RE:Gallos 5

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Eunuchen, Priester im Kult des Attis und der Mater Magna
Band VII,1 (1910) S. 674682
Galloi in der Wikipedia
Galloi in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register VII,1 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|VII,1|674|682|Gallos 5|[[REAutor]]|RE:Gallos 5}}        

5) Gallus (Γάλλος [das Femin. Γάλλαι nur bei Kallimach. frg. 568 Schneider, um die Weichlichkeit der Eunuchen zu bezeichnen; vgl. v. Wilamowitz Herm. XIV 194.ff]). Über den Ursprung [675] und Sinn des Namens G. haben die Philologen die verschiedensten Meinungen ausgesprochen (Näheres bei Baumstark in Paulys Realencycl. Bd. III S. 642). Die antike Überlieferung leitet ihn einstimmig von dem phrygischen Fluß Gallos ab (Plin. n. h. V 32. 147. Steph. Byz. s. v. Mart. Cap. VI 667. Etym. M.), dessen Wasser die Trinkenden rasend mache (Ovid. fast. IV 361ff. Plin. XXXI 2, 5. Herodian. I 11. Fest. s. Galli). Sicher ist, daß das Wort einheimisch kleinasiatisch ist, wie schon Phrynichos bemerkt (p. 172 Lob.: Βιθυνοὶ καὶ Ἀσιανοὶ γάλλον καλοῦσι). Ein Γάλλος, als Eigenname, findet sich in der Genealogie der kappadokischen Könige (Diod. XXXI 12 = Phot. bibl. 382, 30 Bek.). Die von Hieronymus (in Hos. I 4 [Migne P. L. XXXVI 41]) angegebene Etymologie, der Mommsen Röm. Gesch. I8 869 noch huldigte, welche die G. mit den Galliern identifiziert, indem diese Priester kastrierte Galater gewesen sein sollten, ist schon deshalb unannehmbar, weil das Wort G. im 3. Jhdt. bei Arkesilaos von Pitane (Diog. Laert. IV 43) und in den Galliamben des Kallimachos vorkommt (frg. 568 Schneider, vgl. Stähelin Gesch. der Galater2 1907, 53, 7). Andrerseits ist es den Griechen nicht vor der hellenistischen Zeit bekannt, was seinen barbarischen Ursprung beweist (Lobeck Aglaophamus 660). Die Gallen werden dann ein beliebter Gegenstand der alexandrinischen Dichtung (Hepding Attis 139), und ihr Name bürgerte sich so in die Sprache ein, daß er bald einfach einen Kastraten oder sogar einen Cinaedus bedeutete (Diogen. epist. 11: γάλλοις καὶ κιναιδολόγοις ; Artem. II 69: γάλλοι καὶ ἀπόκοποι; Anubis bei Usener Rh. Mus. LV 333: γάλλους ἢ μοιχούς usw.).

I. Eunuchen als Priester sind in verschiedenen Tempeln von Kleinasien bekannt, z. B. in Ephesos (Strab. XIV 614 c) und in Stratonikeia (Le Bas 519), aber Γάλλοι bezeichnet eigentlich die verschnittenen Diener der Kybele. Diese Art der Selbstverstümmelung ist ohne Zweifel in der Religion Kleinasiens uralt, und die Phryger haben sie wohl von der von ihnen unterjochten Bevölkerung übernommen, denn bei ihren Stammesgenossen, den Thrakern, ist sie unbekannt. Ein semitischer Einfluß ist meines Erachtens nicht anzunehmen (s. u. II). Attis ist ein einheimischer Gott, und seine Fabel ist nichts anderes als eine ätiologische Erklärung des Kultgebrauches, aus dem sie erwachsen ist. Es ist verkehrt, den Ritus aus dem Mythus abzuleiten, wie die Alten es tun (Lactant. inst. I 17, 5. Minuc. Fel. Octav. 22 usw.).

Der Hauptsitz des Attisdienstes und seiner G. war Pessinus und das Dindymosgebirge (Catull. 63. Liv. XXVIII 18. Anth. Pal. VI 51 usw.), aber man findet sie auch außerhalb dieser heiligen Stadt in Kleinasien, wohl überall, wo die phrygischen Götter verehrt worden sind, so in Hierapolis (Strab. XIII 630 c. Cass. Dio LXVIII 27; ein ἀρχίγαλλος Humann-Cichorius Altertümerv. Hierap. 83 nr. 33), an der pisidischen Grenze (Ramsay Studies in the hist. of the Eastern Roman prov. 343: ἀρχίγαλλος); in Lykaonien (Ramsay ebd. 247, vgl. Classical Review 1905, 368: ἀρχίγαλλος); in Kyzikos (Dittenberger Syll.2 348 [45 v. Chr.], vgl. Schol. in Nicandr. Alexiph. 8) und jenseits [676] des Hellespontos in Sestos (im J. 190 v. Chr. 3. Liv. XXXVII 9, 9. Polyb. XXI 6, 7).

Obwohl die Athener schon im 5. Jhdt. der Kybele ein Metroon bauten, wurde Attis aus diesem Heiligtum ausgeschlossen, und überhaupt ist in Griechenland der fremde Gott kaum eingedrungen (s. o. Bd. II S. 2248). So blieb das Gallenwesen im ganzen der hellenistischen Religion fremd. Einzelne Besessene mögen sich zur Ehre der Großen Mutter entmannt haben (Plut. Nic. 13, vgl. Foucart Associations religieuses 64); von den allgemein verachteten Metragyrten, den herumschweifenden Bettelpriestern dieser Göttin, können einige Eunuchen gewesen sein (Babrius fab. 141 Crusius: Γάλλοις ἀγύρταις. Suid. s. Μητραγύρτης. Manetho VI 297. Iulian. or. V 159 B; vgl. o. Bd. I S. 917). Aber selbst in der makedonischen Zeit, als die phrygischen Mysterien, allerdings nur von Privatleuten, im Piraieus gefeiert wurden (Foucart a. a. O. 88ff. Hepding 135ff.), ist nirgends von einem regelmäßigen Gallendienst die Rede. Die Notiz des Plinius, daß Parrhasios das Bildnis eines Archigallus gemalt habe (n. h. XXXV 70), scheint auf irgend einer Verwechslung zu beruhen. Das von Tiberius gekaufte Bild wird wohl unecht gewesen sein.

Als im J. 205 der Kult der Magna Mater Idaea in Rom offiziell eingeführt und eingerichtet wurde, wurde er von einem phrygischen Priester, einer phrygischen Priesterin und einer Anzahl G. versehen (Dion. Hal. II 19, 4; vgl. Varro sat. Menepp. frg. 150 Bücheler: Gallorum frequentiam in templo). Den römischen Bürgern wurde der Eintritt in diesen fremden Klerus ausdrücklich untersagt. Sogar der Sklave eines Bürgers, der an sich selbst die heilige Kastration vollzogen hatte, wurde deportiert (Obsequens 44 [104]), und überhaupt behandelten die republikanischen Magistrate jene semiviri mit einer schimpflichen Verachtung (Val. Max. VIII 7, 6; vgl. Plut. Mar. 16). Die Entmannung sowohl eines Sklaven wie eines Freien, selbst bei deren Einwilligung, wurde von Domitian in dem ganzen Umfang des Reiches verboten, und es ist dabei unter den folgenden Kaisern geblieben (Mommsen Strafr. 637, vgl. o. Bd. III S. 1772). Aber die Selbstverstümmelung der G. muß gestattet oder geduldet worden sein. Sogar Heliogabal soll sich kastriert haben (Aurel. Victor. XXIII 3, vgl. jedoch Hist. aug. Heliog. 7. Cass. Dio LXXIX 11). Sie verbreitet sich mit dem Dienst der Magna Mater, und wohl nach der Neugestaltung, die dieser Kult unter Kaiser Claudius erfuhr (Hepding 145. Cumont Religions orientales2 84), waren die Archigalli angesehene römische Bürger (s. o. Bd. II S. 484. Wissowa Rel. d. Römer 265). Es ist doch bemerkenswert, daß zwar diese Archigalli, aber nie die einfachen G., mit diesem Titel in den Inschriften genannt werden (s. u. II die einzige Ausnahme). Vielleicht ist der religiosus a Matre capillatus (CIL VI 2262,[1] vgl. 2263. VIII 9401. IX 734) eine ehrenvollere Bezeichnung für einen von ihnen. Den schlechten Ruf. in dem sie standen, bezeugen viele Stellen, wo sie als cinaedi bezeichnet werden, und muliebria pati ihnen vorgeworfen wird (Schol. Arist. av. 877. Iuven. VI 513. Schol. Iuven. II 16. Firmic. Mat. de err. prof. rel. IV 2. Lactant. inst. V 9, 17. Augustin. civ. Dei II [677] 7, 5. VII 26. Ps.-Augustin. quaest. vet. Test. CIV 7 [306, 8 Souter]. Paul. Nol. XIX 179. XXXII 85ff.; s. u. II Apul. und Lukian). Der höhnische Spott, mit welchem die Kirchenschriftsteller von ihnen reden (Minuc. Fel. Octav. 22. Prudent. Peristeph. X 197; vgl. o.), entsprach der öffentlichen Meinung viel mehr als die Versuche der Philosophen und Mythographen, die abscheuliche Tat durch symbolische Deutungen zu rechtfertigen (Lucret. II 614f. Varro bei Aug. civ. Dei VII 24. Porphyr. bei Euseb. praep. evang. III 11, 12, vgl. Iulian. or. V 159ff. 168 D: τέμνεται τὸ ἱερὸν καὶ ἀπόρρητον θέρος τοῦ θεοῦ Γάλλου). Aber trotz aller Mißachtung bestanden die G. bis zum Ende des Heidentums fort. Augustinus sah sie noch in den Straßen von Karthago umherschweifen (civ. Dei VII 26), und der sog. Ambrosiaster, der um das J. 380 schrieb, scheint ihren Festen in Rom beigewohnt zu haben (Ps.-Aug. quaest. vet. Test. a. a. O.). Allerdings war es schwer geworden, sie zu rekrutieren (ebd. CXV 17 [324, 13 Souter]: Galli abscissi quos constat miseros circumveniri et promissis praemiis ad hunc dolorem et dedecus cogi). Am Ende des 4. und Anfang des 5. Jhdts. werden sie als noch bestehend angegriffen von Ps.-Cypr. (ad senat. conv. 8ff.) und Paulinus Nolanus (XXXII 88: nunc quoque semiviri mysteria turpia plangunt).

Von der inneren Einrichtung der G.-Körperschaften wissen wir wenig. Sie scheinen nicht wie die Dendrophori und Cannophori (s. d.) heilige Genossenschaften, sondern eine Abteilung des Klerus gebildet zu haben und standen unter der Leitung eines Archigallus sowohl im Orient (s. o.) wie im Okzident (s. o. Bd. II S. 484; vgl. Thesaur. ling. lat. s. v.). Sie müssen aber von den eigentlichen Priestern (sacerdotes, vgl. Wissowa a. a. O.) unterschieden werden, mit welchen sie manchmal noch verwechselt werden. Der kronentragende Battakes, der im J. 102 in Rom einen Skandal erregte (Diod. XXXVI 6. Plut. Mar. 17), war kein G., sondern einer der Oberpriester von Pessinus. Die Kastration war die unerläßliche Bedingung zur Aufnahme in die Körperschaft; durch diesen Akt wurde der G. der Göttin geweiht und von da an als ihr Sklave betrachtet (famulus deae Liv. XXXVII 9, 9. Cic. de leg. II 9, 22). Nach althergebrachter Sitte aus einer Zeit, wo keine metallenen Instrumente im Gebrauch waren, wurden die Geschlechtsteile grausam mit einem scharfen Stein oder einer dafür eintretenden Scherbe abgeschnitten (acuto silice Catull. 63, 5, vgl. Plut. Nic. 13. Ovid. fast. IV 237; testa Samia Plin. n. h. XXXV 48, 165. Martial. III 81, 3. Iuven. VI 514. Minuc. Fel. 24, 4, vgl. Hepding 161; anders im Dienst der Dea Syra, s. u.). Die Geschlechtsteile scheinen dann begraben worden zu sein (Arnob. V 7. 14; vgl. Schol. Nicand. Alexiph. 8. S. jedoch Hepding 164).

Genaue Beschreibungen der Schriftsteller und zwei bildliche Darstellungen eines Archigallus (s. o. Bd. II S. 484; vgl. Lafaye bei Daremberg-Saglio Dict. II 1457 fig. 3482) machen uns die Tracht der G. im einzelnen bekannt. Sie trugen weibliche Kleider, um der Göttin, der sie sich gewidmet, zu gleichen (Varro a. a. O. frg. 120. Polyb. a. a. O.), nämlich eine Ärmeltunica und einen langen, bis zu den Füßen fallenden Rock von bunter [678] Farbe (Dionys. a. a. O.: ποικίλη στολή. Firmic. Mat. de err. prof. rel. 4: delicatis vestibus amicti). Auf dem Haupt hatten sie eine Tiara mit herabfallenden Lappen (Iuven. VI 516), oder eine Mitra (Propert. V 5, 61) und einen Kranz mit Medaillonbildern der phrygischen Götter (vgl. über solche Priesterdiademe Hill Jahresh. Inst. Wien II 245ff.). Ihr langes, ungeschorenes Haar wurde mit Salben geschmiert und nach Frauenart aufgebunden (Ovid. fast. IV 238. Anth. Pal. VI 219. 234. Firmic. Mat. err. prof. rel. 4). Wenn sie auf ihre heiligen Übungen verzichteten, wurde es zu weilen abgeschnitten und der Kybele gewidmet (Anth. Pal. VI 51. 234; vgl. Hepding 162, 5). Ihr Antlitz war geschminkt (Aug. civ. Dei VII 26: madidis capillis, facie dealbata; vgl. Apul. met. VIII 27) und ihre Haut enthaart (Firmicus: cutem poliant)', und sie wurden durch Tätowierungen als der Kybele gehörig gekennzeichnet (Prudent. Peristeph. X 1076. Etym. M. s.: φύλλα κισσοῦ κατεστίχθαι ὡς οἱ Γάλλοι, vgl. Hepding 163). Sie trugen Ohrringe (inaures habent, Ps.-Aug. quaest. vet. Test. CXV 18 [324 Souter]) und ein reiches Halsband (Anth. Pal. VI 219), außerdem hing auf der Brust eine aedicula mit dem Bilde des Attis (προστηθίδια und τύποι, Polyb. XXI 37, 4. Dionys. Hal. II 19, 4).

Wie im Orient die G. oft Bettelpriester waren (s. o. S. 676, 13. 680, 12), so auch in Rom, aber ihr Recht, Almosen zu sammeln, war eingeschränkt. Es wurde ihnen nämlich erlaubt, an bestimmten Tagen mit ihren bunten Kleidern unter dem Klange ihrer barbarischen Tempelmusik, Hymnen singend, und zwar griechische (Serv. Georg. II 394), die Straßen zu durchziehen und dabei eine Kollekte zu machen (Dionys. II 19. Cic. de leg. II 9, 22. 16, 40. Ovid. fast. IV 350; ex Ponto I 1, 40; vgl. Wissowa a. a. O.). Sie pflegten wohl, um ihr Geld zu verdienen, Weissagungen zu erteilen, wie die Diener der Göttin von Pessinus (Liv. XXXVIII 18: vaticinantes fanatico carmine) und der Dea Syria (vgl. S. 680, 1).

So wurde auch sonst das phrygische bezw. pessinuntische Ritual zwar beibehalten, aber die öffentlichen Äußerungen des Glaubens wurden streng geregelt. Die wilden Orgien, wie sie dramatisch in den von Catull (63) umgedichteten Galliamben des Kallimachos (v. Wilamowitz Herm. XIV 1879, 194ff.) beschrieben waren, hatten sich in Rom gemildert. Dort zogen die von heiligem Wahnsinn ergriffenen G. durch die Wälder und ließen die Höhlen des Gebirges, wo die Kybele verehrt wurde, von ihrem Geheul und ihrer berauschenden Musik ertönen (Anth. Pal. VI 217ff.; vgl. Hepding 139). Im römischen Tempel auf dem Palatin scheinen die orgiastischen Zeremonien der G. auf einen einzigen Tag, den 24. März, dies sanguinis, beschränkt gewesen zu sein. Schon am 22., bei der Dendrophorie (s. o. Bd. V S. 216), hatten sie den Tod des Attis laut beweint (Arnob. V 16: pectoribus adplodentes palmas passis cum crinibus Galli), aber am 24. erreichten die Schmerzäußerungen ihren Gipfel. Die Schilderung dieser Raserei der besessenen G. ist, wie bei den Griechen (z. B. Anth. Pal. VI 51. 94), so auch bei den lateinischen Schriftstellern seit dem Ende der Republik (Lucret. II 600ff. Varro sat. Men. 117ff. Bücheler; vgl. August. civ. Dei [679] VII 24. Ovid. fast. IV 183ff. usw.; vgl. Hepding 145) überaus häufig, und dieselben typischen Züge kehren immer wieder. Beim rauschenden Getöse der Tympana, der Zimbeln und der Klappern, das von dem tiefen Ton der Hörner und dem grellen Pfeifen der großen Doppelflöten begleitet wird, drehen sich die begeisterten G., schütteln ihr langes, aufgelöstes Haar, und wenn sie durch dieses betäubende Umherschwingen besinnungslos und gegen jeden Schmerz unempfindlich geworden sind (Iambl. de myst. III 4. Rohde Psyche II2 18, 3), geißeln sie sich mit Astragalenpeitschen (μάστιξ ἀστραγαλωτή, Plut. adv. Colot. 1127 C. Anth. Pal. VI 234; vgl. Apul. met. VIII 28), verwunden sich die Arme mit scharfen Messern und besprengen mit ihrem Blut den Altar (Hepding 729ff. 759. Gruppe Griech. Mythol. 1539). Vielleicht bei diesem Fest fanden selbst in Rom noch die Selbstentmannungen statt, durch welche der neue G. sich dem Dienste der Großen Mutter weihte (Iuven. II 115. Lactant. div. inst. I 21, 16. Serv. Aen. IX 116. Iulian. or. V 168 D. Ps.-Augustin. s. o.; vgl. Hepding 160). Lukian bezeugt, daß auch im Dienst der Dea Syra die freiwillige Kastration beim Frühlingsfest stattfand (s. u.).

II. Die früher herrschende Ansicht war, daß das Gallenwesen sich in Kleinasien erst unter dem eindringenden semitischen Einfluß entwickelt habe (Hepding 162. 178). Indessen lehrte vielmehr eine heilige Überlieferung des Tempels der syrischen Hierapolis (Bambyke), daß die Sitte sich zu entmannen dort durch den phrygischen Attis eingeführt worden sei (Luc. de Dea Syra 15), und es ist jetzt wahrscheinlich geworden, daß in der Tat die Kulte von Nordsyrien, speziell die von Bambyke, chetitisch-kleinasiatisch sind (Ed. Meyer Gesch. d. Altertums I2 651; vgl. Kan De Iovis Dolicheni cultu 1901, 2ff.). Allerdings hat man die Kastration auch in Babylonien (Lagrange Et. sur les relig. sémit.2 241) und sonst bei den Semiten (Hepding 161 n. 6) finden wollen. Sicher ist, daß die syrischen G. sich von den phrygischen kaum unterscheiden. Wie in Kleinasien fand das schreckliche Opfer beim großen Frühlingsfest statt, bei welchem, wie Lukian berichtet (de dea Syra 49–52) viele G. neben zahlreichen anderen Hierodulen fungierten. Diese Orgien wurden außerhalb des Tempels verrichtet, wo die G. nicht eintreten durften (c. 50, 27). Durch Flötenspiel, Trommelschläge und lauten Gesang berauscht und betäubt, verwundeten sie sich selbst die Arme und geißelten einander den Rücken. Viele, die nur als Zuschauer gekommen waren, überfiel die Raserei in der Weise, daß sie sich die Kleider vom Leibe rissen, unter lautem Geschrei in den Haufen der Begeisterten liefen, ein dazu bestimmtes Schwert ergriffen und sich selbst kastrierten. Dann rannten sie durch die Stadt, das abgeschnittene Glied in den Händen, und in welches Haus sie es warfen, aus dem bekamen sie einen weiblichen Anzug und Frauenschmuck (c. 51; vgl. 27). Wenn sie starben, wurden sie von ihren Genossen auf einer Bahre außerhalb der Stadt getragen, mit Steinen überworfen und dann verlassen. Die Träger wurden sieben Tage als unrein von den heiligen Handlungen fern gehalten. [680]

Überall wo im Orient die Dea Syra verehrt wurde, scheinen auch G. bei ihrem Dienst tätig gewesen zu sein. Die Sitte, sich zur Ehre von Tar'atha (Atargatis, s. o. Bd. II S. 1896) zu entmannen, wurde im Gebiet von Edessa von dem christlichen König Abgar aufgehoben (Cureton Spicil. Syriae 20, übers. 30; vgl. Euseb. praep. evang. VI 10, 44. Duval Histoire d'Edesse, 1892, 65, 78).

Zur Verbreitung des Kultes der Dea Syria haben wandernde G. beigetragen (s. o. Dea Syria Bd. IV S. 2238). Solche Bettelpriester der Göttin zogen wohl seit alter Zeit in Syrien herum: in einer merkwürdigen Inschrift aus Kefr-Hauar (Fossey Bull. hell. XXI 1907, 60) berichtet einer dieser Hierodulen, daß jede seiner Fahrten siebzig Sack eingebracht habe. Diese herumstreifenden G., die den kleinasiatischen Metragyrten sehr ähnlich sind (vgl. besonders Babrius fab. 141 Crusius und o. S. 676, 12), werden uns von Lukian (Lucius 35ff.) und von Apuleius (met. VIII 24ff.), dessen Berichte auf einen verlorenen Roman des Lucius von Patras zurückgeben, anschaulich geschildert. Ihrer Schar ging ein Trompeter voran, welcher ihre Ankunft in den Dörfern an den Meierhöfen oder auch in den Gassen der Stadt mit einem Horne ausposaunte. In phantastischem Aufzuge folgten die G., von einem Meister geführt, einen Esel in der Mitte, welcher das von einem seidenen Tuch verschleierte Bild der Göttin samt dem Bettelsacke trug. Sie waren in buntfarbige Frauengewänder gekleidet, Gesicht und Augen gleichfalls nach Frauenweise bemalt, den Kopf mit gelben leinenen oder seidenen Turbanen umwunden, und trugen ein weißes Kleid mit purpurnem Schmuck und goldgelbe Schuhe. Nachdem sie sich die Ärmel bis zur Schulter aufgestreift, ergriffen sie große Schwerter und Beile und zogen, mehr tanzend als gehend, von dem Schall eines wilden Flötenspieles erregt, einher. Beim Beginn ihrer Gaukeleien zog ein mißtönendes Geheul die Zuschauer herbei. Dann flohen sie wild durcheinander, das Haupt tief gesenkt, so daß sie das aufgelöste Haar auf dem Boden schleppten (vgl. Ovid. fast. IV 237; Ps.-Aug. quaest. vet. Test. CXIV 11: Discussis in aqua inhoneste crinibus), dann im Kreise sich schnell herumdrehend; dabei beißen sie sich zuerst in die Arme, zerschneiden sich die Zunge (Luc. 37) und verwunden sich zuletzt mit zweischneidigen Beilen (vgl. Ps.-Manetho Apotel. I 239: ἀμφιτόμοισι σιδηρείοις πελεκέσσιν). Dann beginnt eine neue Szene: Einer von ihnen, wie vom göttlichen Geist erfüllt, fängt unter Ächzen und Stöhnen zu prophezeien an – durch solche fanatische Weissagungen wurde die große Sklavenempörung vom J. 134 v. Chr. in Sizilien angestiftet (Diod. frg. XXXIV 2, 5; vgl. Flor. II 7 [III 19], s. o. Bd. IV S. 2239 und S. 678, 63). Weiter bekennt er öffentlich seine Sünden (über diese ἐξομολόγησις vgl. Cumont Religions orientales2 325, 30. 31), die er nun durch die Züchtigung des Fleisches bestrafen will, er nimmt die Astragalenpeitsche, welche die G. durchweg zu tragen pflegten (s. o. S. 679, 12), zerschlägt sich den Rücken und verwundet sich empfindungslos mit dem Schwerte, bis das Blut fließt. Dann, am Ende vom Ganzen, findet eine Kollekte statt. Einige Zuschauer werfen ihnen kleine Münzen [681] in den vorgehaltenen Schoß, andere bringen Wein, Milch, Käse, Mehl herbei, was gierig zusammengerafft und in den eigens dazu bestimmten Sack (πήρα in der Inschrift von Kefr-Hauar) neben der Göttin auf den Rücken des Esels gelegt wird. Beim nächsten Dorfe oder Weiler beginnt diese Aufführung von neuem, bis am Abend die Herberge durch Schmaus und Ausgelassenheiten aller Art für die blutigen Kasteiungen entschädigt - denn diese G. werden von Lukian und Apuleius als unverschämte cinaedi dargestellt. Daß dieser wandernde Klerus überall, selbst im Okzident, Gläubige traf, von deren Freigebigkeit er leben konnte, ist wohl durch die große Zahl der syrischen Sklaven zu erklären, die in Italien frühzeitig importiert wurden (s. o. Bd. IV S. 2239 und Relig. orient.2 157). Aber auch in den Tempeln der Dea Syra waren G. ansässig, wie eine römische Grabinschrift es beweist (CIL VI 33264[2]: Gallus Diasyriaes ab Isis et Serapis).

III. Über den Ursprung der religiösen Entmannung sind die Meinungen sehr verschieden. Man hat sie z. B. als ,die ausgesprochenste Form des Zölibats‘ betrachtet, und es soll der Gedanke maßgebend gewesen sein, daß die Priester durch eine vollkommene Keuschheit geheiligt wurden (Hepding 162), aber was wir von den Sitten dieser Hierodulen erfahren, ist schwer damit in Einklang zu bringen. Bestechender ist die Vermutung, daß durch diese blutige Kommunion der Priester der Göttin, der er diente, assimiliert wurde. ,Die Kastration ist das große Opfer, durch das die Verbindung mit der Gottheit vollzogen wird, durch sie gleicht der Mann sich dem Wesen der Göttin an, soweit es irgend möglich ist, er kleidet sich dabei fortan in Weibertracht und gibt sich der Prostitution frei‘ (Ed. Meyer Gesch. d. Altertums I2 2, 649). Aber der Umstand, daß die Verschneidung beim Frühlingsfest stattfand und daß die Geschlechtsteile begraben oder doch auf den Boden geworfen wurden, haben zu einer anderen Deutung Anlaß gegeben. Wie ähnliche Gebräuche der alten Wald- und Feldkulte, hat die Kastration des Priesters den Zweck, die Fruchtbarkeit der Mutter Erde zu sichern und die Wiedergeburt der Vegetation hervorzurufen (vgl. Frazer Adonis, Attis, Osiris 1907, 224ff.). Indessen haben wohl im Altertum mehrere Ursachen und Glauben zur Erhaltung einer aus der Urzeit stammenden barbarischen Sitte mitgewirkt. In moderner Zeit und sogar im 18. Jhdt. ist noch eine russische Sekte, die der Skopzen, entstanden, die ohne jeden geschichtlichen Zusammenhang mit den früher vorkommenden ähnlichen Fällen die Verschneidung als ein verdienstliches Werk empfohlen und ausgeübt hat (vgl. Grass Die russischen Sekten. Leipzig 1909, II 1ff.). Dagegen sind die Wirbeltänze, welche die mahomedanischen Derwische in Ekstase versetzen, eine Erbschaft des Heidentums, dessen orgiastische Riten sich durch das Mittelalter hindurch in Vorderasien erhalten haben (vgl. Maury Religions de la Grèce antique III 85ff. Gelzer Geistliches und Weltliches aus dem türkischen Orient 168ff.). Sogar die Beziehung, die diese Derwische zwischen ihrem Umherdrehen und der Bewegung der Gestirne aufstellen, findet sich schon im Altertum (vgl. Lukian. [682] de salt. 7, 8). – Marquardt St.-V. III2 368ff. Wissowa Religion der Römer 263ff. Gruppe Griech. Myth. 1539, 1542 usw. und besonders Lafaye in Daremberg-Saglio Dictionn. des Antiquités s. Gallus II 1455ff. (wo S. 1458 die ältere Literatur verzeichnet ist). Hepding Attis 1903, 129ff. 158ff.

[Cumont. ]

Anmerkungen (Wikisource)[Bearbeiten]

  1. Corpus Inscriptionum Latinarum VI, 2262.
  2. Corpus Inscriptionum Latinarum VI, 33264.