische. Die theologische Haltung des früheren Herder neigte sich entschieden einer verständig-moralischen, einer gemäßigt aufklärerischen Auffassung des Christenthums und des geistlichen Amtes zu: seine gegenwärtige Haltung ist eine enthusiastisch-mystische, ja prophetische, eine mit Heftigkeit antiaufklärerische und antirationalistische. Mit der Abwendung von dem französischen Wesen hatte die Abwendung von der Aufklärung begonnen. Zu ernster sittlicher Einkehr, zu stets wiederholten Vorsätzen, das Flüchtige und Unechte, den Leichtsinn und die „Coquetterie“ der Jugend abzuthun, hatte ihn die Leidenszeit in Straßburg gestimmt. Die einsame Lage in Bückeburg begünstigte noch mehr den begonnenen Umbildungsproceß des ehemaligen „theologischen Libertin“, wie er selbst sich ausdrückt, in einen „mystischen Begeisterer“. Ueber dem Mißfallen, welches Hamann ihm über seine Schrift vom Ursprung der Sprache zu erkennen gab, kam es, nachdem Beide so lange gegen einander geschwiegen, zu einer Aussprache, die von Herder’s Seite eine förmliche Beichte war und ihn zu neuem und innigerem Anschluß an den Magus, insbesondere auch an die theologischen Ueberzeugungen dieses gläubigen Geistes führte. In dieselbe Richtung aber zog ihn die briefliche Verbindung, in die er in Folge der Lectüre der „Aussichten in die Ewigkeit“ mit Lavater gerathen war. Weder die, bald getrübte, Beziehung zu Merck, noch die zu Nicolai konnte ein Gegengewicht bilden; im Gegentheil: Schritt für Schritt enthüllten sich die Differenzen, die seine Auffassung von der des Berliner Aufklärers schieden, bis es, bei Gelegenheit der „Aeltesten Urkunde“ zu einer leidenschaftlichen und ärgerlichen Aufkündigung der Freundschaft kam. Mit den anziehenden und abstoßenden Kräften aus der Ferne wirkten andere in der Nähe zusammen. So manches, was ihm an den Einrichtungen und Zuständen in Bückeburg nicht behagte, war ein Ausfluß des aufklärerischen Fridericianischen Geistes, und sofern ihm der philosophische Geist des Jahrhunderts auch aus den Gesprächen des Grafen Wilhelm entgegentrat, so identificirte sich ihm derselbe mit Zwang und Langeweile. Hinwiederum stellte sich ihm die fromme, gläubige Richtung aufs Holdseligste in der Gräfin Maria dar. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich an ihrem sein eigenes Gefühl stimmte und steigerte. Mit aller Stärke erwachten in ihm die religiösen Eindrücke seiner Jugend wieder. Seine biegsame, zu inniger Mit- und Nachempfindung aller tieferen und zarteren Regungen des Menschenherzens allezeit bereite Seele hatte sich bisher überwiegend an die Offenbarungen der Poesie angeschmiegt, und auf diesem Gebiete daher war er, in einem ganz anderen Sinn als dem rein verständigen des Jahrhunderts, zum Dolmetscher, Ausleger und Apostel geworden. Nur eine kleine Verschiebung seiner Seelenlage, und er mochte es ebensowol, wenn die Bibel, ein zugleich poetisches und religiöses Buch, die Vermittelung bildete, auf dem Gebiete der Religion werden. Gerade die Enge endlich, in die er sich in Bückeburg, auf diesem abgelegenen Fleckchen Erde – er nennt es sein Pathmos – zurückgewiesen sah, begünstigte eine solche Wendung. Für die einst geträumte, bis ins Politische hinübergreifende Weltwirksamkeit muß die ehrgeizige Ausdehnsamkeit seines Geistes Ersatz suchen. Intensiv wenigstens sucht er zu leisten, was ihm extensiv versagt ist. Seine überspannte Projectenlust concentrirt sich: sie verdichtet sich in dem Sturm und Drang religiöser Begeisterung, in dem Entschluß, in unmittelbarer Anknüpfung an sein Amt, zum Verkünder der Offenbarungen [73] Gottes, zum Streiter gegen den Unglauben, zum Erwecker eines neuen lebendigen Religionsgeistes zu werden.

Unter den Schriften dieser Periode nun, die ebenso viele Documente der geschilderten Umwandlung sind, hat den weitesten Gesichtskreis der Beitrag zur Philosophie der Geschichte. In gleichem Abstande von der skeptischen Auffassung eines Voltaire, wie von der optimistisch aufklärerischen eines Iselin geht die kleine Schrift auf den Nachweis aus, daß der Plan der Weltgeschichte außer dem Menschengeschlechte, uns verborgen, in Gott liege. In der Folgereihe der Völker und Zeiten hat jedes kräftig und eigenartig sich auslebende Dasein sein Recht für sich, seinen eigenen Geschichtswerth, ist Alles Mittel und Zweck zugleich. Am wenigsten darf die vielgepriesene Bildungshöhe der Gegenwart zum Maßstab geschichtlicher Beurtheilung gemacht werden. Ausdrücklich nimmt sich H. von diesem Standpunkt aus des Mittelalters an. Einer der Ersten hat er, dem herrschenden Vorurtheil gegenüber, die positiven Seiten jener finsteren Jahrhunderte, und, nachdrücklicher, schneidender, übertreibender noch, die Schattenseiten des Jahrhunderts der Aufklärung hervorgehoben, in welchem Alles mechanisirt und wo unter der einseitigen Herrschaft des Denkens, der Trieb und die Thätigkeit des Lebens geschwächt sei.

Den Anfang zur Ausführung dieser genialen Skizze einer vom Gefühl der Offenbarung Gottes durchdrungenen Geschichte der Menschheit macht sofort die „Aelteste Urkunde“. Es sind die Origines der Menschengeschichte, denen dies weitangelegte Werk am Leitfaden der Mosaischen Urkunde nachgeht. Ein wunderliches Werk, in welchem sinnige poetische Anschauungen mit emphatischen Ueberschwänglichkeiten, dithyrambische Ergüsse mit leidenschaftlichen, oft geschmacklosen Ausfällen gegen die rationalistische Bibelerklärung eines Michaelis und gegen den ungläubigen Zeitgeist im Allgemeinen, homiletische Declamationen mit verwegenen Hypothesen und mit dilettantischer Gelehrsamkeit zu einem schwer genießbaren Ganzen gemischt sind. In einem nahezu marktschreierischen Ton wird die Entdeckung vorgetragen, daß die Schöpfungsgeschichte des ersten Capitels der Genesis, abgeschaut von dem sich täglich erneuernden Gemälde des werdenden Tages, in einer Uroffenbarung Gottes ein Gedächtnißbild zum Zwecke der Einsetzung des Sabbaths, eine Hieroglyphe darstelle, an der sich alle menschliche Schrift und Symbolik, ja alle Wissenschaften und alle Kultur gebildet haben – eine Entdeckung, mit der sich der tumultuarisch geführte Beweis verbindet, daß die Trümmer dieser Uroffenbarung in den Sagen und Religionsvorstellungen aller ältesten Völker wiederzufinden seien. In gleich sinniger Weise entwickelt dann der Verfolg des Werkes die Poesie der nächst folgenden biblischen Mythen, insbesondere der Erzählung vom Sündenfall, um in gleich unkritischer Weise und mit gleicher Ueberschwänglichkeit den Offenbarungscharakter und die Thatsächlichkeit des Erzählten zur Geltung zu bringen.

Ist solchergestalt, Alles in Allem, die „Aelteste Urkunde“ die unreifste der theologischen Schriften der Bückeburger Zeit, so zeichnet sich des Verfassers praktisch-religiöser Standpunkt am kenntlichsten und auffälligsten in den gegen Spalding gerichteten „Provinzialblättern“. In einem Stil geschrieben, der sich über das Uebliche der deutschen Syntax wie geflissentlich hinwegsetzt, ist die Schrift (die man freilich nicht in der untreuen Redaction der Vulgatausgabe der Herder’schen Werke lesen darf) auf allen Seiten der Protest der vollkräftigen gegen die zahme, sich mit ihren Ansprüchen bescheidende, ihre Schwächen beschönigende Spalding’sche Religiosität. Die Kirche ist dem Verfasser eine göttliche Anstalt, die Bewahrerin des Schatzes der Offenbarung und nicht eine „Bildungsakademie für die Unterthanen Sr. Majestät des Königs“. Der Prediger ist nicht ein „Lehrer der Weisheit und Tugend“, sondern ein Organ göttlich geoffenbarter [74] Wahrheit. Auslegung der Bibel sein Hauptgeschäft. Keine Metaphysik und keine Schönrednerei auf der Kanzel! Das höchste Vorbild aber des Geistlichen die Propheten, Christus und Christi Apostel.

Durch ihre regelverachtende Schreibart wie durch ihre polternde Polemik machten sehr begreiflicher Weise diese Schriften einen ungewöhnlichen Lärm, ja, die Provinzialblätter verwickelten H. in einen persönlichen Streit mit Spalding und dessen Freund Teller; sie zogen ihm, nicht ohne sein Verschulden, noch in weiteren Kreisen den Vorwurf der Zweideutigkeit und Absichtlichkeit zu. Die Scheu vor neuem Aergerniß und die Erinnerung an die Erfahrungen, die er ehedem mit Klotz gemacht, waren ohne Zweifel der Hauptgrund, weshalb er die erwähnte, schon druckfertige Sammlung von Volksliedern einstweilen zurücknahm. Aber auch die Haltung seiner nächsten Schriften wurde günstig dadurch beeinflußt. Sie galten dem Neuen Testamente. Die eine knüpfte an die Besprechung der Briefe des Jacobus und Judas Erörterungen über die Urgeschichte des Christenthums, die andere, bedeutendere, zog das durch Anquetil kürzlich bekannt gewordene Avesta zur Erläuterung der Evangelien, insbesondere des Evangelium Johannis herbei. In Wahrheit waren die „Erläuterungen“ nicht sowol aus der Sprache der Zend-Religion, als vielmehr aus dem Gefühl orientalisch-religiöser Denkweise, aus des Verfassers eigner Sympathie mit den Anschauungen der neutestamentlichen Autoren geschöpft, und damit traten sie in einen vollberechtigten Gegensatz sowol gegen die trocken orthodoxe, wie gegen die verflachende rationalistische Auffassung der biblischen Vorstellungen. H. lehrte eben Poetisches poetisch, Religiöses religiös verstehen. Nur freilich: wenn er sich dabei nicht blos verstehend, sondern als ein selbst Gläubiger in die tiefsinnige Symbolik der evangelischen Christologie versenkte, so zwar, daß er die Ideen des Christenthums mit der Ethik des Spinoza in Verknüpfung brachte, so gab das dem Buch einen eigenthümlich unklaren und zweiseitigen, einen unkritisch-mystischen Charakter. –

Mit all’ diesen Schriften hatte H. immer zugleich die Absicht gehabt, sich „von Bückeburg wegzuschreiben“. Denn wenn er auch in seinen vier Wänden, zumal nachdem ihn seine Frau am 28. August 1774 mit einem Knaben beschenkt hatte, ein glücklicher Mann war, wenn auch, neben der Fortdauer des schönen Verhältnisses zu seiner Herrin, seine Umgangsbeziehungen, sowie die Stellung zu seiner Gemeinde sich gebessert hatte – immer doch drückten ihn die kleinlichen Zustände des Ortes und die Beschränktheit seines Wirkungskreises. Die Punkte insbesondere, in denen der Herr und der Diener sich abstießen, tauchten immer von Neuem auf. Als ihm im Frühjahr 1775 zu seinen übrigen Functionen die erledigte Superintendentur im Bückeburgischen übertragen wurde, mußte er sich bei dieser Gelegenheit eine knausernde Gehaltsverkürzung gefallen lassen. Wenige Wochen danach hatte er auf Verlassung des Eutiner Hofs eine Reise nach Darmstadt gemacht, um dort den Prinzen, seinen ehemaligen Zögling, vor der Thorheit eines Uebertritts zum Katholicisms zu bewahren. Die Reise mit ihrem geheimgehaltenen Zweck hatte die Eifersucht des Grafen erweckt, und als nun gar, nach der Rückkehr, ein scandalöser Handel, die H. zugemuthete und mit leidenschaftlichem Rechtsgefühl von ihm verweigerte Ordination eines unwürdigen Candidaten, den Grafen in die Nothwendigkeit des Nachgebens brachte, so waren sich die Beiden wieder fremder geworden als zuvor. Eben zur Zeit der von Neuem ausgebrochenen Verstimmung hatte sich glücklicher Weise für H. die, wie er meinte, erfreulichste und sicherste Aussicht zum Fortkommen aus diesem „despotischen Narren- und Zauberlande“ eröffnet. Schon längst hatten Heyne und Herder’s Freunde im hannoverischen Ministerium an seiner Berufung nach Göttingen gearbeitet; wiederholt war mit ihm darüber verhandelt [75] worden und wiederholt waren die Verhandlungen ins Stocken gerathen. Jetzt, im August 1775, erfuhr er, daß er zur vierten Professur der Theologie und zum Universitätsprediger vorgeschlagen sei. Er erfuhr demnächst, daß es einer Gegenpartei gelungen sei, Sr. Großbritannischen Majestät Bedenken gegen seine Rechtgläubigkeit beizubringen. Die Bemühungen, diese Bedenken zu beseitigen, spitzten sich endlich in das Ansinnen zu, daß er sich – etwa in Verbindung mit der Erwerbung der theologischen Doctorwürde – zu einem Colloquium vor der Göttinger Facultät verstehen möge. Mit Entrüstung wies er das „Knaben- und Ketzerverhör“ zurück; allein sein Gegenvorschlag – ein schriftliches Colloquium – war doch gar zu unpraktisch; die Freunde in Göttingen und Hannover redeten so wohlwollend, so dringend zu, daß er am Ende doch, widerwillig nachgebend, Ende Januar 1776 sich „zu dem sauren Gange nach Göttingen“ fertig machte. Der saure Gang sollte ihm dennoch erspart werden; denn ein treuer Freund hatte inzwischen anderswo für ihn gearbeitet. Seit dem 7. November 1775 befand sich Goethe in Folge der Einladung Karl Augusts in Weimar. Schon wenige Wochen danach hatte er H. eine Andeutung gemacht, daß „der Herzog eines Generalsuperintendenten bedürfe“, und H. war mit Freuden auf die neue Aussicht eingegangen. Leichtes Spiel hatte der Freund nicht. Denn auch in Weimar hatte man ausgesprengt, der Bückeburger Consistorialrath sei kein Geistlicher, könne nicht predigen, glaube nicht an Christum u. dgl. m. Trotzdem trieb Goethe die Sache durch. Anfang Februar 1776 erhielt H. die officielle Anfrage wegen Annahme der Generalsuperintendentur. Die Göttinger Verhandlungen wurden abgebrochen; noch verursachten die Ansprüche des Weimarischen Magistrats, der seinerseits den designirten Generalsuperintendenten und Oberconsistorialrath zum Oberpfarrer an der Stadtkirche wählen mußte, eine längere Verzögerung; im Juni indeß war auch dies aufs Reine gebracht; und an demselben Tage, an welchem er vor sechs Jahren den Ruf des Grafen Wilhelm angenommen, erbat H. jetzt von demselben seine Entlassung. Er schied von einem einsamen und gebrochenen Manne; denn die Gräfin, von der ihm der Abschied am schwersten geworden wäre, war nach längerem Siechthum, bereits am 16. Juni ihren Leiden erlegen: bei dem Rückblick, den er in seiner Abschiedspredigt auf seine Bückeburger Amtswirksamkeit warf, durfte er es als eine göttliche Fügung bezeichnen, daß er sein Amt zu eben der Zeit beschließen sollte, da sie, die ihm so viel gewesen, ihr Leben beschloß. Es war ein wichtiger, seit dem Abschied von Livland, wohin er bisher noch immer seine Blicke zuweilen zurückgewandt hatte, der wichtigste Wendepunkt seines Lebens. Erst nun gibt er jeden Gedanken, nach Riga zurückzukehren, endgültig auf. Der neue Schauplatz, den er in der Blüthe des männlichen Alters betritt, den er nur einmal noch behufs einer längeren Reise verlassen sollte, stellt ihn unter den Einfluß von Lebens- und Bildungsbedingungen, völlig verschieden von denjenigen, die ihn während des Bückeburger Exils umgeben hatten. Die Epoche drangvoller Unbestimmtheit und mystischer Ueberschwänglichkeit ist vorüber. Je länger je mehr ist er in den ersten zwölf Jahren in Weimar zu der geistigen Höhe und der schriftstellerischen Reife durchgedrungen, von der er erst in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens allmählich wieder einen Niedergang erfahren sollte. Erst in Weimar ist er zu dem Stern erster Größe geworden, als der er in der Geschichte des deutschen Geistes glänzt, und Weimar hinwiederum nennt neben den Namen Wieland’s, Goethe’s und Schiller’s den seinigen, so oft es sich rühmt, die Metropole unserer klassischen Litteratur gewesen zu sein.

Am 2. October[1] 1776 in später Abendstunde langte die seit Kurzem durch einen zweiten Knaben vermehrte Herder’sche Familie in Weimar an. Von allen [76] Seiten kam man dem neuen Generalsuperintendenten mit Hochachtung und Erwartung entgegen. Einen Versuch, mit dem er bei seiner Einführung ins Consistorium überrascht wurde, ihn in seinen Rechten, als Geistlichen der Stadtgemeinde, zu beeinträchtigen, schlug er tapfer zurück, und alle albernen Gerüchte, die man über ihn ausgesprengt hatte, machte er durch seine am 20. October gehaltene Antrittspredigt verstummen. „Ich bin hier“, schreibt er ein Vierteljahr nach seinem Eintritt in Weimar, „allgemein beliebt und geehrt bei Hofe, Volk und Großen: der Beifall geht bis ins Ueberspannte“. Nicht lange indeß hielt diese sanguinische Ansicht der Dinge, nicht lange der gute Wille, mit dem er gekommen war, sich hier vom Lesen und Autorisiren zu den ihn erwartenden würdigeren und wichtigeren Amtsgeschäften mit ganzem Ernste hinzuwenden, gegen die Last dieser Geschäfte und gegen die sich ihm in den Weg stellenden Hindernisse vor. Fünf Jahre war die Stelle, die er bekleidete, unbesetzt gewesen. Es gab Arbeit, unerfreuliche Arbeit in Hülle und Fülle. Neben den regelmäßigen Predigten und den zahlreichen Amtshandlungen lag ihm die Beaufsichtigung der Geistlichen und Schullehrer, die Abhörung ihrer Beschwerden und – das Verdrießlichste von Allem – die regelmäßige Revision von Kirchenrechnungen seiner Diöcese ob. Schlimm, daß er gleich im ersten Winter, der ganz dem Einleben in seinen neuen Wirkungskreis gewidmet werden mußte, wiederholt an einem Gallenfieber erkrankte, von dem er in Pyrmont Heilung und Erholung suchte, das aber den Grund zu mancher folgenden Krankheit legte. Schlimmer, daß die Kreise, auf deren Entgegenkommen er zu erfolgreichem Wirken angewiesen war, ihm allerlei Hemmungen bereiteten. Das Consistorium wurde durch den Consistorialpräsidenten v. Lynker und durch den Minister v. Fritsch regiert, und da namentlich der Letztere mit Zähigkeit an den hergebrachten Formen hing, so war es die Regel, daß der neue Consistorialrath auch mit seinen berechtigtsten Reformvorschlägen in der Minorität blieb. Von den Anhängern des Alten gehemmt, fand er leider auch bei den Genialen nicht die erwartete Unterstützung. Es wollte ihm vorkommen, als ob Goethe, in dem Bestreben, die Schiefheiten der früheren Erziehung des Herzogs gut zu machen, in das entgegengesetzte Extrem einer übertriebenen Betonung kraftvoller Natürlichkeit ausschweife; er glaubte zu bemerken, daß der Herzog und sein poetischer Mentor mit einer gewissen Geringschätzung auf Alles herabsähen, was kirchliche oder Schuleinrichtung hieß und daß sie nichts lieber gesehen hätten, als wenn auch er in ihren Ton eingestimmt hätte. Mit kopfschüttelndem Verdrusse sah er dem Treiben der Beiden und der naturalistisch-kecken Lebenssitte, die an dem neuen Hofe Platz gegriffen hatte, zu. Nur natürlich, daß er sich im Ganzen auf die Seite derjenigen stellte, welche, gleich ihm, durch die neue Ordnung der Dinge verletzt oder verstimmt waren. Den Mittelpunkt dieser Partei bildete Karl Augusts junge Gemahlin, die edle Herzogin Luise. In gegenseitiger Verehrung trat man sich nahe. Er wurde ihr Lehrer in der englischen und lateinischen Sprache; er wurde, soweit diese selbständige Natur es bedurfte, ihr eine Stütze und ein theilnehmender Freund. Auf derselben Seite stand ihr Oberhofmeister Graf Görtz, den er mit Bedauern schon 1778 von Weimar scheiden sah. Auch mit Knebel verbanden ihn gleiche Grundsätze und gemeinschaftliche Interessen zu einer im Laufe der Jahre immer inniger werdenden Freundschaft. Daneben entwickelte sich ein herzliches Verhältniß zu dem originellen Einsiedel, ein gemüthlich freundschaftliches zu dem gutmüthig-verträglichen Wieland, dem es mit seinem elastischen Enthusiasmus möglich war, sich mit Jedermann gut zu stellen. Wieland’s große Gönnerin, die verwittwete Herzogin Amalia, zog auch ihn in ihre Cirkel und wandte ihm dauernd Gunst und Auszeichnung zu. Am sichersten überhaupt war ihm überall die Gunst der Frauen; ganz besonders gelang es [77] der zierlichen Frau v. Schardt, die sogar seine Schülerin im Griechischen wurde, noch bei ihm und seiner Gattin einzuschmeicheln. Auch außerhalb Weimars gewann ihm seine persönliche Anziehungskraft Gönner und Freunde. Es gab ebensowol Berührungspunkte mit dem weichen, schöngeistigen Dalberg in Erfurt, wie mit dem voltairisch gesinnten Prinzen August in Gotha, wo außerdem die Frau des Ministers v. Frankenberg seine große Freundin wurde. Zu Goethe leider gestaltete sich sein Verhältniß aus dem angeführten Grunde anfangs keineswegs so günstig wie für beide Theile zu wünschen gewesen wäre. Dasselbe erscheint während der ersten sieben Jahre durchaus wie der Anblick eines bedeckten Himmels, der nur zuweilen von durchbrechenden Sonnenblicken erhellt ist. Man zieht sich nur an, um sich wieder abzustoßen, und aus wiederholte Annäherungen, die der Jüngere bei seiner alten Verehrung für seinen Straßburger Lehrer mit Freuden verzeichnet, folgt nur um so sicherer neue und größere Entfernung. „Es ist und bleibt“, schreibt beispielsweise H. im December 1780 unter bitteren Ausfällen auf das Verhalten des Herzogs und seines Vertrauten, „gegen diese Herren mein Vorsatz, sie gehen zu lassen und mich um sie nichts zu kümmern. Mein Stillschweigen und stumme Entfernung mit Absagung all’ ihrer Ehren und Blendwerke drückt sie, ohne doch daß sie im mindesten sich um etwas Anderes bemühen wollten. Also sind wir durch Gott, unsre Aemter und unsre Naturen geschieden“. Den Gipfel endlich erreichte Herder’s Verstimmung gegen den, der ihm der treueste und nützlichste Freund hätte sein können, als dieser im Juni 1782 in den Adelstand erhoben und nach der plötzlichen Entlassung des Kammerpräsidenten v. Kalb thatsächlich mit dessen Stellung betraut wurde. Mit kaum verhehlter Eifersucht, jedenfalls mit der ganzen Befangenheit des schlecht unterrichteten Parteigängers, sah er damals auf den „Herrn von Goethe, welcher Hof hält“, um seinerseits diesem Hofhalten fern zu bleiben und – sich von Weimar wegzuwünschen!

Gleich gegen das beginnende und so ferner gegen das wachsende Mißbehagen über seine Weimarer Situation fand inzwischen der geistvolle Mann mit den unerschöpflichen Hülfsquellen seines Inneren, wie so oft schon, Trost und Zuflucht in litterarischer Thätigleit. Weimar, so erklärt er sich im Herbst 1777 gegen seinen alten Verleger in Riga, soll ihm „in Ansehung der Autorschaft wie Riga werden“. Die älteste Urkunde soll vollendet werden; die Fragmente sollen als ein ganz neues Werk wiederaufleben. Schon Geschriebenes, aber Unveröffentlichtes, das er, „wie Aeneas seine Penaten, aus Bückeburg mitgenommen“, soll nach vorgängiger Verarbeitung veröffentlicht, seine bisher gedruckten Schriften sollen in neuen, verbesserten Auflagen zum zweiten Male ans Licht gestellt werden. So war sein Programm, und in umfassender Weise ist es zur Ausführung gekommen, so freilich, daß es bei der Ausführung sich mannichfaltig modificirte. Die beabsichtigten neuen Auflagen wurden zu ganz neuen Werken, welche die Spuren der geänderten Umstände und der fortschreitenden Entwickelung des Verfassers an der Stirne trugen. Neue Gedankenmassen setzten sich an die wiederholten alten an und überwucherten dieselben. Ein ganzer Wald von Schriften wuchs, in Folge der Verpflanzung jener älteren Stämme in neues Erdreich, empor. Manches ursprünglich nicht in Aussicht Genommene sproßte zwischendurch in die Höhe und rankte sich um die Hauptarbeiten herum.

Um von diesen Nebenarbeiten zuerst zu sprechen, so verdankte ein Theil derselben seinen Ursprung dem Verhältniß zu Wieland, dem er „seinen Merkur stärken zu helfen“ schon in der letzten Bückeburger Zeit begonnen hatte. Auf die Aufsätze über Hutten und Copernicus und über die „Zwei Schwestern Philosophie und Schwärmerei“ folgten im Jahrgang 1777 die über Reuchlin und Savonarola; besonders reichlich aber flossen die Herder’schen Beiträge für die [78] Jahrgänge 1781 und 82. Hier findet sich das schöne Andenken an Winckelmann, Lessing und Sulzer, hier die „Jüdischen Dichtungen und Fabeln“, die durch eine eigne Zugabe bereicherte Uebersetzung von Hemsterhuis’ „Ueber das Verlangen“, ferner die Gespräche über Seelenwanderung, über Hades und Elysium und jene polemischen Briefe gegen Nicolai’s Buch über die Tempelherrn, die, voll übereilter und gewagter Sätze, doch nur dem verhaßten Gegner zu einem neuen Triumphe verhalfen. Das Andenken an Winckelmann gab in verkürzter Form den Inhalt einer durch ein Preisausschreiben der Cassel’schen Gesellschaft der Alterthümer veranlaßten Lobschrift wieder. Denn immer wieder lockten derartige Aufgaben den wissenschaftlichen Ehrgeiz des schreibfertigen Mannes. Dreimal noch warb er in diesen Jahren mit Erfolg um akademische Preise. Die von der Münchener Akademie 1778 gekrönte Abhandlung „Ueber die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten“ ist im Grunde eine Geschichte der Poesie in nuce, ausgehend von dem Satz, daß ächte Poesie als die Sprache der Sinne, der Leidenschaft, der Phantasie, ihrem eigensten Wesen nach wirkend sei, hinauslaufend auf den Nachweis, daß es nur da eine Sitten schaffende und bildende Poesie geben könne, wo Religion, Volk und Vaterland lebendige Mächte seien. Pädagogische und politische Fragen streift er in der unter Anderm die Mängel der Universitätsverfassungen, die Grenzen der vom Staat über Sitten und Litteratur zu übenden Polizei besprechenden Abhandlung vom J. 1780: „Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften und der Wissenschaften auf die Regierung“. Erinnernd an die alten Reformpläne des Tagebuchs von Nantes und andererseits an die nachmals (1788) für den Markgrafen von Baden aufgesetzte Denkschrift über die Errichtung eines patriotischen Instituts für den Gemeingeist Deutschlands verdiente sie ihm zum dritten Male den Preis von der Berliner Akademie, deren Mitglied er doch, da er es trotz des gegebenen Winkes verschmähte, sich um die Aufnahme zu bewerben, erst sieben Jahre später wurde. Die mit rascher Feder niedergeschriebene Abhandlung endlich „Ueber den Einfluß der schönen in die höheren Wissenschaften“ – eine beredte Declamation gegen das oberflächliche Buhlen mit den Künsten und eine beredte Empfehlung der schönen Wissenschaften, sofern sie, ernst getrieben, das Gefühl der Menschlichkeit bilden – verschaffte ihm 1781 einen zweiten Preis von der Münchener Akademie.

Näher oder entfernter stehen alle diese Gelegenheitsschriften – zu denen in den späteren Jahren noch eine Anzahl Vorreden zu den Werken Anderer hinzuzunehmen wären – in einer inneren Beziehung zu den größeren Arbeiten dieser Jahre. Sie erläutern diese oder empfangen durch diese Erläuterung. Selbst die Herder’sche Vorrede zu der neuen Ausgabe des Weimar’schen Gesangbuchs von 1778 ist nur eine specielle Anwendung der Anschauungen, auf denen die jetzt endlich zur Veröffentlichung gelangende Volksliedersammlung beruhte. Boie, der die Verhandlungen mit dem Verleger geleitet hatte, übernahm die Ankündigung des Erscheinens der Sammlung in einer Nachschrift zu dem Aufsatz, mit welchem H. im Novemberstück des Deutschen Museums 1777 „Von Aehnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst“ präludirte. Der Aufsatz, der neben dem ästhetischen vor Allem den patriotischen Gesichtspunkt betont, war eine Quintessenz der Vorreden, die der Verfasser vier Jahre zuvor zu den vier Büchern der ursprünglichen Sammlung geschrieben hatte. Er richtete jetzt zugleich einen Hieb gegen die von Nicolai kürzlich aufgetragene „Schüssel voll Schlamm“ – den in parodistischer Absicht von diesem herausgegebenen „Kleinen feynen Almanach“ – und that dagegen Bürger’s, der „die Sprache und das Herz der Volksrührung tief kenne“, in ehrenvoller Weise Erwähnung. Die Sammlung selbst war einestheils eine, in Ansehung der deutschen Lieder, gereinigte, anderntheils [79] eine durch reichlichere Mittheilung von Liedern fremder Nationen vermehrte. Im Mai 1778 erschien der erste Theil „Volkslieder“ mit seinen drei Büchern von je 24 Liedern und gerade ein Jahr später folgte der zweite unter dem Titel „Volkslieder nebst untermischten anderen Stücken“, weitere drei Bücher mit je 30 Liedern enthaltend. Nur auf das Drängen seiner Freunde, namentlich Gleim’s, und seiner Frau hatte er sich zu der Veröffentlichung entschlossen. Selten ist seine liebenswürdige Gabe in so unliebenswürdiger Weise dargeboten worden. Mehr „Auswurf des Unmuths als Sammlung, Werk“ nannte H. den ersten Theil gegen Lessing, und so, in der That, stellt sich noch mehr der zweite Theil mit seiner gegen die Spötter und Verächter, gegen die Nicolai und Ramler bitter angehenden Vor- und Nachrede dar. Allein was so mit Unmuth gegeben wurde, war mit dem ganzen Eifer der Liebe gesammelt worden. Durch die reichen Schätze ursprünglicher Liederpoesie, die hier probeweise zur Ausstellung gebracht wurden, bewährte sich der Satz, daß die Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechts und eine allgemeine Völkergabe sei; es bewährte sich der Satz des Sammlers, daß das Wesen des Liedes Gesang sei, und wunderbar war es ihm da, wo er Uebersetzer war, geglückt, vor Allem die poetische Melodie der einzelnen Stücke treu wiederzugeben. Die Wirkung konnte nicht ausbleiben. Von Herder’s Volksliedersammlung (den „Stimmen der Völker“, wie Joh. v. Müller die von ihm neu redigirte Sammlung in den „Sämmtlichen Werken“ umtaufte) datirt eine ganz neue Schätzung lyrischen Gesanges, eine unendliche Erweiterung des litteraturgeschichtlich-ästhetischen Gesichtskreises, die zu immer anderen, noch heute nicht abgeschlossenen Forschungen und Entdeckungen in der Welt der Volksphantasie, des Liederlebens der Völker geführt hat, und reichlich wurde so des Herausgebers Absicht erreicht, daß „manche verdorrte Zweige unsrer Poesie aus diesen unansehnlichen Thautropfen fremder Himmelswolken sich neu erfrischen möchten“.

Neben dem ersten Theil der Volkslieder waren es – um Herder’s eigne Worte zu brauchen – noch ein paar andere „Gerichte alten aufgewärmten Kohls“, die er, müde, „unter dem alten sächsischen Dreck zu wühlen“, in dem einsam verlebten Winter von 1777 auf 78 für das Publicum zubereitete. Nur wenige Wochen nach jenem ersten Theil erschienen, wie zwei zusammengehörige Zwillinge, die „Plastik; einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume“ und „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele; Bemerkungen und Träume“. Die erste dieser Schriften, alten Datums, seit dem Aufbruch aus Eutin liegen geblieben, auch jetzt nicht sowol vollendet als vielmehr rasch unter Dach und Fach gebracht, nennt sich selbst „den unvollkommenen Anfang zu ähnlichen Versuchen einer Anaglyphik, Optik, Akustik etc.“. Ihr Inhalt nichtsdestoweniger macht sie zu einem köstlichen Seitenstück zum Lessing’schen Laokoon. Denn wenn dieser die Grenzen der bildenden Künste und der Poesie abgesteckt hatte, so geht H., gegenüber der damals herrschenden Praxis, bei welcher Malerei und Sculptur ihre Rollen geradezu vertauscht zu haben schienen, zu einer kritischen Auseinandersetzung der Grenzen der bildenden Künste gegeneinander fort. Ausgehend von einer Analyse des Gesichts- und Gefühlssinns entwickelt er, daß die Malerei, als die Kunst des Auges, den „Anschein der Dinge“, das Nebeneinander, die Plastik dagegen, als die Kunst des Gefühlssinns, die Körperlichkeit und also ein Ineinander zur Darstellung bringe. Er verfolgt diesen Gesichtspunkt in alle seine Consequenzen bezüglich der beiden Künsten zukommenden Stoffe, Bedingungen, Schranken, Verfahrungsweisen und sonstigen Eigenthümlichkeiten. Er erklärt sich namentlich – in voller Uebereinstimmung mit dem Kampfe, den er gegen die blos correcte Dichterei, gegen die nüchterne Auffassung der Religion, gegen die begriffszergliedernde [80] Philosophie des Jahrhunderts geführt hatte – gegen den ästhetischen Formalismus der bildenden Künste. Nicht in der abstracten Farbe und nicht in der abstracten Linie liegt nach ihm das Geheimniß der Schönheit: es liegt in der erfüllten und beseelten Gestalt; die Schönheit ist Ausdruck der Gesundheit und des kräftigen Lebens – die bedeutende Erscheinung innerer Vollkommenheit. Aus derselben Wurzel war die andere – die vor drei Jahren in Berlin ungekrönt gebliebene Abhandlung „Vom Erkennen etc.“ erwachsen. Auch sie geht von den Sinnen aus und zeigt, die Wolf’sche Psychologie durch Leibnitz, Leibnitz durch die Gedanken der englischen Philosophie, durch die Lehren der Haller’schen Physiologie, endlich durch die ethischen Anschauungen Spinoza’s berichtigend und ergänzend, daß Empfinden, Denken, Wollen nicht besondere Grundkräfte der Seele, sondern nur Stufen des Einen vom ganzen Weltall geregten, ihm harmonisch zugebildeten Menschengeistes seien. Bemerkenswerth sind die bei der nunmehrigen Herausgabe der ehemaligen Preisschrift im Schlußabschnitt angebrachten Veränderungen. Der Ausfall, den hier der Verfasser gegen die himmelstürmenden Genies thut, die sich „im Abgrund ihrer positiven Kraft mit Sonne und Mond baden“, hat offenbar zum Hintergrund das ihm so verdrießliche geniale Treiben am Weimarer Hofe. Das nächste, gleichfalls schon in Bückeburg vorbereitete, im Sommer 1778 vollendete Schriftchen verrieth schon durch seinen Titel „Lieder der Liebe; die ältesten und schönsten aus Morgenlande; nebst vier und vierzig alten Minneliedern“, wie eng im Geiste des Verfassers das Interesse für Volkslieder mit dem Interesse für die Bibel zusammenhing. Es war der mit dem reinsten Enthusiasmus geführte Nachweis, daß das Salomonische Hohelied, an dem sich so lange die allegorisirende Geschmacklosigkeit, gelegentlich auch die Frivolität versündigt hatte, durch und durch poetisch, ja daß es das Urlied der Liebe sei, das „in seiner uralten hebräischen Einfalt“ alle Situationen und Wendungen der Liebe aufs Zarteste zum Ausdrucke bringe. Ganz verwandten Geistes endlich die Auslegung der Apokalypse, wie sie, nach mehrfacher Ueberarbeitung des ehemaligen Bückeburger Manuscripts, im Herbst 1779 unter dem Titel „Maran Atha; das Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel“ ans Licht trat. Auch hier wird die übliche typisch-allegorische durch eine poetische und zugleich geschichtliche Auffassung verdrängt, so freilich, daß der religiöse Inhalt des prophetischen Buchs die unbefangene kritische Betrachtung fesselt und einer mystisch idealisirenden Ansicht Vorschub leistet.

H. hatte die Stunden zur Abfassung oder vielmehr zur umarbeitenden Redaction aller dieser Schriften anderen „vielleicht nothwendigeren Arbeiten“ gestohlen. Aber wie, wenn seine Schriftstellerei in unmittelbare Verbindung mit den Pflichten und Zwecken seines Amts gesetzt werden könnte? So hatte er früher aus seinem Beruf heraus die Provinzialblätter geschrieben. Wie, wenn er neue, unpolemische Provinzialblätter schriebe? Um „der großen Unwissenheit und Rathlosigkeit seiner jungen Landgeistlichen abzuhelfen“, um ihnen für ihr Studium mehr zu geben, als was sie von der Universität mitbrachten, verfaßte er im J. 1780 in raschem Flusse die „Briefe das Studium der Theologie betreffend“, deren zwei erste Theile Michaeli 1780, die zwei folgenden 1781 erschienen. Es ist nicht die ausgearbeitetste Schrift Herder’s, ja sie ist kaum zu Ende geführt. Der Verfasser behielt noch so viel in petto, daß er meinte, das Ganze sei „nur noch immer Vorsaal, und das eigentliche Kabinet des Christenthums und geistlichen Amts habe er sich noch ganz aufgehoben“ – wie sich denn Bruchstücke einer Fortsetzung in den „Briefen an Theophron“ und in dem „Entwurfe der Anwendung dreier akademischer Jahre“ erhalten haben. Gerade in diesem raschen Wurf jedoch ist es ein köstliches Buch geworden, das mächtig wirkte und – wie die schon nach wenigen Jahren nöthig gewordene, [81] nun erst mit Herder’s Namen bezeichnete zweite Auflage (1785. 86) bewies – die günstigste Aufnahme fand. Die glückliche Veränderung, die mit dem Verfasser in den letzten Jahren vor sich gegangen, zeigt sich gerade hier noch auffälliger als in den Schriften über das Hohelied und die Apokalypse. Nicht umsonst hatte er die Luft gewechselt. Er selbst empfand den wohlthätigen Einfluß der neuen Atmosphäre. Schreibt er doch, nur erst ein Jahr in Weimar, mit Beziehung auf seine litterarischen Projecte, seitdem er in Sachsen sei, mehr Menschen kenne und von mehreren gekannt werde und er geprüfter, reifer und stärker werde, solle hoffentlich ein zweites Mannesalter seines Lebens beginnen. Die „Theologischen Briefe“ bezeugen es auf allen Blättern. Er ist nicht mehr der theologische Stürmer und Dränger, der er in Bückeburg gewesen. Der Streitton, der sich in den älteren theologischen Schriften so unangenehm laut machte, ist wesentlich gedämpft, ja die persönliche Polemik ist durchaus vermieden und macht wieder der Anerkennung der positiven Verdienste eines Spalding, Michaelis etc. Platz. Gewichen ist die exaltirte Gläubigkeit der Aeltesten Urkunde und der Erläuterungen. Der Geist der Mäßigung und Milde, der Freiheit und humanen Bildung durchweht diese Briefe und spiegelt sich dann auch in dem von dithyrambischen Absonderlichkeiten, von sprachlichen Rücksichtslosigkeiten und Willkürlichkeiten gereinigten Stil. So sind diese Briefe eine zwanglose Encyklopädie und Methodologie der Theologie mit beständigen Ausblicken auf alles Schöne und Nützliche auch der weltlichen Gelehrsamkeit. „Das beste Studium der Gottesgelehrsamkeit ist Studium der Bibel und das beste Lesen dieses göttlichen Buchs ist menschlich“ – von diesem Satze gehen sie aus und gestalten sich daher zunächst zu einer den poetisch-menschlichen Gehalt der Bibel aufschließenden Einleitung in die alt- und neutestamentlichen Schriften. Auf diesem biblischen Grunde hält sich ebenmäßig auch die weitere Entwickelung, die nun zur Dogmatik, zur Dogmengeschichte, endlich zur praktischen Theologie übergeht und hier unter Anderem goldene Winke über die rechte Weise des Predigens gibt. „Die Theologie ist ein liberales Studium und verlangt keine Sklavenseele“ – in diesen Worten faßt sich der allgemeine Sinn und Standpunkt des Briefstellers zusammen.

Es erhöht den Reiz des ganzen zweiten Bandes, sowie der ungedruckten Stücke zur Fortsetzung der „Theologischen Briefe“, daß die Briefform aufgehört hatte, eine bloße litterarische Einkleidung zu sein. Vielfach hatte der Verfasser dabei einen jungen Theologen im Auge, der sich ihm gerade in dieser Zeit vertrauensvoll genaht hatte, um dann mit rührender Treue zeitlebens an ihm festzuhalten. In seinem neunzehnten Jahre war Johann Georg Müller, der jüngere Bruder des Verfassers der Geschichte der Eidgenossenschaft, mit Herder’s älteren theologischen Schriften bekannt geworden. Von Göttingen, wo er nun Theologie studirte, trieb es ihn, für die in seinem Innern stürmenden Zweifel bei dem verehrten Manne Rath und Hülfe zu suchen. Er fand vollauf, was er gesucht. Die acht Tage, die er im October 1780 in Herder’s Familie verkehrte, wurden entscheidend für sein Leben, bestimmend für die Richtung seines Geistes. Aus Müller’s Tagebuchaufzeichnungen über jene Tage, aus der durch dreiundzwanzig Jahre fortgesetzten Correspondenz desselben mit dem väterlichen Freunde und dessen Gattin erkennt man, welch’ ein Schatz von Liebenswürdigkeit, von Herzlichkeit, von menschenbildender und menschenbeherrschender Gewalt in dem Manne lag, der bei persönlicher Berührung mit minder gleichgesinnten Gemüthern so leicht reizte und verwundete und selbst wieder verwundet wurde. In Müller erzog sich dieser Mann wenigstens Einen Theologen ganz nach seinem Sinn und Ideal. Denn den ganzen kommenden Winter von 1781–82 lebte nun jener in Herder’s Hause, um unter dessen persönlichster Leitung seine theologische [82] Bildung zu vollenden. Noch vor seiner Rückkehr in die Schweiz aber erschien auch Johannes Müller bei Herder, und auch das mit diesem geschlossene Bündniß hat in der wechselseitigen Einwirkung beider Männer auf einander die reichsten Früchte getragen.

Daß es dem jungen Schweizer während jenes Winters in Weimar so wohl ward, das hatte seinen Grund auch darin, daß H. gerade jetzt in der gehobenen Stimmung gelingenden Schaffens war. Er hatte die „Theologischen Briefe“ nur abgebrochen, um sie, wie das ja sein gewöhnliches Verfahren war, in einem anderen Werke fortzusetzen oder vielmehr sie in ihrem Hauptfundamente zu vertiefen und weiter auszubauen. Dies Hauptfundament war das Verständniß der Bibel. In weiterer Ferne schwebte ihm der Plan einer mit einer Erklärung begleiteten Uebersetzung der Bibel vor. Als Vorarbeit hiezu aber sollte ein Werk von der Poesie der Hebräer dienen. So wuchs seit Herbst 1781 aus den „Theologischen Briefen“ das Werk „Vom Geist der hebräischen Poesie; eine Anleitung für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes“, hervor, dessen erster Theil Ostern 1782, der zweite ein Jahr danach erschien. Das erste von ihm selbst veröffentlichte Buch, das seinen Namen auf dem Titel trägt, trägt es zugleich den vollen Stempel des Herder’schen Genius. Ein Mißgriff zwar ist die für die ersten Abschnitte gewählte dialogische Form: aber wie leicht vergißt man sie über dem reichen Gehalt! Der Blick des Historikers, die Kenntniß des Philologen, das Verständniß religiöser Empfindung, der ästhetische Sinn und das Geschick poetischer Nachbildung – das Alles findet sich hier beisammen. Ein congenialer Geist erschließt uns den Geist dieser eigenartigen Nationalpoesie voll Natureinfalt und Frömmigkeit. Bis in den Bau der hebräischen Sprache geht er ihrem Ursprung nach und weist ihre Grundlagen in den aus der Urzeit überlieferten kosmologischen Ideen und Bildern, der von religiöser Anschauung getragenen Geschichtsüberlieferung des hebräischen Volks nach. Zugleich mit der weiteren Entwickelung dieses Volks entwickelt sich die Poesie desselben. An die Charakteristik Moses, des großen Führers und Gesetzgebers, schließt sich der Nachweis der Einwirkung von dessen Thaten und Einrichtungen auf die Bildung und Litteratur seiner Nation. Eine neue Epoche beginnt mit David – die Epoche lyrischer, gottesdienstlicher und politischer Cultur. Nur andeutend greift dann das Werk in die dritte Periode, in die Zeit der Propheten hinüber, die in dem beginnenden Verfall an Klage und Vermahnung die Hoffnung knüpften. In großen Zügen, so war der Plan, sollte die litteraturgeschichtliche Entwickelung bis zur Offenbarung Johannis, dem letzten Ausdruck des poetischen Prophetismus des Judenthums, fortgeführt werden. Als die Sterne aber seines Buchs, die überall den Weg erhellen, bezeichnet H. selbst die zahlreich eingeschalteten Uebersetzungen schöner Stellen. Und dadurch nicht am wenigsten hat das Buch gewirkt. Es hat ein Muster für die Behandlung aller Litteraturgeschichte aufgestellt; es hat einen neuen Schwung in die gelehrte Orientalistik, einen neuen Geist in das ganze Studium der Theologie, neue Töne und Anschauungen in unsere Dichtung gebracht. Für Kunde und Verständniß des Orients hat es Aehnliches geleistet wie Winckelmann’s Schriften für das Kunststudium und die Archäologie.

Zusehends überdies schrieb sich H. durch dieses Buch, noch mehr als durch die „Theologischen Briefe“, von seinen ehemaligen mystischen Anschauungen und prophetischen Anwandlungen frei. Vom wohlthätigsten Einfluß war in dieser Beziehung der Lessing’sche Fragmentenstreit auf ihn gewesen. Der Tod Lessing’s, der ihn tief erschütterte, führte ihn von Neuem diesem kritischen Geiste näher, und laut trat er in dem schönen Erinnerungswort auf den Gestorbenen für das unbedingte Recht freier Forschung auch auf religiösem Gebiete ein. Eine [83] andere Bekanntschaft mit einem lebenden Forscher wirkte in der gleichen Richtung. An die Stelle des Kampfes gegen Michaelis trat die Bundesgenossenschaft mit dem bedeutendsten von dessen Schülern, mit Eichhorn, der damals als Professor der orientalischen Sprachen in Jena angestellt und mit dem er 1780 zuerst in Berührung gekommen war. Willig erkannte er die größere Gelehrsamkeit des Mannes an und neidete ihm fast die größere Freiheit, da er selbst, seinem Stande nach, „doch immer wägen und die lindeste Einkleidung, die leiseste Vorstellungsart suchen müsse“. Gleichzeitig mit Herder’s Arbeit an der hebräischen Poesie, schrieb Eichhorn damals an seiner Einleitung ins A. T., und im schönsten Wechseleinfluß förderte der Eine den Andern.

Kein Wunder, daß diejenigen, die gerade von dem Unbestimmten und Ueberschwänglichen der früheren theologischen Schriften Herder’s angezogen worden waren, sich durch die nunmehrigen enttäuscht fühlten. Mit Claudius, der die ihm durch H. verschaffte Stellung in Darmstadt bald wieder aufgegeben hatte und nach seinem Wandsbeck zurückgekehrt war, kam es trotz des unverhohlenen Auseinandergehens in den Ansichten doch nicht zu einem Bruch der Freundschaft. Unerfreulicher gestaltete sich das Verhältniß zu dem Zürcher Apostel. Die „Theologischen Briefe“ machten es klar, daß man im Grunde niemals zusammengehört hatte. Kurz und bestimmt wies H. die Ausstellungen, welche Lavater an dem Buche gemacht hatte, zurück. Da ihre „Sehart zu verschieden, ihre Wege zu auseinandergehend“, so brach er ab, um nie wieder anzuknüpfen. Auch bei späterer persönlicher Begegnung gab es keinen guten Klang mehr. Beide in der That hatten sich verändert, und wenn H. ehedem von der „Herzenswahrheit“ in den „Aussichten in die Ewigkeit“ bezaubert gewesen, wenn er öffentlich zum Lobredner der „Physiognomischen Fragmente“ geworden war, so ergeht er sich fortan in den härtesten Aeußerungen über die Eitelkeit oder gar über die Heuchelei des Propheten.

Was that es, daß sich schied, was sich innerlich nicht mehr vertrug? Wurde ihm doch eben jetzt ein reicher Ersatz durch die Wiederannäherung an Goethe. Der Zeitpunkt, wo sich die bisherigen Mißverständnisse, unter Anderem auch das über die vermeintliche Theilnahmlosigkeit Goethe’s für die erstrebte Verbesserung des Weimarischen Schulwesens lösten, läßt sich genau bestimmen. Mit Goethe’s Geburtstag, dem 28. August 1783, beginnt ein immer lebhafter und herzlicher werdender Verkehr zwischen den alten Freunden und erhält sich ein volles Jahrzehnt hindurch. Die äußeren Verhältnisse, die Divergenz in der unmittelbaren Richtung ihrer Bestrebungen hatte die Beiden getrennt: die ursprüngliche Verwandtschaft ihres Genius, das Zusammentreffen ihrer Anschauungen in einigen ganz wesentlichen Punkten führte sie wieder zusammen. Der eigentlich entscheidende Berührungspunkt war, daß der Eine wie der Andere das wahrhaft Menschliche und das wahrhaft Poetische in der Uebereinstimmung mit der alllebendigen Natur suchte. Von der intuitiven Versenkung in die Idee des Naturganzen ging Goethe zu seinen großen morphologischen Entdeckungen fort: von eben da stieg H. zu dem genetischen Verständniß des Menschen und der Menschengeschichte empor. So bewegte man sich in dem gleichen Studien- und Gedankenkreise. Von dem Einfluß, welchen dabei die ethisch-religiösen Gesichtspunkte Herder’s auf den Dichter ausübten, gibt unter Anderem das schöne Goethe’sche Fragment „Die Geheimnisse“, die poetische Verherrlichung des heiligen Humanus Zeugniß: die Einflüsse des Goethe’schen Naturalismus, vor Allem auch seiner strengen wissenschaftlichen Forschungsweise, sowie andererseits seines geläuterten Formensinns auf H. machen sich in dem größten und durchgearbeitetsten Werke des Letzteren, dem Hauptdenkmal dieser seiner glücklichsten und fruchtbarsten Zeit geltend. Mit den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, deren Erscheinen [84] den Zeitraum von 1784 bis 1791 in Anspruch nahm, war H. auf der Höhe seines Leistens und Könnens angelangt.

Zwar schon vor der intimen Verbindung mit Goethe war das Werk in Angriff genommen. Schon mitten in der Arbeit an der „Ebräischen Poesie“ erhob sich als der große, allumfassende Hintergrund auch dieses wie aller Herderschen Werke der Plan eines „Geistes der Geschichte“, während äußerlich der von seinem Verleger lebhaft unterstützte Vorsatz einer neuen Auflage des kleinen Büchleins zur Geschichtsphilosophie vom J. 1774 mitwirkte. Nur die Größe des Plans, wie er ihn im Winter 1782 bis 1783 zuerst entwarf, ließ wenigstens dem zweiten Bande der „Ebräischen Poesie“ für jetzt noch den Vortritt. Der dritte wurde durch das neue Unternehmen verdrängt. Im Herbst 1783, nach der Rückkehr von einer längeren Reise, auf der er in Hamburg Klopstock kennen gelernt, in Wandsbeck Claudius, in Braunschweig Jerusalem, in Halberstadt Gleim besucht hatte, warf er sich ganz in jenen Plan. Im Zusammenhange mit dem begonnenen innigen Verkehr mit Goethe gelang es ihm nun, die Welt von Ideen, die ihm im Kopfe schwebten, zu formen. Eine Reihe verschiedener Kräfte und Anstöße freilich wirkte im Verlaufe der Abfassung auf die Haltung des großen Werkes ein. Es ist keineswegs von streng einheitlicher Anlage; nicht geradstämmig, sondern mit vielfach gekrümmten Aesten wuchs es auf. Alle diese Einwirkungen indeß verarbeitend, sammelte H. in das merkwürdige Buch wie in ein gemeinsames Bett Alles, was er jemals über göttliche und menschliche Dinge gedacht hatte. Immer und überall war seine Verständigung über Poesie und Religion, über Sprache und Litteratur, über Sitten und Meinungen eine historische gewesen, und hinwiederum hatte seine historische Betrachtung in allewege eine naturalistische Grundlage und einen poetisch-mystischen, einen religiösen Anstrich gehabt. Diese Fäden sämmtlich binden die „Ideen“ in einen zusammen oder vereinigen sie vielmehr in ein schillerndes Gewebe, welches ebendeshalb nur vor einem beweglichen Auge zur Uebersicht gebracht werden kann.

Die Naturgesetze des Geschichtsverlaufs im Gegensatz zu jeder Deutung desselben nach Endzwecken darzulegen ist der große Grundgedanke des Werkes, und hierdurch zumeist, überhaupt durch die versuchte Ableitung des Vernünftigen aus dem Natürlichen, rief H. die scharfen, von überlegener Ironie gefärbten Kritiken Kant’s über den ersten und zweiten Theil in der jüngst gegründeten Jenaer Litteraturzeitung hervor. Von der kosmischen Stellung der Erde geht er aus, um sofort die Erde als eine große Werkstätte des verschiedensten organischen Lebens, den Menschen als das höchste Glied der Entwickelung der in der Erde thätigen organisch-genetischen Kraft zu fassen. Allein der Nachweis eines natürlichen Gesetzes, kraft dessen auch die Vernunft des Menschen und seine Fähigkeit zu freier Selbstentscheidung auf seiner Organisation beruhe, schlägt nun doch um in den Nachweis einer Bestimmung des Menschen. Die Formel, daß der Mensch eben zur „Menschlichkeit“ geboren und daß folglich die Geschichte eine fortschreitende Erziehung des menschlichen Geschlechts zur Humanität sei, verhüllt nur die Kreuzung des naturgeschichtlichen durch den moralisch-religiösen Gesichtspunkt, der namentlich am Schlusse des ersten Theils in der Ausführung, daß der Mensch zur Hoffnung der Unsterblichkeit, für ein über das irdische Leben hinausgehendes Dasein geschaffen sei, stark hervortritt. Betont dann der folgende Band, mit Beiseitesetzung dieser Perspective in ein Jenseits, vor Allem, und zwar in beständiger Polemik gegen Kant und die Metaphysik überhaupt, die unendliche Vielseitigkeit der Natur, die es auf individuelle Mannigfaltigkeit, auf klimatisch und organisch bedingte Glückseligkeit des Einzelnen abgesehen habe, so verbindet sich damit doch, in abermals unklarer und schwankender [85] Weise, der Versuch, eine Kette der Cultur durch alle gebildeten Nationen nachzuweisen. Erst da, wo mit dem dritten Bande zur Schilderung der einzelnen Auftritte des großen Geschichtsdrama’s übergegangen wird, zeigt sich die wahre Stärke des Verfassers. Von China geht er über Indien zu den semitischen Staaten und von da nach Aegypten fort. Man muß billig staunen über die Breite der Studien, die er dabei in geistvoll-compendiöser Weise zu bedeutenden Uebersichten zu verwerthen weiß. Glänzend hebt sich insbesondere die Charakteristik der griechischen Geschichte, für welche Winckelmann, mit eindrucksvollen Zügen das Bild der römischen Geschichte hervor, für welches Montesquieu vorgearbeitet hatte. Es folgt, sehr abweichend von der apologetischen Darstellung, die er zehn Jahre früher in jener kleinen geschichtsphilosophischen Skizze gegeben hatte, die Charakteristik des Christenthums. Es ist neben dem Einfluß von Gibbon’s berühmtem Werk die naturalistische Grundanschauung, die ihn diesmal merkwürdig hart und ungünstig über die neue Religion und ihre Wirkungen urtheilen läßt. In demselben Geiste behandelt er alsbald das gesammte Mittelalter. Er hatte in dem Pamphlet von 1774 den vulgären Anklagen der Aufklärer gegenüber die positiven Seiten des Mittelalters hervorgehoben: er läßt jetzt, umgekehrt, die Hierarchie und das Abenteuer der Kreuzzüge in tiefem Schatten erscheinen. Wesentlich nur in dem gegen den Schluß des Mittelalters sich entwickelnden Städteleben erblickt er ein fruchtbares Element des Fortschritts. Eben hier jedoch, mit dem Ausblick auf die Wiedergeburt der Wissenschaften, auf die Erfindungen und Entdeckungen, welche die neue Zeit heraufführten, bricht das Werk ab. Auch unvollendet hat es bis auf den heutigen Tag den außerordentlichsten Einfluß geübt. Aus Herder’s Ideen hat Hegel’s Philosophie der Geschichte die Kunst gelernt, Thatsachen zu Gedanken zu verdichten. Belebend haben sie auf unsere Geschichtschreibung eingewirkt. Die große Grundanschauung eines tiefangelegten Zusammenhangs von Natur und Geschichte hat die wissenschaftlichen Arbeiten eines Humboldt und Ritter getragen. Siegreich und zielzeigend schwebt dieselbe über den einseitig empiristischen Speculationen im Gefolge der Darwin’schen Hypothese und fordert der ernsteren Forschung immer von Neuem Antwort auf die Frage ab, „welche Bedeutung der Mensch und das menschliche Leben in dem großen Ganzen der überall uns bedingenden und beeinflußenden Natur habe“.

Zu dem Uebergewicht, welches, im Gegensatz zu Kant, die „Ideen“ dem naturgeschichtlichen Gesichtspunkt und der Bekämpfung der Philosophie der Endzwecke einräumten, hatte inzwischen die Beschäftigung mit einem älteren Denker wesentlich beigetragen, der eben jetzt durch Fr. Heinrich Jacobi seine Auferstehung feierte. Schon in der Bückeburger Zeit hatte sich H. von Spinoza angezogen gefühlt: er hatte sich mit dem Gedanken einer Parallele von Spinoza, Shaftesbury und Leibniz getragen. Daß diese Schrift sich jetzt in eine andere über Spinoza verwandelte, war die Folge des Verhältnisses, in das er seit dem J. 1783 zu Jacobi getreten war. Mit einem herzlichen, ja enthusiastischen Brief, den H. von Wandsbeck aus auf Claudius’ Antrieb an den ihm geistesverwandten Mann gerichtet hatte, begann diese Freundschaft, die, vielleicht gerade, weil beide Männer einander zu ähnlich und jedenfalls beide gleich reizbar und von gleich starkem Selbstgefühl waren, in einer langen Reihe von Jahren alle Temperaturgrade wechselnd durchlaufen sollte. Der Beginn des Verhältnisses aber fiel in die Zeit, in welcher Jacobi mit Mendelssohn in eine zunächst briefliche Verhandlung über Lessing’s Spinozismus gerathen war, die ihn zu einem eingehenden Studium des Spinozistischen Systems genöthigt hatte. Nur natürlich, daß er H. alsbald in die Acten seiner mit Mendelssohn geführten Debatten einweihte. Mächtig zündeten diese Mittheilungen bei H. Ueberrascht und erfreut, [86] „so unerwartet an Lessing einen Glaubensgenossen seines eigenen philosophischen Credo zu finden“, erklärte er sich gegen Jacobi in der unumwundensten Weise – für das Spinozistische ἓν χαὶ πᾶν, welches Jacobi selbst als das Bekenntniß des Atheismus und Fatalismus verwarf, um seinerseits an dem eines extramundanen Gottes festzuhalten. Auf die briefliche Aussprache folgte darauf, als sich im September 1784 die Beiden zuerst in Weimar umarmen durften, die mündliche. Der Gegensatz der Auffassungen und Meinungen blieb bestehen, er steigerte sich. Nur immer tiefer las sich H. in Spinoza und in seine der Jacobi’schen widersprechende Deutung desselben hinein. Die naturwissenschaftlichen Studien, in denen er, behufs seiner Arbeit an den „Ideen“, fortfuhr, mit Goethe gemeinschaftlich sich zu ergehen, verschmolzen ganz mit dem Interesse an der pantheistischen Lehre des großen Denkers, und auch Goethe wurde durch H. von Neuem zu eifrigem Lesen der Spinozistischen Ethik angeregt. Und nun, im Herbst 1783, erschienen die Acten des von Jacobi mit Mendelssohn geführten Streites im Druck, unter dem Titel „Ueber die Lehre Spinoza’s; in Briefen an Moses Mendelssohn“. Da trat auch H. mit seiner ganz abweichenden Auffassung jener Lehre vor die Oeffentlichkeit. Im Juni 1787, ungefähr gleichzeitig mit dem dritten Theile der „Ideen“, gab er unter dem Titel „Gott“ Gespräche heraus, deren Inhalt eine Auslegung und Vertheidigung Spinoza’s ist. Es war nichts weniger als eine objectiv treue Darstellung des Spinozistischen Systems. Nur dadurch in der That konnte sich H. mit Spinoza identificiren, daß er ihn umdeutete, daß er seinen eigenen moralisch-religiösen Naturalismus in ihn hineinlas, daß er ihn, ähnlich wie schon Lessing gethan, mit den Augen eines Mannes las, der gleichzeitig unter dem Einfluß der Leibnizischen Gedanken von dem unendlichen Werth der Individualität stand. Mit Allem, was ihm an Spinoza anstößig war, findet er sich einfach dadurch ab, daß er es für Rückstände der Cartesius’schen Terminologie und Schulphilosophie erklärt. Auf diese Weise gelingt es ihm, aus dem logisch-mathematischen Gott des Spinoza ein alllebendiges, ja ein sehendes, mit Selbstheit begabtes Wesen zu machen, eine Urkraft, in welcher Macht, Weisheit und Güte vereinigt sei und die sich in unendlichen organischen Kräften auf unendliche Weise im ganzen Weltall offenbare. Auch nach der Erwiderung, welche Jacobi in die zweite Auflage seines die Lehre Spinozas ohne Zweifel correcter darstellenden Buchs aufnahm, wiederholte H. in der zweiten Auflage des seinigen vom J. 1800 seine umdeutende Auffassung, mit Beseitigung indeß der Stellen, welche dem Freunde als verletzende Angriffe erschienen waren. Dem Studium des Spinoza unter den Deutschen kamen beide Schriften zu gute. Es war das Verdienst Jacobi’s, zuerst wieder ein leidlich richtiges Bild der über aller Verleumdung vergessenen Lehre entworfen zu haben, das Verdienst Herder’s, ihre starren Züge erweicht und mit warmer Begeisterung sie in das Licht einer verwandten Anschauung gerückt zu haben. Ein Verfahren gewiß, das auf wissenschaftlichem Gebiete minder berechtigt ist, als auf poetischem, aber in der That ein genaues Analogon des Verfahrens, mittelst dessen er, beispielsweise, dem Hohenliede und der Apokalypse ein neues Verständniß abgewonnen und neue Freunde erworben hatte.

Der poetische Sinn, der für alles dies der Schlüssel geworden, der ihn auch die Gestaltungen der Natur und die Erscheinungen des Völkerlebens in liebevoller Betrachtung verfolgen, deuten und schildern lehrte, war durch den Verkehr mit Goethe zu neuer Stärke gelangt. An Goethe’s dichterischem Schaffen sammelte und läuterte sich sein eignes Empfinden, bildete sich sein Geschmack und sein formales Talent. Aber nicht nur, daß seine Prosa in den Ideen, trotz ihrer rhetorischen Haltung, zu vollerer Rundung und zu reinerem Fluß gelangt ist: auch der gebundenen Rede und des dichterischen Ausdrucks wird er [87] jetzt in höherem Grade Herr als je zuvor; er hebt sich von Klopstock hinweg und – wenn auch nur nach dem Maße seiner Begabung, der es an Sinnlichkeit und plastischer Kraft gebrach – an Goethe heran. So sammelt und feilt er jetzt, während er zugleich bei der neuen Redaction der Goethe’schen Werke Hülfe leistet, die gelungensten seiner eigenen älteren Gedichte und reiht ihnen jüngere Versuche an; er wandelt auf dem Rain zwischen Poesie und Philosophie; er kleidet sinnige Weisheit oder einfach fromme Lehren in Parabeln und Legenden, oder er entlockt, in Paramythien und Fabeln, überlieferten Bilder- und Sagenschätzen einen neuen Sinn; er wird nicht müde, Blumen fremder Poesie, wo immer sie gewachsen seien, auf heimischen Boden zu verpflanzen; von der orientalischen Dichtung, der er noch vor Kurzem den Vorrang vor der griechischen einzuräumen geneigt gewesen, zieht ihn Goethe zu billiger Gleichschätzung der klassischen zurück; die Epigramme der griechischen Anthologie, die schon den Knaben gereizt, gießt er von Neuem in eine ihnen anpassendere Form. Er erfreut sich für dies Alles der Theilnahme und des Beifalls des großen Dichters an seiner Seite, ja er wird für das Epigramm, für die Gattung, die man das Epigramm der Empfindung genannt hat, diesem Lehrer und Vorbild. In bescheidener Schätzung seines Vermögens, in klarer Erkenntniß, daß er nicht eigentlich ein Dichter sei, hatte er bisher die Erzeugnisse seines dichterischen Empfindens nur namenlos da und dort ausgestreut: jetzt hat er den Muth, sie, wenigstens zu einem kleinen Theil, als Zugaben zu anderen Darbietungen zu veröffentlichen. Es geschah in einem Sammelwerke, das er namentlich auf Betreiben seiner „Theano“, in den Zwischenpausen der Arbeit an seinen größeren Werken, zunächst an den „Ideen“, in der Absicht veranstaltete, um „einige unreife Jugendarbeiten aus der Welt zu bringen oder sie in einem erträglicheren Lichte zu zeigen“. So erschienen zwischen 1785–93 fünf Sammlungen „Zerstreute Blätter“, denen noch 1797 eine sechste folgte. Hier fanden denn neben eigenen und angeeigneten Dichtungen die besten seiner Beiträge zum Teutschen Merkur von Neuem Platz; hier wiederholte er die früher in das Deutsche Museum gelieferten Briefe über einige ältere deutsche Dichter; hier gab er dem Publicum, was ursprünglich nur für den engeren Kreis der Leser des handschriftlichen Tiefurter Journals niedergeschrieben worden war; hier bekam der Aufsatz über die Abbildung des Todes eine neue erweiterte Gestalt; aus den kurzen Bemerkungen einer älteren Recension für die Nicolai’sche Bibliothek über Lessing’s Epigrammentheorie wurde die schöne, den übersetzten Stücken aus der griechischen Anthologie als Beilage mitgegebene Abhandlung über das griechische Epigramm, welche die von Lessing für diese Dichtungsart so eng gezogenen Grenzen fruchtbar erweiterte; desgleichen aus einem alten ungedruckten Fragmentencapitel der die Lessing’sche Fabeltheorie aufs treffendste berichtigende Aufsatz „Ueber Bild, Dichtung und Fabel“. Man sieht, wie mit Goethe, so lebt er mit Lessing. Noch ein paar andere auf Unsterblichkeit und Seelenwanderung bezügliche Aufsätze der „Zerstreuten Blätter“ sind „Fortleitungen der Gedanken des großen Todten, mit dem er noch oft zu sprechen gedenke“. Dem Aufsatz über den Tod gesellt sich der auch in der Form der Behandlung musterhaft zu nennende ethisch-archäologische Aufsatz über den Begriff und die Darstellung der Nemesis. Minder glücklich ist er, wo er, wie in dem Aufsatz über Persepolis, historische Muthmaßungen wagt, am glücklichsten als moralisch-ästhetischer Dolmetscher fremder, zumal morgenländischer Dichtungen, wie wenn er unter Voranstellung des bekannten Goethe’schen Epigramms die Sakontala begrüßt, Lehrsprüche aus Sadi’s Rosengarten und anderen Dichtern mit einem Aufsatz über Spruch und Bild bei den Morgenländern begleitet. Dieser Stücke wegen bezeichnet er die vierte Sammlung der „Zerstreuten Blätter“ als einen „moralischen Blumengarten“ [88] und krönt die Sammlung mit der „Tithon und Aurora“ überschriebenen geschichtsphilosophischen Betrachtung über das schon in dem Reisejournal auftauchende Thema von der Jugend und Veraltung menschlicher Seelen. Kurz, es ist, abgesehen von dem specifisch Theologischen, kaum eine Seite von Herder’s mannichfaltigem Streben, wovon in diesem Sammelwerke nicht die anmuthigsten Proben sich fänden, so zwar, daß die Poesie und die Theorie der Dichtung im Vordergrunde steht und ein dichterischer Hauch sich auch in der Einkleidung, in Form und Sprache über alle behandelten Materien ausgegossen hat. Neben den „Ideen“ sind es die „Zerstreuten Blätter“, auf denen der Anspruch Herder’s beruht, unsern Klassikern zugezählt zu werden. Auch in ihnen haben wir eine Frucht seines Bundes mit Goethe vor uns.

Goethe’s Reise nach Italien unterbrach nicht, im Gegentheil, sie vereinigte das Zusammenhalten der Beiden. Auch von der Ferne her ließ jener den Freund an seinem Leben wie an seinen Hervorbringungen Theil nehmen, und innigst wiederum erquickten den in Italien Weilenden der dritte Theil der „Ideen“, die dritte Sammlung der „Zerstreuten Blätter“ und die „Gespräche über Spinoza“. Der glückliche Dichter erlebte und genoß eben jetzt in dem Lande seiner Sehnsucht eine neue Epoche. H. hatte in ununterbrochener geistiger Production das Erstaunenswertheste geleistet. Aufreibende Amtsarbeiten nahmen zudem die Hälfte seiner Zeit in Anspruch. Sonn- und Festtage riefen ihn auf die Kanzel. Mit dem lebhaftesten und ernstesten Interesse widmete er sich dem niederen und höheren Schulwesen. Hielt er es doch nicht unter seiner Würde, 1787 ein kurzes „Buchstaben- und Lesebuch“ für den Elementarunterricht zu verfassen, sind doch vor Allem jene köstlichen Schulreden, die er als Ephorus des Weimarischen Gymnasiums bei den jährlichen öffentlichen Prüfungen hielt, ein Zeugniß ebensosehr seiner pädagogischen Einsichten, wie seines pädagogischen Eifers. Aber nach gerade fühlte er, wie durch das Alles seine Kräfte erschöpft seien. Die vorjährigen Reisen nach Karlsbad hatten ihm nur vorübergehende Stärkung gebracht. Wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, wie Goethe auf längere Zeit zu feiern und zu genießen! Auch ihm hatte Italien von jungen Jahren her als Ziel seiner Wünsche vorgeschwebt. Jeder Goethe’sche Brief erneuerte jetzt durch verlockende Bilder von dem südlichen Himmel und von den reichen Kunstschätzen Italiens den alten Wunsch. Da mußte es ihm denn wie eine wunderbare Fügung erscheinen, daß er zu einer Zeit, wo die Nothwendigkeit, Ort, Klima und Lage zu verändern, aufs höchste gestiegen war, von dem Domherrn Friedrich v. Dalberg, dem Bruder des Coadjutor’s, den Antrag erhielt, sein Reisebegleiter auf einem Ausflug nach Italien zu werden. Des Herzogs Erlaubniß war leicht erlangt, und so brach H., nachdem er noch reichlich Zeit gehabt, sich von dem am 18. Juni 1788 zurückgekehrten Goethe berathen zu lassen, noch trauernd über den Verlust eines geliebten Kindes, am 6. August von Weimar auf, um sich, der Verabredung gemäß, in Augsburg mit Dalberg zusammenzufinden. Im vollen Gefühl der Freiheit gibt er sich, auf dem Wege dorthin über Bamberg, Nürnberg, Anspach, mit bewunderungswürdiger Elasticität den neuen Eindrücken hin, während er zwischendurch noch Zeit findet, seine beiden Preisschriften über den Ursprung der Sprache und den Verfall des Geschmacks für eine neue Auflage stilistisch umzuformen. Die Scene sollte sich bald ändern. Dem gutherzigen, schwachen Dalberg hatte sich eine Begleiterin, die verwittwete Frau v. Seckendorf, angehängt, und statt zu Zweien reiste man also zu Dreien. Die Gegenwart der anspruchsvollen Dame legte H. den unerfreulichsten Zwang auf, und, was das Schlimmste war, ihr zu Liebe wurde die Reise übereilt; kaum daß in Verona und Ancona ein einigermaßen längerer Aufenthalt gemacht wurde, um das Nöthigste zu sehen. Ueber Loretto, [89] Macerata, Fuligno, Spoleto, Terni, mit immer nur kurzen Pausen, gelangte man am 19. September nach Rom. Und nun erst machte sich ihm das Schiefe seiner Lage, bei moralischer und finanzieller Abhängigkeit von Dalberg nicht sein eigner Herr und der überflüssige Dritte zu sein, in vollem Umfange fühlbar. Seine Zartheit und Nachgibigkeit, seine feine und vornehme Empfindungsweise, der es doch schwer wird, zur rechten Zeit einen berechtigten Stolz einzusetzen und einen kräftigen Entschluß zu fassen, sprachen sich peinlich in seinen nach Hause geschriebenen Briefen aus. Erst nach langem Schwanken kömmt er zu einer wiederholten Auseinandersetzung mit Dalberg, die ihn, zwar nicht moralisch, aber doch äußerlich unabhängiger von jenem stellt und ihm endlich ermöglicht, sich nach eigenem Gefallen und Bedürfniß in der römischen Existenz zu orientiren. Zum Glück findet er nun einen Anhalt an der inzwischen gleichfalls in Rom angekommenen Herzogin Amalia von Weimar, und gleichzeitig tritt er, zum Theil durch ihre Vermittlung, in die Kreise der vornehmen römischen Gesellschaft ein, die ihm besser behagt als der Verkehr mit den jungen Malern, an denen Goethe seine besten Gesellen gefunden hatte. Es ging ihm übrigens mit Rom ähnlich wie es ihm neunzehn Jahre früher mit Paris gegangen war. Ueberdrängt von der Menge dessen, was es hier zu sehen und zu lernen gab, fühlte er sich oft mehr verwirrt, als aufgeklärt, mußte er sich bescheiden, „Ideen zu sammeln, um auch künftig Rom brauchen zu können“, oder, wie er ein andermal sagt, den Knäuel so vieler Fäden im Gemüthe zu behalten. Am meisten concentrirte sich sein Interesse auf die Denkmäler der antiken Kunst, auf die ihn seine Plastik vorbereitet hatte. Freilich nicht mit den Augen Winckelmann’s oder Goethe’s sah er dieselben. Die schönen Formen der Antike fesseln nicht sowol sein sinnliches als sein geistiges Auge; was ihn anzieht, ist ihre sittlich-menschliche Bedeutsamkeit, der Widerschein der Mechanik und Statik menschlicher Seelenkräfte; er gewöhnt sich – wie er es später in den Humanitätsbriefen ausgeführt hat – die Kunstgebilde der alten Welt als einen „Codex der Humanität in den reinsten, ausgesuchtesten harmonischen Formen“ zu betrachten. Auch diese Betrachtungen indeß vermögen ihn nicht dauernd zu befriedigen und zu beruhigen. Er ist zu alt und zu verwöhnt, um sich über das mannigfach Widrige des römischen Aufenthalts hinwegzusetzen; am wenigsten imponirt ihm der Pomp des Katholicismus, und selbst die Aussicht, die sich ihm eröffnet hatte, mit der Herzogin nach Neapel zu reisen, ist nicht im Stande, die erwachende Sehnsucht nach der Heimath hintanzuhalten. Neapel nichts desto weniger that seine Schuldigkeit. Am 4. Januar 1789 dort angelangt, fühlt er sich alsbald „vom drückenden Rom befreit, als einen ganz andern Menschen, wiedergeboren an Leib und Seele“. Mit den Eindrücken der Natur, deren Zauber sein empfängliches Gemüth niemals widerstand, verbinden sich die poetischen Erinnerungen aus Homer und Virgil. Er macht die Bekanntschaft des liebenswürdigen, gelehrten und geistreichen Erzbischofs von Tarent; er findet, daß hier in Neapel andere Menschen, andere Bücher als in Rom sind; von selbst lerne sich hier das Italiänische, und sogar für seine Philosophie der Geschichte erbeute er hier in Tagen mehr als in Rom in Monaten. In den schönen Stanzen „Parthenope“ und „Angedenken an Neapel“ hat er der lyrischen Stimmung Ausdruck gegeben, in der er hier in momentaner Befriedigung schwelgte – um dann doch, mitten im Genuß, unter dem Einfluß der weichen südlichen Lust von Gefühlen von Trauer und Wehmuth überrascht zu werden. Sieben Wochen dauerte der Aufenthalt in Neapel; nach Pästum kam er nicht, aber er sah Pompeji, bestieg den Vesuv und schwärmte nach Möglichkeit in der Umgebung von Neapel umher. Mit der Rückkehr nach Rom jedoch kam auch das alte Unbehagen zurück. An dem lebhaft empfundenen Contrast findet alsbald seine Sehnsucht nach Hause [90] eine täglich wachsende Nahrung, obgleich er jetzt, von Dalberg gänzlich getrennt, mit der Herzogin in einer schön gelegenen Villa auf dem Monte Pincio wohnt. Es verfängt wenig, daß er sich bei der nunmehrigen „Wiederholung seiner Lection“ der Führung und Weisung Meyer’s und Tischbein’s erfreut; auch die lockendsten Vorschläge zu einer Rückkehr nach Neapel, zu einer Reise nach Sicilien verlocken ihn nicht. Alles in Allem, so ist sein ganzer zweiter Aufenthalt in Rom nur eine lange Geduldsprobe für ihn. Denn was er auch im Einzelnen noch lernen und gewinnen mochte: eine neue Fähigkeit, die Dinge zu sehen, war ihm nicht gekommen. Es fehlte ihm eben an dem Besten dazu, an dem klaren, ruhigen Blick, an jener Goethe’schen Kunst, „das Auge Licht sein zu lassen“. Italien erwies sich als ein Probirstein der Geister. Alles, was in Goethe’s Natur von Anschauungskraft und Genußfähigkeit lag, hatte der italiänische Aufenthalt zu voller Entfaltung gebracht; er war sinnlicher und mehr als bisher Künstler geworden. H., gerade umgekehrt, wurde in Italien unsinnlicher und unkünstlerischer als zuvor. Mit einer Absage an die „todten Künste“ und die „kalten Musen“, mit Reue und Widerwillen sich abwendend von dem „Troß der Buhlereien“, sehnt er sich von dem italiänischen Boden hinweg, und einzig das Verhältniß zu Angelica Kaufmann, der seelenvollen Künstlerin, in der ihm die Einheit echter Kunst und zarter Humanität persönlich entgegentrat, bildet einen Lichtpunkt auf dem dunklen Hintergrunde seines Ueberdrusses und Unbehagens. Am 14. Mai endlich konnte er Rom verlassen. Er erfreut sich noch in Florenz, Ferrara, Venedig der Erinnerung an historisch Bedeutendes; allein schon in Mailand ist ihm jedes andere Interesse als das an der Rückkehr verloren gegangen. Immer ungeduldiger eilt er; am 9. Juli Nachts, unerwartet zu dieser Stunde, ist er bei den Seinen wieder eingetroffen.

Eine wichtige Entscheidung mußte gleich anfangs, unmittelbar nach der Heimkehr, getroffen werden. Nicht wenig nämlich war in den letzten römischen Wochen die Unruhe Herder’s durch einen sehr verführerisch lautenden Antrag Heyne’s vermehrt worden. Zum zweiten Mal seit dem Scheitern der Göttinger Verhandlungen im J. 1776 bot sich ihm die Aussicht, Weimar mit Göttingen zu vertauschen. Er hatte 1784 eine dahin gehende Anfrage nicht sowol aus Anhänglichkeit an Weimar als aus Abneigung gegen Göttingen abgewiesen. Allein der jetzige Antrag, der ihm eine ordentliche Professur, die erste Universitätspredigerstelle mit dem Charakter eines Consistorialrathes bot und ihm weitere Bedingungen anheimgab, stellte sich nach allen Seiten hin als eine völlige Genugthuung für alles Vergangene dar. Beide Herder’s geriethen begreiflich in die lebhafteste Aufregung, und aufs Stärkste neigte er sich zur Annahme des Rufs. Es sprach ja in der That so Manches dafür. Nur langsam und mit Mühe hatte er in Weimar die dringendsten Schul- und Kirchenreformen durchzusetzen vermocht, einen verbesserten Lectionsplan für das Weimarische Gymnasium, eine Aufbesserung der Lehrergehälter, die Einrichtung eines Schulmeisterseminars, eine neue Einrichtung des Weimarischen Waisenhauses und Anderes. Zwischen Kirchenrechnungen und Consistorialacten seufzte er nach Muße für seine höheren Geistesarbeiten. Seine ökonomische Lage bereitete ihm fortwährende Verlegenheiten. Er hing an der Herzogin, er schätzte den Herzog, aber der Hof als solcher war ihm lästig, ja widerwärtig. Und doch, wie er nun einmal war, – würde die methodische Weise des Kathedervortrags ihm hinreichend zu Gebote gestanden, würden die Schranken der Universitätsverfassung, gegen die er sich so nachdrücklich ausgesprochen hatte, würde das Leben mit Gelehrten, die dem Reizbaren Reizbarkeit entgegensetzen mochten, ihm besser behagt haben, als das Leben mit seinen Weimarer Collegen und Freunden? Der klare praktische Blick Goethe’s übersah besser als er das Für und Wider. In der redlichsten Meinung [91] übernahm jener es. ihm seine Lage in Weimar so zurechtzumachen, daß die Schale zu Gunsten des Bleibens sinken mußte. Mit dem Zurückgekommenen wurde die Sache geordnet. Der Herzog trat freigebig für die Geldverlegenheiten Herder’s ins Mittel; er versprach, künftighin für die Erziehungskosten und das Unterkommen der Kinder zu sorgen; er erhöhte – zum zweiten Mal – seine Besoldung und ernannte ihn zum Vicepräsidenten des Consistoriums mit der Anwartschaft auf die wirkliche Präsidentur. Unwiderruflich war damit Herder’s Lebensgeschick fixirt; für immer war er an Weimar gefesselt.

Schon in der nächsten Zeit indeß zeigte sich, daß das neue Arrangement seine Arbeitslast nur vermehrt habe. Unter der wiederbeginnenden Geschäftsplackerei und dem damit verbundenen Verdruß hielt auch die körperliche Erfrischung durch die italiänische Reise nicht lange vor. Schon mit dem Winter von 1789 auf 90 beginnt eine Reihe von Krankheitsanfällen, die den Leidenden im Sommer 1791 nach Karlsbad, im folgenden Sommer nach Aachen zu gehen nöthigen. Unter diesen Umständen konnte nur eben eine vierte und fünfte Sammlung der „Zerstreuten Blätter“ (1792 u. 1793) und der in der Hauptsache schon vor der italiänischen Reise geschriebene vierte Theil der „Ideen“ zu Stande gebracht werden. Statt zu dem fünften Theil, der das Werk abgeschlossen hätte, fand alsbald der Verfasser nur zu einer leichteren Arbeit Lust und Muth, die, wie er meinte, auf die Fortsetzung der „Ideen“ vorbereiten sollte, in Wahrheit nur ein Ausläufer des großen geschichtsphilosophischen Werkes war. Im Frühjahr 1793 erschienen die beiden ersten Sammlungen der „Briefe zu Beförderung der Humanität“, denen ein Jahr später die dritte und vierte und so fort bis 1797 alljährlich zwei Sammlungen folgten. Es war die praktisch-populäre Wendung und Anwendung desselben Gedankens, der eine zusammenhängendere, mehr wissenschaftliche Ausführung in den „Ideen“ gefunden hatte. Angesichts der kriegerischen Aspecten des zu Ende gehenden Jahrhunderts wollte er als Prediger der Humanität in die Briefe „das Beste legen, das er in Herz und Seele trage“, auf die leichteste, bequemste Weise jedoch, ohne sich an einen bestimmten Plan zu binden, ohne sich verpflichtet zu fühlen, irgend eine Materie zu erschöpfen, alte Excerpte, Entwürfe und Ausarbeitungen dem neuen Zwecke dienstbar machend. So wandelt er mit dem Blick auf die fortschreitende Vervollkommnung des Menschengeschlechts in aller Geschichte und Litteratur umher. Jetzt knüpft er an bedeutende historische Ereignisse, jetzt, und lieber noch, an das Andenken bedeutender Menschen der letzten Jahrhunderte, an Friedrich den Großen und Franklin, an Luther und Macchiavelli, an Leibniz und Lessing, an Hugo Grotius und Erasmus Betrachtungen über die Licht- und Schattenseiten der menschlichen Natur. Jetzt wieder gibt ihm ein neuerschienenes Buch zu Charakterzeichnungen oder anderweitigen humanistischen Excursen Anlaß. Er läßt Andere statt seiner reden; er wird zum Dolmetscher fremder Aussprüche und Dichtungen, wirft eigene Gedichte, voll seiner Humanitätsmoral, dazwischen. Kein Blatt der Culturgeschichte der Menschheit, das ihm nicht gelegentlich einen Text zu dem Thema lieferte, das er, ein oft ermüdender Wiederholer, einschärft: in mannichfaltiger Wechselwirkung, in unendlicher Verschiedenheit gehe die Tendenz der Menschennatur auf die Herstellung Eines Geistes, des in Verstand, Billigkeit und Güte sich darstellenden Gefühls der Menschheit. In diesem Sinne setzt er seine Stimme für das Loos der Neger und für den Gedanken des Völkerfriedens ein. Selbst Homer und die Griechen werden ihm zu Lehrern der Humanität, und die ewigen Gestalten der griechischen Kunst deutet er, wie sie ihm in Italien aufgegangen waren, als einen geschlossenen Kreis, als „den hellen Zodiacus der sichtbar gewordnen bedeutenden Menschheit“. Noch mehr als diese letzteren Auseinandersetzungen in der sechsten hebt sich der Inhalt der siebenten [92] und achten Sammlung (1796) aus der übrigen Masse hervor. Hier endlich finden die „Fragmente über die neuere deutsche Litteratur“, offenbar auf Grund eines älteren Entwurfs, eine würdige Fortsetzung. Anhebend von dem Verfall der Poesie bei Griechen und Römern erörtern diese neuen Fragmente den Unterschied der alten und neuen Poesie, und geben, wie es kürzer schon die Preisschrift über die Wirkung der Dichtkunst gethan, eine Uebersicht, wie sich die mittlere und neue europäische Cultur in und durch Dichtkunst bei den verschiedenen Nationen Europas je nach den Zeitumständen und Veranlassungen verschieden entwickelt habe. Es sind Ideen zu einer philosophischen Geschichte der Dichtkunst, Bausteine zu einer Litteraturgeschichte, welche die poetischen Erscheinungen nicht, wie bisher üblich, nach Gattungen ordnet, auch nicht, wie Schiller so eben in den Horen gethan, von einem subjectiven Gesichtspunkt aus construirt, sondern „jede Blume an ihrem Ort läßt und dort, ganz wie sie ist, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone betrachtet“. Wäre dem Verfasser dieser reine Geschichtssinn nur nicht da abhanden gekommen, wo er, übergehend zu der neueren deutschen Poesie, die Leistungen derjenigen beurtheilt, die unmittelbar vor, mit und neben ihm eine neue Aera unserer Litteratur heraufgeführt hatten! Wenn Goethe diese Schlußabschnitte mit ihrem Drehen und Wenden, ihrem kärglichen Vertheilen von Lob und Tadel äußerst mager und unerquicklich fand, wenn Schiller darin neben der Kälte gegen das Lebendige die Verehrung gegen alles Verstorbene und Vermoderte verdroß, so ist noch heute unser Eindruck kein anderer. Wir hören in diesen Partieen statt des liebenswürdigen Enthusiasten einen mißvergnügten Mann urtheilen; wir wissen, wenn wir das kalte Urtheil über Goethe lesen, daß derselbe „durch eine theilnahmlose genaue Schilderung der Sichtbarkeit und durch eine thätige Darstellung seiner Charaktere sich der Form der Alten auf einem neuen Wege genaht habe“, daß das schöne Zusammenstimmen der alten Freunde vorüber war.

Mit viel zusammengehaltenerem Interesse als in den Humanitätsbriefen arbeitete H. in diesen Jahren auf einem Felde, das er während der Blüthe seines Verhältnisses zu Goethe seitwärts hatte liegen lassen. Seit dem Sommer 1793 ergriff ihn von Neuem der theologische Geist. Er kehrte zu Gedanken und Untersuchungen zurück, die ihre Wurzel in der Bückeburger Zeit hatten und sich am nächsten mit den „Erläuterungen zum Neuen Testament“ berührten. „Christliche Schriften“, unter diesem Gesammttitel ließ er zwischen 1794 und 1798 eine Reihe von Aufsätzen in aphoristisch-paragraphischer Form erscheinen, die sich auf die Ursprungsgeschichte des Christenthums, die Entstehung der Evangelien, auf Christenthum und Religion überhaupt bezogen. Die beiden Abhandlungen „Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest“ und „Von der Auferstehung als Glauben, Geschichte und Lehre“ eröffneten die Reihe 1794. Es folgte 1796 „Vom Erlöser der Menschen; nach unsern drei ersten Evangelien“ und 1797 „Von Gottes Sohn der Welt Heiland; nach Johannes Evangelium“. Im J. 1798 beschloß er mit einem vierten und fünften Bändchen: „Vom Geist des Christenthums“ und „Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen“. Wir haben in diesen Schriften, – denen sich 1798 als ein Schulbuch noch die katechetische Erklärung des Katechismus Luther’s anreiht – das Glaubensbekenntniß Herder’s, wie es sich nach dem Hindurchgehn durch die freie dichterisch-wissenschaftliche Bildung jener Epoche gestaltet hatte. Ueber theologische Gegenstände und doch nicht im gewöhnlichen Sinne theologisch, als „Humanus“ hat H. auch diese Schriften geschrieben. Sie sind eingehend neuerdings von Werner (Herder als Theolog, Berlin 1871) gewürdigt worden; vortrefflich hat sie im Ganzen und Großen schon Gervinus charakterisirt und mit Recht die Meisterschaft gerühmt, mit welcher hier ein menschliches Licht über die Geschichte Jesu [93] und über den Sinn des Christenthums ausgebreitet werde. Wer freilich eine methodisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Historischen, eine philosophisch folgerichtige mit dem Dogmatischen erwartete, würde sich getäuscht sehen. Wem aber die weitherzigste Freiheit der Auffassung, verbunden mit dem innigsten Gefühl für den religiösen Kern des Christenthums, als die Vorbedingung für jene strenger wissenschaftliche Arbeit erscheint, für den mag sich an jene Schriften noch immer die Zuversicht knüpfen, daß, wie schon Lessing gemeint und demnächst Schleiermacher forderte, die höchste Bildung und die echteste Christlichkeit friedlich zusammengehen könne. Vom ersten bis zum letzten Blatt betonen sie das unbedingte Recht der freien Ueberzeugung, Prüfung und Selbstbestimmung, die Nothwendigkeit steter Fortbildung, Erweiterung und Läuterung der Religion Jesu. Ueberall gehen sie auf die evangelischen Urkunden zurück, aber wesentlich nur, um – ganz im Sinne Lessing’s – zu zeigen, wie weit das Urchristenthum und namentlich „der Mann von Nazareth“ von dem metaphysischen System der kirchlichen Dogmatik entfernt gewesen. Abgewandt von aller gequälten Harmonistik der Evangelien, suchen sie aus diesen einen einfachen Kern der Wahrheit herauszuschälen, und von hier aus zu einem Urtheil über die Composition und das gegenseitige Verhältniß dieser Urkunden zu gelangen. Christi Taufe, Verklärung und Auferstehung gelten dem Verfasser als unzweifelhafte Thatsachen, als Erweise seiner höheren Sendung: aber nicht für das Wunderhafte daran, sondern nur gegen die Annahme, daß ein Betrug der Apostel vorliege, eifert er, und nicht dogmatische Formeln, sondern nur die geistigsten Hoffnungen und die edelsten Entschließungen will er daran geknüpft wissen. Ebenso hält er fest daran, daß Christus der Gottmensch ist, aber er verbindet damit keinen übernatürlichen Sinn, sondern nur den, daß er im vollsten und schönsten Verstande Mensch gewesen ist; Christi Thun und Leiden ist ihm ein erlösendes, wiederum nicht im kirchlichen Sinn, sondern weil er sein Leben gering geachtet in dem Bemühen, Humanität in der Menschheit zu pflanzen und dauernd zu machen. H. der Theolog ist nicht verschieden von H. dem Geschichtsphilosophen: die reine Christusreligion ist in aller Menschen Herzen geschrieben; sie heißt „Gewissenhaftigkeit in allen menschlichen Pflichten, reine Menschengüte und Großmuth“; sie ist bestimmt, das Reich Gottes, den moralischen Endzweck aller Geschichte, eine Periode „des allgemeinen Rechts, der allgemeinen Billigkeit nach der innigsten Regel der Menschheit“ herbeizuführen. Das Alles wird, nicht zwar ohne Wiederholung und Ueberfluß, aber mit begeisterter Wärme und populärer Beredtsamkeit vorgetragen. Besser vielleicht aus diesen Schriften als aus den gedruckten Predigten Herder’s begreift man die von so vielen Zeugen beglaubigte Gewalt, die er als Kanzelredner ohne allen Aufwand äußerlicher Rede- und Gebehrdenkunst auf die versammelte Gemeinde ausübte.

Ueber den Anfang der Humanitätsbriefe und der Christlichen Schriften sprach sich Goethe noch dankend und ermunternd gegen H. aus. Noch mehr nach seinem Sinne war eine Herder’sche Arbeit, die zwischen die erste und zweite Sammlung der Christlichen Schriften fällt und das theologische Interesse des Verfassers noch einmal auf längere Zeit zurückdrängte. Es war im J. 1794, als H. die lateinischen Gedichte Jacob Balde’s, eines im 17. Jahrhundert in Bayern lebenden Geistlichen, eines Mitgliedes der Gesellschaft Jesu, in die Hände fielen und ihn „mit Anmuth fast berauschten“. Er ging alsbald daran, sie sich durch frei umdichtende Uebersetzung ganz zu eigen zu machen. Zahlreiche Proben dieser Gedichte des deutschen Horaz, anfangs für die Zerstreuten Blätter bestimmt, wurden zunächst mit Verheimlichung des Namens des Dichters, 1795 in einer zweibändigen Sammlung „Terpsichore“ zusammengefaßt und mit einer Abhandlung über Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst begleitet, worauf [94] 1796 ein dritter Band das „Kenotaphium Balde’s, nebst einer Nachlese seiner Gedichte“ brachte. An Herder’s Freude über diesen poetischen Fund, wie gesagt, nahm Goethe noch lebhaften Antheil, und jener wiederum kündigte noch in der Vorrede zur fünften Sammlung der Zerstreuten Blätter den Goethe’schen Reineke Fuchs dem Publicum an, wie er zwanzig Jahre früher den Götz bewillkommt hatte. Dennoch war seit dem Anfang der neunziger Jahre das Verhältniß der Beiden in allmählicher Lockerung begriffen. Unmerklich, aber unvermeidlich rückten sie von einander weg. Auch in der Zeit des innigsten Zusammenlebens hatte es Dinge gegeben, über die man zu sprechen vermied. Eben diese, die politischen Dinge machten sich jetzt ernstlicher geltend. Ueber das Recht der französischen Revolution, über die gewaltsame Einmischung der verbündeten deutschen Regierungen in die Angelegenheiten Frankreichs urtheilte H., der Humanitätsapostel, anders als der Freund Karl Augusts, der kluge, maßvolle Dichter, der mindestens ebensoviel von Antonio als von Tasso in sich hatte. Was sonst in Beider Natur Verschiedenes war, hatte schon die italiänische Reise enthüllt, auf welcher H. seinem Unbehagen mehr als einmal in mürrischen Aeußerungen über die unbrauchbaren Rathschläge und die seltsamen Liebhabereien des Freundes Luft gemacht hatte. Er, der „wie ein Geist“ zurückgekehrt war, entschlossen, allen „Buhlereien“ zu entsagen, hatte nach der Rückkehr alle Mühe, sich in die Denkweise des Freundes zu finden, der jetzt dem sinnlich-künstlerischen Bedürfniß nicht blos in seinem Dichten, sondern auch in seinem Leben allzuviel Platz einräumte. Man fing an, sich freundschaftlich zu schonen, statt freundschaftlich übereinzustimmen. Der treuen, thätigen Fürsorge Gocthe’s verdankte H. die bessere Ordnung und Befestigung seiner Weimarischen Existenz: nur natürlich, daß er ihm auch allen Verdruß zu verdanken meinte, den diese Existenz ihm nach wie vor bereitete, und daß die sich einstellende Reue, nicht nach Göttingen gegangen zu sein, das Gefühl der Dankbarkeit nicht blos verdunkelte, sondern verbitterte. Und jetzt – die Hauptsache – stellte sich zwischen ihn und Goethe ein Dritter. Nach dem Gesetze geistiger Wahlverwandtschaft vollzieht sich seit dem Sommer 1794 durch den Beginn der Freundschaft Goethe’s mit Schiller die Scheidung der alten Freunde in unvermeidlicher Entwicklung. Lebhaft hatte sich Schiller bei seinem ersten Eintritt in Weimar 1787 von H. angezogen gefühlt; allein das scharf Zugeschnittne in seiner Art die Dinge zu sehen, sein Sinn für klare, stark gezeichnete und glänzende Formen, sein dramatisches Genie – das Alles lag der Herder’schen Geistesart weit ab. Weder mit dem Philosophen Schiller noch mit dem Künstler konnte H. sympathisiren – während die gleichen künstlerischen Maximen und das Gefühl wechselseitiger Ergänzung zwischen Schiller und Goethe eine immer innigere Gemeinsamkeit stifteten. In das ästhetisch Vollkommene legte Schiller sein Streben nach dem sittlich Höchsten: für H. war die moralische Grazie das Richtmaß, dem auch das Schöne sich zu unterwerfen habe. Darum verehrte jener in Goethe’s Wilhelm Meister ein Maximum künstlerischer Lebensdarstellung, während diesem trotz aller Wahrheit der Scenen die Mariannen und Philinen verhaßt waren. Kein Wunder, daß Goethe sich in demselben Maße von Herder’s Urtheil abwandte, wie er sich zu dem Urtheil Schiller’s hinwandte. Dennoch war H. noch immer eine litterarische Großmacht. Eine kurze Zeit daher war es auf ein Triumvirat zur Beherrschung unserer Litteratur abgesehen. Von einem Besuch bei Gleim in Halberstadt zurückgekehrt, empfing H. Schillers Einladung zu schriftstellerischer und berathender Mitwirkung bei den Horen. Während er Gentz’ Neue deutsche Monatsschrift vom Jahr 1795 mit verhältnißmäßig unbedeutenden Abfällen abspeiste – den Horen gab er sein Bestes. Er lieferte in den ersten Jahrgang der neuen Zeitschrift außer einigen poetischen Beiträgen die geistvollen Aufsätze „Das eigene Schicksal“, „Homer ein Günstling der [95] Zeit“, „Homer und Ossian“ und „Das Fest der Grazien“. Besonders die drei ersten Aufsätze gereichten nach dem Urtheil der beiden andern Triumvirn den Horen zur Zierde, und beide stellten sich auf Herder’s Seite, als diesem die Abhandlung über Homer, in welcher er so sinnig wie beredt seine alte Ansicht von der allmählichen Entstehung der Homerischen Gedichte wiederholt hatte, einen hochmüthigen und groben Angriff von Fr. Aug. Wolf zuzog. Die grundsätzliche Differenz nichtsdestoweniger konnte nicht unbemerkt und nicht unausgesprochen bleiben. Schon die Schiller’schen „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ mit ihrer Ueberschätzung des schönen Scheins und ihrem „Kant’schen Glauben“ hatten das Mißfallen Herder’s erregt. Umgekehrt war ein Aufsatz des Letzteren „Iduna oder der Apfel der Verjüngung“ im Januarstück der Horen von 1796, der auch der nordischen Fabel den Zutritt zu der Poesie der Gegenwart offen halten wollte, nichts weniger als im Sinne Schiller’s. Brieflich widersprach er der Herder’schen Ansicht, daß nur eine aus dem wirklichen Leben hervorgehende, aus Leben und Sitten wirkende Poesie geschätzt zu werden verdiene und setzte derselben den Satz entgegen, daß der poetische Genius sich vielmehr aus der wirklichen Welt zurückziehen müsse und sich daher einzig mit den idealischen Gebilden der griechischen Mythologie verbünden dürfe. Stillschweigend schlich sich Herder von nun an aus den Horen hinweg. Neben Schiller und Goethe war für ihn kein Raum. Das Triumvirat verengte sich zu einem Duumvirat; in Schiller haßte er fortan den Eindringling und immermehr sah er sich durch diesen auch von Goethe weggedrängt. Die unerquicklichsten persönlichen Irrungen erweiterten seit dem Herbst 1795 die Kluft. Sie hatten leider ihren Grund in den ökonomischen Nöthen des Herder’schen Hauses. Die Sorge um die Mittel für die Erziehung von fünf Söhnen und einer Tochter beängstigte namentlich die Mutter. Unmöglich konnte Goethe den von ihr unter Berufung auf die Abmachungen des Jahres 1789 leidenschaftlich vorgetragenen Ansprüchen an die Hülfe des Herzogs in der begehrten Weise seinen Einfluß leihen. Erst nachdem er der Leidenschaft Härte entgegengesetzt hatte, fuhr er fort, nach Maßgabe der Umstände ein hülfreicher Freund zu sein, aber er galt fortan der Beleidigten nur noch als der „treulose Freund“, den sie im Stillen für Alles verantwortlich machte, was sie und den heißgeliebten Gatten drückte. Ihre unbedingte Verehrung für diesen verschärfte die Bitterkeit ihrer Empfindungen gegen jenen, und so trug sie das Ihrige dazu bei, die eingetretene Verstimmung unheilbar werden zu lassen. Fortwährend verflocht sich so Persönliches und Litterarisches. Auch in den Schiller’schen Musen-Almanach hatte H. Beiträge geliefert: die Xenien in dem Almanach für 1797 drohten ihm auch diesen Platz zu verleiden. Sie besiegelten das Bündniß Goethe’s und Schiller’s; sie vollendeten, obgleich sie ihn unangetastet ließen, den Bruch zwischen H. und Goethe. Begreiflich, daß sich sein Verdruß steigerte, ja daß sich etwas wie Eifersucht dazu gesellte, wenn er die an Vergötterung grenzenden Urtheile las, mit denen jetzt die junge romantische Schule Goethe als den Eindichter, den Stellvertreter Apollo’s auf Erden verkündete. Seine ältesten Freunde hatte ihm der Tod geraubt; wenige Wochen vor der Abreise nach Italien hatte er die Nachricht von dem Hinscheiden seines Hamann, auf der Rückreise die, daß auch Hartknoch seinem langen Leiden erlegen sei, erhalten. Zerstört war nun auch das Band des Vertrauens zu dem größten seiner lebenden Freunde. In dem Gefühl der Vereinsamung und Zurücksetzung hält er sich fortan an die Huldigungen, die ihm die parteiische Freundschaft seines alten Gleim und an die Theilnahme, die ihm der wackere Knebel entgegenbringt. Unter den sonstigen älteren Freunden werden ihm Jacobi und Wieland in dem Maaße wieder näher, als ihm Goethe ferner gerückt ist, und einen neuen, ihm herzlich, ja enthusiastisch ergebenen hat er seit dem Jahre [96] 1796 in dem damals zuerst nach Weimar gekommenen Verfasser des Hesperus gefunden. In der Hoffnung, der Jenaischen Litteraturzeitung, die zur Vertreterin des Kantianismus und der klassisch-romantischen Richtung geworden war, ein Gegengewicht geben zu können, wird er seit dem J. 1797 ein ziemlich eifriger Mitarbeiter an den um diese Zeit mit einem neuen Programm aufgetretenen Erfurter Gelehrten Nachrichten. Wie er aber im Ganzen über die jüngste Entwicklung der deutschen Dichtung denke, das hatten schon jene wunderlich gezwungenen Urtheile in der achten Sammlung der Humanitätsbriefe verrathen.

Die Grundsätze und Ueberzeugungen, welche H. von dem Standpunkte unserer Klassiker mehr und mehr abwandten, waren keinesweges unberechtigt, keinesweges blos die Grillen eines Zurückgebliebenen. Zu sehr, in der That, entfremdeten sich unsere beiden großen Dichter dem Leben und den Bedürfnissen der Gegenwart; ihr edelstes und idealstes Streben führte die Gefahr mit sich, daß ihnen die Form mehr als der Gehalt, das Selbstgenügen der schönen Individualität mehr als die im staatlichen und nationalen Gemeinleben sich bewährende sittliche Gesundheit, die Spiele der Phantasie wichtiger als der Ernst des Lebens würden. Aber das Verkehrteste und Unwirksamste war es trotzdem, sich verdrossen und verbittert abseits zu stellen. Wenn H. die poetische Schöpferkraft versagt war, mit den Werken jener Beiden in Wetteifer zu treten, so hätte er ihnen doch kraft der ihm sonst so auszeichnend eignen Gabe sympathischen Verständnisses, von dem Boden positiven Eingehens und freier Anerkennung aus, ein heilsamer Führer und Berather werden können. Keiner hatte so wie er alle Quellen echter Poesie in der vielartigen Empfindungsweise aller Völker und Zeiten ausgegraben – um nun ein mißvergnügter Zuschauer am Rande des Stromes zu stehen, der jetzt die dürren Gefilde unserer Litteratur so wohlthätig erfrischte! Wenn nun die romantische Schule in ihrer Doctrin und Kritik und in eigenen poetischen Versuchen den formalistischen Idealismus unserer Klassiker zum Extrem fortbildete, so schöpfte sie doch das geschichtliche Verständniß der Dichtung aus den von ihm gegebenen Anregungen. Bei ihm, wenn er noch jung und unbefangen genug gewesen wäre, hätte es gestanden, die gleiche Universalität mit einer tieferen und gesünderen Auffassung der wahren Aufgaben der Dichtkunst zu verbinden. Er theilte ja, trotz Allem, mit Goethe das Gefühl für die Natur und den Sinn für die Klänge des Herzens; er berührte sich ja mit Schiller in dem Streben nach dem Sittlichen und in dem Abscheu vor dem Gemeinen. Je mehr danach, objectiv betrachtet, die Bedingungen eines fruchtbaren Zusammenwirkens mit Beiden noch immer gegeben waren, um so mehr muß man mit schmerzlichem Bedauern sehen, wie die Eigenheit des Mannes ihn vielmehr in eine Oppositionsstellung hineintrieb, die er doch nur mit halbem Recht, sich selbst zu Leide und Schaden, nicht wie ein Reformator, sondern nur in der ihm schlecht zu Gesicht stehenden Rolle des mißvergnügten Tadlers und des ohnmächtigen Rivalen durchzuführen im Stande war.

Nur in Einem Punkte ging er von übellauniger Verstimmung zu offenem und heftigem Angriff gegen den ihm widerwärtigen Zeitgeist fort, und leider auf einem Punkte, wo er dem Gegner am wenigsten gewachsen war. Er eröffnete seinen Feldzug gegen die ihm verhaßte Kant’sche Philosophie. Schon in den „Ideen“ war auf Anlaß der Kant’schen Beurtheilung dieses Werkes, weiterhin in den Spinozagesprächen der erste Zusammenstoß erfolgt. Inzwischen jedoch war der Einfluß der Kant’schen Lehre von Jahr zu Jahr gewachsen. Sie bildete die Grundlage von Schiller’s ästhetischen Aufsätzen, und durch Schiller war selbst Goethe für diese Denkweise gewonnen worden. Verstanden oder mißverstanden spukte sie in so vielen jungen Köpfen, und die Verwirrung, die sie hier anrichtete, verband sich, namentlich seit Fichte in Jena dem Kriticismus eine noch [97] viel radicalere Durchbildung gegeben hatte, mit Anmaßung und Dünkel. Die Erfahrungen, welche H. in dieser Hinsicht bei den theologischen Candidatenprüfungen machte, steigerten seinen Groll gegen die neue Weisheit, in welcher er nun alsbald den rechten Hauptfeind aller echten Religiosität sowohl wie aller gediegenen Bildung und wahren Humanität erblickte. So schickte er denn im J. 1799 in zwei Bänden das Buch in die Welt, von welchem Goethe sagte, er würde, wenn er vorher darum gewußt hätte, den alten Freund auf den Knieen gebeten haben, es zu unterdrücken. Das dicke Buch nannte sich eine „Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft“ und schloß sich mit diesem Titel wie mit einem Theil seiner Gedanken an einen ungedruckten kritischen Aufsatz Hamann’s an. In polemischer Wendung kehren im Wesentlichen die schon in der Schrift vom Erkennen vorgetragenen Ansichten von dem Erfahrungsursprung aller unserer Begriffe, auch der von Kant für aprioristisch erklärten, und von der Einheit unserer niederen und höheren Erkenntnißkräfte wieder, womit sich der Versuch verbindet, das Werden unserer Vorstellungen zugleich mit dem Werden der Sprache zu erklären. Dieser zwischen Skepsis und Postulaten eines unvermittelten Vernunftglaubens schwankende Empirismus war nicht dazu angethan, den scharfsinnnigen und tiefgrabenden Untersuchungen Kant’s ihr Recht zu nehmen. Doppelt unangenehm daher fällt die declamatorisch-leidenschaftliche Heftigkeit des Angriffs auf. Die Manier, die dem jugendlichen H. einem Klotz gegenüber zu gute gehalten werden mochte, die Manier der polternden und zankenden Kritik, mußte nothwendig ihr Ziel und ihre Wirkung verfehlen. Und dennoch glaubte H. seinem Zorn, oder, wie er sich einredete, seiner Pflicht gegen die verderbliche Philosophie noch nicht genug gethan zu haben. Trotz des Abrathens wohlmeinender Freunde, ermuthigt freilich durch das Urtheil Jean Paul’s, Knebel’s und Wieland’s, ließ er im J. 1800 gegen Kant’s Kritik der Urtheilskraft noch eine zweite polemische Schrift, die drei Bändchen der „Kalligone“ erscheinen. Kaum fügt die Kalligone mit ihren im Einzelnen oft treffenden und anziehenden Ausführungen den positiven Gedanken der früheren ästhetischen Schriften neue hinzu: aber sie trifft auf den Punkt, in dem sich der Kantianismus mit den Anschauungen unseres Klassicismus berührte. Sie bestreitet die Abstraction des rein Aesthetischen, sie widerspricht der Lostrennung des Schönen von Begriff und Zweck, sie setzt dem interesselosen Wohlgefallen das von lebendiger Empfindung und sittlichem Streben getragene Wohlgefallen entgegen und behauptet, daß das Spiel der Kunst gleich dem Spiel der Natur sinniger Ernst, die Wohlgestalt der Ausdruck natürlicher und geistiger Vollkommenheit sei. Noch „stärkere Pfeile“ hatte der Verfasser zurück, um schließlich auch den nachtheiligen Einfluß der kritischen Philosophie auf die Moralität aufzudecken. Nur die Vorrede zur Kalligone indeß enthält etwas von dem Gifte, mit dem sie getränkt worden waren. Ruft dieselbe doch alle Verständigen und Guten gegen diese „gemeingefährliche“ Lehre auf, den Frevel, der in ihrem Namen mit der akademischen Jugend getrieben werde, „nicht etwa zu entlarven, sondern abzustellen“!

Wie sehr mit alle dem der Verfasser über jedes billige Maß hinausgegangen war: er hatte sich in diesen beiden Streitschriften noch einmal energisch concentrirt. Nach dieser Aufraffung schien seine Kraft erschöpft, und dennoch war es ihm, bei allem Gefühl der Ermüdung, bei allem Ueberdruß an der schriftstellerischen Thätigkeit, unmöglich, zu rasten. Zu immer neuer Arbeit zwang ihn nicht nur sein unruhiger Geist, sondern leider auch seine materielle Lage. Durch seinen Verleger erhält er den Anstoß zu der Idee, sich mit einer Zeitschrift dem ganzen Geiste der Zeit entgegenzuwerfen. Die Horen sowohl wie das Athenäum waren eingegangen: mit einer „Aurora“ will er, gemeinschaftlich mit [98] wenigen Gleichgesinnten, das neue Jahrhundert begrüßen. Bald verschiebt sich ihm dieser Plan. Er kehrt zu dem alten Gedanken zurück, das Walten der Nemesis Adrastea in der Natur wie in der Geschichte darzustellen. So schreibt er allein, nur einzelne Beiträge von Knebel aufnehmend, seit dem Jahre 1801 die „der Wahrheit und Gerechtigkeit“ gewidmete Zeitschrift „Adrastea“. Es ist im Grunde eine Fortsetzung der Humanitätsbriefe, gleich diesen ein Nachklang, ein schwächerer Nachklang der „Ideen“. Es war zunächst darauf abgesehen, auf dem Schauplatz des letztvergangenen Jahrhunderts Umschau zu halten, aus dem Körper der Begebenheiten den Geist, das Resultat für die Cultur der Menschheit zu ziehn. Im weiteren Verlaufe jedoch drängen sich Erörterungen über das Wesen der verschiedenen Dichtungsgattungen dazwischen, mit der politischen Geschichte verbindet sich die Geschichte der Wissenschaften und der Litteratur, während zugleich eigene dramatisch-allegorische oder didaktische Dichtungen, Nachdichtungen und poetische Lesefrüchte wie zur Unterstützung der vorgetragenen Theorien seines „poetischen Testamentes“, wie er selbst sagt, eingestreut werden. Locker gefügt, flüchtig hingeworfen, erheben sich diese Sammlungen nur selten und auch dann nicht immer über das Niveau des Gewöhnlichen und über das schon früher von dem Verfasser Vorgetragene. Schlimmer als das: sie verletzen durch die versteckte und dabei doch bitterböse Polemik gegen den ästhetischen Standpunkt und die künstlerische Praxis der beiden großen Dichter, durch die Feindseligkeit, mit der sie abermals die Verdienste einer verlebten Litteraturperiode geflissentlich gegen die Gegenwart hervorziehen. Auch die poetischen Beiträge, die H. in diesen letzten Jahren in andere Zeitschriften stiftete, in Jacobi’s „Ueberflüssiges Taschenbuch“, in Seckendorf’s Ostertaschenbuch, in die Taschenbücher von Vieweg und von Wilmans, können nicht als glückliche Versuche angesehen werden, seine moralisirende Theorie der Dichtung zu exemplificiren. Nicht ohne ein Gefühl des Unwillens vermißt man in dem für das Wilmans’sche Taschenbuch von 1803 gelieferten Traum: „Kalligenia, die Mutter der Schönheit“ neben den Namen anderer lebenden Dichter die Namen der beiden Größten. Rührend und versöhnend indeß mag es erscheinen, daß unter den Gestorbenen wenigstens der Größte auch ihm der Größte geblieben ist. In dem Gespräche über die Seelenwanderung hatte H. die treffende psychologische Bemerkung gemacht, daß sich im Traume der Menschen oftmals Eindrücke der ersten paradiesischen Jugendzeit in neuen seltsamen Verbindungen wiederholen. Solch’ einen Traum eben, wenn auch einen mit wachender Seele geträumten, erzählt er in der Kalligenia. Denn diejenigen, die ihn da, wie Virgil den Dante, durch die elyseischen Gefilde geleiten und ihm den Weg zu dem Quell der Schönheit weisen – es sind dieselben, deren Namen er einst, ein Knabe, in die Rinde der Bäume gegraben, Kleist und Lessing. Lessing aber, dessen Spuren er in der That während seiner ganzen litterarischen Laufbahn nie verlassen, tritt zu ihm und umarmt ihn mit Worten, die der eigenen Denkweise des Träumenden entnommen sind.

Jede Entschuldigung überdies für die Einseitigkeiten, die Härten und Schwächen, die dem Ende dieser litterarischen Laufbahn anhaften, steht ihm zur Seite: in rastloser Anstrengung hatte er sich müde und krank, hatte mit dem Gefühle der sinkenden Kraft immer weiter gearbeitet. Die geistige Anspannung hatte seinen Körper gebrochen, und die sich häufiger einstellenden körperlichen Leiden hatten die Reizbarkeit seiner Seele gesteigert. Zu spät – nicht früher als im Juni 1801 – wurde er nach dem Abgang des fast erblindeten Präsidenten von Lyncker zum wirklichen Präsidenten des Oberconsistoriums ernannt und ihm so ein selbständigeres und erfolgreicheres Wirken ermöglicht. Allein eben jetzt gesellte sich zu seinen sonstigen Beschwerden ein Augenleiden. Sechs Stücke der Adrastea hatte er bis in den Sommer 1802 fertig geschafft. Er ging einer Hauptcur wegen abermals in die Bäder nach Aachen und von da zu einer [99] Nachcur auf das Gut seines Sohnes Adalbert in Bayern, nach Stachesried, wo er schon im vorigen Sommer Erholung gefunden hatte. Eben dieses Gut, beiläufig, dessen Eigenthum dem Besitzer nur durch einen Adelsbrief gesichert werden konnte, trug H. im Herbst 1801 vom Kurfürsten von Baiern die Erhebung in den Adelstand ein. Der Winter von 1802 bis 1803 konnte noch einmal einer erfreulichen Arbeit gewidmet werden. Ein Wink im Teutschen Mercur nämlich hatte ihn längst auf die Romanzen vom Cid aufmerksam gemacht. Durch die Umsetzung einer französischen Prosabearbeitung in das Metrum der spanischen Romanzen mit Einschaltung eigener Stücke gelang ihm, noch zuletzt seiner Nation ein Geschenk zu machen, welches sie, während sie so vieles Andere unbillig vergessen und verabsäumt hat, mit dauernder Gunst und Dankbarkeit aufgenommen hat. Vollständig erst nach seinem Tode, 1805, veröffentlicht, bilden die Romanzen vom Cid eine Zierde der letzten noch von H. selbst zusammengestellten Stücke der Adrastea. Die Arbeit beschäftigte ihn noch im Frühjahr 1803. Seine angegriffene Constitution jedoch war am Zusammenbrechen. Von einer Amtsreise nach Jena im Mai zurückgekehrt, erkrankte er bald darnach so ernstlich, daß die Seinigen ihn zu einer Niederlegung seines Amtes zu bereden suchten. Am 12. Juli reiste er zur Cur nach Eger. Schon die Gebirgsluft in Schneeberg, wo er auf der Hinreise vierzehn Tage bei seinem Sohne August weilte, kräftigte ihn; er vollendete hier die zarte dramatische Dichtung: „Admetus’ Haus“. Auch der Eger Brunnen, obwol er für sein Augenleiden ohne Wirkung blieb, that seine Schuldigkeit. Wie ein gesunder Mann konnte er sich noch mit erfrischter Seele des mannigfachen Guten erfreuen, das ihm ein dreiwöchentlicher Aufenthalt in Dresden bot. Es war der letzte Sonnenstrahl seines Lebens. Stadt und Gegend, Bibliothek und Gallerie, am meisten die Menschen, die ihm bis in die höchsten Kreise hinauf verehrend hier entgegenkamen, überraschten ihn und gaben ihm das lang entbehrte Gefühl des Glückes wieder. Heiter und voll von Entwürfen für seine Schriftstellerthätigkeit[WS 2] kehrte er am 18. September nach Weimar zurück. Allein auf die künstliche Anspannung folgte nun rasch der Rückschlag. Die Ungunst der Witterung und der Mangel erhebender Eindrücke wirkten zu einer völligen Depression seines Nervensystems zusammen. Das zehnte Heft der Adrastea war etwa zur Hälfte geschrieben und geordnet, als ihn, Mitte October, ein schlagartiger Anfall aufs Krankenlager warf. Noch immer arbeitete sein rastloser Geist in dem Verlangen nach neuen Ideen und neuer Thätigkeit, in der Hoffnung auf Genesung und Leben. Die sinkenden Kräfte jedoch versagten mehr und mehr den Dienst und spotteten der ärztlichen Kunst seines Sohnes Gottfried, der treuen Pflege der Seinigen. Es war eine Erlösung, wenn ihn am 18. December nach einem zweimonatlichen Kampfe der Tod abrief. Im Frühling desselben Jahres waren Gleim und Klopstock dahingegangen. Er schied, der Erste der Edlen, welche die kleine Stadt an der Ilm zu einem deutschen Athen gemacht hatten. Dort in der Weimarischen Stadtkirche, wo seine Stimme so oft die schweigende Gemeinde erweckt hatte, neben den Gräbern Herzog Bernhards, Johann Friedrichs und seiner Nachkommen ruht auch er unter dem symbolischen Zeichen der Ewigkeit mit der Umschrift: „Licht, Liebe, Leben.“ An der Mauer der Kirche, seiner Amtswohnung gegenüber, erhebt sich das eherne Standbild des Predigers H. An der Aufgabe jedoch, dem Manne ein Standbild zu errichten, das alle Seiten seines Wesens und seiner Wirksamkeit zum Ausdruck brächte, dürfte die bildende Kunst verzweifeln. Seinem Andenken völlig gerecht zu werden, gehört überhaupt zu dem Schwierigsten. In den Augen der gegenwärtig lebenden Generation ist sein vielstrahliges Licht durch das milder leuchtende oder verdichtetere unserer großen Dichterheroen überstrahlt. Darin wird auch die künftige Zeit nichts ändern, aber die Gerechtigkeit wird erst dann hergestellt [100] sein, wenn das Urtheil über ihn wieder etwas von der Liebe in sich aufnimmt, die der Lebende in seinen besten Stunden den Vielen einzuflößen wußte, die sein ungetrübtes Gemüth erblickten. Die in dieser Weise urtheilende Nachwelt wird ihre Bewunderung mit ihrem Mitgefühl zu mischen haben; sie wird nie vergessen dürfen, daß eben das, was uns die reine Freude an seinem Auftreten und Wirken verkümmert, ihn selbst am meisten gedrückt hat, und daß er die unübersehbare Fülle geistiger Bewegung, die von ihm ausgegangen ist, ebenso oft aus gepreßter wie aus erhobener und begeisterter Seele geschöpft hat. Das erste litterarische Denkmal, das ihm gestiftet worden, war ein Denkmal persönlicher Liebe und Verehrung. In diesem Sinne ist von seiner überlebenden Gattin mit Hülfe der nächsten Freunde die erste Gesammtausgabe seiner Werke im Cotta’schen Verlage (45 Bde. 8°., 60 Bde. 16°.) veranstaltet worden. Ein Werk der Pietät sind desgleichen die von Caroline Herder verfaßten, nicht unverändert von J. G. Müller herausgegebenen „Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder“, Stuttg. 1820 (in der Cotta’schen Taschenausgabe der Werke, Abth. Zur Philosophie, Theil 20–22). Neben dieser auf voller Sachkunde beruhenden Arbeit sind die Herderbiographien von Ring und Döring werthlos. Seitdem hat sich das reger erwachte Interesse an litterarhistorischer Forschung mit dem persönlichen Interesse an dem Menschen H. verbündet, um zunächst die Materialien zu einer erschöpfenderen Kenntniß seines Lebens und seiner Schriften zu Tage zu fördern. Die „Erinnerungen“ ergänzend, gab Herder’s Sohn Emil die drei Bände „Johann Gottfried von Herders Lebensbild“ (Erlangen 1846) heraus, und an die hier publicirten Briefe und Actenstücke schlossen sich die weiteren, von Düntzer mit Einleitungen ausgestatteten Briefveröffentlichungen „Aus Herder’s Nachlaß“ (3 Bde., Frankfurt a. M. 1856), „Herder’s Reise nach Italien“ (1 Bd., Gießen 1859) und „Von und an Herder“ (3 Bde., Leipzig 1861). Zahlreiche Einzelpublicationen ähnlicher Art oder sonstige Beiträge zum Leben Herder’s (im Herderalbum; in Gelzer’s Protestantischen Monatsblättern; Aufsätze und Mittheilungen von Düntzer, Bodemann, Suphan, Baumgarten etc.) gingen voran oder folgten. In der Einleitung zum ersten Bande der Hempel’schen Ausgabe der Werke Herder’s konnte nunmehr Düntzer’s Aufsatz: „Herder’s Leben und Wirken“ eine sorgfältige Aneinanderreihung der Daten geben. Noch vollständiger galt es endlich, den durch alles bisher Veröffentlichte nicht erschöpften handschriftlichen Nachlaß Herder’s zu verwerthen. Auf umfassende kritische Ausbeutung aller erhaltenen Handschriften und aller überhaupt zugänglichen Quellen gründet sich die musterhafte, seit 1877 (im Weidmann’schen Verlage) erscheinende Suphan’sche Ausgabe der Werke. Gleichzeitig aber hat der Unterzeichnete sein zweibändiges Werk: „Herder nach seinem Leben und seinen Werken“ (Berlin 1877 ff.) in Angriff nehmen können.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 75. Z. 2 v. u. l.: 1. October (st. 2. October). [Bd. 12, S. 796]


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vater von Willamov, Johann Gottlieb
  2. Vorlage: Schrifstellerthätigkeit