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Meine Suspension im Jahre 1860 (Wilhelm Löhe)/Abschnitte

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« Vorwort Wilhelm Löhe
Meine Suspension im Jahre 1860 (Wilhelm Löhe)
Anmerkung »
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|  Am 8. März des Jahres 1860 legte N. N., ein Handwerksmeister, mir, seinem Pfarrer, einen landgerichtlichen Schein vor, nach welchem ihm, einem geschiedenen Ehemanne, die Wiederverehelichung mit N. N. gestattet wurde. Die Proclamation wurde ihm zugesagt, und auch sofort ins Werk gesetzt, ihm aber auch gleich bei Vorlegung seines Scheines erklärt, daß ich ihn nach meinen, ihm längst bekannten Grundsätzen in Betreff der Wiederverehelichung Geschiedener nicht würde trauen können. Da er aber, sagte ich ihm, nach den bestehenden Ehegesetzen zur Trauung berechtigt sei, und daher ohne Zweifel zu seinem Zwecke gelangen werde; so wolle ich ihm, so sehr ich seine Verheirathung misbillige, gegen mich selbst behilflich sein. Ich würde zwar ohne Zweifel darüber mindestens suspendirt werden; da er aber von seiner Verehelichung nicht werde abstehen wollen, so sei es jedenfalls das beste, für mich sowohl als für ihn, wenn die Sache möglichst schnell zum Abschluß komme. Ich wolle daher sofort den nöthigen Bericht an die kirchlichen Behörden erstatten. Dem Manne, der längst ein erklärter Feind eines heiligen Lebens, und deshalb des Christenthums und seines Pfarrers war, lag durchaus nichts daran, ob dieser in Unannehmlichkeiten käme oder nicht; so weit er es glaubte, daß es geschehen würde, war es ihm vielleicht ganz recht, und so bat er denn um Berichterstattung. Diese erfolgte alsbald, und da die kirchlichen Behörden um so weniger helfen konnten, als der Pfarrer gleich bei der Berichterstattung erklärte, keinerlei Dimissorium ausstellen zu können, so erfolgte am Nachmittage des 17. Julius die Suspension wirklich, und ein benachbarter langjähriger Freund des Pfarrers wurde Pfarrverweser. Dieser stellte sofort das verweigerte pfarramtliche Dimissorium aus, auf welches sich seiner Meinung| nach seine ganze Pfarrverwesung beschränken sollte. Der Bräutigam hatte nemlich Miene gemacht, sich in dem ziemlich entlegenen Pfarrorte der Braut trauen zu laßen, und schien ganz versichert, daß der dortige Pfarrer ihn unbedenklich trauen würde. Das konnte nun sogleich geschehen, ich aber alsbald wieder in die Ausübung meiner pfarramtlichen Funktionen zurücktreten. Die ganze Suspension konnte dadurch möglichen Falles wieder aufgehoben sein, ehe sie nur bekannt wurde. Als nun aber dem Bräutigam das Dimissoriale, welches ihn zu einer auswärtigen Trauung berechtigen sollte, vorausgesetzt, daß er sich zu derselben verstand, überantwortet werden wollte; erklärte er, daß er auswärts nicht getraut werden wolle, sondern in der Pfarrkirche der Gemeinde ND., zu welcher er annoch gehöre. Da sich jedoch die Kirchenvorstände der Gemeinde ND. schon vor Ausspruch der Suspension, am 25. Juni 1860, bei dem Dekanate W. zu Protokoll dagegen verwahrt hatten, daß N. N. in einem der Gotteshäuser der Pfarrei getraut würde, und nach der Suspension fast die ganze Gemeinde in gleichem Sinne wie Ein Mann stand; so verlängerte sich die Suspensionszeit schon dadurch. In Berücksichtigung der offenkundigen Gesinnung der Gemeinde ND. wurde nun der Pfarrer der Heimathsgemeinde der Braut ausnahmsweise zur Vornahme der Trauung ermächtigt, dem Bräutigam aber überlaßen, bei dem Pfarrer seiner Braut die Trauung nachzusuchen. Die Trauung selbst trat damit in den Hintergrund, und ohne fernere Berücksichtigung derselben wurde am 30. Julius der Auftrag gegeben, die Suspension, welche eigentlich zum Behuf der Erlangung eines pfarramtlichen Dimissoriums angeordnet worden war, wieder aufzuheben. – Damit trat aber die Sache in ein neues Stadium. Ich hatte nemlich die Suspension zwar vorausgesehen und vorausgesagt, wie es jedermann konnte und that; da sie aber eintrat, fühlte ich erst den vollen Ernst der Sache. Nicht die kirchlichen Obern hatte ich anzuklagen, welche im Gegentheil alles gethan hatten, was von ihrem innern und äußeren Standpunkte aus zur glimpflichen Erledigung der Sache möglich war; aber ich fühlte nicht blos recht tief und schmerzlich die harte Lage eines landeskirchlichen Pfarrers, sondern auch die Schwierigkeit meiner ferneren Amtsführung in der Gemeinde ND., welche sich zwar dem größten Theile nach, wie früher in ähnlichen Fällen, so auch diesmal sehr richtig benahm, in welcher aber auch durch die Suspension die kleine Partei der| Widerwärtigen sehr gestärkt worden war. Ich konnte nicht wißen, ob mir nicht fortan die Amtsführung viel schwerer gemacht werden würde, als früher, und wäre überhaupt am liebsten gar nicht mehr Pfarrer gewesen. Die Verbindung mit der Gemeinde ND., die ich für eine göttliche halte, trieb mich jedoch an, alles mögliche zu thun, um dennoch fernerhin ihr Pfarrer bleiben zu können; dazu aber schien mir ein doppeltes durchaus nöthig zu sein, nemlich erstens, daß auf den zu trauenden Bräutigam, und zweitens auf die ihm angeschloßene Gegenpartei durch die kirchlichen Behörden selber entsprechend eingewirkt würde. Weder der Bräutigam noch seine Partei durfte fernerhin dem Pfarrer im Bewußtsein eines Sieges gegenüber treten, dem Bräutigam mußte sein Unrecht, ihm und seiner Partei aber bezeugt werden, daß die Behörden, abgesehen von dem Trauungsfalle, Treue und Amtsführung des Pfarrers anerkennen. Blieb dann immerhin über dem Trauungsfall selbst eine Wolke, wie das im Falle selbst lag; so war doch der Gegenpartei der Wahn genommen, als stünden die Behörden hinter ihr, und als dürfte sie sich bei ihrem sündlichen Widerstreben gegen das Wort und die Führung ihres Pfarrers des Wohlgefallens und Schutzes der Obern getrösten. Bis mir nun wenigstens so viel, als ich für meine Stellung innerhalb der Gemeinde und die seelsorgerische Behandlung der Gegenpartei nöthig hatte, gegeben war, dauerte es noch einige Wochen. Ich hatte überdies zur Verzögerung, ohne es zu wollen, durch unklare Darstellung meines Verlangens und unrichtige Auffaßung der Worte der Oberen Veranlaßung gegeben. Als ich aber hatte, was ich bedurfte, erklärte ich mich willig und bereit, unter Vorbehalt meiner kirchlichen Ueberzeugungen, die Amtsfunktionen wieder zu übernehmen, wie sie mir denn auch am 17. Sept. 1860 wieder überlaßen wurden, nach Ablauf zweier Monate. – Das zweite Stadium des Verlaufs war für mich mühevoller, als das erste. Der Zweck der Verhandlungen war weniger kenntlich, weil er im Grunde nur aus meiner Lage heraus recht gefaßt werden konnte, es aber für die meisten schwer, vielleicht auch für manchen nicht recht möglich war, sich in meine Lage hinein zu denken oder zu versetzen auch wenn er wollte.




 Der vorausstehende Ueberblick über den Gang der Sache möge als Einleitung dienen, die nachfolgenden Erörterungen aber dem Leser zeigen, wie schwer es zuweilen einem landeskirchlichen Pfarrer, bei dem| besten Willen von Seiten der Oberen und von seiner eigenen Seite, dennoch ankommt, das Rechte und zwar in rechter Weise zu thun, zumal wenn beiderseits Verschiedenheiten der kirchlichen Ueberzeugungen Einfluß üben und üben müßen.

 Bei der vorausgehenden Einleitung ist der Fall, um den es sich handelt, vorausgesetzt. Da nun aber gerade auf ihn das meiste ankommt, so muß der Leser vor allen Dingen gebeten werden, sich aus der nachfolgenden Erörterung mit demselben bekannt zu machen.

 Der Bräutigam war zur Zeit, da er sich zum zweiten Male verehelichen wollte, nicht völlig 36 Jahre alt. Ich selbst war fast 23 Jahre Pfarrer in ND. und hatte ihn unterrichtet und confirmiert. Sein Vater starb frühzeitig dahin, und er hatte daher kein häusliches Hindernis, sich einem weltlichen und zügellosen Leben zu überlaßen. Da er sein Handwerk wohl verstand, und man desselben in der Gemeinde bedurfte, gelang es ihm bereits in einem Alter von 23 Jahren, ansäßig zu werden. Er war arm und heirathete daher unbedenklich ein für ihn durchaus nicht passendes Mädchen, das bereits im 31. Jahre stand, weil sie etwas Vermögen hatte. Die Verbindung war unglücklich, schon ehe sie durch die Trauung besiegelt war. Das Weib wurde schon als Braut auf eine rohe und übermüthige Weise mishandelt, und war nicht die Person dazu, um sich dem Manne gegenüber Achtung zu verschaffen. So war es nicht zu verwundern, daß bereits vor Ablauf eines Jahres der Versuch gemacht war, das eheliche Band wieder zu zerreißen, ja daß schon drei Tage vor Jahresschluß vor dem zuständigen Gerichte der erste seelsorgerische Sühnversuch abgehalten wurde. Da der Mann auf Grund unüberwindlicher gegenseitiger Abneigung die Ehescheidungsklage gestellt hatte, die Frau aber keine Abneigung gegen ihren Mann fühlte und dies auf seelsorgerisches Mahnen zu Protokoll gab, so konnte aus dem ersten Scheidungsversuche nichts werden. Demselben folgten aber andere, und die Gründe zur Ehescheidung waren mancherlei. Es dauerte fast elf Jahre lang, ehe der Mann, der ohnehin auf Armenrecht processierte, und daher schwerer durchdringen konnte, als ein anderer, der mehr Aufwand zu machen hatte und der Sache mehr nachgehen konnte, zu seinem Ziele kam. Erst am 20. Aug. d. J. 1859 wurde die Scheidung wegen böslicher Verlaßung ausgesprochen, die Frau für den allein schuldigen Theil erklärt, beiden aber die Wiederverehelichung gestattet, der Frau nach Ablauf| von 9 Monaten. Die amtliche Mittheilung der Ehescheidung an das Pfarramt ND. erfolgte am 25. November 1859.
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 Während der langen Zeit des Scheidungsbetriebs hatte der Mann auch versucht, mit dem Scheidungsgrunde der Untreue zum Ziele zu kommen; der Versuch war aber nicht gelungen; wohl aber hatte er selbst bei währendem Prozeß, also auch bei noch bestehender Ehe, mit einer Dirne von einem benachbarten Dorfe zwei Kinder in Ehebruch erzeugt, was aber, wahrscheinlich weil es nicht benützt wurde, dem Processe keine andere Wendung gab, obwohl es mehr als hinreichend war, im Interesse der Frau die Ehe zu zerreißen und die Schuld auf den Mann zu wälzen. Was nun den Scheidungsgrund, der durchschlug, anlangt, so mag vielleicht das Weib während der ihr gerichtlich auferlegten Frist keinen Versuch gemacht haben, sich wieder in das Haus ihres Mannes einzudrängen, und es kann daher ganz leicht der formale Beweis der böslichen Verlaßung zu Stande gebracht worden sein. Allein der Mann hatte sie schon früher nicht im Hause geduldet, und wenn sie es versuchte, bei ihm zu wohnen, wurde sie so mishandelt, daß sie gerne gieng, und daß gewiss auch keine andere geblieben sein würde. Da er sie einmal mit Hammerschlägen zum Hause hinausgejagt hatte, und sich sonst niemand bereit fand, sie zu dem gewaltthätigen Manne zurück zu bringen, führte ich sie selbst zurück, war Zeuge einer abscheulichen Scene, und mußte mir gefallen laßen, daß mir die Thüre auf eine rohe Weise gewiesen wurde, nachdem ich einer persönlichen Gefahr entgangen war. Der Wüthende hatte nemlich bei der ersten Anrede von meiner Seite ein Schaff, das er in den Händen hatte, mit solcher Gewalt auf seine Schnitzbank geworfen, daß es bis an die Decke sprang und dicht vor mir von der Decke wieder abprallte und zu Boden stürzte. Als ich das Haus verließ, standen mehrere Nachbarn in der Nähe, wie sie sagten, aus Besorgnis, es möchte mir ein Leid geschehen. Was hätte das ungeschickte Weib gegen einen solchen Mann vermocht? Er jagte sie von sich, ließ sie nicht wieder zu sich, und klagte dann wegen böslicher Verlaßung, deren, wenn man es nicht blos formal verstand, allenfalls er, aber nicht das Weib schuldig war, das ihm, wie das Lamm dem Wolfe in der Fabel, das Waßer trüben mußte, damit er Ursache fand es zu verderben! Ich habe niemals Grund gehabt, mit dem Weibe zufrieden zu sein, aber es war doch jedenfalls kein Wunder, wenn man schon vor der Scheidung an ihr Zeichen von Geisteskrankheit fand, so| wie es leicht zu erklären ist, daß sie nach der Scheidung wirklich geisteskrank wurde. Vielleicht hatte sie eine Anlage zur Geisteskrankheit; wer sich aber in ihre Lage versetzt, wird zugeben, daß es am Ende gar keiner weiteren Anlage bedarf, als die jeder Mensch hat, um in einem solchen Falle verrückt zu werden. Sie hatte den Mann lieb, wenn auch nur in sinnlicher Weise, hatte ihm ihr bißchen Vermögen zugebracht: dafür mußte sie sich mishandeln, verjagen, in einen fast elfjährigen Scheidungskampf hineinziehen, endlich scheiden und sich alle Schuld aufbürden laßen, während auch das Bißchen Vermögen dahin, und nichts mehr zu gewinnen war.

 Bei alle dem maß sich der Mann für sein Verhalten keineswegs ein göttliches Recht zu. Bei einem der Sühnversuche wollte ich Stellen des göttlichen Wortes anwenden, um ihn zum heilsamen Ziele zu bringen, und fragte ihn daher zur Einleitung, ob er das Wort Gottes für sich als entscheidend anerkenne. Darauf sagte er ganz einfach: die Bibel habe Recht und ich nach der Bibel, er dagegen Unrecht; dennoch aber möchte ich nur alle Mühe sparen, ihn zu ändern, da er doch von seinem Wege nicht laßen könne. Auch sonst konnte er sich auf das leichtsinnigste selbst beschuldigen, ohne daß ihm sein Gewißen Unruhe zu machen schien. Er that mit Bewußtsein das Böse, welches er kannte, und als solches bekannte. Allerdings sprach er sich aber auch zuweilen dahin aus, daß er sich beßern wollte, aber erst wenn er zu seinem Ziele gekommen sein würde. Das wußte er eben nicht, und wenn mans ihm sagte, glaubte ers nicht, daß man auf dem Wege der bewußten Sünde immer härter und untüchtiger zur Umkehr wird.

 Wenn er nun nach der Scheidung die Mutter seiner beiden im Ehebruch erzeugten Kinder, von denen eins noch am Leben war, geehelicht hätte, um ihr Mann, dem Kinde Vater zu sein, wie ers schuldig war; so würde man ihm ein gewisses Maß von Ehrenhaftigkeit haben zuschreiben können. Aber nein, die Dirne hatte nichts; dagegen aber heirathete er eine andere, also eine dritte, und zwar unter der offenherzigen Grundangabe, daß er Geld brauchte. Die, mit welcher er verehelicht sein wollte, brachte ihm nach dem gerichtlichen Protokoll 250 fl. zu; dafür ließ er die Mutter seiner Kinder und das Kind selbst sitzen und begehrte mit der wohlhabenderen Dirne getraut zu werden.

 Wer den Mann kannte, konnte diese Handlungsweise durchaus| nicht befremdlich finden. Er hatte sich seit vielen Jahren der Kirche und des Sacraments entschlagen, weil der Seelsorger bei einem jeden Versuch, den er machte, um zu Gottes Tisch zu gehen, die dringende Aufforderung an ihn gestellt hatte, nicht bloß ein Hörer, sondern ein Thäter des Wortes zu sein, er hingegen den Anspruch machte, sein Leben in Sünden und Lastern fortführen und dabei unbesprochen zum Sacramente gehen zu dürfen. Er war ein Trinker, ein Lästerer des Heiligen und guter Sitten, roh und zornmüthig, gewaltthätig u. s. w. Ohne allen Zusammenhang mit dem göttlichen Wort und dem Gottesdienste, fand er es immer leichter, ohne Gotteswort zu leben, so daß er bei seiner Anmeldung zur Proclamation mit frecher Stirne sagte, nicht blos, daß ihm persönlich an der Trauung gar nichts liege, daß er schon bei seinem Verlöbnis seine Ehe begonnen habe und nichts begehre, als unangefochten fortleben zu dürfen, sondern auch, daß ihm am Christenthum selbst nichts liege, und ich bestimmt noch seinen Austritt aus der christlichen Kirche erleben würde. Wenn auch solche Reden noch keine Thaten sind, und ein innerlich zerrütteter Mensch je nach Zweck und Umständen oftmals die entgegengesetztesten Dinge setzen und sagen kann, so ist doch damit genug gesagt, um das Bild des Mannes zu vollenden, der die Trauung verlangte, und um den Abschlag des Pfarrers zu rechtfertigen.
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 Wem schlug ich die Trauung ab? Einem Manne, der seinem Weibe es unmöglich machte, mit ihm zu leben, um den Schein der böslichen Verlaßung auf sie bringen, sie durch einen rechtsgiltigen Ausspruch des Ehegerichtes auf immer von sich jagen zu können, der seine Bosheit auch wirklich zu Ende und sein armes Weib nicht bloß um ihre arme Habe, sondern um alles brachte, am Ende wohl gar um den gesunden Verstand, – einem Ehebrecher, der frech genug war, sein Weib wegen böslicher Verlaßung zu verklagen, während er mit einer anderen in fortgesetztem Ehebruch lebte und Kinder erzeugte, – einem Ehebrecher, welcher das zweite Weib, sammt seiner Nachkommenschaft, wie das erste verließ und um Geldes willen ein drittes nahm, – einem Menschen von lüderlichem, allgemein bekanntem Wandel, – einem Lästerer, einem Feinde des göttlichen Wortes und der Kirche, einem abfälligen, unbußfertigen und groben Sünder. Ich konnte nicht anders, darum war auch die Gemeinde in größter Mehrzahl beifällig, als ich die Trauung weigerte, und unter den Geistlichen der Diöcese| war auch nicht einer, der sich bereit erklärt hätte, die Trauung zu vollziehen.




 So groß jedoch in Betreff der Trauungsverweigerung die Einstimmigkeit war, so wenig gelang es mir, in der Führung der Sache jedermann zu befriedigen. Ich hatte den entschiedensten Willen, recht und nach keiner Seite hin mehr zu thun, als nöthig. Ich war schon einmal im Jahre 1837, ehe sich der bekannte Otto v. Gerlach’sche Fall in Preußen ereignete, als Pfarrverweser von Merkendorf in einer sehr ähnlichen Lage, und unter dem damaligen, gegen mich wohlwollenden Kirchenregiment wegen verweigerter Trauung von der Pfarrverwesung entlaßen worden. Ich hatte bei meiner Installation als Pfarrer von N.D. in demselbigen Jahre feierlich dagegen protestiert, mein Pfarramt in Ehesachen nach den bestehenden Ehegesetzen (denen des preußischen Landrechts) führen zu sollen. Ich hatte darauf mehrere Jahre hintereinander im Verein mit dem sel. Herrn Dekan Brandt bei Diöcesansynoden etc. die Anregung zu Eingaben und Erklärungen gegeben, welche sich auf Abänderung der Ehegesetze bezogen. Das alles konnte nicht geschehen, ohne daß ich mich mit dem Eherechte bekannt machte. Auch hatte ich mit allem Ernste die mir von dem Herrn vertraute Gemeinde durch Predigt und Unterricht zum Gehorsam gegen die Ehegesetze des göttlichen Wortes zu ziehen gesucht, und, unterstützt durch einige sehr instructive Fälle, welche sich dem göttlichen Worte zuwider in der Gemeinde erhoben hatten, Erfolg gehabt, wie in wenig anderen Stücken. Auch stand ich immer auf der Wache, damit nicht irgend in Ehesachen ein Uebel geschähe, welches ich hätte hindern können. Ich hatte auch den Fall, von dem wir reden, vorausgesehen und vorausgesagt, und glaubte für alle Eventualitäten gefaßt zu sein. Auch war ich ja 23 Jahre lang Pfarrer in N.D. gewesen, so daß von jugendlicher Unbesonnenheit keine Rede mehr sein konnte. Dazu besprach ich auch in unserem besonderen Fall alles und jedes mit, versteht sich, gleichgesinnten, einsichtsvollen Freunden, und fügte mich bei Meinungsverschiedenheiten der Einsicht anderer. Habe ich nun trotz dem hie und da den rechten Weg nicht gefunden; so habe ich es weniger zu bereuen, als zu bedauern. Es liegt mir auch nicht daran, mich jetzt zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, sondern nur meinen Sinn darzulegen, welchen andere schwerlich beßer wißen können als ich.

|  Man machte mirs vielfach zum Vorwurf, daß ich nicht genug gethan hätte, den in Rede stehenden Ehefall zu verhindern. Ich hätte bei Ausstellung des Leumundszeugnisses, als Vorstand des Localarmenpflegschaftsrathes bei Abgabe der gesetzlichen Erklärung in Betreff der Wiederverehelichung mehr entgegen wirken, und namentlich nicht proclamieren sollen.
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 Was nun alle diese und ähnliche Dinge anlangt, so bekenne ich, daß ich je und je einen Unterschied zwischen dem göttlichen Hirtenamte und zwischen den Geschäften gemacht habe, welche seit dem Bestehen der Staatskirchen von dem Staate den Hirten der Gemeinden als den dazu passendsten Personen übertragen wurden. Das Hirtenamt selber verdanke, seine Führung verantworte ich dem Erzhirten und Bischof, dem Richter der Welt, nach den von ihm gegebenen Bestimmungen. Dagegen aber die Geschäfte, welche der Staat den Pfarrern anvertraut hat, darf ich nur in seinem Sinne erledigen, wenn ich sie einmal übernehmen konnte und übernommen habe. Der Staat weiß sehr wohl, warum er diese Geschäfte den Pfarrern überträgt, und hat, bei dem einmal bestehenden Bunde zwischen Staat und Kirche, ganz recht, sie den Pfarrern zu belaßen. Die Kirche ihrerseits ist gewiss verpflichtet, die ihren Pfarrern angesonnenen Geschäfte entweder von denselben gar nicht übernehmen zu laßen, oder in dem Sinne, in welchem sie übertragen werden wollen. Geschäfte des Staates in einem anderen Sinne übernehmen, als in dem des Staates wird ein ähnliches Unrecht sein, wie wenn man einen Eid, den man schwören soll, in einem anderen Sinne schwört, als in dem von dem Richter vorgelegten. Mir ist es je und je wie eine Art von Jesuitismus erschienen, wenn man verschiedenartige Beziehungen und daraus hervorgegangene Verhältnisse Einer oder Einem unter ihnen trotz des Widerstrebens der anderen unterordnete. Es ist allerdings eine ganz üble Sache, daß die Diener der Kirche auch Staatsdiener sind, und die Vermengung der beiden Schwerter hat im allgemeinen niemals eine gute Wirkung gehabt; ebendaher kommt ja die unerträgliche Verwirrung aller Dinge, welche trotz der Tradition und Gewöhnung von anderthalb Jahrtausenden doch die Gewißen nicht so stumpf machen konnte, daß sich nicht zuweilen ein Schrei des tiefsten Wehs und Jammers hören ließe. Aber was hilfts, in diesen Verhältnißen leben wir nun einmal, und das ist eben die Aufgabe, die oft schwierige, zuweilen unmögliche, daß wir| zweien Herren dienen müßen, deren Zwecke und Befehle sich, wenn vielleicht in der Idee, doch nicht in der Wirklichkeit allzeit vereinen laßen. Nachdem es einmal so steht, ist der Redliche und Weise nicht der, der eins dem anderen unterthänig macht, sondern, der mit aller Kraft der Kirche dient, dem Staate aber in seinem Sinne Gehorsam leistet, so weit es möglich ist, und wenn es nicht mehr möglich ist, geduldig das Leiden auf sich nimmt, das solche Verhältnisse immer bringen müßen. „Ich sprach, ich muß das leiden, die rechte Hand des Höchsten kann alles ändern.“ Gemäß diesen Grundsätzen habe ich allezeit die Geschäfte eines kgl. bayer. Pfarramtes im Sinne des Staates zu erledigen gesucht, und wo es nach dem göttlichen Worte nicht erlaubt war, einfach dem Wort des Herrn gehorcht und das Kreuz auf mich genommen, ohne das ich nicht sein konnte. In diesem Sinne habe ich auch Leumundszeugnisse, Erklärungen des Armenpflegschaftsrathes und Proclamationen behandelt.
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 Wer ein Verehelichungsgesuch bei der Obrigkeit anbringen will, hat unter anderen Zeugnissen auch ein Leumundszeugnis vorzulegen. Die Gemeindeverwaltung stellt es aus, der Pfarrer hat es zu contrasignieren. Der Geist des Gesetzes will gewiss nichts anderes, als guten Leumund zu einer der Bedingungen der Verehelichung machen. Bei rein formaler Behandlung der Sache ist es aber leider hinreichend geworden, wenn nur ein Leumundszeugniß übergeben wird, von welcher Art es auch sei. – Sehr gewöhnlich ist es, daß übermäßig gute Leumundszeugnisse ausgestellt werden, welche der Wahrheit durchaus nicht entsprechen. Ich habe daher allezeit darauf gesehen, daß mir keine anderen, als wahrhaftige, womöglich bloß negativ gehaltene Zeugnisse zum contrasignieren vorgelegt wurden. Widrigen Falls habe ich Bemerkungen beigefügt, welche die Wahrheit herstellen sollten. Es sind daher viele schlechte Leumundszeugnisse durch meine Hände und von denselben gegangen, ohne daß auch nur der geringste Einfluß auf Ertheilung der Verehelichungserlaubnis jemals zu bemerken gewesen wäre. Daher könnte man allerdings, in Betreff der Ausstellung von Zeugnissen leichtsinnig und gleichgiltig werden. Dies ist jedoch meinerseits nicht geschehen. Ein Beamter sagte mir einsmals, ich ließe solche Dinge auf meine Leumundszeugnisse einwirken, auf welche der Staat nicht sähe; die kirchliche Auffaßung des Leumunds sei eine ganz andere, als die des Staates, sie sei strenger und rücksichtsvoller.| Er sagte, was sich mir selbst oft aufgedrängt, und wodurch ich mir die Wirkungslosigkeit der schlechten Zeugnisse erklärt hatte. Was nun aber eigentlich der Staat verlange, das konnte er mir nicht sagen. Eine amtliche Erkundigung, die ich späterhin anstellte, machte mich eben so wenig weise. Ich suchte also möglichst nach dem allgemeinen Grundsatz zu handeln, daß der Staat den Leumund anders, als die Kirche beurtheile, daß man also einem jeglichen sein Leumundszeugnis gut ausstellen müße, wenn kein Umstand vorliege, der den Staat verhindern könne, ihm die Verehelichung zu gestatten. Doch hielt ich immerhin darauf, daß die Leumundszeugnisse nichts Falsches enthalten dürften. – Als mir nun der Ortsvorsteher von N.D. das Leumundszeugnis des mehrerwähnten geschiedenen Ehemannes zum contrasignieren überbrachte, fand sichs, daß es zwar kein sehr gutes, aber doch ein beßeres Zeugnis war, als er nach dem allgemeinen Eindruck seines Lebens verdiente. Auf meine Aeußerung erklärte der Vorsteher, der öffentliche Wandel des Mannes habe gerade seit einiger Zeit weniger Anlaß zur Klage gegeben. Er habe weniger getrunken und in den Schenken herumgelegen. Ob eine besondere Absicht der augenblicklichen Aenderung zu Grunde liege, etwa die, ein beßeres Zeugnis oder überhaupt mehr guten Willen zu finden, könne man nicht wißen; da man aber unter allen Umständen wahrhaftig sein müße, so habe die Gemeindeverwaltung bei aller (schon damals vorhandenen) Uebereinstimmung mit mir in der Beurtheilung der bevorstehenden Ehe dennoch geglaubt, das Leumundszeugnis in Vergleich mit anderen gerade so ausstellen zu müßen. Da sich, wie die nachher eingezogene Erkundigung bestätigte, die Sache so verhielt; so bekam der Bräutigam, auf dem Wege des Gehorsams und der Wahrheit, nicht bloß ein Leumundszeugnis, sondern ein beßeres, als man ihm noch einige Wochen vorher würde gegeben haben. Doch wußte damals weder der Ortsvorsteher noch ich etwas von den beiden in Ehebruch erzeugten Kindern. Wie man daher bei der damaligen Lage der Sache und in den allgemeinen Verhältnissen unsers bürgerlichen Lebens anders hätte handeln können, weiß ich nicht.
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 Wenn ein Verehelichungsgesuch bei der zuständigen Behörde angebracht ist, geht es zum Behuf etwaiger Einrede an den betreffenden Gemeinde-Ausschuß und Armenpflegschaftsrath. Der letztere besteht selbst wieder aus dem Gemeindeausschuß, aber unter Zuziehung| des Pfarrers, als Vorstandes. Als nun das Ehegesuch des N. N. an die Gemeindeverwaltung gekommen war, gab diese nach Gewohnheit ihre schriftliche Zustimmung in der Zuversicht, daß der Pfarrer sie ohne Zweifel auch unterschreiben würde. Hier hätte ich mich allerdings gegen die Unterschrift wehren können, aber ob dürfen, ist eine andere Sache. Es galt nicht einen Fall, in welchem ein Mensch in die Gemeinde erst aufzunehmen war; der Bräutigam war ja ansäßig, rechtskräftig geschieden, staatlich zur Wiederverehelichung ermächtigt, von der zuständigen Behörde daher auch nicht ab-, sondern nur an die Gemeinde gewiesen, und alles, was der Armenpflegschaftsrath zu überlegen und zu beantworten hatte, war nur das Eine, ob der Nahrungsstand des Bräutigams durch die einzugehende Ehe gefährdet sei, oder nicht. Ganz so hatte es die Gemeindeverwaltung genommen. Der Ortsvorsteher brachte die zustimmende Erklärung der Gemeindeverwaltung mit den Worten: „„Kirchlich einsegnen kann man dies Ehepaar nicht; aber so weit Gemeindeverwaltung und Armenpflegschaftsrath zu reden haben, kann man die Ehe nicht hindern.““ Ganz richtig; die staatliche Behörde, welche die Erklärung forderte, wollte nichts wißen, als das Eine, ob die staatliche Armenpflege von ihrem Standpunkte aus eine Einwendung zu machen hätte. Von diesem aus mußte geantwortet werden, und gerade von diesem aus gab es keine Einwendung, da sich ja durch die Verehelichung nicht bloß das Vermögen, sondern auch die Erwerbskraft der Familie mehrte. Hätte man sagen wollen, ich hätte die Gemeindeverwaltung als solche beeinflußen sollen, so konnte ich nach den oben ausgesprochenen Grundsätzen auch das nicht, zumal die Männer alle selbst ganz klar wußten, was sie wollten und sollten. Sie schieden die Gebiete des staatlichen und kirchlichen Lebens, sie wußten, daß sie auf dem ersteren standen und zu walten hatten, und daß sie da nicht einmal im Interesse der Sittlichkeit die von der Staatsbehörde eingeleitete Ehe zu hindern hätten. Nach dem Sinne der Staatsgesetze durfte der Mann heirathen. Beweise lagen genug vor, daß er ohne Ehe nicht keusch leben konnte und wollte, – die neue Ehe konnte vielleicht ihn und andere aus der Versuchung zur Sünde rücken, – möglicherweise konnte überhaupt die Ehe beßernd auf den Mann wirken: warum also sollte die Gemeinde, die politische Gemeinde, die Ehe hindern? Ich selbst fand ihr Verfahren um so mehr richtig, als dem unbußfertigen und verhärteten Menschen auch damit eine kräftige Einladung| zu einem, wenn auch nicht christlichen, doch aber ehrbareren und geordneteren Leben zukommen würde. In diesem Sinne habe ich auch gegen andere öfters geäußert: „Es ist dem Menschen gut zu heirathen.“ Es lag in der Aeußerung das Doppelte, nämlich ebenso wohl, daß menschlicher Weise keine Aussicht auf eine wahre Bekehrung gegeben war, als, daß vielleicht doch eine Aenderung käme, wie sie sich oft auch bei Heiden findet, nemlich eine Umkehr von der schädlichen Bahn eines ausschweifenden zu der gedeihlichen eines ordentlichen Lebens. Ich zählte bei der Gelegenheit dem Ortsvorsteher an den Fingern auf, wie sich alles bis zur Suspension und darüber hinaus entwickeln würde, aber ich unterschrieb die Erklärung mit dem ruhigen Bewußtsein, in diesem Stadium der Sache recht zu thun. Man hat mir oft gesagt, ich hätte es anders machen sollen; wie aber, hat mir niemand gesagt. Ich wußte im Fall der Wiederverehelichung eines Ansäßigen durchaus nicht anders zu handeln, und weiß es auch jetzt nicht. –

Qui bene, distinguit,
bene docet – bene vivit.

 Was die Proclamation betrifft, so unterscheide ich bei ihr die eigentliche Proclamation, die nach den Staatsgesetzen zu der Eheeinleitung gehörige, zum Behufe der Einsprache geschehende öffentliche Bekanntmachung der bevorstehenden Ehe, und das von der Kirche hinzugefügte votum oder die Fürbitte. Die letztere, die zur Proclamation durchaus nicht wesentlich gehört, unterblieb durchweg in dem Fall, von welchem wir reden. Bereits einige Tage vor der Proclamation war auch die Trauungsweigerung des Pfarrers an die geistliche Behörde abgegangen, und damit der kräftigste Einspruch, der freilich nicht an die weltliche Behörde gehen konnte, vor der die vorhandenen Gründe zur Einsprache nicht würden gegolten haben. Die eigentliche Proclamation geschah rite, und das darum, weil ich sie rein als Ergänzung der gesetzlichen Eheeinleitung ansah, als eine Abkündigung, die an und für sich eben so wenig kirchlichen Charakter hat, wie wenn ein Pfarrer den Impftermin von der Kanzel abkündigen läßt, weil ihn der Ortsvorsteher freundnachbarlich darum bittet. Wo, wie es in manchen Staatskirchen der Fall ist, die ganze Eheeinleitung dem Pfarrer, überhaupt der Kirche, überlaßen ist, da haben auch die einzelnen Theile, auch die Proclamation, einen kirchlichen Charakter, da muß ein Pfarrer nicht bloß in Betreff der Proclamation, sondern schon in früheren Stadien| anders handeln als ich gethan. In Bayern aber haben die kirchlichen Behörden mit Ehesachen gar nichts zu schaffen; diese stehen rein unter den weltlichen Behörden, und wenn die Dekanate und Consistorien von ein- oder zweimaligem Aufgebote dispensiren können, so ist das an und für sich etwas Geringes und nur wie eine letzte Regung des staatlichen und kirchlichen Gewißens, die von der hohen Bedeutsamkeit der Ehe für die Kirche Zeugnis ablegt. Deshalb aber bleibt die Proclamation doch was sie ist, eine Ergänzung der gerichtlichen Eheeinleitung, zu welcher sich die Kirche verstanden hat. So faßte ich es wenigstens: so hatte ich es auch bereits im Jahre 1837 bei jenem ersten Falle gefaßt; so faßten und faßen es auch andere, ja ganze Kirchen, da ja die Proclamation auch auf andere Weise als von der Kanzel, und durch andere Leute als die Pfarrer geschieht, und auch unter uns bei Synoden und anderen Gelegenheiten oftmals Vorschläge zur Abänderung der bestehenden Art und Weise der Proclamation gemacht worden sind. Ich sehe in einer Proclamation durch den Pfarrer durchaus nichts Unwürdiges, freue mich auch, das votum und die Fürbitte anknüpfen zu können; aber wenn ich die eigentliche Proclamation ablese, da fühle ich mich, wie es bei uns steht, im Dienste jener staatspolizeilichen Kirchenordnung, der ich als lutherischer Pfarrer auf bayerischem Gebiete nicht entgehen kann, ich fühle mich im Dienst und Organismus der staatskirchlichen Gesetze, und deshalb habe ich auch in dem besprochenen Falle unbedenklich proclamirt. Würde ich aber eines anderen überzeugt und mir nachgewiesen, daß die Proclamation auch in Bayern, bei unseren staatskirchlichen und Eheverhältnissen ein kirchlicher Akt sei, so würde ich bei dem nächsten ähnlichen Falle nicht blos nicht copulieren, sondern auch nicht proklamieren. Bis jetzt aber bin ich noch immer der Meinung, richtigen Unterschied gemacht und auf alle Fälle meine Lust zum Gehorsam bis zur äußersten Grenze meiner kirchlichen Ueberzeugung, bis zur Proclamation bethätigt zu haben. Ohnehin wüßte ich gar nicht, was durch Verweigerung der Proclamation zu erreichen gewesen wäre. Etwa des Unglimpfs und etlicher bureaukratischen Plackereien würde mehr geworden sein; die Sache aber wäre gewiss ihren Weg gegangen, wie ohne das. Vielleicht war es friedlicher und klüger, proclamiert zu haben, zumal ja die ganze Gemeinde wußte, wie es gemeint war, und daß ich gewiss nicht trauen würde.




|  Man hat aber nicht blos mein Verfahren in Betreff der Eheeinleitung getadelt, sondern auch die Weigerung in Betreff der Eheschließung, und da ich mich nicht blos weigerte, zu trauen, sondern auch, ein Dimissoriale für einen Pfarrer von anderer Ueberzeugung auszustellen; so ist der Tadel auf beides gefallen. Was die Trauung anlangt, so hat man theils meine Weigerungsgründe, theils die Anordnung und Reihenfolge derselben, theils die Betonung einzelner unter ihnen als unrichtig verworfen. Endlich hat man es auch unschön und unpassend gefunden, daß ich mich einfach weigerte, anstatt um Verschonung zu bitten. Ich werde also hier meinen Sinn rücksichtlich aller dieser Punkte darzulegen haben.

 Wir faßen zuerst die Weigerungsgründe ins Auge. In dem pfarramtlichen Berichte zählte ich drei förmlich auf, führte aber auch endlich einen vierten an, wenn auch nicht unter Ziffer und in Form der Aufzählung. Kurz zusammengefaßt waren es folgende, und in folgender Ordnung zusammengestellt:

 „„Ich kann nicht trauen, denn:

1) der Scheidungsgrund der böslichen Verlaßung widerspricht in der Ausdehnung, welche er in der lutherischen Kirche gefunden hat, dem göttlichen Wort und der Belehrung des h. Paulus 1. Cor. 7, aus der er auf dem Wege der Analogie gefunden ist;
2) in dem vorgelegten Fall ist nicht einmal eine bösliche Verlaßung im Sinne des gewöhnlichen Kirchenrechtes vorgekommen;
3) wenn auch eine rechtmäßige Scheidung da gewesen und der Schluß auf Wiederverehelichung berechtigt wäre, so hätte der Geschiedene nach Gottes Wort die Mutter seiner in Ehebruch erzeugten Kinder, nicht aber eine dritte Frauensperson ehelichen sollen;
4) überhaupt ist die Frage, ob man einen Menschen, der sich in dem Maße wie dieser Bräutigam von der Kirche losgesagt hat, daß man ihn in unsern gegenwärtigen Zuständen der Unordnung in Betreff der Zucht den Excommunicierten gleich zu stellen hat, kirchlich einsegnen, überhaupt ihm eine Benediction zu Theil werden laßen kann.““
|  Da hat man nun gesagt, ich hätte den ersten und den dritten Grund gar nicht vorbringen sollen. Den ersten nicht, weil er die bisherige Praxis der lutherischen Kirche in Frage stelle, und, selbst wenn meine Ueberzeugung die richtige wäre, ein lutherisches Kirchenregiment sie doch annoch nur als subjective Ansicht behandeln könne, geschweige wenn die bisherige Praxis der Kirche ganz richtig, der Scheidungsgrund wegen böslicher Verlaßung keineswegs unzuläßig sei. Den dritten nicht, weil die biblischen Stellen, auf Grund welcher ich ihn erhoben hätte, also 2. Mos. 22, 16 u. s. w., in der kirchlichen Praxis so ungeläufig seien, daß man am Ende sagen könne, sie erlitten gar keine Anwendung auf den Fall. Ich hätte mich bloß an meinen zweiten Grund halten, oder doch den vierten gebührend einreihen und beziffern und ihn klarer und deutlicher als Ehehindernis hinstellen sollen. Nun will ich gerne gestehen, daß es ein Fehler ist, zwei prekäre Gründe mit aufzuführen, wenn man noch zwei andere hat, von denen man den sichersten Erfolg voraussieht. Auch in solchen Dingen, in Berichten, bei Streitschriften und dergleichen, verdient das Gesetz der Sparsamkeit, nach welchem man mit den wenigsten Mitteln das meiste zu erreichen strebt, alle Anerkennung, und ich namentlich zolle ihm dieselbe im reichsten Maße. Andererseits gestehe ich aber auch, daß ich in dem Fall, von welchem wir sprechen, den zweiten und vierten Grund für ebenso erfolglos wie den ersten und dritten, – daß ich von vorneherein alle vier Gründe für erfolglos gehalten, und, wenn einmal kein Dimissoriale gegeben werden durfte, unter den gegebenen Umständen die Suspension, wenigstens die Suspension, für ganz unvermeidlich erkannt habe. Ich hätte eben so gut bloß den Fall erzählen und ohne einzelne Aussonderung meiner Gründe sagen können: „„in diesem Fall kann ich nicht trauen.““ Der Erfolg wäre einer und derselbe gewesen. Oder sehen wir uns einmal die Weigerungsgründe einen Augenblick einzeln an.
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 Das Leben des Bräutigams war in religiöser und sittlicher Beziehung, auch nach dem Maße der ihm zu Theil gewordenen Vermahnung, gewiss zur Excommunication reif. Ich hätte ohne allen Zweifel die ganze Gemeinde, mit den etlichen Ausnahmen, die vorgekommen sind, auf meiner Seite gehabt, wenn ich ihm als einem Excommunicierten oder so zu Achtenden die Einsegnung der Ehe ebenso verweigert hätte, wie die Leicheneinsegnung, wenn er gestorben wäre. Aber wer hält es denn gegenwärtig für hinreichend zur Excommunication, wenn das dic| ecclesiae im biblischen Sinn (Matth. 18) geschehen, Pfarrgemeinde und Ministerium derselben, der Sache ganz einig sind? Nach unserm, und zwar ganz neu aufgelebten Brauch und Recht kann ja nicht einmal ein Haushalter über Gottes Geheimnisse vom heiligen Mahle temporär abweisen, ohne Genehmigung der staatskirchlichen Behörde, geschweige daß eine Excommunication vollzogen werden könnte. Da nun aber ein Prozeß des Bannes bei uns gar nicht besteht, auch in Bayern nicht, – es auch gar nicht gut wäre, wenn eine pure Repristination der alten, kirchenregimentlichen, sehr unvollkommenen, theilweise geradezu verwerflichen Bußordnungen stattfände, – überhaupt auf kirchenregimentlichem Wege, bei der Beschaffenheit der gegenwärtigen Gemeinden, für Bann und Bußordnungen gar nichts zu leisten, – auch gar kein Fall bekannt ist, in welchem unter uns eine Excommunication vorgekommen wäre; so wäre es gewiss verlorene Mühe gewesen, auf Excommunication unseres Bräutigams anzutragen. Im besten Falle würde auf dem bureaukratischen Wege zum Ziel so viele Zeit vergangen sein, daß das Gesuch der Trauung zehn Mal hätte erneuert werden, und die gesammte Aufregung immer und immer neu geschürt werden können. Dazu würde es mir in Wahrheit unmoralisch vorgekommen sein, auf Excommunication eines Mannes wegen seines vergangenen Lebens bloß deshalb anzutragen, damit man ihn nicht trauen müße. Denn man konnte doch wahrhaftig nicht auf Excommunication bei einer staatskirchlichen Behörde antragen, weil der Mann durch das rechtmäßige Ehegericht geschieden war, und eben so rechtmäßig die Erlaubnis zur Wiederverehelichung empfangen hatte, und gleichfalls rechtmäßig auf Trauung, und zwar wieder rechtmäßig, in seiner Pfarrkirche drang!? Um allen diesen Rechtmäßigkeiten mich zu entwinden, sollte ich auf Excommunication dringen, da ich sie gar nicht bedurfte, die Gemeinde und die Kirchenvorsteher mit dem Bräutigam, so wie er war, ohnehin nicht zu Tische gehen wollten, er auch nicht mit ihnen. In der That, diesen Weg konnte ich nicht betreten, ich hielt ihn für unsittlich; ich hätte es, auch wenn ich es hätte bewirken können, für unrecht gehalten, gerade mit dem armen Menschen den Anfang zum Wiedereintritt öffentlicher Excommunicationen zu machen, der, so reif zur Excommunication er sein mochte, doch in dieser Reife vielen anderen den Vorrang ließ, bei denen man zu heilsamen Exempeln den Anfang machen sollte, wenn man überhaupt wollte. Auch muß ich gestehen, daß ich es für viel leichter hielt,|  Ehegesetze zu ändern, als Zucht und Ordnung in das Chaos einer verderbten Landeskirche zu bringen. – Es kam bald die Zeit, in der ich zu anderem Zwecke so kühn war, ein wenig Strenge der Zucht für den Bräutigam zu wünschen, zum Zweck der Copulationsverweigerung aber mochte ich die Excommunication nicht fordern.
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 Nicht größeren Erfolg würde ich mir versprechen dürfen, wenn ich bei meiner Weigerung den zweiten Grund ohne Nr. 1 u. 3 hingestellt hätte. Hat er mit 1 u. 3 keinen Erfolg gehabt, die ihm doch nur hilfreich sein konnten; so würde er ohne die beiden gewiss nicht stärker geworden sein. Nr. 2 sprach ja doch in der Gesellschaft der andern Gründe ganz vernehmlich und klar die Wahrheit aus, daß ein Fall böslicher Verlaßung im gewöhnlich kirchenrechtlichen Sinn nicht vorhanden gewesen sei. Gerade das war ja recht einleuchtend und würde sich auf die mannigfachste Weise haben erheben und bestätigen laßen. Hat aber deshalb eine von den geistlichen Oberbehörden auch nur Miene gemacht, auf Revision des Scheidungsprozesses anzutragen? Oder hat irgend eine dem Pfarramte Dettelsau nur die fernste Veranlaßung gegeben, es seinerseits zu thun? So rein bureaukratische Behörden sind doch unsere kirchlichen Stellen nicht, daß sie sich den Weg, eine Sache zu behandeln, durch das bloße Scriptum eines, vielleicht ungeschickten und ungelenken, Pfarrers vorzeichnen laßen! Sie wollen doch auch zum besten helfen und rathen. Warum haben sie denn in diesem Falle nicht etwas von der Art gethan? Sind sie etwa auch, wie einer von mir sagte, zu sehr pastoral und zu wenig kirchenrechtlich gesinnt und gebildet, als daß sie ihres eigenen oder der Untergebenen Vortheils wahrnehmen könnten? Die competente Behörde hatte ein Scheidungserkenntnis gegeben, ob ein richtiges oder falsches, das war irrelevant. Es war wenigstens nicht Beruf geistlicher Behörden, dasselbe anzutasten oder anzuzweifeln. War Unrecht und Sünde am Erkenntnis, so war klar, wer es zu verantworten hatte. Nach dem aus einem von der Kirche anerkannten Grund auf Scheidung und Wiederverehelichung erkannt war, hatte der zuständige Pfarrer zu trauen, oder –. So mußte man bei der Unterscheidung des staatlichen und kirchlichen Gebietes und den bestehenden Verhältnissen der beiden zu einander urtheilen, wenn man den Scheidungsgrund überhaupt für dem göttlichen Worte gemäß erkannte, und sich also keine Collision zwischen dem göttlichen und menschlichen Gesetze ereignete. Da mein Grund Nro. 1 vorhanden war, war ich genöthigt, mich der|  Trauung zu weigern; Nro. 2 allein nöthigte selbst mich nicht, wie ich das auch in meinem Weigerungsbericht bekannte, weil ich keinen Beruf hatte, das rechtmäßige Ehegericht zu controlieren. Ich konnte meine abweichende Ueberzeugung gewißenshalber bemerklich machen und mein tiefes Bedauern ausdrücken, aber ich mußte der Sache den Verlauf laßen, wie das im armen Leben tausendmal der Fall ist.
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 Schon daraus ergibt sich, von welcher Bedeutung für mich mein erster Grund war. Ich bin sehr wohlwollend belehrt worden, daß der Scheidungsgrund der böslichen Verlaßung von der luther. Kirche anerkannt sei, daß er auf dem Wege der Analogie mit dem von St. Paulo 1. Cor. 7. angeführten Falle zur Anerkennung gekommen sei. Aber das wußte ich schon vorher. Ich kannte den Weg unserer Kirche schon seit Jahrzehenten. Es haben mich die Deductionen der neueren Theologen und Juristen ebenso wenig überzeugt, als die der älteren. Ich hatte lange die Ueberzeugung, daß der Weg der Theologen und Juristen in dem Fall, wie in gar manch anderem, nur auf der Brücke von menschlichen Auslegungen und Traditionen gieng, daß man aber solche Auslegungen und Traditionen ebenso wenig, als es mit den herkömmlichen Traditionen der Römischen 1530 geschah, zum Kennzeichen und zu einer Standarte der Kirche machen dürfe. Ich wußte wohl, daß ähnliche Schlüße per Analogie schon in sehr frühen Jahrhunderten versucht worden waren; ich hielt aber alle diese Schlüße für Versuche der Vernunft, den Weg des Herrn etwas breiter zu machen, wie denn dieser Versuch gewiss auch leicht entschuldigt werden kann, wenn man bedenkt, wie schwer, ja wie unmöglich es namentlich in Ehesachen ist, in Massenkirchen den Weg des Herrn zu gehen und alle darauf zu führen. Auch sah ich es an den Beispielen, die ich wahrnehmen konnte, was für namenloses Unglück und Elend, was für Leichtsinn und Sünde durch den protestantischen Scheidungsgrund von der böslichen Verlaßung in unsere Gemeinden gebracht wurde. Wenn man den Muth gehabt hätte, die bösliche Verlaßung von Seiten der Kirche so zu faßen, wie es sich für die Kirche geziemt hätte, und man nicht allzusehr dafür besorgt gewesen wäre, daß vielleicht ein verlaßener Ehegatte nicht ohne Ehe leben könnte, – wenn man mit einem Worte eine bösliche Verlaßung nicht als Erlaubnis zu anderweitiger Verehelichung benutzt hätte; so wäre der Kirche viel Elend erspart worden. Weder der Herr Matth. 19. noch sein Apostel 1. Cor. 7.| haben Elemente für ein Ehescheidungsrecht unter Christen liefern wollen; sie wollten gar keine Scheidung, und in den angezogenen Stellen ist bloß gesagt, was ein Christenmensch vorkommenden Falls zu leiden und zu dulden habe, nicht aber ist eine Anleitung zum Handeln, zu Ehescheidungsklagen gegeben. Es ist wahr, daß die Ehe factisch auch durch andere Sünden und Gebrechen der Eheleute gestört werden kann; aber daraus folgt nicht, daß ich mir durch Verallgemeinerung und Abstraction den Weg bereiten darf, zu den beiden in der Schrift genannten Ehestörungen noch andere zu setzen, um sie dann als göttliche Scheidungsgründe einem menschlichen Eherechte einfügen zu können. Wenn ja von Menschen geschieden sein soll, so ist es das sicherste und beste, am Wort zu bleiben, und sich der Schlüße zu begeben, die in der Praxis geradezu gegen den Hauptgrundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe anlaufen. Es ist hier nicht der Ort, den Inhalt der hl. Schrift über Ehefragen vorzulegen, zu summieren und anzuwenden. Ich wollte nur so viel reden, als nöthig war, anzudeuten, daß für mich, für mein Verständniß der hl. Schrift und für mein Gewißen, die bösliche Verlaßung als Scheidungsgrund eine gewagte menschliche Meinung ist, und obendrein in der Art und Weise, wie sie angewendet wird, ein Flecken der lutherischen Kirche, dem man nicht minder feind sein muß, als unsere Väter 1530 so mancher verderblichen römischen Tradition. Es ist gerade nichts angenehmes, wenn man durch irgend einen Fall genöthigt wird, mit einer einsameren Ueberzeugung herauszugehen und zwar geradezu ins praktische Leben. Aber wohlan, fügt es Gott einem Menschen so, so bringe dieser seinem Herrn sein armes Bekenntnis und trage den Vorwurf von Freund und Feind mit Geduld. Der Herr, der barmherzig und gnädig ist, kann ja am Ende seine Gemeinde doch auch von den Lasten und Flecken erlösen, die sie auf dem Wege der in der Zeit kaum möglichen Vereinigung und der jammervollen Vermengung von Staat und Kirche auf und an sich nehmen mußte. – Jedenfalls werden meine Leser aus dem allen erkennen, daß ich meinen ersten Weigerungsgrund nicht entbehren konnte.
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 Neben den drei bisher erwähnten Weigerungsgründen mag sich der vierte (der Reihe nach der dritte) gering ausnehmen. Er heißt, auf 2. Mos. 22, 16. 17. gegründet, kurzweg so: „Ich traue dich nicht, weil ich dich mit einer anderen trauen sollte.“ Und doch ist| das derselbe Grund, welcher sich in dem Institute der Proclamation Recht und Uebung verschafft hat. Es soll ja wirklich, auch nach dem Sinne unseres Rechtes niemand zur Ehe eingesegnet werden, auf die Verehelichung mit welchem jemand anders ein gegründetes Recht hat. Die Proclamation gibt einem jeglichen, der ein solches Recht zu haben glaubt, Gelegenheit, es geltend zu machen. Aber allerdings, das Recht wird nicht oft gebraucht. Oft hat man sich mit dem zum Einspruch Berechtigten schon abgefunden, – oft wagt der Berechtigte den Einspruch nicht; noch öfter ist kein Interesse vorhanden, ihn geltend zu machen; – in Summa verzeiht sich das leichtsinnige Zeitalter in geschlechtlichen Dingen gar viel. Es kommen Fälle genug vor, daß Männer von drei, vier, fünf Frauenspersonen, diese von etwa eben so vielen Männern uneheliche Kinder haben, und dann doch erst eine vierte, fünfte, sechste Person zur Ehe nehmen. Ein Mann kann, – gewiss ein nicht minder kläglicher Fall! – vier, fünf Kinder von einer Dirne haben, sie dann miteinander stief machen und sitzen laßen und eine zweite Dirne zum Weibe und ihre Kinder zu Kindern nehmen. Solche Väter achten sich ihrer unehelichen Kinder völlig entbunden, kümmern sich im Leben und Sterben nicht um sie, kommen mit ihnen auch nicht zusammen, selbst wenn sie nahe bei einander wohnen. So tief ist dieser heillose Sinn gewurzelt und so allgemein verbreitet, daß ein Mann sich bekehren und Jahrzehente in Christo leben kann, ohne daß ihm einfällt, sich seiner verlaßenen unehelichen Kinder zu erinnern und sie an das Vaterherz zu ziehen. Die nicht mit dem Volke leben, wie die Pfarrer, wißen es nicht, beachten und erwägen es nicht, was für ein Meer von Entsittlichung aus diesen Quellen entspringt und Glück und Seligkeit unseres armen Volkes dahinnimmt. Der Roman „Onkel Tom’s Hütte“ hat Tausende zum Mitleid mit den armen Sclaven erweckt: wenn doch einmal eine kundige und fähige Hand für die verstoßenen und verlaßenen Kinder im Lande das Mitleid, den schlechten Vätern und Müttern selbst das Gewißen weckte! Oder wenn sich doch nur in einer einzigen Gegend etliche treue Menschen daran machten, das Elend aufzusuchen und zu registrieren, welches aus dem Leichtsinn in Betreff geschlechtlicher Verbindungen kommt! Dann würde man bald anfangen, anders zu reden, und es begreiflich finden, wenn man auf den oben angeführten Bibelvers Recht und Pflicht zu mancher Trauungsweigerung gründet. Bei uns gesteht man einer Frauensperson| ein Recht zum Einspruch in eine eheliche Verbindung zu, wenn der Mann derselben die Ehe versprochen hat, um mit ihr seine Lust zu büßen; wo dies (oft nur zufällig) nicht geschehen, erwächst kein eigentliches Recht. Eben damit aber berechtigt man die Hurerei und wird mitschuldig an allen ihren Folgen und Strafen. Es ist daher gewiss der einzige Grundsatz, welcher dem Volke Gottes geziemt, jeden unehelichen Umgang mit dem anderen Geschlechte mit dem Anspruch auf Verehelichung zu versehen, und nur der väterlichen Majestät Ausnahmsfälle vorzubehalten, wie es 2. Mos. 22. geschieht. Die Gemeinde in N.D. ist in diesem Sinne unterrichtet und geleitet worden, daher sie auch die Anwendung des göttlichen Ausspruches auf unseren Fall ganz wohl verstand. Den beßeren in ihrer Mitte war es gewiss empörend, wie mir, daß der Ehebrecher, wenn er ja wieder heirathen sollte, die Mutter seiner Kinder sitzen ließ und eine andere ehelichte. – Es ist freilich leider nicht möglich in Massenkirchen, wie unsere Landeskirche ist, die Stelle 2. Mos. 22. oder andere Grundsätze des göttlichen Wortes rein durchzuführen. Vielleicht darf ich einmal meinen Amtsbrüdern an einem anderen Orte die Schwierigkeiten vorlegen, welche ich für die Anwendung von 2. Mos. 22. erfahren habe. Diese Schwierigkeiten aber entbinden doch keinen Diener des göttlichen Wortes seiner Pflicht, bei hervortretenden Beispielen niederträchtiger Willkür dem Worte Gottes die volle Gerechtigkeit widerfahren zu laßen.

 Hiemit habe ich meinen Lesern meine vier Gründe der Trauungsweigerung vorgelegt. Wer sie würdigt, der wird auch die Anordnung und Reihenfolge derselben nicht geradezu verwerfen. Nach meinem Sinn gab Nro. 1 den Hauptgrund; Nro. 2 schloß sich dem ersten Grunde auf das innigste an; Nro. 3 stand zuletzt, weil es den ungeläufigsten und für diesen Fall allerdings geringsten Grund angab. Und Nro. 4 bildete die Basis, zeigte den Lebenslauf, aus welchem hervor die Werke der Finsternis wuchsen, um derentwillen die seelsorgende Liebe eines Pfarrers die ernste Gestalt annehmen mußte, die sie annahm. Ich gestehe gerne zu, daß man die Reihenfolge auch hätte umkehren können. Man kann eben so gut sagen: „Ich traue dich nicht, denn:

1. du kannst wegen deines kirchlichen und sittlichen Verhaltens überhaupt keine Benediction,
2. am wenigsten mit diesem Weibe,
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3. nach einer solchen Scheidungsgeschichte,
4. bei einem solchen Ehescheidungsgrunde bekommen;“

als man sagen kann:

 „Ich traue dich nicht, denn

1. deine erste Ehe ist nach einem ungöttlichen Scheidungsgrunde,
2. und auch nach diesem nicht vor Gott richtig geschieden;
3. auch heirathest du ein Weib, die du nicht nehmen darfst, und
4. lebst und wandelst überhaupt so, daß du keine kirchliche Benediction empfangen kannst.“

 Uebrigens wollte ich in meinem Scheidungsbericht kein Kunstwerk liefern, studierte auch die Anordnung nicht, sondern schrieb, wie es mir zu Sinn und Muth war. Ich denke aber auch jetzt noch, daß die Anordnung, die ich gemacht habe, meiner damaligen inneren und äußeren Lage am besten entsprach und die natürlichste war. Im Anhange findet man auf S. 44 einen Auszug meines Weigerungsberichts abgedruckt. Aus ihm mag auch klar werden, ob ich irgend etwas ungehörig betont habe. Mir scheint es nicht so. Nro. 1 hat bei aller Kürze den stärksten Ton, Nro. 3 den geringsten; sollte Nro. 4 wirklich zu gering betont sein, so wurde doch im Verlauf der Verhandlungen der 4. Grund immer stärker hervorgehoben.

 Uebrigens geht es ja in solchen Fällen immer so. Niemand kann allen Anforderungen entsprechen. Einer tadelt den andern, wenn er einen Handel mit ihm hat; am Ende hat jeder Recht, und jeder auch Ursache zur Buße. Es ist doch gerade so auch mit dem Vorwurf, daß ich mich nicht hätte einfach weigern, sondern um Schonung bitten sollen. Ich konnte und durfte nicht trauen; das Kirchenregiment mußte auf die Trauung dringen, wenn es nicht Revision des Ehescheidungsproceßes fordern konnte, durfte oder wollte. Ich sah das so klar, daß ich mir sagte, das Kirchenregiment könne mich, selbst bei voller Anerkennung meines treuen Wollens und Strebens, das man hätte zugestehen dürfen, aus dem landeskirchlichen Organismus ganz entfernen, nicht blos suspendieren, da ich ihn mit einer der herkömmlichen Praxis entgegenstehenden Amtsführung gewissermaßen störte. Die Suspension, die auch in andern ähnlichen Fällen angewendet worden war, erschien mir zwar als hohes Unrecht im Lichte meines Verständnisses, vom Standpunkte des conservativen Kirchenregimentes aber als übergroße Schonung, um die ich,weder in meinem,| noch im Sinne des Kirchenregimentes bitten durfte. Ja, es schien mir weniger Spiel mit hohen Rechten der Hirten, und ich würde es auch ganz verstanden haben, wenn man mich lieber in Ehren als einen Mann entlaßen hätte, dessen Grundsätze in Sachen der Ehescheidung und Wiederverehelichung mit den herkömmlichen nicht wohl vereinbar sind. In diesem Sinne, nicht in dem der Provocation, im tiefen Gefühl der Verlegenheit, in die ich alle Tage wieder kommen konnte, in großer Sehnsucht, aus dem herben Gegensatz zu kommen, bat ich, lieber eine strengere Maßregel, als die Suspension erfahren zu dürfen. Ich that es, wie die weitere Darlegung zeigen wird, ohne hinterhaltige Gedanken, gebe aber gerne zu, daß meine Worte zu kurz waren, um nicht misdeutet werden zu können, und daß es meine Schuldigkeit gewesen wäre, mich verständlicher auszudrücken. Ueberhaupt gestehe ich gerne zu, daß ein anderer in gleicher Lage und bei gleichem Sinn, bei derselbigen Ueberzeugung, daß um Schonung nicht gebeten werden konnte, weil die größte Schonung vom Standpunkte des Kirchenregimentes, die Suspension, durchaus keine Schonung im anderen Sinne genannt werden konnte, – eine solche Rede und einen solchen Ausdruck würde gefunden haben, dem man gar nicht hätte vorwerfen mögen, daß er zu einfach den Gehorsam gekündet habe, aus dem man vielmehr herausgefühlt hätte, welch großes Leid es ist, in solchem jammervollen Widerspruch zu stehen.
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 Wir kommen nun zu demjenigen Punkte, welchen man geradezu den Angelpunkt der ganzen Sache nennen könnte, zu dem pfarramtlichen Dimissoriale. Wenn ich ein Dimissoriale ausgestellt hätte, so würde gar keine Weitläufigkeit geworden sein, man hätte die geistlichen Oberbehörden gar nicht zu behelligen brauchen. Vielleicht hätte niemand leichter als ich selbst den Bräutigam zu einer auswärtigen Trauung vermocht, und hätte man nur nicht erst Aufheben von der Sache gemacht, so hätten sich wohl auch Pfarrer genug gefunden, die ausgeholfen hätten. Aber das war ja eben die Sache, daß ich ein Dimissorium weder geben konnte, noch wollte, und eben weil das der Fall war, konnte es nicht umgangen werden, die ganze Sache an die Behörden zu bringen. Ein Dimissorium überträgt die Befugnis eines Pfarrers in irgend einem einzelnen Fall an einen anderen und kann füglich von keinem dritten ausgestellt werden: seiner Befugnisse ist selbstverständlich jedermann Herr. Es kann daher auch keine Aufsichtsbehörde,| welches Namens sie sei, wenigstens keine protestantische, anstatt des Dimissoriales aus eigener Machtvollkommenheit etwas anderes substituiren, sondern wenn ein Pfarrer eine ihm zuständige Handlung weder selbst vollziehen, noch einem anderen überweisen will; so kann die Handlung so lange nicht geschehen, bis entweder der Pfarrer seinen Sinn ändert, oder bis an seiner Stelle ein anderer seine Rechte überkommen hat. Diese Lage der Sache geht aus der protestantischen Ueberzeugung hervor, nach welcher die Pfarrer nicht wie bei den Römischen Organe eines Vicarius Christi sind und aus seiner Fülle ihre Werke verrichten, sondern selbst die höchsten Vollmachtträger Christi sind, über denen sich ein Regiment nur jure humano aufbauen kann. Ob ein Pfarrer in seinem Amte bleiben, oder dasselbe verlieren soll, ist eine ganz andere Sache, und eine Frage, die vorkommenden Falles allerdings erledigt werden muß. – Nun hat man zwar allerdings gesagt, ich hätte ein Dimissorium ausstellen können. Konnte ich nicht trauen, so hätte ich es doch einem anderen getrost überlaßen können, wenn es seine Ueberzeugung gestattet hätte zu trauen. Ich meinerseits gebe nun gerne zu, daß es bescheiden ist und wohlgethan, auf dem Gebiete der Meinungen und Ansichten die eigene Meinung nicht für andere maßgebend zu machen. Als ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem alle Rechte der Subjectivität triumphieren, verstehe ich ganz wohl die Vortheile, die man sich auf diese Weise gegenseitig einräumt. Aber selbst auf dem Gebiete der Meinungen und Ansichten gibt es eine Grenze für den Respekt des einen vor dem andern; vollends aber in göttlichen Dingen steht es anders. Wir können alle den Ausdruck der Reformatoren: „Mein Gewißen ist durch Gottes Wort gebunden,“ und wißen, daß derselbe nichts anderes soll, als den, der ihn gebraucht, gegen den Vorwurf verwahren, als halte er einen Satz aus menschlichem Hochmuth und Eigensinn fest. Man beruft sich dadurch auf eine höhere Auctorität und spricht die Erfahrung aus, daß nicht immer die Meinung der Mehrzahl oder der Höhergestellten die richtige sei, sondern zuweilen auch die eines einzelnen und untergeordneten Menschen dem göttlichen Worte entsprechen, die objective sein könne. Ist nun aber jemand durch Gottes Wort gebunden, etwas zu thun oder nicht, so erwächst ihm die Pflicht, nicht bloß selbst zu handeln, wie er handelt, sondern auch, so viel an ihm liegt, nicht anders handeln zu laßen. Es ist gewiss etwas Unsittliches, eine Sünde selbst| nicht zu thun, wohl aber einem anderen Raum zu laßen, oder gar zu schaffen, daß er sie thue. In dem Falle war ich; aber ich glaubte mich der Versuchung erwehren, und sie einem anderen ersparen zu müßen. Das Dimissoriale darf nicht der Selbstsucht des Dimittirenden, und eben so wenig der Sünde desjenigen die Thüre öffnen, der es empfängt. – Aber noch eine Erwägung, und zwar die hauptsächlichste, die mich vom Dimissorium abhielt, habe ich zu erwähnen. Nicht blos die Copulation einer solchen Ehe war nach meiner Ueberzeugung sündlich, sondern die Ehe selber. Ich konnte und durfte die Hand nicht reichen, um die Ehe zu Stande zu bringen, die zu verhindern ich alles gethan hatte, was an mir lag. Es schickte ja auch der Pfarrer, der mein Dimissoriale annehmen mochte, (denn gezwungen werden konnte ja keiner, es anzunehmen,) den getrauten Menschen mir wieder zurück. Wenn dieser zugleich exparochirt worden wäre, so wäre es etwas anderes gewesen; statt dessen aber bekam ich mein Pfarrkind mit einer unwiderruflichen Sünde zurück, und ich sollte denjenigen wieder in die pastorale Behandlung nehmen, welcher, von seinem verwerflichen Standpunkte aus, sich des Sieges über seinen Pfarrer rühmen konnte, obwohl dieser nach den angegebenen vier Weigerungsgründen der Trauung vom Standpunkte des göttlichen Wortes aus viermal, oder doch mindestens dreimal gegen ihn Recht hatte. Wenn ich je wieder als Seelsorger mit dem Manne zu thun haben, ihn zur Buße für seine schweren Scheidungs- und Ehesünden rufen sollte, so mußte ich nicht Gefahr laufen, von ihm zu hören, daß ich ihm dennoch auch das Dimissorium dazu nicht hätte geben sollen. Ich mußte durchaus lauter und unanstößig ihm gegenüber stehen können. Das konnte ich nur, wenn ich that, wie ich that, und ich begreife daher noch jetzt nicht, wie man meine Weigerung, ein Dimissorium zu geben, von dem einzig richtigen Standpunkte aus, dem pastoralen, tadeln konnte.




 Auf die mehrfache Weigerung, ein Dimissorial- oder auch nur einen Proclamationsschein in Sinn und Kraft eines Dimissoriale zu geben, erfolgte denn wirklich die Suspension. Ich hatte sie vorhergesehen, vorhergesagt, guten Freunden oftmals demonstriert, daß das Kirchenregiment unter den gegebenen Umständen gar nichts anderes thun könne als suspendieren, ja daß man die eintretende Suspension noch als große Schonung auffaßen könne. Es ging aber gerade so, wie mit| dem Sterben, das man auch voraussieht, voraussagt und mit aller Ruhe davon spricht, das aber dennoch ernste Zeit bringt, wenn es kommt. Es gieng durchaus nicht, wenigstens für mich durchaus nicht, die Suspension auf die leichte Achsel zu nehmen, sie als das bequemste Auskunftsmittel für den bösen Fall zu faßen; ich fand auch gar nichts Tröstliches darinnen, daß es auf dem Wege der Bureaukratie nicht anders kommen konnte, und so ruhig und geduldig ich mich fügte, fühlte ich doch wieder einmal recht stark die Last der landeskirchlichen Verhältnisse. Ich konnte nicht anders, ich mußte mich bei der Suspension auf den Erzhirten und Bischof der Seelen berufen, durch dessen Geist ich das Hirtenamt überkam, und nach dessen Sinne es mir in meinem Falle nicht genommen werden konnte. Ich fühlte den vollen Gegensatz der Kirche, wie sie war, und wie sie sein sollte. Ungefähr eben so war Gefühl und Urtheil der hervorragenderen Glieder der Gemeinde, denen nach fast die ganze Gemeinde fühlte. Jedermann fühlte, so sollte es nicht sein. Als nun vollends der Bräutigam, stolz auf seinen Sieg, einen größeren für möglich haltend, auf sein Recht als Gemeindeglied pochend, die auswärtige Trauung zurückwies und, wie er ja berechtigt war, in der Pfarrkirche zu Dettelsau getraut zu werden verlangte; die Kirchenvorsteher aber und die Gemeinde selber dagegen protestierten; da sah man es wie eine göttliche Ironie auf das mühsam zuwegegebrachte Dimissoriale an, das ja augenblicklich zu gar nichts nütze schien. – Ich, als suspendiert, zog mich vom Umgang mit der Gemeinde zurück; ich beschloß, so weit es die Umstände erlaubten, die sich voraussichtlich mehrenden Tage der Suspension als von Gott vergönnte Ferien zu benützen. Die große Mehrzahl der Gemeinde ihrerseits einigte sich schnell dahin, keinen Verweser anzuerkennen und zu benützen, nur die Amtswirksamkeit des Pfarrers anzuerkennen; man sprach das in einer offenen Eingabe an die kirchlichen Behörden aus; nur wer im Einverständnis mit dem Pfarrer, von ihm gesendet, eine amtliche Funktion vornehmen würde, sollte Anerkennung und Gehör finden. Dabei herrschte, wie ich bezeugen darf, in der ganzen Gemeinde tiefe Stille, wie bei einem Todesfalle, in Wahrheit musterhafte Ordnung und Ruhe. Der Name Aufregung paßte für diese Stimmung nicht. – Der Vicar des Pfarrers, auf dessen Aushilfe der aufgestellte Verweser gerechnet hatte, konnte sich nicht schnell entschließen, auch nicht auf kräftiges Zureden des Pfarrers selber, in Nothfällen zu| fungiren. Er fühlte zu lebhaft, wie die Gemeinde, das Unrecht vor Gott, welches in der Suspension lag. Der Grundsatz der alten Lutheraner, da nicht zu fungieren, wo der rechtmäßige Hirte mit Unrecht des Amtes enthoben war, regierte ihn, so klar es auch ihm dabei war, daß es auf dem Wege der landeskirchlichen Bureaukratie zur Suspension kommen mußte. Da mußte denn der aufgestellte Pfarrverweser, bis für die Verlegenheit eine neue Ordre eingetroffen sein würde, sich zu einem höchst unbequemen Versuch, in der Gemeinde N.D. zu amtieren, herbeilaßen. Er, der so oft in Lieb und Güte, so viele hundert Male zu seinem persönlichen Freunde, dem Pfarrer, dessen Ueberzeugungen er aber nicht alleweg, auch in Sachen des Dimissoriums, theilte, gekommen war, mußte sich nun mit Weh und Leid als Verweser in sein liebes Nachbardorf begeben, in welchem die Gemeinde die Erklärung abgegeben hatte, keinen Verweser anerkennen zu wollen. Die Glocken läuteten zur Kirche: niemand kam, es war still im Dorfe, wie wenn die Glocke bloß zu dem Gebete in den Häusern erinnern sollte. Man hielt Hausgottesdienst, in der Kirche selbst war nur eine kleine Anzahl von Menschen, 30–40 sagte man, bestehend aus einer Anzahl von Gästen, die hören und schauen wollten, und aus einer kleinen Anzahl von Menschen, die entweder nicht wußten, was sie wollten, oder die da glaubten, es sei die langersehnte Zeit gekommen, welche einen anderen Pfarrer und eine andere Amtsführung brächte. In etlichen Blättern stand, daß die Missionsschüler von N.D., die Hüte auf dem Kopf, während des Gottesdienstes in die Kirche gedrungen seien und durch den wiederholten lauten Ruf Amen! Amen! den Prediger zum Schluß genöthigt hätten. Und das wurde in Kreißen geglaubt, die von einer ganz anderen Gesinnung beseelt sind, als von der des Menschen, welcher den muthwilligen Schwank und die Lüge ersann! Das Wahre an der Sache war dies. Ein frommer und wohlwollender Mann hatte in aufrichtiger Sorge, daß doch ja alles auf das würdigste und ruhigste hergienge, ein paar Missionsschüler beauftragt, beim Vorübergehen in die Kirche zu sehen und sich zu überzeugen. Das thaten sie, allerdings unkluger Weise, und das wurde ihnen von der Partei, die sich, den Bräutigam in der Mitte, in der Kirche versammelt hatte und nun auch einmal seit Jahrzehenten darin Herrin war, übelgenommen, zu lärmendem Schimpfen auf der Straße und zu einer Klage beim Decanate ausgebeutet. Wenn so etwas Ursache zu Klagen geben sollte, wie oft hätte ich da selbst in| der langen Zeit meiner Amtsführung zu N.D. klagen müßen! Nein, nein allenthalben war Ruhe, wehmüthige Stille, Unruhe und Aufregung war nur bei denen, die gehofft hatten, ihre Stunde sei gekommen. – Allerdings hätte in dieser Zeit bei einer anderen Führung Noth und Unglück entstehen können. Da die Gemeinde keinen Verweser anerkennen wollte, beschloß ein Sterbender, das Sacrament lieber nicht zu nehmen, als bei ihm. Ein Hausvater, dem ein Kind geboren wurde, befragte sich persönlich bei dem Pfarrer, ob es nicht beßer wäre, wenn er, der Vater, in dieser Noth es selbst taufte. Andere, welche an den Nöthen der Landeskirche längst Theil genommen und schwer getragen hatten, wünschten frei zu werden, auszutreten. Da wäre in der That Zunder genug gewesen, wenn man hätte Feuer haben wollen. Dagegen aber wurde der Hausvater unterrichtet, daß es auch eine Nothtaufe sei, wenn er, zumal unter geeigneten Bemerkungen, bei dem aufgestellten Verweser taufen ließe. Für den Kranken wurde gebetet, daß sich sein Leben länger erstreckte, und Gott erhörte. Den Austrittslustigen wurde gesagt, wie wenige unter ihnen Stand halten würden, wenn es zu der herzbrechenden Sache eines Austritts aus der Landeskirche kommen sollte, mit der sie bisher durch so viele tausend Fäden verbunden gewesen wären. Endlich entschloß sich der Vikar, nicht ohne Mahnen des Pfarrers, sich für gewisse Nothfälle und für die Sonntagspredigt bereit zu erklären, bis sich die Sache erledigen würde. Die Kirchenbehörde nahm das Erbieten an, zumal der aufgestellte Verweser an dem einen Sonntagsgottesdienste, den er hielt, vollkommen genug hatte und höchstens noch die Schreibereien besorgen und das Siegel führen wollte. In diesem traurigen Zustand des Mangels an geistlichen Gütern, verharrte die Gemeinde in tiefer Stille zwei Monate lang, ohne daß irgend etwas Ungeziemendes vorgekommen wäre, zum deutlichen Beweise, daß Gottes Wort und seine theuren Sacramente in derselben doch nicht umsonst gepredigt und verwaltet worden waren, daß die Gemeinde ebenso wenig indolent als aufrührerisch zu nennen war.
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 Wie oben bemerkt, kam schon Anfang August die Weisung der Kirchenbehörde an den Pfarrer der Braut, die Trauung auf das Dimissoriale des Pfarrverwesers vorzunehmen, an den Bräutigam, denselben um die Trauung zu bitten, an die geistlichen Unterbehörden, die Suspension aufzuheben. Damit kam auch für die Gemeinde ein zweites Stadium der Sache, nicht bloß für den Pfarrer. Bis dahin| war alles verständlich für jedermann. Nunmehr aber, da der Bräutigam doch nicht getraut war, da er lange Zeit gar keine Miene machte, das Dimissorium zu benützen, da dasselbe umsonst gegeben, die Suspension umsonst geschehen schien, da sie nun endlich aufgehoben wurde, und das Kirchenregiment den Kirchenvorstehern ausdrücklich erklären ließ, es sei außer dieser Trauungsgeschichte (in der sich ja die Gemeinde zu Gunsten des Pfarrers erklärt hatte) keine Ursache zur Suspension vorhanden gewesen, verstanden viele durchaus nicht, warum der Pfarrer nun selber Umstände machte und sein Amt nicht wieder übernehmen wollte. Viele andere wußten freilich doch, um was es sich handelte, und man kann nicht sagen, daß man pur auf das Ende gewartet und weiter keinen Antheil an den Verhandlungen genommen hätte, die allerdings absichtlich in der tiefsten Stille geführt wurden, und nur durch den Vicar, die Kirchenvorsteher und andere hervorragende Männer in der Gemeinde bekannt wurden.
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 Was ich mit diesen Verhandlungen gewollt habe, ist, glaube ich aus der Einleitung bereits vollkommen zu ersehen. Ich, der ich in drei Jahrzehenten die Ungunst der landeskirchlichen Verhältnisse für eine dem Worte Gottes getreue Amtsführung vielfach und oft recht schmerzlich erfahren hatte, und zwar bei mehrfachem Wechsel in dem kirchenregimentlichen Personale, so daß ich mit Händen greifen konnte, wie wenig Verbeßerung der Lage durch den Wechsel der Personen herbeigebracht werden konnte, – ich hatte wieder recht auffallend dasselbe erfahren, was früherhin. Ich wäre sehr gerne aus einem suspendierten Pfarrer ein Pastor emeritus geworden, ein ausgedienter, beiseitegesetzter, meinetwegen abgesetzter. Aber es handelte sich mir nicht um das Verlaßen eines landeskirchlichen Organismus, sondern um das Aufgeben meiner Gemeinde, von der Verbindung mit welcher ich hohe Begriffe hatte. Ich würde mir selbst wie ein Ehebrecher vorgekommen sein, wenn ich deswegen die mir angetraute Gemeinde hätte verlaßen wollen, weil ich bei redlichem und treuem Willen so manches Hindernis fand. Ich, der ich mich über das abscheuliche Meldungswesen, das unter uns eingerißen ist, und gegen das sich gar kein Gewißen mehr zu erheben scheint, so oft auf Grund der Heiligkeit der Verbindung eines Pfarrers mit seiner Gemeinde ausgesprochen hatte, mußte mich so viel und lang als möglich mit meiner Gemeinde leiden. Aber ich mußte es auch können, und dazu bedurfte ich nach der Suspension einer erneuten Stellung.| Nach der Suspensionshandlung saßen der suspendierende Dekan und der neubestellte Pfarrverweser, wie sonst oftmals, bei mir in traulichem Gespräche über andere Dinge. Als ich die trauten Männer bis zur Pforte begleitete, sagte ich scherzend zum ersteren: „Erinnerst Du Dich an St. Paulus in Philippi? Er gieng nicht aus dem Gefängnis, bis ihn die Herren herausführten. So ists bei mir, du mußt bald wiederkommen und mich holen.“ Den Ernst im Scherze nicht verstehen wollend, sagte der treue Vorgesetzte: „Wenn sich die Sache in den nächsten Tagen erledigt, kann ich nicht gleich selber wiederkommen, der Amtsgeschäfte halber.“ Wie ich dortmals fühlte, fühlte ich je länger je mehr. Jetzt wars meiner Meinung nach an der Zeit, gegen den Bräutigam mit der Zucht hervorzutreten. Das Kirchenregiment konnte ihn kennen lernen und lernte ihn immer beßer kennen; daher bat ich auch, nicht um eine Excommunication, – aus oben erwähnten Gründen, – sondern um einen unmisverständlichen Satz in einem gewöhnlichen bureaukratischen Rescripte, den ich brauchen konnte und durfte, wenn ich es für nöthig hielt. Wenn ich statt dessen nach der Meinung anderer das Zuchtverfahren einleiten sollte, wie man es in anderen Fällen nach Vorschrift thun muß; so fand ich das ganz und gar nicht an der Zeit. Das hätte wie Rache ausgesehen, hätte einen unlauteren Eindruck bei der Gemeinde gemacht. Wenn dann späterhin einer in der Gemeinde versucht ward, seinen Grimm in die Form Rechtens einzukleiden, konnte er Aergernis an dem Verhalten des Pfarrers nehmen. Die Zeit konnte ja kommen, da ich mit dem Manne, sofern er selber wollte, einen Gang vor das bestehende geistliche Zuchtgericht machte; annoch mußte es aber beruhen.
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 So wie ich in Anbetracht des Bräutigams ein züchtigendes Wort der Oberbehörde gewünscht hätte, nicht um meinetwillen, sondern um des Mannes willen und um des Amtes willen, das ich an ihm thun sollte; so wünschte ich aus gleichen seelsorgerischen Gründen ein Wort der Behörde, das ich gegenüber der Partei gebrauchen konnte, zu welcher der Bräutigam gehörte. Diese Leute hatten gute Lust, sich als die frommen und getreuen Kinder der Kirche zu gebärden, denen nun auch die kirchlichen Behörden Beifall gäben. Da nun gerade landeskirchliche Behörden auf dem bureaukratischen Wege so oft in den Fall kommen, von Leuten als Schutzherren angesehen und gelobt zu werden, deren Lob keine Ehre ist; so war es nicht weniger im Interesse der Behörden,| als in dem des Pfarrers, am meisten aber im Interesse des Seelenheils der Partei selber, wenn die Behörden deren Gesellschaft desavouirten, sich auf die Seite des doch immerhin treuen Hirten stellten, und die Widerstrebenden auf irgend eine Weise zum Gehorsam gegen denselben mahnten. Waren sie durch die Verhältnisse in die Lage gekommen, die Schmach der Suspension auf mich zu bringen und mich in den Kerker derselben zu werfen, so schien es mir bei Aufhebung der Suspension ganz billig, wenn ich mit einiger Anerkennung aus meinem Kerker geführt würde, und auch die königliche Behörde merken ließe, daß es allerdings in der Landeskirche und ihren Ordnungen nicht alle Wege stehe, wie es sollte. Das war mein Sinn bei meiner Weigerung, mein Amt wieder anzutreten, und mir aus den in das zweite Stadium treffenden Verhandlungen in diesem Sinne das Nöthige heraus zu klauben und heraus zu lesen, war mein treuer Fleiß. Gieng mirs auch mühsam bei meinem Fleiße, so habe ich doch, und andere, die ich fragte, mit mir, endlich so viel zu finden geglaubt, und ich kehrte dann, wie ich hoffte, als ein redlicher, unbescholtener, weder Gott noch den Menschen mit Wißen und Willen ungehorsamer Diener zu meinem Amt und meinem Hirtenstab zurück. Habe ich im einzelnen da und dort gefehlt, so wird es mir nur Freude sein es zu bekennen, da es für einen Menschen, der das Gute will, außer dem rechten Werke, das er schaffen soll, nichts Beßeres geben kann, als das Bewußtsein, es gewollt zu haben, und die Bereitwilligkeit zu bekennen, wo er gefehlt und dem eigenen Zweck und Willen zuwider gehandelt hat.




 Diese meine Erörterungen werden, wenn man sie liest, viele nicht befriedigen. In vielen Kreißen unserer Heimath hängt sich seit langer Zeit an meinen Namen die Furcht vor einer Separation und eine jede Erklärung meiner Handlungen erscheint falsch, so lange ich nicht zugestehe, daß ich die Separation dabei im Sinne gehabt habe. Gründe ich einen Verein für innere Mission, oder für weibliche Diaconie, so ists der Anfang einer Separation; entsteht ein Diaconissenhaus, ein Blödeninstitut oder was da will, es steht irgendwie mit den Separationsgelüsten in Verbindung. Braucht das Diaconissenhaus einen Betsaal und baut man ihn: der ist bestimmt, die erste Kirche der separierten Gemeinde zu werden. Finden die Dettelsauer Anstalten und Liebeswerke einige Unterstützung: das ist Neigung zur Separation.| Wird N.D. besucht, so fürchtet man schon, die Besucher könnten lauter Separatisten werden. Alles wird für die Separation ausgebeutet, und an alles hängt sich die Separationsfurcht. Die ganze Suspensionsgeschichte war nichts, als ein Versuch, zur Separation zu gelangen. Besonders das von mir sogenannte zweite Stadium der Sache war nichts als Separationsdrang u. s. w. Bei so gestalten Ansichten ist es vielleicht gut, einmal mit der Farbe herauszurücken und von Landeskirche und Separation zu sprechen. So weiß man doch wie man dran ist und kommt vielleicht zur Ruhe.

 Wenn man, anstatt von Separationsgelüsten und Separationsdrang zu reden, mir und meinesgleichen den Gedanken zuschriebe, daß eine Separation von der Landeskirche möglich sei, dazu eine Furcht, daß man auf dem Wege des göttlichen Wortes und des Widerspruchs gegen die Schäden der Landeskirche aus dem Organismus derselben hinausgeworfen und zu einer Separation gezwungen werden könnte; so würde das etwas ganz anderes sein, und ich würde mich dagegen weit weniger wehren können, als gegen den Vorwurf eines Separationsgelüstens. Ich habe solche Gedanken und Befürchtungen schon so oft gehabt, und bin schon so oft in solche Ueberlegungen hineingedrängt worden, daß ich bei einer wirklichen Lust zur Separation schon längst aus der Landeskirche getreten wäre; – daß ich es aber nicht gethan habe, könnte zum Beweis dienen, wie wenig eigentliche Lust zur Separation vorhanden war. Wer eine heutige Landeskirche durchaus verlaßen will, kann ja leicht Ursache genug dazu finden, braucht in meinen Fall gar nicht zu kommen.

 Wenn ich im zweiten Stadium meiner Suspensionsgeschichte nicht so viel Kräftigung meiner ferneren Stellung in der Gemeinde gefunden hätte, als ich durchaus glaubte zu bedürfen; so würde ich nicht mein Amt niedergelegt haben, denn das durfte ich nach meiner Ueberzeugung nicht; wohl aber hätte ich den landeskirchlichen Organismus verlaßen. Bei diesen Worten wird man sagen: das wäre ja dann eigentlich Separation gewesen; die Gemeinde würde gefolgt sein, sei es ganz, sei es theilweise, und da hätte man dann eben das längst gefürchtete Unglück gehabt. Ich aber hatte damals und habe jetzt noch die Ueberzeugung, daß mein Ausscheiden eine ganz vereinzelte und für eine Separation erfolglose Sache geblieben wäre. Wenn ich gleich nur den Organismus, nicht die| Gemeinde verlaßen hätte – aus Treue, und wenn darin gleich ohne Zweifel für die Gemeinde ein Ruf mitzugehen gelegen wäre, ja wenn vielleicht ein Theil der Gemeinde auch wirklich Miene gemacht hätte mitzugehen, so würde sich das alles doch schnell gegeben haben. Es gibt Gründe, die Muth zu einer Separation machen könnten; aber meine Gemeinde kannte sie nicht. Ich habe niemals gegen die Landeskirche polemisiert, wenn ich mich auch hie und da in näheren Kreisen über ihre Mängel ausgesprochen habe; auch habe ich die bisherigen separierten Kirchen so gar nicht als musterhaft oder der Nachfolge würdig hingestellt, daß ich nicht weiß, woher die Gemeinde Dettelsau Reiz zur Separation und die Kraft hätte nehmen sollen, dem Halloh, der da würde emporgegangen sein, und dem Jammer einer bureaukratischen und polizeilichen Verfolgung gewachsen zu sein. Ich hätte die Gemeinde gewiss nicht verlaßen, wohl aber würde ich von ihr schnell verlaßen worden sein, und es würde sich ganz leicht und ganz bald, wenn man nur einen tüchtigen Geistlichen gesetzt hätte, der thatsächliche Beweis haben führen laßen, daß man bei uns den landeskirchlichen Organismus nicht aufgeben kann, ohne zugleich Amt und Gemeinde zu verlieren. Ueberdies aber würde ich selbst bei denen, die einen Versuch gemacht hätten, mir, ihrem Pfarrer, zu folgen, und denen ich mich nicht ohne weiteres hätte entziehen dürfen, solche Forderungen an das Leben und Verhalten gestellt haben, daß ich bald ganz vereinzelt gestanden wäre. Ich hatte die völlige Ueberzeugung, daß nichts Leichteres ist, als einen Pfarrer zu beseitigen, der in Collision zwischen Wort und Brauch kommt, und daß die Einsicht in kirchliche Dinge auch bei den besten Gemeinden unserer Heimat durchaus nicht so weit gereift ist, daß es zu irgend einer erheblichen Separation kommen könnte. Höchstens könnte die allenthalben herrschende Unordnung und Laxheit in Betreff der Abendmahlsgemeinschaft den Anstoß und die Liebe zum Sacrament und zu einem größeren Maße von Zucht einem über das ganze Land hin zerstreuten Häuflein von Menschen die Kraft verleihen, wenn die Behörden in unionistischem Sinne vorwärts giengen, die Leiden einer Separation zu tragen und sich zu einer Gemeinde zusammen zu schließen. Untergeordnetere Dinge, wie z. B. die Ehefrage und selbst die hohe pädagogische und pastorale Bedeutung einer dem Worte Gottes angemeßenen Verfaßung der Kirche und Gemeinde, auch wenn es unserem Volke möglich| wäre, zur Einsicht zu gelangen, verleihen bei der Trägheit der Menschen und der Macht materieller Hindernisse die nöthige Kraft und Ausdauer nicht. Das habe ich bei den mancherlei Gedanken, die sich während meiner Suspensionszeit in meiner Umgebung regten, so kräftig gefühlt und mehrfach so nachdrücklich geäußert, daß ich hinlänglich Zeugnis davon aufbringen könnte. Wenn mich Gott dahin geführt hätte, daß ich mit gutem Gewißen mich der Landeskirche und in Folge davon der Gemeinde hätte begeben können und müßen; so würde ich die Entledigung mit Ruhe hingenommen, den Anstalten von Neuendettelsau die noch übrige Zeit und Kraft gewidmet, oder, wenn man das nicht geduldet hätte, mich mit Vergnügen in irgend einen Winkel zum ersehnten tieferen Studium der Schrift und der Geschichte zurückgezogen haben. Ein Agitator aber, ein Parteiführer und Separationshaupt zu werden, wäre mir nicht bloß nach meinem Herzen ein Greuel, sondern auch nach meiner Begabung eine Unmöglichkeit gewesen. Ich würde selbst gegangen sein, alle anderen aber beschwichtigt und angeleitet haben zuzuwarten, bis auch sie durch die Gewalt der Umstände hinausgeworfen und damit die göttliche Weisung empfangen würden, sich zusammenzuschließen.

 Hiemit könnte ich vielleicht schließen und jedem Leser überlaßen, von dem, was ich sagte zu denken und zu glauben, was ihm recht däucht. Da aber doch bei allem, was ich sagte, eine Gesinnung merkbar sein wird, die weder für die Staatskirchen, noch für die Separationskirchen begeistert ist; so erlaube ich mir zum Schluße das Folgende zu sagen, was vielleicht das rechte Licht auf mein ganzes Verhalten in der Suspensionszeit und allezeit wirft.




 Fürs erste steht es mir unverbrüchlich fest, daß es genug sei zu wahrer Einigkeit der Kirchen, daß das Wort Gottes rein und lauter gelehrt und die Sacramente nach der Einsetzung Jesu Christi verwaltet werden, wie unsere Väter 1530 zu Augsburg bekannten. Wie es daher zu wahrer Einigkeit der Kirchen nicht nöthig ist, gleiche Ceremonien fest zu halten, so ist es auch nicht nöthig zu wahrer Einigkeit der Kirchen, unter demselbigen Regiment oder nach gleicher Kirchenverfaßung zu leben. Wie die Ceremonien an dem einen Orte beßer| sein können als an dem anderen, so ist auch ein Unterschied in Verfaßung und Regiment der Kirche und dürfte wohl bischöfliches Regiment und Verfaßung der Kirche am besten entsprechen; aber einen zur wahren Einigkeit nothwendigen Punkt darf man weder aus dem, noch aus jenem machen.

 Wer sich daher von dem Bekenntniß oder der Sacramentsverwaltung einer Kirche scheidet, der separiert sich und bricht die Einigkeit. Dagegen aber kann man es nicht Separation und nicht Bruch der Einigkeit nennen, wenn man bei gleichem Bekenntniß und gleicher Sacramentsverwaltung sich zu verschiedenen Ceremonien, zu verschiedener Kirchenverfaßung, zu verschiedenem Regimente versammelt. Die miteinander dasselbe Credo sprechen und zum Tisch des HErrn gehen können, haben durch Gott Freiheit in allen Adiaphoris.

 Wenn unter Brüdern, die eines Glaubens und Sacramentes sind, ein Theil gewiss wird, daß die Ceremonien, die Kirchenverfaßung, das Regiment für die Führung der Seelen nicht förderlich ist, sondern hinderlich, pastoral und pädagogisch verwerflich; so handeln die Brüder dieses Theils nicht wider Gott, auch nicht wider die wahre Einigkeit, wenn sie gegen die Misbräuche und falschen Traditionen Zeugnis ablegen, sondern sie erfüllen die Pflicht der Liebe zu Gott und zu den Brüdern. Wenn aber ihr Zeugnis nicht angenommen wird, und sie sich in Folge des zu beßeren Ceremonien und Ordnungen vereinigen, so sündigen sie damit nicht, wenn sie den anderen ihre Freiheit laßen und sich des Friedens und der Liebe befleißigen. – Wenn sie darüber angefochten würden und litten, könnten sie sich des Segens Christi getrösten, zumal wenn sie die mit ihnen unzufriedenen Brüder lieben und segnen, und, so viel an ihnen selbst liegt, die Kirchengemeinschaft mit ihnen hielten. Es konnte daher ganz wohl z. B. in Hamburg vor Jahrzehenten neben der Staatskirche eine freie lutherische Gemeinde entstehen und sich bis zur Stunde Segens und Friedens erfreuen. Ebendasselbe könnte anderwärts geschehen, sogar Friede und Segen und gegenseitige Förderung bei beiden Theilen sein.

 Diesen richtigen Grundsätzen gegenüber sehe ich die unevangelische Gesinnung derer, welche die privilegierten Staats- und Landeskirchen je in ihren Landen mit der Kirche selbst verwechseln, der Kirche ihre göttliche Freiheit in Adiaphoris nehmen und alle Menschen des gleichen Bekenntnisses zwingen wollen, bei einerlei Tradition und| Satzung zu verbleiben, daher auch von Separation und Verletzung der Einigkeit sprechen, wenn die Bahn des Beßeren betreten wird.

 Es gibt unwandelbare Dinge, in welchen sich die Kirche immer gleich bleibt. Wir faßen sie mit den recht verstandenen Worten Bekenntnis; (nicht Lehre, Theologie, Lehrart, Wißenschaft) und Verwaltung der Sacramente zusammen. Es gibt aber auch viele Dinge, in welchen die Kirche frei, daher der Bewegung fähig, wandelbar, der Entwickelung bedürftig ist. In diesen darf niemand zu conservativ sein, weil sonst nicht bloß die Freiheit der Christen gebunden, sondern Liebe und Einigkeit gestört wird, so wie eine Bewegung eintritt. Soll Einigkeit und Liebe in der irdischen Kirche bestehen, so darf man der Einigkeitspunkte nicht zu viele setzen. Das berühmte Wort Zinzendorfs von Stätigkeit und Bewegung innerhalb der Kirche[1] muß im kirchlichen Leben Meister sein.

|  Aber diese Sätze alle, so gewiss sie protestantisch, evangelisch und weise sind, können, wenn sie nicht allerseits anerkannt sind, schwer in Ausübung gebracht werden. Wenn man sie z. B. in einer unserer verderbten Staatskirchen in rücksichtslose Ausübung bringen würde, so könnten sich nicht blos die Gottlosen derselben bemeistern, so wie sich die Bauernunruhen an die Fersen Luthers hängten, sondern es könnten viele Einfältige zu Fanatikern werden, andere aber durch die staatskirchlichen und polizeilichen Verfolgungen und die dadurch entstehenden Schrecken und Plackereien um Licht und Klarheit kommen, in ihrem Christenthum verkrüppeln und dadurch zum Spott und Hohn ihrer Verfolger und zum Aergernis werden. Auch hier gilt das Wort: „Ich habe es alles Macht, aber es frommt nicht alles.“

 Auch wenn und wo man das nicht zu befürchten hätte, bedarf es weiser Herzen und Hände. Es ist nicht genug, die falschen Traditionen und Misbräuche sammt ihren Nachtheilen und Sünden zu erkennen, sondern man muß das für die Verhältnisse richtige Positive einsetzen und bei den wandelbaren Dingen verhüten können, daß nicht etwa auch aus ihnen einmal wieder ein Joch erwachse, das für die Hälse der Brüder zu schwer würde.

 Was von der Freiheit der Kirche rücksichtlich der Adiaphora gilt, das gilt, versteht sich, noch viel mehr in Betreff solcher Dinge, welche dem Worte Gottes geradezu widersprechen. Es darf z. B. niemand die Kirche an ungläubige oder sonst gottlose Kirchenbücher, Gesangbücher, Catechismen u. s. w. binden, sondern dieselbigen müßen ohne Vorwurf von denen abgethan werden dürfen, die zur Erkenntnis kommen. Es liegt wenig und im genannten Fall gar nichts an der Uniformität der Kirche in Gebrauch von Büchern, Ceremonien und dergleichen; alles aber liegt am Heile der Seelen: Summa, utilitas omnis regula. Doch bedarf es auch hier weiser Herzen und Hände, und darf man, namentlich| bei einem schwerfällig angelegten größeren Ganzen in manchen Dingen nicht zu schnell die Geduld verlieren.




 Was endlich unsere protestantischen Landeskirchen anlangt, so bekenne ich aufrichtig, daß ich weder aus der hl. Schrift noch aus dem Studium der Geschichte, noch aus eigener Erfahrung das Lob rechtfertigen kann, das ihnen von vielen gesprochen wird. Mir scheint es eine unwiderlegliche, aus allen Zeiten von Constantin dem Großen an tausendfach zu belegende Thatsache zu sein, daß seit der Verbindung der Kirche mit dem Staate das Weib sehr gehindert war, den frommen Sauerteig in die drei Schäffel Mehl zu mengen, während es dem Feinde sehr wohl gelang, mit seinem Sauerteige den Süßteig der Kirche zu verderben. Die gesammte Mengerei von Gut und Bös im Urtheil, im Wollen, im Geschmack und im gesammten Leben, die uns gegenwärtig noch so sehr benebelt, ist uns offenbar durch die Ineinandermengung von Staat und Kirche zu Theil geworden. Die schreiendsten Beispiele könnte man aus der Ethik nehmen. Auch hat in diesem Punkte die Reformation nicht reformiert. Des Papocäsarismus sind wir losgeworden, dafür aber in das schlimmere Ende desselbigen Stabes Weh, in den Stachel des Cäsaropapismus gefallen. Die große Frage des Mittelalters, ob der Staat über die Kirche, oder die Kirche über den Staat zu setzen sei, ist durch die Reformation noch nicht in dem Sinne des Herrn entschieden worden, der da sagt: „Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist.“ Erst mußte der Cäsaropapismus als die zweite Antwort auf die Doppelfrage durch die Geschichte gerichtet werden, wie die erste, ehe man nur einen Anfang machen konnte, die simple Antwort des Herrn zu geben und damit den Doppelwahn von alten Tagen, die Doppelfrage sammt der Doppelantwort, los zu werden. Wie sehr uns Protestanten das Uebel bis in die neuere Zeit anhängt, beweist die vergebliche Bemühung der Juristen, das historisch gewordene Erbübel namentlich der lutherischen Kirche systematisch zu rechtfertigen und aus der Noth eine Tugend zu machen. Das ist nun so, und es wird kaum anders werden, wenn man auch die gründlichsten Bücher schriebe und jene neueren Juristen etc. und Theologen niederlegte, die in der That auf diesem Gebiete ihre Gleichgesinnten in den vorigen Jahrhunderten noch überbieten. – Es| ist auch in der That Gottes wunderbare und wunderliche Vorsehung mit im Spiel. Die Kirche hat ja einen Völkerberuf und würde eine Lehrerin der Völker in weit größerem Maße und reinerem Sinne geworden sein, wenn sie die Völkerkirchen vermieden hätte und sich begnügt hätte, auch in der Erscheinung, wie in der Wahrheit eine ecclesia, eine aus allen Völkern berufene, gesonderte und geeinigte Schaar zu sein. Aber was hilft diese Erkenntnis jetzt, da der Abfall durch alle Völker und Confessionen geht, kenntlicher und frecher als je? Obwohl es auch jetzt noch nicht an guten Träumern fehlt, die sich mühen, unser Volk oder andere Völker wieder christlich zu machen, nachdem sie es nie gewesen, nie sein konnten! Für diese verderbten Massen von „Elementarchristen“, wie sie einer in der That noch ehrenvoll genannt hat, sind unsre Staats- und Landeskirchen mit ihren Regimentern in Ermangelung beßerer Dinge in der That noch ein großes Glück. Die Jugend dieser Massen, wie würde sie ohne diese staatskirchlichen Institutionen und Gesetze heranwachsen! Schon dieser schauerliche Gedanke könnte uns geduldig machen.

 Aber freilich, für die Weiterführung gutwilliger Elementarchristen genügen diese Institutionen nicht, und wenn sich irgendwo durch Gottes Gnade ein größeres Leben und ein mächtigerer Drang zum Guten entzündet, so sind die Wege und die Mittel nicht vorhanden, solche Menschen oder Gemeinschaften zu reinigen, zu stärken und ihre Kräfte in ein Bette zu bringen, darin sie sich zum Heile aller ergießen könnten. Die Elementarchristen, für welche die vorhandenen Ordnungen passen, wollen auch nicht höher steigen und gehoben werden, ihnen gereicht jede sich sammelnde Schaar von Beßeren zum Vorwurf, zur Beunruhigung, so daß sie sich alsdann an die Landesrechte halten, so widerwärtig und verhaßt sie ihnen selbst sind, und kraft derselben die Kirchenregimenter nöthigen, Patrone und Schirmherrn der Christo widerwärtigen, nur zum Bösen lustigen Masse zu werden. Trauriges, aber oftmaliges Loos auch der besten und trefflichsten Kirchenbeamten! Wie viele Beispiele könnte hiefür am Ende jede deutsche Gegend liefern!

 Doch ist ja auch nicht zu leugnen, daß in mancher, vielleicht in jeder Landeskirche, so wie sie sind, noch Gutes und auch bei gegenwärtiger Einrichtung noch etwas zu retten ist, wie es denn auch hie und da in voriger Zeit einmal auch einen frommen Kirchenherrn und fromme| Räthe gegeben hat, die ein kleines Volk auf grüner Aue weideten und durch den Ueberschwang liebevoller Seelen die damals auch noch geringeren Uebel ihrer Institutionen überwachten. Und was soll dann auch in anderer, in unserer gegenwärtigen Lage und bei geringer Hoffnung auf Beßerung ein Mann thun, der vielleicht alle Uebel fühlt, aber durch den heiligen Geist, der nach dem Wort der Wahrheit die Hirten und Bischöfe setzt, Pastor einer landeskirchlichen Gemeinde geworden ist? Was soll er machen, wenn er in der Zeit seiner Unwißenheit oder Unklarheit Hirte geworden ist? Wie mancher Mann würde nimmermehr eine Ehe eingegangen haben, wenn er zur Zeit der Verehelichung klar gesehen hätte. Nun er aber in der Ehe klar geworden ist, darf er sie brechen? Wenn der nicht sah, der doch die arme Heerde weiden und leiten sollte, was war und ist von der Heerde zu verlangen? So gewiss die Ehe zwischen Hirten und Heerde eine göttliche ist, so gewiss darf der Hirte die Heerde nicht freiwillig verlaßen, auch wenn sie auf dem Territorium einer verderbten Landeskirche weidet. Etwas ganz anderes, eine solche Gemeinde annehmen und sie behalten!
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 Uebrigens bin ich dennoch überzeugt, daß auch Landeskirchen mancher Bewegung zum Guten fähig wären, wenn mehr fromme, weise, getroste, ich sage nicht Kirchenbeamte, sondern Pastoren da wären. Es ist ein Jammer mit der Geistlichkeit, und wahrlich mit dem Nachwuchs nicht weniger, als mit dem sterbenden Geschlechte. Sie, ihr oftmals gemeiner und serviler Sinn, dem eine derbe Predigt Luthers über Bauchchristenthum gehörte, verschulden das allermeiste. Sie erfahren ja alle Tage die Noth der Gemeinden, aber sie erlahmen daran und werden stumpf an Gewißen und Gefühl, statt Gott und Menschen anzurufen. Die Behörden des Landesherren, die von ihm eingesetzt sind, die herkömmlichen Traditionen und die verbrieften Satzungen durchzuführen, sollten sich, so weit sie selber das Beßere wollen, vor allen Dingen auf die Geistlichkeit des Landes stützen können. Wie sollte z. B. in einer Landeskirche, deren Satzungen zur Staatsverfaßung gehören, eine Beßerung erzielt werden, wenn ein Landtag mit allen seinen Confessionen und Religionen herein zu reden hat? Wird ein solcher im Interesse der lutherischen Kirche beschließen, wenn auch ein einsamer Antrag eingebracht würde? Wie erlahmt da beim ersten Blick in die Umstände die Hoffnung auf eine wahre| Beßerung? Da sollten die Hirten einig werden, denn sie sind, so weit man nach Hilfe unter Menschen umschauen kann, noch immer die besten Helfer, die Helfer von Beruf, deren vereinte, dem Worte Gottes entsprechende Stimme nicht ungehört verhallen würde.

 Sie sollten den vorhandenen Uebeln ins Angesicht schauen und ihre Quellen suchen.

 Sie sollten Uebel und Quelle nicht verheimlichen, sie zeigen, Erkenntnis der Sünden schaffen, und wie Daniel in seinem neunten Kapitel für alle Buße thun.

 Sie sollten die Versuchungen aufzeigen und erklären, welche den jungen Geistlichen beim Eintritt in ein solches Kirchenganzes umgarnen und ihm sein Verständnis und seine Kraft zur guten Ritterschaft nehmen.

 Sie sollten die Schwierigkeit zu helfen erkennen und dadurch barmherzig und geduldig werden.

 Sie sollten die üble Einwirkung der Verhältnisse erwägen, immer wieder erfahren und erwägen, und dadurch ihren Eifer wach und ihre Ausdauer kräftig erhalten.

 Sie sollten getreulich zusammenstehen und einstimmig sich wehren, wenn vorhandene Umstände oder Satzungen von gottlosen Leuten zur Untertretung der Frommen und zum Hohne Christi misbraucht werden.

 Sie sollten ihren armen Amtsbrüdern und anderen frommen Christen, die vielleicht ihre guten Sachen durch verkehrtes Benehmen oder sogenannte Formfehler verderben, beistehen und es nicht dulden, daß das Gute durch oberflächlich bureaukratische Verhandlung unterliegt, und je mehr und mehr die frommen Herzen entmuthigt werden.

 Sie sollten die üblen Ausnahmszustände, welche jede Landeskirche den Gottlosen bewilligt und bewilligen muß, als unvermeidliche Flecken im Angesichte der Kirche beleuchten und würdigen, damit man sie nicht für Rechtszustände nehmen könnte.

 Sie sollten von Gott gestiftete beßere Ausnahmszustände lieben und loben und den Herrn anrufen, daß immer mehr Oasen in der Wüste erblühen, wo sich die versprengte und zerstreute Schaar derer, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, erquicken und stärken könnten für das arme Leben in den Landeskirchen.

 Sie sollten mit der Zuversicht des guten Gewißens und in der| Kraft des heiligen Geistes bei allen Gelegenheiten gegen die Uebelstände losgehen, auch wenn sie deshalb schwarz angeschrieben würden, und so innerhalb der Landeskirchen ihr schweres Tagewerk thun, bis der Herr der Kirche oder ihnen Hilfe bietet, bis sie zur Ruhe kommen von dem Leben, das, wenn es köstlich ist, immer nur Mühe und Arbeit ist.

 Gäbe uns Gott der Herr solche Pastoren, so würde entweder den Landeskirchen, oder ihnen und den Kindern Gottes aus den Landeskirchen und zu einem gemeindlichen Dasein geholfen, bei welchem man unter Schwachheitssünde und Elend doch auch seines Glaubens und der Liebe froh werden könnte.





  1. „Die Ordnungen, von der grösten bis zur kleinsten, haben ihre Ursachen, und was an ihnen noch mangelhaft ist, kann und soll je eher je lieber gebeßert werden. Doch wird dabei Nichts übereilt, noch als etwas auf immer Unveränderliches festgesetzt. Es kann vor zwanzig Jahren eine zweckmäßige Ordnung gemacht sein, die jetzt eine Unordnung wäre, und vor zwei Jahren eine, die jetzt keinen Zweck hätte. Es muß sich alles Aeußere nach dem Leben und dem Innern richten, und, dem Geist des Ganzen gemäß zur Beförderung der Sache oder zur Abweichung und Heilung eines Schadens, an den äußeren Einrichtungen geändert und gebeßert werden.
    .
     Es ist eine Schönheit, daß sich die Alte Brüderkirche schon vor 300 Jahren vorbehalten hat, immer zu beßern und an den vorhandenen Unvollkommenheiten zu ergänzen. Denn unvollkommen bleiben und müßen wir hienieden bleiben. Das Beßern ist darum nicht vergeblich, sondern geschieht mit gutem Erfolg, weil der heilige Geist hilft, und wir unter Seiner Leitung und Handreichung uns von Zeit zu Zeit seliglich zu erneuern suchen. Sobald wir uns das Kleinod nehmen ließen und die demüthigen Verbeßerungs-Ideen mit einer stolzen Selbstgefälligkeit vertauschten, so würde es uns wie früheren Oekonomieen gehen, die, sobald es aus dem gewohnten Gang herausgieng, stutzig und unwillig wurden und diejenigen anfeindeten und verfolgten, die weiter mußten. Hätten sie bei Zeiten selbst daran denken wollen und die Verbeßerung zur rechten Stunde Platz finden laßen, so hätte ihnen der Heiland nicht Gesandte schicken dürfen, die es in seinem Namen thäten. So aber haben sie gemeiniglich keine Lust dazu gehabt, eine Zeit nach der andern so hingehen laßen und das Alte noch dazu, so gut sie konnten, befestigt. Sie hatten sich entweder über den weiteren Wachsthum Anderer aufgehalten und geärgert, oder [38] sichs vom Heiland zur Gnade ausgebeten, daß es wenigstens zu ihren Lebzeiten so bleiben möge. Die Folge davon war, daß die stillen und soliden Gemüther sich zurückzogen und die Verbeßerungsversuche in die Hände von Schwärmern geriethen, da man denn zuletzt allerseits Gott danken mußte, wenn sie wieder zu nichts wurden.
    .
     Unser Principium, das wir niemals ablegen wollen, ist: Die Gedanken und Ideen festzuhalten, bis der Heiland sie erweitert und alsdann beim Neuen so gelehrig und willig zu sein als zuvor beim Alten.“


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Meine Suspension im Jahre 1860 (Wilhelm Löhe)
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