Bis zur Schwelle des Pfarramts

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Autor: Heinrich Lang
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Titel: Bis zur Schwelle des Pfarramts
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1875: 6, 7, 17, 23, 37; 1876: 6, 9, 12, 17, 19, S. 1875: 97–99, 120–122, 284–287, 386–391, 620–622; 1876: 101–104, 148–151, 198–202, 288–290, 322–326
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Erscheinungsdatum: 1875, 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bis zur Schwelle des Pfarramts.[1]
1. Im Elternhaus.

Ich könnte es heute noch zeichnen von den Kellerräumen an, in welchen der spärliche Wein für den Vater und der reichliche Most für die Kinder und Dienstboten lag, bis zum Taubenschlag, vor dessen Brettern wir Knaben stundenlang standen, um dem Treiben unserer Lieblinge durch die Ritzen und Spaltlöcher zuzuschauen, von der feuchten, lichtlosen Knechtekammer an, in welcher man nach den heutigen Begriffen von Humanität keinem Sträfling zumuthen würde, eine Nacht zuzubringen, bis zu dem lichten, aussichtreichen Studirzimmer des Vaters, in welchem wir Latein lernten – so lebhaft steht es mir nach dreißig, vierzig Jahren noch vor der Erinnerung, das alte Pfarrhaus in A., das längst vom Erdboden verschwunden ist, um einem moderneren und bequemeren Platz zu machen. Es lag so still und freundlich, so sonnig und idyllisch ein wenig abseits vom Dorfe, inmitten von Obst- und Blumengärten, nach drei Seiten offen gegen Wiesen und Felder, an deren Ende das Auge mit Behagen ausruhte auf dem nahen bewaldeten Höhenzug der schwäbischen Alb mit der weithin sichtbaren Capelle.

Das Dorf trug den einfach ländlichen Charakter einer fast ausschließlich mit Ackerbau beschäftigten Bevölkerung, erhielt aber doch einen etwas rascheren Puls durch den zahlreichen Fremdenverkehr, den es vermittelte. Zweimal am Tage hielt der Postwagen an und wechselte die Pferde. Wenn er des Nachts von der Schweiz herkam, unterließ es der Postillon selten, am Fuße der Steige, welche am Saume des Pfarrgartens vorbei auf die Höhe des Dorfes führte, sein Stücklein zu blasen, und die Töne drangen so heimelig durch die Stille der Nacht in’s Herz. Die nur eine Stunde entfernte Oberamtsstadt brachte vielfaches Leben. Alle Sonntage fuhren die „Honoratioren“ mit ihren Familien herüber, und ließen ihre Acten in der renommirten Küche „Zur Krone“ ausstäuben. Auch mochte das Bier, für welches zwei Brauereien im Orte bestanden, einen guten Ruf gehabt haben. Wenigstens konnte es der lustige und witzige Prälat Osiander nicht genug rühmen, wenn er auf seinen Kirchen- und Schulvisitationen in die Gegend kam und bei dem Vater, seinem Studiengenossen und intimen Freunde, jedes Mal für einige Tage abstieg. Es gehört zu meinen lebhaftesten Jugenderinnerungen, wie er eines Sonntag-Morgens, als eben die Glocken einläuteten und Papa schon im Kirchenrock stand, angefahren kam: „Was hast Du für einen Text? Gieb mir den Rock her! Ich will für Dich predigen.“ Er wollte nicht umsonst Professor der Eloquenz am Gymnasium in Stuttgart gewesen sein. Als er später als Visitator in die Lateinschule in S. kam, in welche ich unterdessen eingerückt war, gab er mir, weil ich mit der lateinischen Aufgabe früher fertig war, als die Andern, als Thema zu einem schriftlichen Aufsatz im Deutschen – „das Bier in A.“, worüber ich begreiflich wenig zu sagen wußte. Auch den katholischen Pfarrer des Nachbarortes sehe ich heute noch vor mir, wenn er an jenem Abend, an dem es das [98] Wetter erlaubte, in ruhigem Gange, die Zeitung im Gehen lesend, die Straße heraufkam, um sich am protestantischen Bier in ketzerischer Gesellschaft zu erlaben. Wie Viele würden das heute noch thun?

Einige Male wurden unsere kindlichen Augen in Staunen gesetzt durch seltsame, für uns unverständliche Menschen, welche das Dorf passirten: es waren Karawanen von frommen Pilgern, welche von der heiligen Dreifaltigkeitskapelle kamen. Ihre Gebete murmelnd, vom Gebet plötzlich zu Gesprächen über die gewöhnlichsten Dinge überspringend und sogleich den Gebetsfaden wieder aufnehmend an der Stelle, wo er abgebrochen worden war, so zogen sie meistens in großen Zügen, Männer und Weiber, durch das Dorf. Wir Kinder bettelten sie an um „Herrgöttli“, und mit großer Bereitwilligkeit gaben sie dem Einen ein aus Teig gebackenes Lämmlein, dem Andern einen Spruch, dem Dritten ein Kreuz, und vergnügt sprangen wir mit den Gaben nach Hause.

Ich glaube nicht, daß Jemand eine glücklichere Kindheit verlebt habe, als sie mir zu Theil geworden ist. Wenigstens liegt sie heute in meiner Erinnerung wie eine Landschaft voll Sonnenschein. Ich wollte, ich wäre ein Dichter und könnte all den Zauber in Worte fassen, der auf jenen Tagen der Vergangenheit lag, da, um mit den Worten des orientalischen Dichters zu sprechen, die Leuchte des Allmächtigen über dem väterlichen Dache stand, da die Schritte badeten in Sahne und Ströme Oeles neben mir der Fels ergoß. Ich spüre wohl einige Kügelchen von dem schweren Blute Schopenhauer's in meinen Adern, aber wenn ich mir die Freude an den Dingen, den Glauben an die Menschen, die frische Heiterkeit des Gemüthes unter allen Anfechtungen gerettet habe, so ist das zum größten Theil wohl ein Erbstück aus den Tagen der Kindheit. Auch giebt es ohne Zweifel nicht leicht eine gesundere Luft für die freie Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte, als die Luft eines protestantischen Landpfarrhauses: man wächst in den Sitten und Stimmungen der höheren Gesellschaft auf und bleibt doch der Natur so nahe, man erbt mit der Richtung des Geistes auf das Ideale den gesunden Menschenverstand und die natürliche Empfindung des schlichten Mannes.

Als ich in’s Elternhaus eintrat, waren schon drei Brüder und vier Schwestern da, der älteste Bruder war schon auf die Lateinschule fort und der zweite folgte ihm bald nach; so wuchs ich mit vier Schwestern und einem zwei Jahre älteren Bruder auf. Der Vater war eine ernste, einsame, meditirende Natur. Ursprünglich von einem nicht geringen geselligen Talent und mit einer vortrefflichen Unterhaltungsgabe ausgestattet, die er auch bei Gelegenheit noch spielen ließ, hatte er auf den drei Dorfpfarreien, die er, von geringeren zu höheren und besserbesoldeten aufsteigend, nacheinander bezogen hatte, beraubt aller geistansprechenden Gesellschaft, die Gewohnheit des einsamen, auf sich selbst gestellten Weisen angenommen. Wir sahen ihn selten anders als in Gedankenarbeit begriffen, die oft so lebhaft war, daß er die inneren Bewegungen, die Dialektik der Begriffe in seinem Geiste durch Gesticulationen der Hände und des Mundes anzeigte. Sei’s, daß er seinen täglichen Spaziergang weit über das Dorf hinaus machte oder Stunden lang im Schlafrock und mit der langen Tabakspfeife im Garten auf- und abging, oder des Abends beim Kruge Bier, den er sich regelmäßig aus dem Wirthshaus holen ließ – denn dahin ging er nur in Ausnahmefällen – am Fenster saß, wir sahen ihn fast immer lesen oder über etwas nachsinnen. Darin störte ihn auch der wildeste Kinderlärm nicht, und meistens hörte er nicht, was um ihn geredet wurde. Wenn wir Knaben, die einander immer neckten und plagten, uns etwa einmal an ihn wandten und klagten: „Der W. hat mich geschlagen, der H. hat mich ausgemacht (verhöhnt),“ da konnte er uns mit der Antwort entlassen: „Schlag Du ihn wieder, mach’ Du ihn ein!“ und man sah auf seinem Gesichte den unangenehmen Eindruck der Störung seiner Gedankenkreise.

Er hatte gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts seine theologischen Studien mit einem glänzendem Examen abgeschlossen, welches ihm die Anwartschaft auf die besten geistlichen Stellen des Landes verschaffte. Damals war Kant der König im Reiche der Geister, und auch die Theologie hatte nach einigem Widerstreben sich seinem Scepter gebeugt. Nach Kant war die Religion der Gehorsam gegen das Sittengesetz als gegen Gottes Gebot; ihr ausschließlicher Zweck war die moralische Besserung der Menschen; mit kühner Kritik hatte er in seiner „Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ Alles, was diesem moralischen Zweck nicht diente, als Afterdienst aus dem Gebiete der Religion verwiesen. Das konnte sich eine protestantische Theologie und Kirche wohl gefallen lassen, wenn nur die Welt der kirchlichen Glaubensvorstellungen in ihren wesentlichen Grundlagen nicht angetastet wurde. Das schien auch durch die Philosophie Kant’s nicht zu geschehen.

Man erschrak wohl anfangs, als er erklärte, daß es keine Erkenntniß des Uebersinnlichen gebe, weil nach der Einrichtung des menschlichen Denkvermögens nur Gegenstände der Anschauung Gegenstände der Erkenntniß werden können. Aber Kant hatte den aus dem Gebiete der Wissenschaft verbannten übersinnlichen Dingen wieder eine moralische Hinterthür geöffnet: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, hieß es, sind zwar nicht erkennbar, und wenn sich die Vernunft in diese Welt des Uebersinnlichen versteigt, so geräth sie in’s Wolkentreten und verflicht sich in unauflösliche Widersprüche. Aber diese Dinge sind doch; denn das Gewissen fordert sie, unser moralisches Bewußtsein, die Welt unserer Sittlichkeit, die uns unmittelbar gewiß ist, wird nur möglich unter Voraussetzung jener übersinnlichen Wirklichkeiten. Damit war der Religion ihre Glaubenswelt wieder geschenkt, und Theologie und Kirche schien sich auf dem so geebneten Boden wieder von Neuem anbauen zu können. Und wie gut traf es sich doch – so fuhr diese Theologie weiter fort zu schließen – wenn Gott uns über dasjenige, was der Vernunft verschlossen ist, seine Offenbarung geschenkt im alten und neuen Testamente! Und was sollte denn die Vernunft dagegen einzuwenden haben, daß Gott in einem Zeitpunkte, da die Moralität unseres Geschlechts zu tief in den Sumpf gerathen war, um sich wieder herauszuhelfen, ein Außerordentliches that und durch ein wunderbares Einwirken, wie es in der Sendung Jesu vorliegt, die Moralität wiederherstellte? Wenn sich nur nachweisen läßt, daß diese außerordentlichen Vorrichtungen dem moralischen Zwecke dienen und darum vernünftig sind! Das war freilich bei vielen dieser alt- und neutestamentlichen Wundererzählungen sehr schwer nachzuweisen, aber was vermag man nicht, wenn man will und muß! Jedoch, woher wissen wir denn, daß diese Dinge wirklich geschehen sind, daß diese Aufschlüsse wirklich von Gott kommen? Das glaubte man durch ein sehr einfaches und vernünftiges Verfahren herauszubringen. „Die Apostel sagen’s, und die Apostel waren Augenzeugen, sie konnten also die Wahrheit sagen; und sie waren rechtschaffene und redliche Menschen – diesen Eindruck erhält Jeder von ihnen – folglich wollten sie auch die Wahrheit sagen.“

Mit diesen Anschauungen und Ueberzeugungen trat der Theologe von der Universität weg freudig in den Dienst der Kirche. Denn in dem Gegenstande des Glaubens war er einig mit dem Glauben seiner Gemeinde, und er war einig mit sich selbst, denn er hatte seinen Glauben vor seiner Vernunft gerechtfertigt, und der Zweck, Tugend und Frömmigkeit unter seinen Mitmenschen zu verbreiten, war so so rein und schön. Aber siehe da! während der Pfarrer mit Freudigkeit im Frieden seiner Gemeinde wirkte, gingen in der großen Welt des Geistes die eingreifendsten Umwandlungen vor sich. Klopstock. der noch die Jugend unserer Väter genährt hatte, gerieth in Vergessenheit, und auf der von Lessing eröffneten Bahn trat eine neue Nationalliteratur mit Stürmen und Brausen auf den Plan. Hegel nahm die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts auf und zugleich in die Zucht des strengen Gedankens und verkündigte sein Reich des absoluten Geistes. Schleiermacher grub nach den verschütteten Quellen der Religion und warf die christliche Glaubenslehre in den Schmelztiegel des frommen Selbstbewußtseins, aus welchem sie bei aller schonenden Vorsicht des Meisters doch grundsätzlich umgewandelt hervorging. Strauß sprach das Geheimniß der neuen Philosophie aus und legte die evangelischen Berichte unter das Messer der Kritik.

Diese neuen Ideen gründlich aus den Quellen studiren und sich mit ihnen auseinandersetzen, das hätte geheißen, alle seine bisherigen Waffen wegwerfen und seine ganze Bildung von Neuem anfangen, aber es hätte auch geheißen: jung und frisch und freudig bleiben bis in’s Alter. Das war zu viel für einen Mann, der sich auf die praktische Wirksamkeit unter einfachen [99] Menschen angewiesen sah und in diesem Berufe sich mit einer idyllischen Behaglichkeit eingerichtet hatte, wie sehr er auch das Bedürfniß einer denkenden Verarbeitung seines Glaubens in sich trug. Wohl drang das Getöse des großen Geisterkampfes auch in die stille Studirstube des Pfarrers, aber in sehr abgeschwächten Tönen durch die theologischen Zeitschriften, welche, von den geistlichen Capiteln gehalten, von Pfarrhaus zu Pfarrhaus gingen (so Tholuck’s „Theologischer Anzeiger“, Hengstenberg’s „Evangelische Kirchenzeitung“ etc.). Aber sie gaben die neuen Ideen verzerrt, entstellt, ihres Zusammenhanges beraubt und lieferten sogleich die theologische Widerlegung gratis dazu.

Auch war im ganzen Orte und in ziemlicher Entfernung keine Seele, mit der man seine Gedanken über diese Fragen der Theologie hätte austauschen können. Doch ja, im Dorfe war ein reicher Gutsbesitzer, der viel in Theologie machte. Er gab sein Haus zum Absteigequartier für Missionäre und fromme Colporteure her. Der kam in den langen Winterabenden etwa in’s Pfarrhaus. Aber da ging es dann laut und lebhaft her, denn der Vater war ein hitziger Disputator, wenn es einmal an ihn kam. Man stritt weniger wegen des Glaubens; er befand sich nirgends im Widerspruche mit der Kirchenlehre, aber um so weiter gingen sie auseinander in der praktischen Behandlung der Religion. Denn dem Vater war der Pietismus mit Allem, was drum und dran hing, zeitlebens in innerster Seele zuwider. Dieses Verhätscheln des lieben Heilandes, dieses stets bereite Reden vom Herrn, von Gnade und Bekehrung, diese sonderliche Sprache Canaans, dieses Zusammenbeten mit frommen Weibleins, dieses säuerlich-süße Richten und Absprechen widersprach ganz der kantisch verständigen und hellen Art der Religiosität meines Vaters und den Hochmuth haßte er unter allen Lastern am meisten auf allen Gebieten, besonders aber im geistlichen.

So hatte er sich gewöhnt, soweit das Amt ihn nicht in Anspruch nahm, ganz in sich hineinzuleben, und war auf dem besten Wege zur Hypochondrie, welcher er auch im höheren Alter völlig anheimfiel. Eine ganz andere Natur war die Mutter: bei einer Gesundheit des Körpers, die Schmerz und Krankheit nicht kannten, ein Frohmuth, welcher die Dinge von der besseren Seite nahm, eine Offenheit und Aufrichtigkeit, welche das Herz stets auf der Zunge hatte, ein Vertrauen, das alle Menschen für gut und redlich ansah, ein Herz voll Wohlwollen und Güte, leutselig und freundlich gegen Jedermann. An Bildung besaß sie kaum mehr, als was die Bürgermeisterstochter eines kleinen Landstädtchens im vorigen Jahrhundert in der Schule lernte. Einen Brief schrieb sie im äußersten Nothfall; ihre Hand war nicht an die Feder gewöhnt, und über Komma und Punktum hatte sie keine besonderen Studien gemacht. Den „Schwäbischen Merkur“ las sie regelmäßig von hinten, das heißt, sie war zuerst auf die Todesnachrichten und andere Personalien aus. Aus dem Gebiete der Politik interessirte sie nur, was den König und die Königin anging; sie hatte die ganze Familientafel des angestammten Königshauses im Kopfe, und auch über die Familienverhältnisse der übrigen europäischen Höfe hätte der „Gothaische Hofkalender“ sich bei ihr Raths erholen können. Aber in den Künsten der Haushaltung wurde sie nicht leicht von Jemand übertroffen. Man mußte sie sehen, wenn sie den Teig knetete und die Brodlaibe mit der langen hölzernen Schaufel in den Ofen schob und dabei selten unterließ, für die Kinder einige „Beerten“ (Rahmkuchen, Apfelkuchen etc.) oder einen winzigen, mit einem Apfel gefüllten Brodlaib mitzubacken, oder wenn sie zur Weihnachtszeit wochenlang an den Abenden die Orangen, Citronen, Mandeln, welche von den hausirenden Tirolern in’s Haus geliefert wurden, in kleine Stücke zerschnitt, den Zucker und Zimmt im Mörser zerstieß und die Lebkuchen und „Springerlein“ bereitete, oder wenn der Herr Special und die Frau Specialin bei Gelegenheit der Kirchen- und Schulvisitation erschienen und im Pfarrhause ein Ehrenessen veranstaltet wurde – das war der Mutter Element; da gab es kein Jagen und Drängen, keinen Ausdruck des Scheltens und der Ungeduld; da floß Alles so lustig von der Hand und fand natürlich und geordnet seinen Weg. Wie einfach sonst der Haushalt war, wenn Gäste kamen, wurde Nichts gespart. Da drangen wir Knaben wie ein Schrecken in den Taubenschlag, und die Gans nahm Abschied von ihren Schwestern.

Aber auch Garten und Feld war der Mutter ebenso vertraut, wie das Haus. Den Blumengarten, der sich so melancholisch an der Kirchhofmauer hinzog, mit der traulichen, von Haselnußbäumen umschatteten Ecke, verzierte sie mit dem reichsten Sortiment von Blumen; den großen Gemüsegarten, der durch den Hofraum vom anderen getrennt war, übernahm sie mit Hülfe der Dienstboten und Kinder allein, und der stets im Studiren begriffene Papa wurde nur herbeigerufen, wenn es galt, die mit der Schnur bezeichneten Wege durch das eben gerechelte Land kräftig abzutreten. Wie aufmerksam war sie hinter den Feinden des Gartens her! Oft stand sie lange Zeit mit der scharfen aufgehobenen Hacke und paßte dem Maulwurf auf, dessen Wege sie verfolgte, bis der sichere Streich ihn erlegte. Auch durch das Dorf zu ziehen, die Haue auf der Schulter, um ihren Hanf oder ihre Rüben auf dem vor dem Dorfe gelegenen Pfarracker zu besorgen, schämte sie sich nicht; sie dünkte sich für keine Arbeit zu vornehm, und alle diese Arbeit hinderte sie nicht, ihr Haus zu einem Muster der Ordnung und Reinlichkeit zu machen.

Vor einer solchen Pfarrerin hatten die Leute Respect, und es war gewiß im ganzen Dorfe kein Mensch, der etwas Böses über sie geredet hätte. Auch der Vater war als Prediger wie als Mensch sehr beliebt. Seine Predigten waren scharf logisch eingetheilt, wenn auch nie geschrieben, doch im Kopfe bis auf’s Wort ausgearbeitet und zielten auf’s Herz und auf den Willen; das Dogma stand im Hintergrunde; voran trat das Leben und die praktische Frömmigkeit. Ein besonderes Geschick hatte er für die Gelegenheitsreden; er war ein milder und billiger Beurtheiler der Menschen und der menschlichen Dinge. Lob, Tadel oder Mahnung wußte er so tactvoll einzuflechten, daß sie niemals verletzten. Am Menschen schätzte man neben dem Ernst des strengen und festen Charakters insbesondere, daß er keine Unterschiede machte. Er behandelte alle Menschen gleich und stellte sich ihnen gleich. Ich hörte ihn aussprechen, daß er die Zeit zu erleben wünschte, da alle Menschen einander mit „Du“ anredeten, und die Tiroler rühmte er gerne, weil sie selbst ihren Kaiser duzen. Es war etwas in ihm von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution, der er einst, als sie noch reiner gewesen war, mit Klopstock zugejauchzt hatte. Obwohl ihm der Weg offen stand, würde er nie eine Stelle in der Stadt angenommen haben. Die Vornehmheit und der Zwang der städtischen Verhältnisse widersprachen seiner republikanischen Einfachheit und Ungenirtheit.

Unter solchen Eltern ließ sich gut leben. Auch war die Erziehung die vortrefflichste von der Welt, wenigstens für gutgeartete Kinder. Man ließ uns wachsen wie die jungen Bäume, denen man etwa Pfähle giebt, damit sie gerade bleiben, und die üppigen Schosse abschneidet, damit sie fruchtbarer werden, an denen man aber nicht immer herummacht. Man modelte und dressirte uns nicht; man moralisirte nicht viel an uns hin. Man ließ uns springen wie die Füllen und gab der Individualität den freiesten Spielraum zu eigener Entfaltung unter Menschen, in Feld und Garten und Wald. Körperlicher Züchtigung enthielte sich der Vater grundsätzlich; von dem mahnenden Worte eindringender Herzlichkeit erwartete er Alles, und oft ist mir im späteren Leben seine ruhige Stimme wie ein sokratisches Dämonium auf meinem Wege an’s Ohr gedrungen, als eine Art Gehörsvision. Die Mutter dagegen, die keine Philosophin war, aber eine praktische Frau, besann sich nicht lange, dem jugendlichen Sünder – am häufigsten freilich, wenn er bei Regenwetter durch’s ganze Dorf gestampft war und Abends mit über und über bespritzten Kleidern nach Hause kam, was seine Lust war – mit der kräftigen Hand einige Merkzeichen zu geben. Auch das war gut. Sie vergaß den Apfel nicht neben der Ruthe. Es war schnell vorbei, wie die Regenwolke, und die Güte leuchtete wieder auf ihrem Gesicht. Wenn man den rechten Ton traf, konnte man sie, wie man sagt, um den Finger wickeln. Wenn sie unzufrieden war, suchte ich sie durch allerhand drollige Reden und kindliche Späße zum Lachen zu bringen und bat: „Mueter, mueß sie net bäus si“ (Mutter, sie muß nicht böse sein). Darauf brach sie hundert und hundertmal halb lachend, halb wehmüthig in den Ausruf aus: „Bübli, Bübli, wenn Du nur im Himmel wärest. Wie wird Dein Zünglein so froh sein, wenn Du schläfst!“

[120] Von drückenden Sorgen sahen wir nichts. Fast Alles, was man zum Leben brauchte, producirte man selber. Milch und Butter gaben die Kühe, welche das reichliche Heu der Pfarrwiesen ernährte, das Fleisch die Schweine, die man mit den Abfällen fütterte. Die Frucht lieferte die Zehntscheuer, den Hanf für die Winterarbeit der Mutter und Schwestern der Acker. Die Gemüse reichten Feld und Garten, und das Ei legten die Hühner und Enten, die im großen Hofraum und an den Halden ringsum sich ungehindert herumtrieben. Man lebte einfach und ländlich, aber man hatte genug. Am Morgen war die gewöhnliche Nahrung der Haferbrei, über welchen die Mutter das Sprüchlein führte: „Hafermus giebt starken Fuß“. Er kam in der rußigen, dreifüßigen Pfanne auf den Tisch, und Kinder, Knecht und Magd langten mit dem Löffel hinein – Teller brauchte man nicht; als der Jüngste hatte ich das Recht, auf dem Tische unmittelbar an der Pfanne zu sitzen, und ich gebrauchte dieses Vorrecht, um jedesmal das Fett, das sich in den Vertiefungen sammelte, vorwegzunehmen, wofür ich freilich von den Neidischen dann und wann Eins auf die Finger bekam. Neben der Hafermuspfanne stand ein hölzerner Teller mit rohem, ungekochtem Sauerkraute, unmittelbar aus der Stande; auf einige Löffel Haferbrei kam immer eine Gabel Sauerkraut. In den strengsten Arbeitszeiten nahmen Knecht und Magd außerdem jedes noch einen Hafen voll saurer (gestandener, geronnener) Milch.

Was sagt ihr, meine Leser und Leserinnen, zu diesem gesunden Volksmagen? Der Abend versammelte Alle wieder um die Schüssel voll süßer Milch mit dampfenden Kartoffeln, und Alle tauchten wieder mit dem Löffel in die Schüssel – so demokratisch war man noch. Fleisch und Wein bekamen wir Kinder nur wenig und zur Seltenheit. Der Kaffee war noch ganz unvolksthümlich. Nur da und dort hatte eine reiche Bauernfrau angefangen, im Kämmerlein abseits von der Welt an der duftenden Schale zu nippen, wie an einer seltenen, verbotenen Frucht. Unsere Eltern tranken ihn Morgens, und der Papa nahm einen ganzen Krug voll mit in die Studirstube, um daran bis zum Mittagsessen zu nippen. Es währte nicht lange, so wurde der Kaffee erst zur Wohlthat des Sonntags; dann, zehn Jahre später, trank ihn die ganze Familie bis zur Magd herunter täglich zweimal, und Niemand im Volke wollte das braune Getränk mehr entbehren. Mit der Unwiderstehlichkeit der Idee hatte die Culturbohne sich den Weg gebahnt.

Bei dieser Lebensweise gab es natürlich nicht viele Krankheiten, die fingirten ausgenommen, so das gewöhnliche Montagskopfweh, wenn ich den Sonntag über, der mir nicht zur Plage gemacht schien, vergessen hatte, die Bibelsprüche auswendig zu lernen, welche am Montag abgehört wurden, bis der Vater endlich die List merkte und den Patienten zur Arbeit trieb. – Auch war kein Arzt im Orte, wenn man nicht etwa ein autodidaktisches Genie von einem Barbier und Chirurgen so nennen wollte. Als ich mich einmal gelegt hatte und dem Vater der Zustand für seine gewohnten Hausmittel zu bedenklich schien, holte er den befreundeten Arzt aus der Stadt. Der kam, untersuchte mit Wichtigkeit Puls und Zunge und sprach von einigen Tränklein, die wohl helfen würden. Aber kaum war er aus der Kammer getreten und in der Wohnstube im lebhaftem Gespräche begriffen, so fing ich im Bette an hellauf zu pfeifen, worauf er – wenn er vernünftig war, ich weiß es nicht mehr genau – von jeder Medicin abstrahirte.

Aber nun laßt uns einmal aus dem Hause hinaustreten und sehen, was ein Dorfleben einem munteren Knaben in Sommer und Winter an Lust und Freude bringt. Da war der große Obstgarten mit Pflaumen und Zwetschen, mit Aepfeln und Birnen, mit Johannis- und Stachelbeeren; das war für uns Knaben das Paradies. Da bauten wir in der Sommerhitze die Laubhütten, unter denen wir im Schatten ruhten; da kletterten wir wie die Eichhörnchen auf die Bäume; da sammelten wir das zu früh gefallene Obst und legten davon im Heu eine „Munklete“ an, deren Geheimniß vor jedem fremden Auge sorgfältig gewahrt wurde.

In einer Nacht hatte es gestürmt und geregnet, und in unserer Phantasie ward jeder Windstoß zur Feenhand, welche die Aepfel schüttelte. Des Morgens höre ich, wie der Bruder in seinem Bettchen unter der Decke die Strümpfe sachte anzieht, um mir zuvorzukommen; ich, in einem Satze zum Bette hinaus, renne, wie ich bin, im bloßen Nachthemdchen durch Kammer und Wohnzimmer, wo die erstaunten Eltern und Geschwister sitzen, die Treppe hinab; der Bruder rennt hinter mir drein, und keine Drohung der Mutter mit geballter Faust zum Fenster heraus schreckte uns, das gefallene Obst aus dem nassen Grase aufzulesen.

Da waren die Freuden der Heuernte. Welche Lust für uns, in der thauigen Frühe aus den Schwaden, welche die Mähder von Morgens drei Uhr an gelegt hatten, die Kümmelstengel herauszulesen und den Kümmel der Dote (Taufpathin) nach S. zu schicken, wofür sie Jedem von uns einen Sechser (sechs Kreuzer) zurückgab, oder gegen Abend, Zügel und Peitsche in der Hand, – denn der treue Fuchs ließ sich von Kinderhand leiten – hinauszufahren und auf dem duftenden Heu heimzukehren!

Ja, dich kann ich nicht ohne Rührung nennen, treuer Fuchs, edles Thier. Als es eines Morgens hieß, du seiest todt, da stand die ganze Familie trauernd im Hofe und Keines war, das sich nicht die Thränen abwischte. Welche Dienste hast du uns erwiesen! Wie geduldig botest du dem Knaben deinen Rücken, wenn er dich in die große Schwemme unten am Pfarrgarten führte und das Wasser immer höher und höher stieg, daß er die Beinchen oben auf dir zusammenzog, bis du wieder schwer athmend zurückschwammest! Wie sicher trabtest du mit der altmodischen Pfarrkutsche dahin – „das Wort Gottes vom Lande“ pflegten wir Studenten später solche Möbel zu nennen, wenn sie in die Stadt hineinfuhren –, wie sicher trabtest du dahin, wenn der Vater etwa am Sonntag Nachmittag ausfuhr in die Stadt oder in ein benachbartes Pfarrhaus, oder wenn er auf vier bis fünf Stunden Weges den Sohn, der von der lateinischen Schule oder von der Universität in die Ferien kam, abholte, und gewöhnlich uns Buben, oft von der Straße weg, aufpackte und mitnahm! Wie kräftig zogest du den schwerbeladenen Wagen die stundenlange Steige hinaus in das hohe ferne Dorf, wo eine sehr primitive Anstalt zum Mosten war, wo wir Kinder unterdessen im Hause des Vetter Pfarrers uns tummeln durften! So fromm warst du uns Allen – so lieb, daß der Vater dir keinen Nachfolger gab. Wer hätte nach dir so treu gedient?

Oft ging ich mit den Knechten und Tagelöhnern dieses oder jenes Bauern schon am frühesten Morgen auf’s Feld und lebte den Tag über von rohem Speck und Schwarzbrod. Da machte es mir jedesmal besondere Freude, wenn ich den Kirchhof passirt hatte und den Eltern aus den Augen war, Strümpfe und Schuhe abzulegen und barfuß, wie die meisten Dorfkinder, durch’s Dorf zu gehen und den Staub der Straße aufzuwirbeln. Unvergeßlich sind mir besonders die Tage geblieben, die ich mit dem Gänsehirten auf dem Anger zubrachte. Wenn er in sein Horn stieß und die Gänseschaar aus den Bauernhöfen sammelte, das war Wonne für mein Ohr. Dann schloß ich mich an, blieb ein oder das andere Mal den ganzen Tag bei ihm, und redlich theilte er mit mir die Krumen harten schwarzen Brodes, welche die Bauern ihm, dem armen elternlosen Knaben, mitgegeben hatten. Da hüteten wir zusammen die Herde, damit keines sich in unerlaubtes Land verirre, da warfen wir uns in den Fluß, wenn die Sonne zu heiß drückte, und badeten und schwammen nach Herzenslust; da schmückten wir den Hut mit den Gänsefedern, die freiwillig ausfielen, oder zerrten auch der einen oder anderen besonders kräftig befiederten eine Schreibfeder gewaltsam aus, wenn sie in ein verbotenes Gehege gerathen war und wir sie fangen konnten.

Was da von Poesie und Naturstimmung unbewußt in die Seele fällt! Einmal ging ich über Feld – ich mochte sieben ober acht Jahre alt sein – die Lerchen trillerten in der Luft über die weite Ebene hin; die Kleefelder dufteten, und die Fruchthalme trieben [121] in die Höhe. Da fiel es wie ein unendliches, namenloses Sehnen über mich; ich wußte nicht, was es war, aber ich weinte und weinte, bis ich den Acker erreichte, auf dem die Knechte und Mägde rüstig schafften, und bei den kräftigen Bauernpferden meinen Weltschmerz vergaß.

Eine besonders ergiebige Quelle für solche Naturstimmungen war das Flüßchen, das an der südöstlichen Seite des Dorfes, oft unter Weidenbüschen versteckt, so sanft dahin murmelte. Da saßen wir stundenlang und angelten. Oder am Sonntag Nachmittag zog die Bubenschaar, größere und kleinere, hinaus an eine besonders geeignete und tiefere Badestelle. Da führten wir unsere ersten Religionskriege. Oft war der Platz bereits von den Knaben des katholischen Nachbarortes besetzt; er wurde, nachdem wir unterwegs unseren Muth auf alle Weise entflammt hatten, mit Sturm genommen. Am glänzendsten war der Feldzug, wenn der ältere Bruder Theodor, groß und muthig, wie er war, in den Ferien bei uns war und mit unserem „Mohr“, einem kühnen Stauferhunde, der ganzen Schaar voranging. Ich sehe noch den geschlagenen Feind in ungeordnetem Rückzug den Hügel entlang ziehen.

Wenn dann die Nebel des Herbstes in’s Land fielen, dann ging’s hinaus auf den Kartoffelacker draußen am Saume des Waldes; da machten wir das Feuer an und unterhielten es mit den Stauden der Frucht und brieten die mehligen Dinger. Und der Winter erst, wenn in dem etwas rauhen Klima Eis und Schnee das Land fast die Hälfte des Jahres bedeckte! Der erste Schnee im Jahre – welch ein Fest der Jugend! Man steht am Fenster in der traulichen Stube und schaut unverwandt nach den ersehnten Flöckchen, die erst so schüchtern und spärlich und zögernd kommen, als wollten sie den unsicheren Grund erst einmal untersuchen. Es wird Nichts werden, o! man möchte den Wolkenflor bespötteln. Aber schon kommen sie dichter und dichter – schon neigen sich die Aeste der Bäume. Du freust Dich umsonst; der Schnee ist zu saftig – er wird nicht halten. Doch schon ist der Boden bedeckt, wohin das Auge sieht. Schon sind die Steine unter der weißen Decke verschwunden. Jetzt den Schlitten aus der dunklen Kammer geholt und hinaus auf alle Hügel und Halden! Ja, kaum waren wir dem Mutterarme entwachsen, so regierten wir den Schlitten, wie der Reiter sein Pferd. Wenn dann der Thauwind wieder kam und die Eisdecke löste, dann ging es mit kühnem Wagniß auf die abgesprengten Eistafeln hinaus; von der einen Tafel, die unter dem Fuße sank, setzte man auf die andere und so fort über das ganze Eisfeld hin auf und ab. Eines Tages hatte mir die älteste Schwester, welche in Abwesenheit der Eltern das häusliche Scepter führte, dieses Vergnügen untersagt, als nur für ältere Knaben ungefährlich. Aber ich widerstand dem Reize nicht, und richtig, ich gleite aus und falle in das tiefe Wasser; es gelingt mir, mich so lange an einer Eistafel zu halten, bis einige Knaben sie mit einer Stange an’s Ufer getrieben haben. Pudelnaß renne ich heim, und die strenge Schwester, weit entfernt, über die Rettung des Bruders Thränen der Rührung zu vergießen, statuirt vor ihren auf Besuch anwesenden Freundinnen aus dem Dorfe ein empfindliches Strafexempel an dem verwegenen Jungen.

Hatten wir uns dann den Tag über müde gerannt, dann ruhte sich’s so süß am langen Abende auf dem großen, strapazenreichen Familiensopha. Unter beständigem Kampfe der gegen einander gekehrten Füße, den nur hier und da ein kräftiges Scheltwort der Mutter unterbrach, lagen wir Knaben da und lauschten dem Familiengespräche. Mutter und Schwestern spannen, und das Rädchen surrte unter dem Fuße der ältesten Schwester, und die Spindeln der Anderen, die vor ihrer Kunkel saßen, tanzten so melodisch auf dem Boden.

Neben den Freuden auf Eis und Schnee bestand mein Hauptwintervergnügen im Vogelfange. Henricus auceps (Heinrich den Finkler, dem großen Kaiser aus dem sächsischen Hause nach) nannte mich darum später mein Praeceptor (Lehrer an der Lateinschule). Da war das Haus des guten Provisors, in welchem ich wie daheim war, der Liebling der alten zahnlosen Provisorin, die immer ein Zückerlein oder ein Brätlein[2] für mich parat hielt, und der ständige Gesellschafter des lahmen Sohnes, dem ich seine Pfeife stopfte und anzündete und die traurigen Stunden seines freudlosen Lebens erheiterte. Der Wand entlang in der Wohnstube war ein großer Vogelkäfig mit vielen Abtheilungen. Sobald der erste Schnee fiel, ging es da an ein Hämmern und Zimmern und die Meisenschläge wanderten auf die Bäume im Garten neben dem Hause. Täglich, stündlich wurde nachgeschaut. War einmal der Deckel gefallen, dann ging’s mit pochendem Herzen den Baum hinauf. Man sieht durch die Spalten des Schlages: es regt sich Etwas; es ist etwas Schwarzes darin. Ist’s eine Blaumeise? eine Spiegel- oder Kohlmeise? Schnell den Schlag losgelöst, am Taschentuche hinuntergelassen und in’s Zimmer getragen. Wie seltsam that der Vogel, wenn er sich aus dem finsteren Behälter in den hellen geräumigen Käfig versetzt sah! Aber es war ein Käfig; er hatte seine Freiheit verloren. Wild und ruhelos rannte er, wie ein Verzweifelnder, im Kerker auf und ab und pickte nur mit Verdruß und unter stummen Vorwürfen den Samen, der ihn verleitet hatte, bis das stürmische Freiheitsfeuer sich allmählich dämpfte und der Flug in’s Freie, wenn der Frühling wieder kam, fast zögernd und zaghaft unternommen wurde.

Einmal ist mir etwas Schreckliches passirt: gegen das Ende des Winters hatte ich auch auf einem hohen Birnbaume im Pfarrgarten noch einen Schlag gerichtet, wohin ich sonst nie einen gestellt hatte. Der Schnee schmolz, und die Erde grünte; es fiel mir nicht ein, daß in solcher Zeit noch ein Vögelein sich würde fangen lassen. Wie zufällig komme ich einmal hin. Der Schlag ist gefallen – ein Vögelein ist darin, aber wehe! todt und ausgestreckt. Es war mir wie ein Stich in’s Herz, daß ich das arme Thier so traurigem Tode preisgegeben.

Daß ich doch unter den Winterfreuden den Samiklaus (Sanctus Nicolaus) und den Weihnachtsbaum nicht vergesse! Wie bebte dem Kinde das Herz, wie angstvoll schlugen die Pulse, wenn um die ahnungsvolle Weihnachts- und Neujahrszeit nach all’ den abergläubigen, furchterregenden Erzählungen, welche ihm in’s Herz geträufelt worden waren (zwar nicht im Elternhause), der Klaus nächtlicher Weile die Treppe heraufpolterte, im Gange einen wüsten Lärm machte, hereintrat, das Kind, das sich verkrochen hatte, aufsuchte, um dann beim Weggehen das geängstete durch eine Hand voll Nüsse, die er in die Stube warf, zu trösten! Neben diesen aufregenden Erinnerungen an das alte alemannische Heidenthum wirkte der Christabend so wohlthuend und freundlich. Das war wohl einer der glücklichsten Griffe, welchen die christliche Kirche that, als sie das Heidenthum aus unseren Ländern verdrängt hatte, daß sie in die Zeit der römischen Saturnalien und der germanischen Weihenächte, in welchen die Göttin der Huld mit ihren Gespielinnen über die Fluren ging, um die Samenkörner des Frühlings auszustreuen, ihr Christfest verlegte mit der Losung: „Die Nacht ist vergangen; der Tag ist gekommen; wandelt ehrbar als am Tage!“ Selbst wenn der christliche Festkalender einmal gänzlich sollte vergessen sein, würde doch der Weihnachtsbaum nicht untergehen mit dem hoffnungsreichen Grün in kalter Winterzeit, mit seinen schimmernden Lichtern in dunkler Nacht. Nichts bildet die jugendliche Phantasie und Nichts nährt das Gemüth an seinen verborgenen Wurzeln, wie diese Feier. Nachdem wir wochenlang theils die offenen Vorbereitungen vor uns gesehen, theils an manchen seltsamen Zeichen Geheimnisse geahnt hatten, schickte man uns am Tage des heiligen Abends gleich nach Tische in’s Nachbarhaus, wo wir ungeduldig harrten, bis die Magd mit der Laterne kam und uns holte. Noch ein Viertelstündchen Geduld im Vorzimmer, und auf ging die Thür, und alle die Herrlichkeit stand vor uns, bescheiden zwar, aber dem durch künstliche Genüsse nicht verwöhnten Gemüthe wie ein Königreich. Wer dieses Glück einmal getroffen hat, der mag es nicht mehr missen, so alt er wird.

Das sind einige Erinnerungen aus der Jugendzeit. War das nicht ein herrlicher Tag voll Sonnenschein? Aber, so fragt vielleicht ein Neidischer, habt Ihr denn Nichts lernen müssen, Ihr Glücklichen? Wohl, wir hatten auch Schule, aber es war – soll ich sagen ein Spaß oder eine schnell vergessene Pein? Die circa zweihundert Kinder des Dorfes waren in zwei großen Zimmern zusammengepfercht, die Jüngeren unter dem alten gutmüthigen Provisor, der zugleich des Vaters Küster war, die älteren unter dem strengeren Schulmeister. Das waren zwei Bürger der Gemeinde, die in ihrer Jugend lesen, schreiben und [122] rechnen gelernt hatten; von einer besonderen Ausbildung für den Lehrerberuf war keine Rede. Da wurde Alles rein mechanisch angelernt; warum man ein Wort so schreibe, ein anderes so, warum man z. B. beim Addiren eine Zahl unter den Strich setze und die andere zur folgenden Reihe hinübernehme, das erfuhr man nie.

Im achten Jahre nahm mich der Vater zu sich auf die Studirstube mit dem Bruder, der schon ein Jahr vorher aus der Schule genommen war, um mit uns Latein zu treiben; auch ein Kaufmannssohn aus dem Dorfe nahm Theil. Wir lernten brav, aber es gab doch zu viele Abhaltungen und Störungen. Am Montag Morgen kam die Dorfpolizei mit der stehenden Redensart: „Guten Morgen, Herr Pfarrer. Ich habe Ihnen zu vermelden, daß ich Nichts zu vermelden habe,“ der Mann meinte besonders Uebertretungen des Sonntagsgebots, „haben Sie sonst Nichts zu vermelden?“ Da kam wieder ein Bäuerlein, das marktete um den Zehenten, aus welchem zum Theil die Pfarrerbesoldung bestand, und erklärte, daß die Ernte weit unter der amtlichen Abschätzung ausgefallen sei.

Ein anderes Mal war eine Beerdigung oder eine Hochzeit, und der Vater mußte zur Kirche. Kaum war er zur Thür hinaus, so ging es an einen Hosenlupf, und gewöhnlich unterlag der geistig und körperlich etwas langsamere ältere Bruder der Schnelligkeit und List des Jüngeren. In anderer Weise standen sich Esau und Jacob gegenüber. Auch war der Vater viel zu gut für solche Wildfänge. Man sagt, daß die Väter gewöhnlich schlechte Lehrer seien. Wenn die brüderlichen Füße unter dem Tische hinter einander geriethen, oder wenn ich das Tintenfaß des Bruders, während er emsig schrieb, auf den Kopf stellte, daß er sich die Feder beim nächsten Versuch des Eintunkens zerstieß, dann erhob der Vater den Kopf einen Augenblick von seiner Lectüre und sprach mit wehmüthigem Ton: „Buben, Buben!“ anstatt den stets keinnützigen Jüngeren, wie er’s verdiente, einmal kräftig durchzuwichsen.

Als ich meinen neunten Geburtstag feierte, erschrak der Vater; er hatte gemeint, ich zähle erst acht Jahre. Wie hätte er Zeit gehabt, das Alter seiner Kinder auszurechnen? Jetzt hieß es aber: schnell mit ihm fort in die lateinische Schule! Denn das Landexamen, das schon die dreizehnjährigen Bürschchen in die Residenzstadt rief, war eine Macht, mit der sich nicht spaßen ließ. Daß ich nämlich Theologie studiren müsse, das verstand sich aus mehr als einem Grunde von selbst. Denn erstens waren der Vater, der Großvater, der, damals nahe den Achtzigen, eine Stadtpfarrei verwaltete, der Urgroßvater und so weiter rückwärts, Pfarrer gewesen, und Alle hatten diesem Berufe bei wenig äußerlichem Glanze mit innerer Befriedigung gelebt. Für’s andere erwuchsen auf diesem Studienwege Vortheile, deren kein anderer Berufszweig sich zu rühmen hatte; das ganze Studium ging vom vierzehnten bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahre auf Kosten des Staates, Dank dem frommen Herzog Christoph, der zur Reformationszeit einen Theil des eingezogenen Klostervermögens auf diese Weise für das Reich Gottes wieder fruchtbar gemacht hatte. Aber außerdem – hatte ich denn nicht schon von Kindheit auf gepredigt? Als kleiner Knabe hatte ich den nächsten besten Fußschemel oder Stuhl zur Kanzel gemacht und über meinen Lieblingstext gesprochen: „schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern!“ Hatte denn nicht meine liebste Freundin, die alte Provisorin, hundert Mal gesagt: „Heinrich, ich will’s noch erleben, daß er Pfarrer in Sch. wird“? Und hatte nicht die Frau Decanin von F., als ich einmal vor einer großen Tischgesellschaft so unerschrocken mein Thema abgehandelt hatte, mir als Zeichen ihrer Anerkennung ein kostbares Kinderspiel verehrt?

Bei allem Drang in die Fremde und allem Frohmuth meiner Natur fiel mir doch der Abschied schwer. Als ich am letzten Sonntag, den ich im Dorfe zubrachte, noch einmal im Hause des Provisors war und die Nachbarn, die in behaglicher Sonntagsruhe dort zusammen saßen, über die alltäglichsten Dinge sprachen, wie sonst, konnte ich das nicht begreifen und wurde ihnen recht böse. Sollte es denn nicht Allen zu Herzen gehen, daß ich morgen fort müsse? Am Montag Morgen, noch bei Licht, rief mich der Vater in sein Studirzimmer, sprach ernste und liebevolle Abschiedsworte, drückte mir dann zwei Gebete in die Hand, eines für den Morgen und eines für den Abend, die er ausdrücklich für mich niedergeschrieben hatte, und sagte: „Bet’ und arbeit’ fleißig!“

Auf den Marktkisten eines befreundeten Kaufmanns, der nach der Stadt zur Messe fuhr, legten wir, mein Bruder und ich, die erste Strecke unseres Weges zurück und waren nach sechs oder sieben Stunden am Orte unserer Bestimmung.

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2. Zu der Lateinschule.

So war er denn eingefangen, der Wildfang in Thal und Höhen. Statt der weiten und freien Ebene des langgestreckten Dorfes umfing ihn die Enge der Stadt, gewiß für den Reisenden von heute, den der Schnellzug von Schaffhausen nach Stuttgart hindurchführt, romantisch genug mit ihrem Neckar, der sie in zwei Theile theilt, mit ihrer Burgruine, mit ihrem „gähnenden Stein“, mit ihren waldbewachsenen Höhen, aber für den, der hier weilen muß, doch im Grunde ein Loch, nach allen Seiten mit Hügeln verbaut, und drückend für die weite Brust eines freiheitslustigen Knaben. Und erst das Schulhaus, in welchem ich mich mit zwanzig bis dreißig Zöglingen des Präceptors einlogirt fand! Ein altes, unwohnliches, dunkles Haus, zwischen die Kirche und den jähansteigenden Berg eingeklemmt. Im unteren Stock nebst einem kleinen Anbau beschäftigte sich die gesammte deutsche Jugend vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr in drei Schulzimmern; von Realschulen, von Gewerbeschulen, von Arbeitsschulen für die weibliche Jugend und Aehnlichem hatte man damals noch keine Ahnung in einer Stadt, welche den Sitz für Oberamt und Oberamtsgericht hergab. Die Töchter hielt man damals noch für weise und klug genug, wenn sie in der biblischen Geschichte beschlagen waren und lesen, schreiben, rechnen gelernt hatten.

Wer von den Knaben noch Etwas hinzulernen wollte, den gab man in die Lateinschule, für welche im zweiten Stock gesorgt war, heute in ihren engen Räumen kaum genügend für die Ansprüche einer anständigen Familie, damals zugleich die Wohnung für die Präceptoratsfamilie und ihre circa dreißig Alumnen, und der Schulraum für siebenzig bis achtzig Lateiner. Welcher Geist in diesen Schulzimmern herrschte, das zeigte dem Eintretenden sofort eine weitleuchtende, an der Wand mit großen Buchstaben angebrachte Inschrift: „ut mit dem Indicativ kostet sechs Tatzen“. Das hieß zum Voraus: 1) Hier gilt um Latein mit dem Anhang von Griechisch und Hebräisch für diejenigen, die sich für eine wissenschaftliche Laufbahn vorbereiten wollten), 2) das Latein muß mit allen Mitteln eingebläut werden, und Haselstöcke wachsen genug an den gebüschreichen Halden. Wohl trieb man neben den alten Sprachen auch Anderes, wie Arithmetik, Geographie, Geschichte, Botanik, Französisch, aber dafür waren verhältnißmäßig nur wenige Stunden angesetzt, und es waren nicht die Fächer, die der Lehrer mit Lust und Verständniß betrieb, und endlich, was die Hauptsache war, man legte keinen Werth darauf; man taxirte keinen Schüler nach dem, was er in diesen Nebenfächern leistete. Das Proloco (für den Platz) war das allein Entscheidende; so nannte man das Stück, das wöchentlich aus dem Deutschen in's Lateinische übersetzt wurde. Nach einiger Zeit wurde die Zahl der Fehler, die Jeder in diesen Uebungen gemacht hatte, zusammengezählt und danach der Platz in der Classe bestimmt. Mochte Einer in allen anderen Gebieten noch so unwissend sein, hatte er nur die wenigsten Fehler im Proloco, so war er der Primus in der Classe, zu dem alle Anderen mit Neid und Respect aufschauten.

Diesem Schulideal entsprach vollkommen der Schulmonarch. Der Mensch ging auf im Schulmann und der Schulmann im Lateiner und Griechen, wie er denn seinen deutschen Namen gern mit dem entsprechenden griechischen Ophthalmos vertauschte. Er hatte nur zwei Leidenschaften: Liebe zu seinem Fach und Ehrgeiz, den Ehrgeiz, seiner Schule den Ruhm der besten im Lande zu erwerben und es dahin zu bringen, daß Alle, die von da aus in das Landexamen einträten, darin glänzten. Beseelt von diesem Ziele, verzichtete er so zu sagen auf jeden Lebensgenuß und that weit mehr, als gefordert wurde. Im Sommer stand er schon Morgens um sechs Uhr im Feuer mit Denjenigen, die er auf höhere Schulen vorbereitete, dann kamen vier Stunden – unter Beihülfe eines Collaborators – mit allen Classen, Abends nach Schluß der obligatorischen Stunden wieder Privatstunde mit denselben Vorgerückten, in den Winterabenden Aufsicht über die Privatarbeiten seiner Hauszöglinge, Uebertragung von Goethe’s Hermann und Dorothea in lateinische Hexameter mit einigen Auserwählten, Vorlesung des Märchens vom Rübezahl oder des Robinson Crusoe nach Campe u. A. Kurzum kein Genuß, keine Ruhe, keine Erholung für sich; sogar die Ferien opferte er, wenn das Landexamen vor der Thür stand, und behielt die Schüler zurück, um sie täglich zu unterrichten. Und das Alles bei einer kärglichen, wahrhaft knauserigen Staatsbesoldung, die ihn nöthigte, sich mit seiner Familie auf ein Wohn- und Schlafzimmer einzuschränken. O! es giebt Märtyrer, deren Namen nicht glänzen auf den Tafeln der Weltgeschichte, die ihr Herzblut tropfenweise vergießen im Dienste der Gesellschaft.

Wenn ich mir dieses Heldenthum der Arbeit und Entsagung vergegenwärtige, dann bin ich geneigt, manche Mängel, die freilich schroff genug hervortraten, milde zu beurtheilen. Wie hätte unter dieser einseitigen Schulpedanterie, bei dieser ausschließlichen Einschränkung auf eine enge Sphäre die Ausbildung des Humanen nicht leiden sollen! Zartfühlend gegen die Jugend, rücksichtsvoll gegen die Individualität war unser Lehrer nicht; er betrachtete die Jugend ausschließlich als plebs discens. Eine böse Anspielung auf Familienverhältnisse, ein wehethuender Witz auf die Körperbeschaffenheit und Aehnliches machte ihm nichts aus. Wir fürchteten ihn mehr, als wir ihn liebten. Er konnte gut und vertraulich sein, wenn er bei Laune war, aber wehe uns, wenn er den schlimmen Tag hatte! Wir merkten’s von Weitem, wie es im Capitole aussah. Kam er in Pantoffeln und Schlafrock und mit der Pfeife in die Schule, dann war das Wetter gut, aber hatte er seinen blauen Rock, die gewichsten Stiefeln und die weiße Halsbinde an, dann erbleichten beim Aufgehen der Schulthür alle Gesichter und Jeder fragte im Stillen den Nachbar: „Bin ich’s?“ Einmal, am Tage des Proloco, trat er mit der Erklärung in die Schule, daß heute jeder Fehler eine Tatze koste. Man beruhigte sich wegen der baaren Unmöglichkeit, da immer Solche waren, die ihre zwanzig bis dreißig Schnitzer oder mehr machten. Aber richtig! er hielt Wort und zwei Schüler erhielten bis auf dreißig Tatzen, und zwar, wie er es gewohnt war, mit aller Kraft des Körpers aufgemessen, so daß Hände und Finger hoch aufschwollen und eine Woche lang zur Arbeit untüchtig waren. Für ein fühlendes Herz war die Luft an jenem Morgen wie am jüngsten Tage. Aber auch in gewöhnlichen Zeiten tanzte der Stock nicht übel, und wenn Etwas die traurigen Scenen erheiterte, so war es die Beobachtung der verschiedenen Geberden, mit welchen das Strafexempel hingenommen wurde, Geberden, in welchen sich die künftigen Charaktere zum Voraus abspiegelten. Der Eine trat demüthig und schmerzvoll hin; der Zweite nahm’s stolz und kalt, ohne eine Miene zu verziehen; der Dritte krümmte bei jedem Schlage den ganzen Körper wie ein Wurm und rieb jedesmal die Hand auf dem Knie, ehe er sie dem neuen Schlage darbot; der Vierte endlich erhob schon beim Ausholen des Armes ein weibisches Geschrei und variirte bei jedem Niederfalle der Ruthe die Töne wieder in anderer Weise. Das war possirlich anzusehen, und Mancher verdiente seine Tracht redlich. Denn da die lateinische Schule noch die einzige war, in welcher man über die Anfangsgründe der Bildung hinaus Etwas lernen konnte, so drängte sich Crethi und Plethi zu derselben, und es war schwer, an Cicero vorbeizukommen, wenn man Stadtrath oder Kaufmann werden wollte.

Das war die Welt, in welche ich jetzt nach den seligen [285] Tagen einer freien und freudigen Kindheit eintrat! Das war die Luft, die ich fünf Jahre hindurch einathmen sollte. Zwar traf ich’s verhältnißmäßig noch glücklich. Die Frau Präeceptorin, welche die Launen des Mannes durch tröstlichen Zuspruch an das Herz der Zöglinge gut machte und oft stundenlang bei den Schwächeren saß, um ihnen die Aufgaben einzuprägen und abzuhören, war meine nahe Anverwandte und „Dote“ (Taufpathin), die sich ihres kleinen verschüchterten Pathen in herzlicher Liebe annahm. Auch stand der ältere Bruder Theodor noch ein halbes Jahr neben mir als Trost und Stütze, ehe er in das „Kloster“ abging, und mit dem andern Bruder, der mit mir das elterliche Haus verlassen hatte, knüpfte die Fremde das in der Heimath so oft zerrissene Band geschwisterlicher Liebe so rasch und so innig, daß nie mehr ein Wort des Zankes fiel. Aber was hilft dem gefangenen Vogel die milde Hand, die ihm das Futter vorlegt? In den ersten Nächten konnt’ ich nicht schlafen; der ungewohnte Viertelstundenschlag der nahen Kirchenuhr hatte in der Stille der Nacht etwas so Schauriges und Peinigendes. Am ersten Schultage stürmte in der Pause Alles hinaus auf den Turnplatz und tummelte fröhlich durcheinander; aber die Glocke erschallte[WS 1] und Alle stürzen den Hügel hinunter zur Schule zurück. Ich allein bleibe stehen; ich kann nicht zurück; ich weine bitterlich; es ist mir, als wär’ ich von Vater und Mutter und aller Welt verlassen; ein nagendes Heimweh legt sich auf das unerfahrene Herz. Endlich wird der Bruder herausgeschickt und führt den Widerstrebenden in die Schule, wo er von dem Gelächter der Schüler empfangen wird, und der Präceptor sagt: „Wart’, Junge, ich will Dir das Gasthütchen abziehen! Setz’ Dich und zeig’, was Du gelernt hast!“

Jetzt war ich geheilt und – umgewandelt. Der kecke, fröhliche Knabe, dem das Fabuliren und Necken eine Lust gewesen war, ist von jener Stunde an zum stillen, eingezogenen, fleißigen, braven Bürschchen geworden, das sich vom Muthwillen der Jugend abschloß und auf dem besten Wege war, ein gelehrtes Haus zu werden, wovor ihn doch später der Himmel gnädig bewahrt hat. Das Schulideal ergriff ich mit Leidenschaft und studirte über Hals und Kopf. Da ich das Deutsche nicht nach der Schriftsprache, sondern nach dem Laut des Volksmundes schrieb, also „Vatter, Mueter etc.“, so nahm ich Privatunterricht bei einem Volksschullehrer, der auch die Sache so lichtvoll und rationell, den Zögling mit so viel Milde und Trost behandelte, daß ich nach einem Vierteljahre der Orthographie völlig Meister war und nicht leicht noch einen Fehler machte. Im Lateinischen konnte ich nothdürftig mit den Anderen fortschreiten, die ich nach einiger Zeit überflügelte. Denn bald trieb ich die Sprache nicht mehr schulmäßig, sondern auf eigene Faust. Wenn die Schulpensen fertig waren, suchte ich eine Ecke und las den alten Broeder, der damals schon abgeschätzt und durch modernere, handlichere Schulbücher ersetzt war. Aber meinem Eifer war er eben recht – so breit und ausführlich, jede Regel mit ihren Ausnahmen erläutert, durch viele Beispiele anschaulich gemacht und bewahrt und als Krone des Ganzen die lateinischen Erzählungen unterhaltenden und belehrenden Inhalts. Das verschlang ich alles mit Heißhunger und war der Tagesaufgabe der Schule immer weit voraus.

Da kann ich doch eine kleine Schultragödie, die mir begegnete, nicht unerwähnt lassen. Eines Tages, als wieder die Rangplätze bestimmt wurden, übersprang ich eine Classe, und wurde vom Primus einer unteren der Primus einer oberen. Der bisherige Inhaber dieses Platzes geräth in Aufregung und Bestürzung. Mit allem Recht. Er war ein höchst talentvoller Knabe, der einzige Sohn eines Landpfarrers, äußerlich etwas linkisch und unordentlich, aber innerlich um so tiefer angelegt. Eben war ein deutscher Aufsatz über den Nutzen und Schaden der Winde aus seiner Feder als eine wahre Musterarbeit der ganzen Schule vorgelesen worden; im Rechnen, in Geschichte und Geographie, in der Naturkunde etc. war ich ein wahrer Ignorant gegen ihn. Aber ich schrieb ein besseres und fehlerfreieres Latein. Das entschied. „Noch ist nicht aller Tage Abend,“ rief er in höchster Erregung am Abendessen über den Tisch zu mir herüber. Siehe da, schon auf der Schulbank im Kleinen den Kampf zwischen Humanismus und Realismus, zwischen dem Bildungsideal einer untergehenden und einer heraufdämmernden Zeit, der eben damals die literarische Welt bewegte und in heftigen Schriften und Gegenschriften geführt wurde. Noch unterlag der Realist, diesmal leider zugleich in einem schmerzlichen Sinne des Wortes. Kaum hatte er sein stolzes: „noch ist nicht aller Tage Abend“ gerufen, so mußte er sich zu Bette legen – an den Masern, und nach zehn Tagen war er todt. Der herbeigeeilte Vater erdrückte mich in der Umarmung fast vor Weinen und Schluchzen, und der Gang zu dem Grabe des Feindes, den ich liebte und verehrte, erschütterte mir Gemüth und Körper so heftig, daß ich selber die Masern auf meinem Leibe zurücktrug. „Ferien, Ferien!“ hallte es am andern Tage durch die Gänge und Zimmer, denn der Arzt hatte Schluß der Schulen befohlen. Jubelnd hatten wir die Tornister gepackt und standen reisefertig; ich eile noch in die Familienstube des Präceptors, um Abschied zu nehmen; der anwesende Arzt schaut mich bedeutsam an: „Halt einmal, Du kleiner Nestvogel,“ entblößt mir die Brust und sagt: „Geh’ sogleich zu Bett! Du hast die Masern.“ Dieser Sturz von der hellsten Freude in den tiefsten Jammer! Die Andern zogen singend über die Berge; ich mußte in der dunkeln Stube liegen; nach dem traurigen Ausgang des ersten Falles und bei der in jener Zeit noch üblichen Behandlungsart der Krankheit behütet, wie wenn ich von Glas wäre, und noch wochenlang nach der Genesung abgesperrt gegen jedes Lüftchen. Doch milderte mir die treue Schwester, die zur Pflege herbeigeeilt war, die einsamen Stunden.

Der Humanist war gerettet – zu neuem Eifer in seinen Studien. Bald begnügte er sich nicht mehr mit Grammatik und Schulbuch, er wollte die Classiker an der Quelle kennen lernen. An Sommertagen lag er am Hügel unter dem Baume oder im Waldesschatten und las nacheinander Cicero „Ueber die Freundschaft“, „Ueber das Alter“ und den „Traum des Scipio“. Wie schlich sich der Zauber dieser Sprache in das Ohr! Ihre Geheimnisse zu belauschen, diese Wendungen nachzuahmen, diese Satzbildung sich anzueignen, diese Ausdrücke dem Gedächtniß einzuprägen, um sie bei Gelegenheit zu verwenden und ein ciceronisches Latein zu schreiben – denn außer diesem wurde kein anderes als berechtigt anerkannt – das war das einzige Interesse, mit welchem er an diese Schriften herantrat. Natürlich wurde auch der Inhalt gelegentlich mitgenommen und regte das Urtheil an und bereicherte mannigfaltig den Geist. Besonders fiel es mir auf, daß dieser Erzheide Cicero in den wichtigsten Dingen schon ganz dachte, wie die Christen. Wenn man einige polytheistische Klänge wegstreicht, könnte den Traum Scipio’s eben so gut ein Christ des zweiten Jahrhunderts geschrieben haben. Da erscheint die Welt als ein Jammerthal, aus welchem der Fromme sich hinaussehnt, der Leib als ein Kerker, in welchem die Seele nach Erlösung seufzt, und der Himmel als ein Ort der Vergeltung und der ungetrübten Seligkeit mit allem Zubehör des Wiedersehens wird ganz mit den Farben der christlichen Literatur geschildert. Kein Wunder, daß ich später zu den Aussagen der Theologie über die gänzliche Finsterniß der Vernunft und das sittliche Unvermögen der menschlichen Natur außerhalb des christlichen Erlösungsgebietes bedenklich und ungläubig den Kopf schüttelte!

Was den Inhalt betrifft, sprach freilich Livius, dessen römische Geschichte das Schulbuch in einem vortreffliche Auszuge brachte, den jugendlichen Geist weit mehr an, als der docirende und breitmoralisirende Cicero. Was waren das für plastische Gestalten! Diese Gallier in Rom, welche die ehrwürdigen Senatoren auf ihren curulischen Sitzen so höhnisch und frech am Barte zupfen! Dieser Hannibal, getragen von Sieg zu Sieg, voll Haß gegen Rom, das wir mit ihm haßten, dem wir jede Demüthigung schon damals von Herzen gönnten! Dann Scipio und Hannibal vor der Schlacht bei Zama einander gegenüber, in jenen Rhetorstücken und Glanzreden, in welchen sich das Alterthum gefiel, die Situation zeichnend, ehe die blutigen Würfel fielen! Alle diese echt dramatischen Gestalten, fast ohne Schwierigkeit in der Ursprache gelesen und in schönes, fließendes Deutsch übersetzt – denn das Letztere verlangte der Lehrer streng, und reichte, wenn wir aus eigenem Fleiße fertig waren, die treffliche Uebersetzung des Livius von Heusinger – was war das für eine Wonne! Wie viel Geistes- und Gemüthsbildung brachten diese Studien neben der Weckung des Sprach- und Formensinnes!

Unsere Zeit verträgt das einseitige Bildungsideal jener Zeit [286] nicht mehr, aber einen großen Vortheil hatte es entschieden: es verzettelte den jugendlichen Geist nicht in dem Nebeneinander von so vielen und disparaten Dingen, wie es heute betrieben wird. Die Stoffe waren einfacher und gleichartiger; sie ließen dem Geiste die Fähigkeit sich zu concentriren, und beförderten dadurch auch die Bildung des Charakters. Und ich habe immer gefunden: wer die classischen Studien gründlich getrieben hat, so daß sie nicht blos zum schulmäßigen Nothwerk, sondern zur Lust des eigenen, freudigen Schaffens geworden sind, der eignet sich später mit Leichtigkeit von den realen Wissenschaften dasjenige an, was zur Bildung nothwendig ist.

Mit demselben Eifer, wenn auch nicht mit demselben Erfolge – denn das Latein blieb immer die Krone – ergriff ich im zehnten Lebensjahre das Griechische und im zwölften das Hebräische. Das Griechische mit dem üppigen Reichthume seiner Formen machte mehr Schwierigkeit, als die knappe Feldherrnsprache Roms. Aber vollends diese Zeichen und Hauche und verwickelten Accente alle, mit denen die Worte belastet werden, meistens willkürliche Erfindungen eines späten Schriftgelehrtenthums, sind doch eine schwere und, wie mir scheint, unnöthige Plage des Lernenden. Es muß mir schwer eingegangen sein. Wenigstens sind Alpha, Beta, Gamma, Delta (die Anfangsbuchstaben des griechischen Alphabets), vom Haselstocke auf die Finger aufgezählt, die einzige Strafe, deren ich mich aus den fünf Jahren erinnern kann, während ich manches Gröschleins gedenke, das der Lehrer zum Lohne für eine gelungene Arbeit aus dem Beutel nahm, mit der Weisung, mir etwas Gutes zu gönnen. Von griechischen Schriftstellern wurden besonders Isokrates und Lucian mit Vorliebe getrieben. Im Hebräischen lasen wir die leichteren geschichtlichen Partien aus dem alten Testament und übersetzten wöchentlich ein deutsches Stück in die Sprache des Morgenlandes. Die Meisten von denjenigen, welche heute den gleichen Bildungsweg betreten, werden sich wundern, wie weit die Jugend jener Zeit auf der Stufe des unteren Gymnasiums geführt worden ist. Aber wir waren selbst schon Kinder einer sinkenden Periode. Wenn ich die Hefte meines ältesten Bruders, der zwölf Jahre früher auf denselben Bänken gesessen hatte, durchsah, war ich beschämt, die aufgegebenen Stylübungen von einer freiwilligen Zugabe griechischer Distichen begleitet zu sehen, während ich es nur noch zu lateinischen Versen brachte.

Daß bei dieser Lernweise für Erholung und Vergnügungen wenig abfiel, ist selbstverständlich. Auch die zweimaligen kurzen Ferien benutzte ich meist zum Studiren. Die früheren Freuden in Feld und Wiese, im Walde und am Bache hatten um so weniger Reiz für mich, als der Vater seitdem in eine andere Gemeinde übergesiedelt war, in welcher ich die Menschen nicht kannte. Ich durchstöberte immer von Neuem Papas freilich ganz veraltete Bibliothek, aus der ich doch immer wieder Etwas aufspürte, was meine Neugierde reizte. Zum Glück hatten sich auch Schiller’s „Räuber“ in dieselbe verirrt. Das verschlang ich und declamirte daraus im Kämmerlein, wie auf dem freien Felde. Aber das Sentimentale darin ergriff mich mehr, als das Starke, ich schluchzte mit Amalie und seufzte mit Karl.

Ein wahres Fest dagegen war alljährlich der „Maitag“, der die ganze Jugend der Stadt, die sonst so schroff geschiedene deutsche und lateinische, zu Einer erquickenden Feier vereinigte. Den Arm mit Bändern geschmückt, grünes Reis auf dem Hute, sammelte man sich um zehn Uhr erst in der Kirche, wo der zweite Geistliche ein Jubelwort zum Herzen sprach, dann ging’s hinaus in den Wald, der durch eine große Lichtung und angebrachte Rasenplätze ein für alle Mal für diesen Zweck hergerichtet war. Unter den Bäumen waren Tische und Bänke aufgeschlagen. Hier ließen sich die Familien nieder und reichten den Kindern die nöthigen Erquickungen. Man tanzte und spielte nach freier Gruppirung; da war kein ewiges Commandiren und Abzirkeln, wie ich es später bei Jugendfesten gesehen habe, die für Lehrer und Anordner, wie für die Jugend mehr eine Anstrengung und Arbeit, als Lust und Jubel waren. Wenn dann der Höhepunkt des Festes kam und der würdige Decan auf den erhöhten Rasenplatz trat, um die Prämien auszutheilen an Diejenigen, welche sich in den verschiedenen Classen das Jahr durch ausgezeichnet hatten, da schwieg Alles und lauschte dem Worte, und die Gekrönten zogen triumphirend zu den Ihrigen. Am Abende ging man zur Stadt zurück, wieder ohne Commando und Tactstock, in frei gebildeten Gruppen, wann und wie es einer jeden beliebte.

Ein wahres Labsal war es für mich, dann und wann an Feiertagen oder wenn zwei Festtage zusammenkamen, die Großeltern (mütterlicherseits) in R. besuchen zu dürfen. Da konnte man doch wieder einmal aufathmen. Das Landstädtchen lag so romantisch da auf einer Hochebene und gewährte eine weite Fernsicht, aus welcher das Stammschloß der preußischen Fürsten, der Hohenzollern, deutlich hervortrat. Freilich war der Weg nach R. jedesmal beängstigend. Es ging viel durch Wald und an einsam stehenden Hütten vorbei. Ich hielt mir das alte „Cantavit vacuus coram latrone viator“[3] vor und versuchte es auch etwa mit einem kleinlauten Summen und Piepen vor mich hin; aber wenn der Hauptwald kam, half dieser heidnische Trost nicht mehr. Ich wandte mich zum Christengott und betete so anhaltend und inbrünstig, als ich konnte, und versprach ihm allerlei Schönes, wenn er mich unversehrt bis an das Ende des Waldes brächte. Solch ein Hasenfuß war ich doch früher nicht gewesen. Das machte die Gelehrsamkeit, das Hocken hinter den Büchern. Die Bildung verweichlicht, was schon der römische Dichter gewußt hat?[4]

Aber wie bald waren die Schreckgestalten der Phantasie, die feurigen Augen hinter jedem Busche, die bärtigen Räubergestalten vergessen, wenn ich nun bei den Großeltern saß in dem reinlichen Stübchen des obersten Stockes, den sie sich für ihr Alter vorbehielten, als der Sohn, der weitgereiste und gewandte Gastwirth, mein Onkel, den Gasthof übernahm. Es waren herzgute Alte: der „Aehni“ mit gemessenem würdevollem Schritte, der den einstigen Stadtrath verrieth im Sammetwams, mit kurzen Beinkleidern, die unter dem Knie gebunden waren, mit langen Strümpfen und silbernen Schnallen auf den Schuhen. Die „Ahne“ sehe ich noch, wie sie in der Morgenhaube am geöffneten Fenster saß und wohl eine halbe Stunde ihr Gebet aus dem abgegriffenen Büchlein mit großem Drucke hersagte. Einmal waren wir auch bei ihr auf Besuch, des Präceptors Buben und ich; wir waren Morgens im Bette schon früh munter und begannen unseren Tag mit Singen und Pfeifen; das störte sie in ihrer Andacht. Sie rief zur Thür herein: „Ihr … (hier gebrauchte sie einen der saftigsten Volksausdrücke, mit dem ich das zartere Ohr der heutigen Leserinnen verschonen muß), Ihr … was pfeift Ihr schon? Habt Ihr auch schon gebetet?“

Bald hernach starb sie. Ich durfte nicht mit ihrem Sarge gehen, der Stundenplan verbot es damals. Aber eine Woche später oder zwei durfte ich gehen; ich weinte viel auf dem Wege und meinte, die ganze Natur müsse mit mir trauern. Als ich mit überlaufenden Augen in die Stube trat, grüßte mich der Onkel in seiner barschen, kurzangebundenen Manier, als wäre nichts geschehen, und weinte nicht. Das war mir unbegreiflich, und als er vollends für ein Brod, das der Großvater für mich bestellte, von diesem das Geld annahm, da war ich untröstlich vor Schmerz. Ach! das empfindsame Herz kannte den Lauf der Welt noch nicht.

In demselben Städtchen wohnte auch eine verheirathete Tante, die Schwester meiner Mutter, mit ihrem einzigen Töchterlein, das ein oder zwei Jahre älter war, als ich. Aber das Haus blieb mir fremd, ich weiß nicht warum. Die Tante, die ich erst später in ihrer ganzen Vortrefflichkeit kennen lernte, hatte etwas Herbes in ihrem Tone, und ich fürchtete sie als ein böses Weib. Anders war’s freilich mit dem Bäschen, mit dem „Lisle“. Ich schmachtete nach einem Blicke aus den dunkeln Augen; ich bewarb mich auf alle Weise um ihre Gunst; ich hätte gerne so Etwas wie Romantik einer Jugendliebe angesponnen. Aber diese Augen leuchteten nur Verstand und Muthwillen, und von Empfindsamkeit hatte dieses frische Naturkind keine Spur. Was half da dem Lateiner sein Cicero!

Die Schulzeit neigte ihrem Ende zu. Zwei wichtige Dinge erwarteten mich an ihrem Schlusse: die Confirmation und das Landexamen. Die Confirmation fällt in lutherischen Landen in’s vierzehnte Altersjahr; ich hatte erst dreizehn vorüber. So wie sie gewöhnlich gehalten wird, ist es gut, daß sie so frühe fällt, in ein Alter, in welchem von selbstständiger religiöser Erfahrung und eigenem Nachdenken kaum bei Einigen die Rede [287] sein kann. Denn dieses kirchliche Bekenntniß vom Falle Adam’s an bis zum Amte der Schlüssel, das die Macht haben soll, Sünden zu vergeben und zu behalten, und dieses Gelübde, dem Teufel und allen seinen Werken zu entsagen, dürfte man sechszehn- oder siebenzehnjährigen Jünglingen und Jungfrauen – in dieses Lebensalter fällt die Confirmation in Ländern reformirten Bekenntnisses – sich kaum mehr erlauben abzunehmen.

Den zweijährigen Unterricht erhielt ich mit etwa hundert Knaben und Mädchen, die im gleichen Schulzimmer zusammengedrängt waren, von dem rechtgläubigen – das versteht sich im Schwabenlande von selbst – aber milden, gemüthsreichen und humanen Decan der Stadt. Man befand sich freilich im Allgemeinen im Dunstkreis der Orthodoxie, aber ihre Spitzen und Kanten verbargen sich in einem leichten Nebel. Der Unterricht war vorherrschend gemüthlich und erbaulich, die Ansprache an’s Herz, an den Willen die Hauptsache, unterstützt von schönen Erzählungen aus dem Lebensgange hervorragender Männer und Frauen. Die Confirmationshandlung selber wollte der Vater an mir vollziehen. Denn die Confirmation ist, wie die Taufe, zugleich ein Familienfest. Leider brachte nur ich selbst kein festliches Gefühl in mir zuwege. Ich war gar nicht zur Andacht zu stimmen. Am Morgen des Festtages stieß man mich in ein Zimmer und gab mir Gebetbuch und Gesangbuch in die Hand; da sollt’ ich lesen und beten. Aber es wollte nicht gehen; Augen und Gedanken schweiften über die grünende Landschaft. Als die Glocken erschallten, ging ich, den entlehnten Cylinder, der auf den Kopf nicht paßte, in der Hand, in die Kirche und reihte mich in die Schaar der nahezu zweihundert Söhne und Töchter, von denen ich Niemand kannte. Das Hersagen des Confirmandenbüchleins, das sehr geschickt und populär die ganze Kirchenlehre in Frage und Antwort gestellt hat, wobei auf ein jedes Kind die ihm vorher bestimmte, in Schlaf und Wachen, unter Angst und Zagen oft repetirte Antwort fiel, dann das Vortreten an den Altar, das Knieen auf der untersten Stufe, der Denkspruch und der Segen, hundertsiebenzig Mal wiederholt – das Alles war nicht geeignet, das Herz fromm zu stimmen. Aber als vollends die Reihe an mich kam und der Vater mir den Denkspruch aus 1. Timoth. 6, 20: gab: „Meide das Gezänke der falschberühmten Kunst“ etc., da war ich im tiefsten Herzen beleidigt. Wodurch hatte ich mir denn diese Warnung vor der Philosophie zugezogen? Am andern Tage reiste ich wieder zur Schule, zu Fuß einen Weg von sieben bis acht Stunden. Hier war mein Damaskus; hier vollzog Gott selbst in der Einsamkeit die Confirmation an mir. Ein ganzer Himmel von seligen und niederbeugenden Gefühlen drang auf mich ein. Lust und Weh wogte in der Brust auf und ab; ich betete und weinte im Gehen. Die Welt lag so groß und weit vor mir. Baum und Feld vernahmen die heiligsten Schwüre und die heißesten Gelübde.

Die Confirmation war vorüber. Noch ein halbes Jahr, und das Landexamen stand vor der Thür. Landexamen, du Donnerwort, in wie viele Schulen und Familien hast du alljährlich Hoffnung und Furcht, Glück und Schrecken gebracht! Landexamen? Aber wurde denn das ganze Land examinirt? Nein! nur die Nasiräer, die von Kindheit an für das Reich Gottes im Dienste der Kirche bestimmt waren. Aber bei der hohen Stellung, welche einst die Kirche einnahm, war dies eine wichtige Staatsaction, die wohl verdiente, daß sich die Aufmerksamkeit des ganzen Landes darauf richtete, während von einem Jünglinge, der sich auf die Medicin oder die Jurisprudenz oder auf die Naturwissenschaft vorbereitete, natürlich kein Mensch sprach und keine Zeitung berichtete. Und weil, die befähigt erfunden wurden, ihre Studien unentgeltlich auf Kosten des Staates vollenden konnten, drängten sich alljährlich Hunderte aus allen Landestheilen herbei, und in den Schulen schaffte es, und in den Pfarrhäusern zumal und in vielen andern Familien betete es auf dieses wichtige Ereigniß hin. Und damit der Stoff recht tüchtig gerathe, mußte er früher eine dreimalige, zu meiner Zeit nur noch eine zweimalige Durchsiebung passiren; der entscheidenden Prüfung, die in’s vierzehnte Lebensjahr fiel, gingen Vorprüfungen im zwölften und im dreizehnten Jahre voran. Da kamen sie denn im Omnibus und in Landkutschen von allen Farben in die Residenz angefahren, die hoffnungsvollen Adepten der Gottesgelehrsamkeit mit ihren Lehrmeistern, und die Jungen der Hauptstadt riefen den Ankömmlingen ihr höhnendes: cujas es? cujas es? (woher bist Du?) entgegen. Da war ein Gerusel und Gedränge im Gasthofe zum Hirschen, der als das privilegirte Hôtel der Landgeistlichkeit galt. Das war ein Händeschütteln und Grüßen der alten Studienfreunde, die einander ihre Söhne vorstellten und ihre Lebensgeschichte erzählten, nachdem sie sich seit den Universitätsjahren nicht mehr gesehen. Dann ging’s in die Prüfungssäle; die Prüfungen waren mündlich und schriftlich; die biblische Geschichte und die Sprachen bildeten die Hauptgegenstände. Draußen auf den Corridoren warteten die Väter und Präceptoren. Kam der Junge nach Ablieferung seiner Arbeit heraus, so stürzten sie auf sein Concept los und verschlangen’s mit ihren Augen, ob er’s recht gemacht habe.

Da ist mir beim ersten Landexamen etwas Schlimmes passirt. „Ich weiß nicht, wie es kommt, aber die Erfahrung bestätigt es, daß …“, so begann das Stück, das uns zum Uebersetzen in’s Lateinische vorgelegt worden war. Lange hatte ich geschwankt, ob ich das „daß“ abhängig machen sollte von dem Satze: „Ich weiß nicht, wie es kommt,“ oder von dem andern: „Die Erfahrung bestätigt es;“ endlich entscheide ich mich für das Erste, betrachte das Zweite nur als Parenthese und setze ut.

„Um Gotteswillen, was hast Du gethan?“ rief der Präceptor, nachdem er mir beim ersten Heraustreten das Blatt aus der Hand gerissen und den Blick auf den ersten Satz geworfen hatte. „Ut nach einem Verbum sentiendi und declarandi? Man möchte aus der Haut fahren!“

All’ mein Erklären und Entschuldigen half Nichts; er kratzte im Haar; er stampfte mit dem Fuße und beruhigte sich erst, als er das Uebrige fehlerfrei und in gutem ciceronischem Latein fand.

So Etwas durfte zum zweiten Male nicht vorkommen. Darum wurde darauf los geschafft, auch die dreiwöchentlichen Sommerferien wurden geopfert und Roth’s lateinische Stylübungen bis zu Ende durchgepaukt. Die Scheidestunde kam – ich sollte mit dem Vater in R. zusammenstoßen und mit ihm nach Stuttgart gehen. – Der Präceptor, der diesmal nicht mitging, las mir vor der ganzen Schule im Stolz auf seine Leistungen die Noten herunter, die ich im Examen erhalten würde (Latein: recht gut, Griechisch: gut bis recht gut, Hebräisch: gut bis recht gut), dann begleitete er mich beim Abschied. Als ich die Thränen aus den Augen gewischt hatte und von der Höhe des Hügels den letzten Blick auf die Stadt da drunten warf, in der ich fünf Jahre zugebracht hatte, war mein Herz voll Dankes; denn es war doch trotz Allem schön gewesen.

[386]
3. Im Kloster.

Geeigneter für Solche, welche fernab von dem Getriebe der Welt lernen sollten, den Blick auf’s Ewige zu richten und das Innenleben des Geistes vor Allem zu pflegen, konnte kaum ein Ort gefunden werden, als das am Nordende des Schwabenlandes gelegene Kloster Schönthal, in welches Mitte October 1840 wieder sechsundvierzig Rekruten der protestantischen Theologie „eingeliefert“ wurden. Ueberaus lieblich und reizend ist das enge Thal mit seiner munteren, eben dort an Krümmungen reichen Jaxt, die sich bald durch Wiesen biegt, bald an steilen Felsabhängen bricht, mit seinen sanften, abwechselnd von Reben und Buchenwäldern umsäumten Hügeln, mit seinem Berlichingen und Jaxthausen, Dorf und Schloß, das noch Götzen’s eiserne Hand und die Waffenrüstung seiner Gesellen zeigt. Aber einsam war es dort, schrecklich einsam. Nur einmal in vier Jahren regte sich’s von Leben, wenn wieder eine neue Promotion einrückte und der Höhenzug der fränkischen Terrasse von Heilbronn her mit Kutschen und Wagen bedeckt war, in welchen die Väter aus allen Theilen des Landes die Söhne einlieferten. Selten verirrte sich sonst ein Wanderer oder Reisewagen in diese abseits gelegene Idylle. Unsern Verkehr mit der hinter uns liegenden Welt vermittelte ein Bote, der gewöhnlich zweimal in der Woche, am Mittwoch und Samstag, nach dem sieben Stunden entfernten Heilbronn fuhr und uns von da die ersehnten Briefe und andere Sendungen der lieben Eltern brachte. Wie horchte man auf den Zehen, wenn an solchen Abenden die Namen ausgerufen wurden, für welche ein Brief oder ein Paket aus der süßen Heimath angelangt war! Wie zerriß man fast den dicken Boten – den wir wegen seines wälzenden Ganges Wargel nannten – wenn die Zeit da war, da man die von sorgsamer Mutterhand gefüllten Weihnachtskisten erwartete!

Das Kloster stand einsam in einer Einbiegung des Hügels, von welchem die Schatten des Buchenwaldes auf seine Ostseite fielen – ein stattlicher Bau, würdig der alten reichsfreien Benedictinerabtei, welche über vierzehn Dörfer beherrscht hatte, an die schöne, imposante Kirche angebaut, von einer hohen Ringmauer umschlossen und im Halbkreise von einem Dutzend Wohnungen umgeben, die einst ohne Zweifel von Klosterleuten bewohnt waren. Und es sah auch Alles noch klösterlich aus. Die alten Vögel waren längst aus dem Neste gestoßen, aber Alles erinnerte noch an sie: wenn man durch das hohe, von schlanken Säulen getragene Portal eingetreten war, der Kreuzgang, der zur Kirche führte, mit den Leichensteinen von Aebten und Rittern; der dunkle Speisesaal zur Seite; der stille geräumige Garten, in welchem wohl mancher Thomas a Kempis vom Fasten und Beten und Psalmiren sich erholt hatte; über allen Thüren die Inschriften in lateinischen Distichen, die oft boshaft genug lauteten, schlechte Witze über Arius, den Erzketzer und andere Feinde der Kirche; das Dorment (der lange Gang den alten Zellen entlang) mit der Glocke, die bald zu den Studien, bald zum Beten, bald zum Essen läutete.

Auch, was die Strenge der Lebensordnung betrifft, hatte das alte, einst dem „geistlichen Leben“ geweihte Haus über das neue Geschlecht jugendlicher protestantischer Ketzer nicht zu klagen. Die Klosterregel war streng genug und – sie wurde gehalten. Die Ordnung des Tages war diese: Um fünf ein halb Uhr im Winter, um fünf Uhr im Sommer läutete die Glocke zum Aufstehen, eine Viertelstunde darauf zum Gebet, Preciren genannt, wobei ein Choral mit Clavierbegleitung gesungen, ein Gebet aus Knapp’s Liederschatz gesprochen, ein Abschnitt aus der Bibel gelesen wurde (wir lasen so in vier Jahren die ganze Bibel, nur mit Auslassung weniger, vom leitenden Professor angezeichneten Abschnitte, zweimal durch). Nach der Morgenandacht hatten wir Zeit zu Privatarbeit, welche der je über zwei Zimmer gesetzte Studienaufseher, Repetent genannt, überwachte. Um sieben Uhr Collegien, vier Stunden des Vormittags, meistens durch eine Turnstunde unterbrochen. Nachmittags von zwei Uhr an noch einmal zwei Unterrichtsstunden, dann wieder Privatstudien unter Aufsicht bis zum Nachtessen; um neun Uhr Abendandacht, wie Morgens. Um zehn Uhr mußten die Lichter gelöscht und Alles im Bette sein. Der Sonntag war soweit milder, daß sich die Zahl der Unterrichtsstunden auf zwei beschränkte, eine Religionsstunde nach dem öffentlichen Gottesdienste Vormittags, und eine Stunde für Lesen und Declamiren deutscher Gedichte Nachmittags; dafür war aber die Privatarbeitszeit um so ausgedehnter.

Für „Freiheit und Zeitvertreib an schönen Sommerfeiertagen“ blieb dieser Jugend wenig Gelegenheit. Die einzige Zeit, welche das ganze Jahr über zum Spazieren im Freien gewährt wurde, war die Stunde von ein bis zwei Uhr; dazu kamen im Sommer an den Abenden anderthalb Stunden bis neun Uhr, auch in den heißesten Tagen eine besondere Badestunde. Sonn- und Feiertage machten davon keine Ausnahme. Die Spaziergänge bewegten sich daher immer im gleichen, engen Kreise. Weit über eine halbe Stunde durfte man sich nicht hinauswagen. Landschaft und Menschen blieben uns fast unbekannt. Was wir davon kennen lernten, verdankten wir den eintägigen oder halbtägigen Ausflügen, welche wir, nachdem wir sie oft mühsam genug der Strenge des Vorstehers, Ephorus genannt, abgerungen hatten, unter der Aufsicht der Repetenten nach Künzelsau, Wimpfen, Mergentheim etc. unternahmen.

Ueppigkeit und sinnliche Genüsse verdarben unsere Jugendzeit nicht. Tabak und Wirthshaus war streng untersagt, dem Achtzehnjährigen später so unerbittlich wie früher dem Vierzehnjährigen, und der Famulus durchstreifte argwöhnisch die Gegend, zu suchen, wen er verschlinge. Der Klostertisch kannte weder Weine noch Forellen. Morgens eine Wassersuppe, Mittags Suppe, Fleisch und Gemüse, Abends meistens noch etwas Fleisch, auch Brod im Ueberflusse, wovon wir in theuren Zeiten freiwillig die Hälfte an die Armen der Umgegend vertheilten. Die Küche war durchschnittlich schlecht, denn die Speisemeister sorgten in allen diesen Anstalten für ihren Sack, aber dennoch blieb man gesund und gedieh. Am Ausgang der Klosterpforte saß Sommer und Winter die alte Obstfrau von Berlichingen und bot uns Etwas zum Nachtisch an; man nahm schon aus Mitleid und Freundschaft, soweit die zwei Gulden Taschengeld reichten, welche der Staat neben freier Kost, Logis und Unterricht jedem Zöglinge monatlich ausbezahlte als Entschädigung für den Wein, der in der ursprünglichen Seminarordnung vorgesehen war, aber nicht gereicht wurde.

Das war ein Leben in spartanischer Strenge und Einfachheit. Unsere Promotion galt als eine mittelgut begabte – und die Folgezeit hat dieses Urtheil der Lehrer bestätigt – aber sie hatte das Lob der tugendhaftesten, die je ein Seminar passirt hatte. Ich weiß Keinen, der in den vier Jahren das Verbot des Rauchens oder Wirthshausbesuches übertreten hätte. Wir hatten keine Wilhelm Zimmermann, Friedrich Vischer, David Strauß, Paul Pfizer, wie jene Promotion von Blaubeuren, von welcher Strauß in seinem „Christian Märklin, ein Lebens- und Charakterbild aus der Gegenwart“ ein so anziehendes Bild entworfen hat, aber „das himmlische Behagen“ schallte auch nicht, und wohl eben darum nicht, aus Wein- und Bierkellern, wie dort; freilich hätte bei uns auch kein Lehrer das Auge zugedrückt [387] oder die Ohren zugehalten. Der Carcer schaute in den vier Jahren traurig d’rein. Doch einmal öffnete er sein Thor, aber man höre, wegen welches Vergehens! Der Verwandte eines Zöglings kommt auf Besuch und erhält die Erlaubniß, ihn mit in das Wirthshaus zu nehmen. Ungewohnt der geistigen Getränke, kommt der Arme Abends etwas liebenswürdig angeheitert zurück und spricht etwas lebhafter und bewegter als sonst, und der Lehrerconvent dictirt einen halben Tag Carcer, vermuthlich weniger wegen des Vergehens, als zur Abschreckung. Das war aber auch der einzige Fall, der vorgekommen ist. Bei dem starken Freiheitsgefühle, das durch meine Adern rollte, wundere ich mich, daß ich nie an den Schranken gerüttelt, ja, daß ich mich, vielleicht einzelne Stimmungen abgerechnet, von ihnen nicht einmal beengt gefühlt habe. So sehr ich mich in jedem halben Jahre nach den Ferien gesehnt und Monat, Tag und Stunde vorausgerechnet hatte, so gern kehrte ich jedes Mal in die Anstalt zurück, wenn sie ausgelaufen waren, und es war immer ein Jubel, mit den alten Genossen wieder zusammenzutreffen und die gemeinsame Fahrt nach der „speciosa vallis“ zu machen.

Nicht daß ich ein Musterschüler, ein Normalzögling mit geradliniger Entwickelung gewesen wäre! Anfangs wandelte ich noch auf dem in der Lateinschule betretenen Wege fort, im Trab des braven fleißigen Schülers, auf welchem das Wohlgefallen des Lehrers ruht, und nach Ablauf der ersten zwei Monate ertheilte mir der Ephorus – ein strenger Mathematiker, karg im Reden und Loben – in einem Briefe an den Vater, der heute vor mir liegt, das Lob des „zarten, guten, lieben, fleißigen Jungen“. Aber es sollte anders werden, und ich betrachte es als ein Glück, daß es anders kam. Ich wurde krank. Einem grippartigen Unwohlsein, das mit mir einen ziemlichen Theil der Zöglinge befiel, trotzte ich mit jenem jugendlichen Uebermuthe, der früher einmal ein heftiges Zahnweh durch stundenlanges Stampfen im kniehohen Schnee glücklich vertrieben hatte, so lange, bis ich nachgeben und das Bett suchen mußte; nach zwei Tagen zeigte sich die Gesichtsrose und wüthete mit solcher Heftigkeit, daß ich dem Tode nahe war. Kaum erstanden und für einen Monat der Arbeit zurückgegeben, zog ich mir dieselbe Krankheit, wenn auch milder, zum zweiten und bald darauf zum dritten Male zu, so daß ich im Ganzen wohl über zwei Monate im Krankenzimmer zubrachte. Das hatte mich aus allem Zusammenhange der Studien gerissen; ich hatte in allen Fächern Lücken und in einigen, wie in der Mathematik, wo kein Ring übersprungen werden darf, wenn nicht alle folgenden unverständlich bleiben sollen, waren sie ohne Privatunterricht, an den Niemand dachte, nie mehr auszufüllen. In Allem zurückgeblieben wurde ich schlaff und gleichgültig; ich unterließ die gehörige Vorbereitung; ich verlor die Lust an den Dingen; ich betrieb Alles nachlässig und ohne Interesse. Was ich arbeitete, geschah aus dem Kitzel des Ehrgeizes, den verlorenen Platz wieder zu erobern, aus dem Stolze des Wissens, der die Demüthigung nicht ertragen konnte, aus Scham vor den Eltern und Geschwistern, denen die niedrigen Zeugnisse vorgelegt werden mußten, mit einem Worte: aus knechtischem Gehorsam. Darum ging die Arbeit nicht vorwärts; es kam ihr von innen heraus Nichts entgegen; es war keine Liebe darin, darum keine Freude dabei. Ich glich jenen Kindern, die immer essen – aber es schlägt nicht an. Alles wurde mir schwer, und es wollte Nichts gelingen. Oft nahm ich in den Freistunden die Collegienhefte mit in den Wald hinaus und las und prägte ein, aber der Stoff wollte nicht haften. Oft betete ich unter Zittern und Zagen zu Gott, daß er meine Anstrengungen mit Erfolg kröne, oft rannte ich vor Zorn über mich selbst mit der Stirn gegen die Wand, aber der Sinn war dumpf und das Herz war leer. Anderthalb Jahre dauerte diese unerquickliche Selbstquälerei.

Aber Gottes Wege mit dem Menschenherzen sind wunderbar. Unter all’ den vergeblichen Anstrengungen, todte Stoffe in sich aufzunehmen, unter all’ den Versuchen eines bloß äußerlichen Anlernens bereitete sich in dem unbefriedigten Geiste eine eigene verborgene Welt des Gemüthes vor, die neben den vorgeschriebenen Studien herlief, an ihnen vorbeiging, sie eine Zeitlang schädigte, um sie nachher um so rascher zu fördern. Das Seminar besaß keine Bibliothek, wenigstens keine, die uns zugänglich war. Außer den Schulausgaben der Classiker, die je in einem Semester getrieben wurden, bekamen wir keine Bücher in die Hand. Aber einige meiner Stubengenossen hatten Stücke aus der neuen Literatur in ihrem Schranke. Der Eine hatte den ganzen Shakespeare in der Tieck-Schlegelschen Uebersetzung, ein Anderer Goethe’s Götz von Berlichingen, Egmont, Hermann und Dorothea, ein Dritter Lessing’s Hamburger Dramaturgie, ein Vierter Uhland’s Gedichte und Wilhelm Hauff’s Novellen wieder Andere das Nibelungenlied oder die Frithjofssage von Tegnér, ja Einer hatte aus den Ferien Herwegh’s eben erschienene Gedichte in Abschrift mitgebracht. Da las ich und las wieder und wieder im Walde und im Zimmer, verarbeitete die Anregungen im Geiste, bewegte die Gefühle im Herzen, hatte die Gestalten immer vor Augen. Das stürmte und drängte im Herzen; das war ein Frühling der Romantik zuerst in leisem, unhörbarem Wehen, dann im vollen Blüthenmeere. Es war in seiner Art auch eine Bekehrung ähnlich Derjenigen, welche uns die „Frommen“ beschreiben, wenn es zum Durchbruch kommt.

In der Frühe eines Sommersonntags, als ich am Fenster stand und den weißen Wolken am blauen Himmel mit sehnendem Auge folgte und die Blicke über den Garten zu den grünen Hügeln schweifen ließ, kam es wie Sturmeswehen über das zagende Herz. O könnt’ ich hinaus, über Berg und Thal zu schweifen, die verborgenen Bergpfade zu wandeln, am Wiesenrande den Wellen des Stromes zu lauschen, den Geruch der Natur mit vollen Zügen zu athmen! Die Glocke läutete zur Kirche; ich folgte träumend und unaufmerksam der Pflicht, aber als das Dormentthor sich endlich öffnete, stürzt’ ich hinaus, und ein ganzer Himmel voll Lust und Schmerz drang auf mich. Wunderbare Zeit, wenn der Geist seine Feuertaufe hält und der gebundene Sinn sich löst und das Herz in sinnlich-übersinnlichem Drange Alles in sich aufnehmen möchte, was groß und schön und heilig ist! Auf dem Gemüth liegt eine göttliche Weihe, die alles Rohe und Gemeine weit von sich weist; über den Dingen ruht ein Zauber, wie der blaue Duft über den Bergen; das Leben ist noch wie ein süßes Geheimniß, weil man noch nicht hinter seine Vorhänge geschaut hat.

Man möchte zuerst allein sein mit seinem Drang, aber bald verbindet man sich mit Gleichgesinnten zu schwärmerischer Freundschaft. Wir traten, etwa zwölf an der Zahl, zusammen und stifteten einen Tugendbund; das griechische Motto: „Wir lieben die Wissenschaft und wir lieben das Schöne“ war unser Wahlspruch. Wir lasen im Waldesschatten die Dichter, auch eigene Versuche vor. Wir sonderten uns von den Uebrigen, die dann auch in gerechter Züchtigung unseres aristokratischen Stolzes, wenn sie uns Arm in Arm daher kommen sahen, zu beiden Seiten Spalier bildeten und uns unter Zischen und hämischen Bemerkungen vorüberziehen ließen. Aber noch schlimmer sollte unser Stolz gezüchtigt werden. Um unserem Bunde durch ein äußeres Symbol Festigkeit zu geben, beschlossen wir, stählerne Fingerringe zu tragen, in welche die geheimnißvollen Buchstaben: G. W. S. (das Gute, Wahre und Schöne) eingegraben wären.

Wir wandten uns also nach Heilbronn an einen Graveur, aber der gab uns in einem groben Briefe zu verstehen, daß wir Narren seien und von unserm Vorhaben abstehen sollten. So früh erfuhren wir schon, daß des Staubes Weisheit oft die Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.

Der Kenner des Menschenherzens weiß es zum Voraus, daß bei diesem idealen Sturm und Drang des jugendlichen Geistes auch die Liebe ihre verborgene Hand im Spiele hatte, die alte Zauberin, die ihre geheimen Tränke so frühe schon in des Herzens unnennbares Sehnen gießt. Sie war um so idealer und schwärmerischer, als bei der völligen Abgeschiedenheit unseres Lebens die Gegenstände fast gänzlich fehlten, auf welche sie sich hätte richten können. Als einmal nach Tisch das Seminar seinen Inhalt entleerte und die Massen sich nach allen Seiten vertheilten, die Einen in Gruppen, die Andern für sich allein, begegnete ich einer verschleierten Jungfrau, die auf Besuch zu einem der Professoren kam; da waren alle meine Sinne verwirrt und es war, als hätte mich eine Gottheit im Gehen gestreift; alle Frauengestalten der Dichter, Götzen’s Elisabeth, Egmont’s Clärchen, Hermann’s Dorothea, flossen mir in dieses Eine Bild von Fleisch und Blut zusammen. Es war mir etwa zu Muthe, wie jenem Bauernburschen bei Boccaccio, den der Vater geflissentlich bis zum achtzehnten Jahre von jedem Anblick eines weiblichen Wesens ferngehalten hatte; endlich wagte er es, ihn mit auf den Markt [390] zu nehmen. Da kommen des Weges einige schlankgewachsene Jungfrauen; der Sohn zittert vor Erregung: „Wie heißt man diese Dinger, o Vater?“

„Gehen wir schnell vorüber, mein Sohn! Es sind Gänse.“

„O mio carissimo padre, compra una tale papera.“ (O, mein theurer Vater, kaufe mir eine solche Gans!)

Bald sollte mir auf meinem Lebenswege das Frauenbild begegnen, das mich bis zur Schwelle des Mannesalters gefesselt hielt, dem ich über fünf Jahre mit aller Verehrung einer stummen, aber doch verstandenen Liebe anhing, bis es mir feindliche Mächte auf immer verhüllten.

War ich in jenen Jahren fromm? Niemals frömmer, weil der Thau des Himmels niemals frischer und ursprünglicher auf der Seele lag. Wie sollte das Herz nicht fromm sein, das träumt „von Lenz und Liebe, von seliger goldener Zeit, von Freiheit, Männerwürde, von Treu und Heiligkeit“? Ich betete oft, freilich nur bei schönem Wetter und blauem Himmel, am offenen Fenster des Ganges, welches gegen das Viereck des Klosterhofes schaute. Lebendig sind mir noch die erschütternden Wirkungen, welche die von tiefem religiösem Ernste getragenen Vorbereitungsreden auf mich ausübten, welche Professor Oehler jedesmal vor einem Communionstage Abends an uns richtete, lebendig auch die Schauer, mit denen ich an das mysterium tremendum des heiligen Mahles hinantrat. In den Ferien kam ich dann und wann nach Königsfeld, in die kleine Herrnhutergemeinde, in welcher unsere Familie Bekannte und Freunde hatte. Die Fülle und Sauberkeit, die hier herrschte, der herzliche Ton dieser Frömmigkeit, die innigen Gottesdienste, besonders in der Frühe des Ostermorgens, noch bei Nacht die feierlichen Chorgesänge in der Kirche, dann bei Sonnenaufgang der Gang der Gemeinde zu den Gräbern, die Reden und Gebete daselbst, der schlichte Prediger im einfach bürgerlichen Kleide mit dem freundlichen, herzgewinnenden Worte, das Liebesmahl mit Thee und Semmelbrod – das Alles verfehlte damals seine Wirkung auf das junge Gemüth nicht.

Man muß es den theologischen Seminarien Württembergs nachsagen, daß sie sich vom Geiste pietistischer Zudringlichkeit freigehalten haben – wenigstens damals war es so. In den Fächern, welche sich auf Theologie beziehen, wurde natürlich in Uebereinstimmung mit der Kirchenlehre unterrichtet, aber man wußte von keinem Zelotismus, von keiner gewaltsamen Zurichtung oder Dressur für Confession oder kirchliche Parteizwecke. Zweifel und Verstandeskritik hielt man vom heiligen Gebiete sorgfältig fern. Derselbe Professor Oehler, der unser Auge für die Widersprüche und Unmöglichkeiten in den Königsgeschichten des Livius schärfte, ließ die Abfassung der sogenannten Bücher Mosis durch Moses ruhiggläubig stehen, ohne für sich selbst an Stellen, wie: „damals gab es noch keine Könige in Israel“, oder an der Schilderung des Todes und der Beerdigung des Moses in demselben Buche, das dieser geschrieben haben sollte, Anstoß zu nehmen, geschweige uns Schüler mit einem Finger auf solche Unmöglichkeiten hinzuweisen und so früh unser Denken und unsern Wahrheitssinn zu wecken. Doch konnte alle Sorgfalt nicht verhindern, daß der theologische Zweifel früh schon da und dort durch die Spalte guckte. Einem oder dem Andern unter den Repetenten, die häufig wechselten, ging der Ruf voraus, er sei ein Hegelianer. Ein solcher war mir im Voraus interessanter, als die Anderen; Männer, die von den breitgetretenen, durch lange Uebereinstimmung der Gesellschaft festgesetzten Ansichten abzuweichen wagen, haben eine große Anziehungskraft auf eine strebende Jugend. Es reizte mich wunderbar, wenn Einer derselben, nur wie beiläufig, in seinem Vortrage eine moderne Ansicht mitlaufen ließ. So schrieb ich es mit dicken Buchstaben in mein Heft, als der damalige Repetent, spätere Studien- und Consistorialrath Demmler bei einer Stelle des Herodot die Abstammung des Menschengeschlechts von einem Paare bezweifelte.

Auch die ganze Lebensordnung des Hauses, wie streng sie war, hatte doch nichts Frömmelndes oder methodistisch Zudringliches. Als einer unserer Professoren, der, wie in vielen anderen Dingen, so auch im Pietismus dilettantirte, einen Missionar berief, der, aus Indien zurückgekehrt, unsere Herzen für die Heidenmission bearbeiten sollte und zu diesem Zwecke einen Vortrag im Hörsaale hielt, blieb ich mit zwei Anderen ziemlich demonstrativ weg, ohne daß Jemand gewagt hätte, uns etwas dareinzureden. Die Gunst des Professors hatte man freilich auf immer verscherzt, aber das wollte man eben.

Mit dem Schlusse des zweiten Jahres war mein Klosterkampf zu Ende. Der Druck war weg und der Bann gelöst, der vorher auf Kopf und Herz gelegen war. Unterm 26. September 1842 schreibt der Ephorus an meinen Vater: „Ich hätte Dir, wenn Du Dich bei unserer Zusammenkunft eingestellt hättest, eine vergnügte Miene abnöthigen können, wenn dies überhaupt in der Gewalt eines Sterblichen steht, indem ich Dir über Fleiß und Verhalten Deines Sohnes Dasjenige berichtet hätte, was Du jetzt im Zeugnisse liesest. Ich kann demselben blos beisetzen, daß Dein Heinrich seines Vaters echter Sohn ist – behaftet mit einer Festigkeit, die sich fremdem Willen beharrlich entgegensetzt. So geht er zwar allmählich in die Mathematik ein, aber nicht so, daß er ein fruchtbares und ihn geistig förderndes Studium daraus machte: er mag sie nicht, deshalb behandelt er sie auch – zwar nicht unaufmerksam, aber ohne Interesse.“ Das war noch viel zu mild geurtheilt. Vielmehr haßte ich mit einer gewissen Demonstration die Mathematik als die Feindin, wie ich damals meinte, einer poetischen und idealen Gemüthsstimmung. Im Uebrigen ging mir von jetzt an das Studiren leicht. Es ist im intellectuellen Leben wie im sittlichen: wenn der knechtische Geist vertrieben und die Liebe eingekehrt ist, geht Alles von Statten. Damit war zugleich die Richtung der Studien für immer bestimmt. „Ein Buchgelehrter kann jeder Esel werden“ – das war mir jetzt aus der Seele gesprochen. Das Wissen, das aufbläht, hatte den Reiz für mich verloren. Welchen Platz ich auf den Bänken neben meinen Mitschülern einnehme, welche Note ich beim Examen erhalte, war mir von jetzt an sehr gleichgültig. Ich betrachtete es als einen höheren Ehrgeiz, ein normaler Mensch als ein normaler Gelehrter zu werden. Ich sah Alles, was ich trieb, darauf an, welchen Beitrag es an die Bildung des ganzen Wesens abgeben könne, wie weit es sich in das Fleisch des Denkens, in das Blut des Charakters aufnehmen lasse. Was sich hierfür nicht geeignet zeigen wollte, wie z. B. die Geographie, ließ ich gleichgültig liegen, ohne mir darum Sorge zu machen.

Die meisten Bildungsstoffe, die man uns bot, und zwar gerade diejenigen, auf welche der größte Werth gelegt wurde, waren übrigens außerordentlich geeignet, den inneren idealen Bildungstrieb zu wecken und zu nähren. Da waren ja die lieben Classiker wieder, die griechischen und römischen, in vortrefflicher Auswahl und Stufenfolge. Homer, Herodot, Xenophon, Livius und Julius Cäsar (der gallische Krieg), Virgil’s Aeneïde waren vorbei; ich hatte leider mehr Verdruß, als Freude dabei gehabt und wenig Gewinn gezogen. Aber nun kamen für die zwei letzten Jahre Thucydides, Demosthenes, Sophokles, Plato, im Lateinischen Cicero, Horaz, Tacitus, und zwar von allen diesen Schriftstellern nicht nur einzelne Bruchstücke, sondern von jedem etwas Rechtes und Ganzes, woraus man ihn und seine Zeit wirklich kennen lernte, so von Demosthenes die drei Philippiken, die drei olynthischen und die Rede um die Bürgerkrone, von Sophokles König Oedipus, Antigone, Philoctet, von Plato einige kleinere Dialoge, die Apologie des Sokrates und Phädon, von Cicero die beiden philosophischen Untersuchungen über die Natur der Götter und über den Redner, sodann die bedeutenderen seiner Reden (die beiden ersten hätten ohne großen Schaden wegbleiben dürfen, wenn man die weit bildenderen und interessanteren Briefe an ihre Stelle gesetzt hätte). Da trat die antike Welt in ihren höchsten und reinsten Schöpfungen vor den jugendlichen Geist, ein Verwandtes vor das Verwandte, die antike Welt mit ihrem gesunden Realismus, über dem aber noch der Thau einer phantasievollen und naiven Jugendzeit liegt, mit dem scharfen Auge für die Wirklichkeit der Dinge, das aber eben diese Dinge zu gleicher Zeit so schön anschaut und idealisirt, mit der reizenden Verbindung von Philosophie und Poesie, wie sie einem Jugendzeitalter eigen ist, in welchem die Kräfte und Thätigkeiten des Geistes noch nicht streng gesondert sind; mit einer Kunst, an welcher die schlichte Natürlichkeit und Einfachheit der größte Vorzug ist, mit einer Sitte und Bürgertugend, wie sie in keinem andern Zeitalter größer und reiner geleuchtet hat.

Man muß freilich die sprachliche Vorbereitung mitbringen, [391] die wir uns vom achten Jahre an in unseren gelehrten Anstalten erworben hatten, um den rechten Gewinn für Geist und Charakter aus dieser herrlichen Welt der Alten zu ziehen. Aber dann begreift man auch, wie ihre Wiedererweckung vor vierthalbhundert Jahren den Anstoß gab zum Sturze der theologischen Barbarei des Mittelalters, und zugleich wie Einem, der einmal mit Freude und Verständniß in dieser Luft geathmet hatte, die ähnliche Scholastik der rechtgläubigen protestantischen Theologie fast unmerklich und kampflos wie mürber Zunder vom Leibe fiel.

Von den Professoren war Oehler, der Orientalist, ausgezeichnet, als Mensch unbehülflich und eckig, als Theologe beschränkt, als Kirchenmann eifriger Pietist, aber als Lehrer in allen Fächern vortrefflich und gründlich, sei’s daß er Hebräisch oder Religions- und Kirchengeschichte oder Livius und Demosthenes oder Logik und Psychologie erteilte. Leider läßt sich das Gleiche von seinem Collegen nicht sagen, der vielmehr, zwar talentvoll, aber ohne alle Zucht des Gedankens und Charakters, mit Allem spielte, was er trieb. Die volle Hälfte der Thucydidesstunde z. B. verdarb er uns damit, daß er, anstatt den Schriftsteller mit uns zu lesen, die Reime und Knittelverse dictirte und auswendig lernen ließ, in welche er die Regeln der griechischen Sprache gebracht hatte. Ebenso setzte er die Weltgeschichte in lateinische Hexameter (der Anfang ist mir heute noch gegenwärtig: Adam, Seth, Enos, Kenan, Mahalaleel, Jared) und in ungereimte Formeln, mit denen er unseren armen Kopf plagte. Dieser ganzen Tändelei und geistigen Zerfahrenheit gegenüber befand ich mich in einer immerwährenden stillen Opposition und Verachtung, welche übrigens die Wurzeln des Geistes und Charakters vielleicht mehr genährt hat, als es der beste Unterricht im Stande gewesen wäre.

Zum Ersatz für das, was hier fehlte, fiel mir im letzten Jahre ein Schriftwerk in die Hand, dessen Einfluß auf meine ganze geistige Entwickelung ich nicht hoch genug anschlagen kann. Der damalige Repetent, der heutige Kanzler der Universität Tübingen, Rümelin[5], hatte der Classe, die uns vorangegangen war, in ihrem letzten Jahre, vor dem Abgange zur Universität, ein Heft dictirt, in welchem die Weltgeschichte im Geiste der „Philosophie der Geschichte“ von Hegel als der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, zugleich als das sich mit innerer Nothwendigkeit vollziehende Weltgericht dargestellt wurde. Das war kein Aufschichten von gleichgültigem Stoff, kein Sammelsurium von Anekdoten, kein Aufzählen von Namen und Schlachten, das war ein Kunstwerk, in welchem das Einzelne, soweit es von Bedeutung war, zu seinem Rechte kam, aber in das Licht der leitenden Idee erhoben. Da gingen der Orient, Griechenland und Rom, das Christenthum und das Germanenthum, das Mittelalter, die Reformation, die französische Revolution als die natürlichen Entwickelungsstadien der sich bildenden und reifenden Vernunft an der Betrachtung vorüber und wurden nach dem Beitrag, den sie an diese Arbeit der Geschichte abgegeben hatten, gewerthet.

Dieses Heft hatte mein Bruder in dem Pulte, das ich erbte, bei seinem Abgange zur Universität zurückgelassen, und das studirte ich nun gründlich. Da war Hegel in nuce, von seinen vielen Mängeln und Einseitigkeiten befreit durch die Verarbeitung eines grundgescheiten, klaren Kopfes und eines guten Schriftstellers. Was an der Hegel’schen Philosophie wirklich fruchtbringend und einflußreich gewesen ist, die Betrachtung des Weltganzen unter dem Gesichtspunkte einer stetigen und organischen Entwickelung, das hatte ich auf diese Weise längst losbekommen, ehe ich die Universität betrat; es wog ganze Bände verworrener und ungenießbarer Formeln auf, an denen ich mir später nutzlos den Kopf zerbrach.

Das Kloster hatte seine Pflicht gethan. Freundlich streckte die alma mater in Tübingen ihre Arme nach den harrenden und sehnenden Zöglingen aus. Es war freilich wieder eine Art Kloster, was uns winkte, das sogenannte Stift, aber doch etwas näher an des Lebens Quellen, etwas näher an den Brüsten der Wissenschaft.

[620]
4. Im „Stift“.
1. Ideal oder real?

Etwas näher an den Quellen des Lebens, etwas näher an den Brüsten der Wissenschaft! So fanden wir’s wirklich, als wir nach wohlbestandener Maturitätsprüfung und vierwöchentlichen Ferien im October 1844 in das höhere theologische Seminar in Tübingen, Stift genannt, einzogen. Zwar willkürlich leben konnte man auch hier nicht – war auch kein Schade; die Hausordnung war für die hundertzwanzig Zöglinge, welche die Räume des früheren Augustinerklosters füllten, eine streng geregelte, und manche seltsame und grillenhafte Schnörkel aus früheren Tagen hingen ihr noch an; aber wer Studirens halber in diesen Räumen sich aufhalten wollte, hatte sich schon damals nicht – heute soll die Lebensordnung eine noch viel freiere sein – mit Fug zu beklagen, und wenn man an die Einrichtungen des niederen Seminars, von denen man eben hergekommen war, zurückdachte, so glaubte man die volle Luft der Freiheit einzuathmen. Morgens stand freilich wieder der Aufwärter, im Winter mit seiner großen, unförmlichen Laterne, vor dem Bette, und da galt kein „noch ein Bischen Händeringen, noch ein Bischen Schlaf“, wenn man sich keine Strafnote zuziehen wollte; doch durfte man am Sonntage nach Herzenslust ausschlafen und auch in der Woche hatte Jeder einen Tag frei für dieses wichtige Geschäft, sofern er nur nicht unterließ, vor zwölf Uhr die Repetenstube zu betreten und die obligate Formel herzustammeln: „Herr Repetent, ich bitte um Entschuldigung von wegen der Schlafkammer.“

Kaum war man aufgestanden, so erschien der Bediente, deren je einer für zwei Stuben bestimmt war, bei jedem Einzelnen mit der Anfrage, ob man Etwas bedürfe, und diese Frage wiederholte er mit jedem Stundenschlage an jedem Pulte – eine Selbstherrlichkeit, wie sie im späteren Leben nur Wenigen wieder zu Theil wird. Und von welchem Behagen fühlte man sich umfangen, wenn die trauliche Kaffeemühle rasselte und das Wasser auf dem eigenen Tische brodelte und die Cigarre das engumfriedete Plätzchen in einen süßen Wolkendunst einhüllte!

Freilich war man nicht für sich allein. Es fehlte das eigene Stübchen mit all der Traulichkeit und Heimlichkeit, mit welcher es das Gemüth umfängt. Wir bewohnten zu Sechsen eine Stube; da hatte Jeder sein Pult, seinen Tisch, sein Fenster, das einen Ausblick auf die herrlichste Landschaft, auf Neckar und schwäbische Alb eröffnete. Da spann man sich nun in seiner kleinen Welt so gemüthlich ein, wie man konnte: die ganze Wand füllte man mit Bildern – über mir hatte ich Lessing, Baur, Strauß, Shakespeare hängen – und mit zahllosen Silhouetten der Freunde, und um das kleine Heim ohne Haß vor der Welt zu verschließen, wurde ein grüner Vorhang gezogen, der sich an einer von der Wand nach dem Ende des Pultes gespannten Schnur leicht vor- und zurückschieben ließ. Es war eine der dümmsten Grillen der Stiftsordnung, diesen Vorhang bei Strafe zu verbieten.

Die Ausgangsfreiheit war zwar noch sehr beschränkt, berücksichtigte aber doch die Bedürfnisse einer vorgerückten Altersstufe und genügte mäßigen Ansprüchen, zumal der Scharfsinn Mittel genug fand, ihre Schranken zu erweitern oder auch zu überspringen. Man zeigt mir noch nach zwölf Jahren das Fenster, an dem sich mein Bruder mit Karl Gerok nächtlicher Weile hinuntergelassen hatte, um ein durch die Stiftsglocke unterbrochenes Ballvergnügen in der Stadt fortzusetzen; denn eine so freche Uebertretung der Gesetze von Seiten zukünftiger Prälaten war ein Ereigniß, dessen Erinnerung sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzte, zugleich eine Warnungstafel für alle Künftigen vor dem allwissenden Auge der wachsamen Stiftspolizei. Mir fehlten derartige romantische Neigungen, und ich verspürte keinen Kitzel für so gefährliche Abenteuer. Ich bin diesen württembergischen Bildungsanstalten unendlich viel Dank schuldig, aber am dankbarsten bin ich für die Liberalität, mit der man in einer so streng geordneten Anstalt, die außerdem den Zöglingen so große Vortheile gewährte, den Collegienbesuch völlig uncontrolirt ließ. Früher, hieß es, sei ein Aufseher in jedem Hörsaale erschienen, um die abwesenden Stiftler aufzuzeichnen; zu meiner Zeit war dieser Zwang, der mir die Universität zur unerträglichen Last gemacht hätte, bis auf die letzte Spur verschwunden. Für den Trost dessen, „was man schwarz auf weiß besitzt“, hatte ich nur ein schwaches Organ; das Ablesen geschriebener und meistens, ach! schon zum wievielten Male vorgetragener Hefte erschien mir so traurig und langweilig, und das emsige Nachkritzeln von Wort zu Wort machte mich müde und dumm. Dem Privatstudium boten die reichen Bibliotheken besseren Stoff als die Hefte mancher Docenten.

Fielen dann solche Vorlesungen in die außerhalb des Stifts gelegenen Hörsäle der Aula, was in den ersten anderthalb Jahren bei den meisten der Fall war, so konnte man die Grenzen der Freiheit gefahrlos nach Belieben erweitern; man passirte das Stiftsthor, ohne daß der Name von dem dort residirenden Aufseher in sein Buch eingeschrieben wurde, und konnte nun die Schritte von den dunklen und gedrückten Sälen den Bächen des Lebens zuwenden. Wie oft lag ich, während der jüngere Fichte – als philosophischer Schriftsteller nicht ohne Verdienst, aber weniger glücklich als Docent und uns Südländern schon durch seinen norddeutschen Dialect und seine scharfe Stimme schwer zu ertragen – sein „Meine Herren! fassen Sie diesen Gedanken in seiner ganzen Schärfe!“ über die Köpfe der schläfrigen Hörer hinrief, wie oft lag ich auf dem Schloßberge im Waldesschatten oder unter einem blühenden Baume und folgte mit den Augen über ein Blatt von Goethe oder Mörike den eilenden Wolken! Wie oft, wenn Professor Reiff sein uns Allen und vermuthlich auch ihm unverständliches System der Willensbestimmungen mit heulender, oft bis zum Kanzelpathos erhobener Stimme entwickelte, saß ich mit einem Freunde im Garten der „Eifertei“ neben Uhland’s Wohnung oder des Winters in dunkler Spelunke bei Wurst und Bier – und habe es nie bereut. In den beiden letzten Jahren meines Tübinger Aufenthaltes genoß ich als Bibliothekar des Museums, der in Verbindung mit Fr. Vischer die Neuanschaffung der Bücher zu besorgen hatte, eine fast unbeschränkte Ausgangsfreiheit, die ich zu fleißigen Studien auf der mit aller Literatur vortrefflich ausgestatteten Bibliothek benützte.

Auch für die specifischen Genüsse des geselligen Burschenlebens ließ die gestrenge Stiftsordnung Raum, einen reichlichen in den stets freien Sommerabenden, einen allzu spärlichen im Winter, wo sie, an zwei Tagen in kurz gemessenen Stunden gewährt, mit hastiger Gier wie ein Raub davon getragen wurden. Scheffel hat in seinem „Gaudeamus“ mit genialem Geschick dem ungeheuren Idealismus, der im deutschen Glase liegt, einen classischen Ausdruck verliehen. Der Amerikaner [621] trinkt seinen Whiskey stehend aus und geht rasch weiter; der Engländer trinkt nicht weniger, als der Deutsche, aber hinter geschlossenen Jalousien; der Franzose nippt leicht und fein, aber der Deutsche sitzt breit am breiten Tische in urkräftigem Behagen, trinkt, weil im Glase Träume liegen, und singt sein: „Was kümmert mich das heilige römische Reich? weg corpus juris! weg Pandecten! weg mit den theologischen Secten!“ in guter Stunde um so inbrünstiger, als er den Tag über furchtbaren Ernst aus diesen Dingen gemacht hat. Ist es nicht ein Ueberschäumen des Gemüthes, das, für einige Augenblicke losgebunden, frei, sich mit trotzigem Humor über die philisterhafte Wirklichkeit und die Pedanterien der Gesellschaft hinwegsetzt? Luther, der unter den schwersten Kämpfen und Arbeiten sorglos mit seinem Philipp und Amsdorf Wittenbergisch Bier trinkt und sich getröstet, daß derweilen sein Wort läuft und dem Papst an die Krone langt, ist ein echtes Bild deutschen Humors.

Mit starken geselligen Neigungen von der Natur ausgestattet, schloß ich mich an eine der beiden Stiftsgesellschaften an und zwar an das „Nordland“, aus Vorliebe für den naturwüchsigen, derbkräftigen Geist, der in dieser Verbindung vorwaltete, angelockt zugleich durch den Ruf hervorragender Köpfe, welche damals der Verbindung zur Zierde gereichten, unter Anderen eines Wagenmann[WS 2], jetzt Professors in Göttingen, eines Auberlen, des bekannten, früh in Basel verstorbenen Theosophen. Neben einem halben Dutzend von Erzkneipern, die wenig arbeiteten und gleich dem Herrn von Rodenstein ihr „Gerspranz, Reichelsheim und Pfaffenbeerfurt veritranken“, bestand der größte Theil aus tüchtigen Menschen, welche Fleiß in den Studien und strenge Sitten mit Lebenslust und kernigem Humor zu verbinden wußten.

Die Winterabende wurden nach Vorschrift, aber in unbeaufsichtigter Geselligkeit auf den Zimmern zugebracht, eine unerschöpfliche Fundgrube des Humors und der Charakterbildung. Da waren tüchtige, durch verschiedene Prüfungen gesiebte Jünglinge von vier Altersstufen und den verschiedenartigsten Anlagen und Charakteren für den engsten Geistesverkehr nahe aneinander gerückt. Da war der würdige Senior der bald abgehenden Promotion, der nach hergebrachter Sitte mit dem feierlichen Cylinder auf dem Kopfe durch die Stadt ging, neben dem schüchternen, unerfahrenen Füchslein, das im Dämmer der kommenden Herrlichkeiten schwelgte. Da war der eifrige Beckianer, der sich nach der Stunde sehnte, da er im Schooße einer Gemeinde Zeugniß von seinem Herrn ablegen konnte, neben dem Philosophen, der mit dem lieben Gott nicht auf dem besten Fuße stand. Da saß der lächelnde Schalk neben dem gemüthvollen Enthusiasten. Da war der geniale, bizarre Kopf, der einen Monat lang auf der faulen Haut lag und lumpte, um den nächsten Monat im Dienste einer wissenschaftlichen Liebhaberei bis Nachts ein Uhr bei der Lampe zu sitzen, unaufhörlich den stärksten Kaffee schlürfend, neben dem regelrechten geistlosen Nachtbüffler, dem ehrgeizigen Kopf, der von Anfang an berechnete, auf welchem Wege die beste kirchliche Carrière zu machen sei, und darauf alle seine Kräfte spannte. Alle diese Menschen rieben und entzündeten sich aneinander und mußten lernen, sich gegenseitig zu schätzen und zu vertragen. Wie sprühten die Funken des Witzes bei diesen abendlichen Unterhaltungen! Wie schärfte sich das Urtheil und vermehrte sich die Kenntniß der Menschen und Dinge unter diesem Austausche der Meinungen und Erfahrungen!

Gedenk’ ich all’ dieser Dinge, rechne ich dazu den bildenden Umgang mit befreundeten oder verwandten Familien, ohne dessen Pflege mir nicht leicht ein Tag verging, das bewegte und mannigfaltige Leben, das sich aus dem Zusammenwohnen von achthundert Studenten aller Facultäten in einer kleinen Stadt erzeugt, so durften wir wohl unseren Wunsch als über Bitten und Verstehen erfüllt betrachten: näher an des Lebens Quellen.

Aber wie stand es um die Brüste der Wissenschaft, nach denen das Musenkind so sehnsüchtig verlangte? Die Vorzeichen, welche mir an der Schwelle der Universität entgegentraten, verhießen wenig Günstiges. Auf dem Katalog der Vorlesungen stand die Geschichte der griechischen Philosophie von Dr. Eduard Zeller, Privatdocent. Diese Vorlesung war damals schon wegen der Gründlichkeit der Quellenforschung und der durchsichtigen Darstellung als meisterhaft bekannt, wie das später unter dem gleichen Titel im Druck erschienene Werk heute noch zu den glänzendsten Leistungen der deutschen Wissenschaft gezählt wird. Mein ältester Bruder, der schon eine ansehnliche Stellung in der Kirche einnahm, hatte mich vor dem Abgang zur Universität eindringlich gemahnt, doch ja dieses Colleg nicht zu versäumen. Allein was geschah? Als ich auf das Verzeichniß der Vorlesungen, die ich im ersten Semester hören wollte, Zeller’s Geschichte der griechischen Philosophie oben ansetzte, bat mich der Repetent – Schröder hieß er – dieses Fach zu streichen als laut einstimmiger Anschauung des Repetentencollegiums für diese Stufe nicht geeignet, und als ich auf meinem Vorsatz beharrte, verwandelte er die liebevolle Ermahnung in ein kategorisches Verbot, gegen das nur der Recurs an das Stiftsinspectorat offen stand. Ich griff zu diesem letzten Mittel, wurde aber auch da abgewiesen, weil diese Behörde mit der einzigen Ausnahme Baur’s aus Männern der gleichen conservativen Richtung bestand, wie das damalige Repetentencollegium. Ich konnte in diesem Verfahren nur einen Kunstgriff der kirchlichen Reaction sehen, dem glänzenden Vertreter der Theologie, soweit es einigermaßen mit einleuchtenden Gründen sich thun ließ, den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Seit Strauß’s „Leben Jesu“ vom Jahre 1835 war der herrschenden Kirche eine schmähliche Angst in die Glieder gefahren; ein jeder unabhängigen Forschung feindseliger Pietismus fing an sich zu fühlen und fand oben in den leitenden Kreisen des Staats und der Kirche eine Stütze; was früher als unanstößig und unschuldig gegolten hatte, wurde jetzt anrüchig. Die einst in den goldenen Tagen ihrer Studienzeit die Natter der Kritik und des Zweifels fröhlich hatten um ihr Haupt spielen lassen, die sah man jetzt als Bekehrte mit allein den Convertiten eigenem Eifer in das Repetentencollegium oder in’s Vicariat eintreten und bei Vielen durfte man von einem neuen unwürdigen ruere in servitium (in die Knechtschaft stürzen) reden. Was sich nicht beugen wollte, blieb sitzen oder wurde gemaßregelt. Zwar an Baur wagte man sich nicht, so laut auch das Murren frommer Kreise sich vernehmen ließ, daß man einem solchen Heiden die theologische Jugend anvertraue; aber an seinen Schülern und jüngern Mitarbeitern kühlte die Reaction ihr Müthchen. Einen Zeller, dessen Vorlesungen zu den besuchtesten gehörten, der durch seine Apostelgeschichte, seine theologischen Jahrbücher etc. sich als einen Meister in Theologie, wie Philosophie bewiesen hatte, ließ man auf der ewigen Bank der Privatdocenten sitzen, bis er, der Enttäuschungen müde, der undankbaren Heimath und nothgedrungen später auch der Theologie den Rücken kehrte. Einen Schwegler, der durch seine Schrift über den Montanismus und seine Geschichte des nachapostolischen Zeitalters sich den Namen eines Gelehrten von eindringendem Scharfsinn und glänzender Darstellungsgabe erworben hatte, speiste man aus Gnaden mit der Stelle eines Stiftsbibliothekars ab, wo er mit Hülfe der Stiftskost und einiger hundert Gulden ein kümmerliches Dasein fristete.

Das waren die Zeichen der Zeit, unter denen wir unsere Studien antraten. Aber noch ein anderes kam hinzu, das mit noch weit grellerem Lichte zündete. Kaum hatten wir uns einen Monat oder zwei zu den Füßen Friedrich Vischer’s mit jugendlicher Begeisterung niedergelassen, so wurde er durch einen Spruch der Regierung von seinem Katheder auf zwei Jahre entfernt. Er hatte die Inaugurationsrede, mit welcher er den eben gegründeten Lehrstuhl für Aesthetik einzuweihen hatte, mit einer Art feierlichen Schwures geschlossen: unter Anrufung des „Genius mit den Silberschwingen“ schwur er der Orthodoxie Haß, glühenden Haß. Ich saß unter der dichtgedrängten Zuhörermenge und war ganz in mich gekehrt, wie festgewurzelt und versteinert, und merkte erst beim Umschauen, daß Alles in höchster Aufregung den Saal schon verlassen hatte und ich allein zurückgeblieben war. Die Rede wurde zum Ereignisse, welches das ganze Land beschäftigte. Man hatte gut reden von einer ganz unnöthigen, vom Zaune gerissenen Provocation, aber man denke sich einen Augenblick in die Zeitlage hinein: Männer, welche in dem Kampfe Lessing’s gegen Göze mehr als nur ein vorübergehendes Fechterspiel sahen, welche sich an der Welt Schiller’s und Goethe’s genährt hatten, welche zu den Füßen Hegel’s gesessen waren und eine neue Weltanschauung wie ein brennendes Feuer in sich trugen, sahen sich einem Kirchenthume und Dogma [622] gegenüber, das, von der edelsten Bildung der Zeit verurtheilt, im Besitze der Katheder, der Kanzeln, der Regierungssessel war; das erzeugte einen brütenden Haß, eine lodernde Leidenschaft, die sich zur Zeit oder zur Unzeit Luft schaffen mußte, bald in giftigem Spotte, der, wie es eben geht, auch das Heilige nicht verschonte, bald in furchtbar ernstem Ausfalle. In einer andern Zeit wäre man über einen solchen Angriff auf die Kirche von Seiten eines Aesthetikers und Poeten ohne Weiteres weggegangen, aber wie die Dinge standen, mußte die Reaction ihr Opfer haben; alle Sympathien, welche die studirende Jugend dem geistvollen Lehrer entgegenbrachte, nützten nichts. Vischer wurde auf zwei Jahre seiner Lehrtätigkeit enthoben.

Mir war dieser Schlag doppelt empfindlich, weil meine Neigungen mich im ersten Jahre fast ausschließlich auf die Rosenpfade der schönen Literatur führten. Ich versäumte zwar die vorgeschriebenen Studien nicht, welche sich auf Philologie, Geschichte und die Anfänge der Philosophie bezogen, aber mein Lieblingsstudium war Poesie und Kunst. Ich nahm Winckelmann’s Geschichte der alten Kunst zur Hand; ich studirte Hotho’s, des geistvollen Hegelianer’s, „Geschichte der Malerei“, Lessing’s „Laokoon“, Schiller’s ästhetische Abhandlungen, Wilhelm von Humboldt’s reizende Schrift über das Wesen der Epopöe, deren Gesetze er durch eine meisterhafte Zergliederung von Goethe’s „Hermann und Dorothea“ zur Anschauung brachte etc. Das reich ausgestattete Museum bot mir die moderne Literatur in ihrer Vollständigkeit. Besonders Goethe’s Lieder trug ich auf Weg und Steg bei mir; hier hatte ich ein- für allemal gelernt, was lyrische Poesie sei; nach diesem Maßstabe beurtheilte ich hinfort Anderer lyrische Versuche; was von eigenen vorhanden war, zerriß ich und machte keine weiteren mehr. Dagegen vergeudete ich eine schöne Zeit mit dramatischen Aufgaben und verdarb mir zwei volle Ferien durch die Thorheit, mich in ein Zimmer einzuschließen und Dramen zu schreiben.

Unter diesen fast ausschließlichen Beschäftigungen mit Kunst und Poesie arbeitete ich mich in eine einseitig phantastische Lebensanschauung hinein. Mein Ideal war: die poetische Stimmung in mir dauernd zu machen; ich schob daher Alles mit Verachtung oder Gleichgültigkeit an die Seite, was dieselbe stören konnte. Ja, ganze Gebiete des realen Lebens blieben mir fremd; Politik, was die Völker und Länder im Verhältniß zu einander bewegt, Handel, Erwerb, Industrie war mir alles gleichgültig. Ich las absichtlich keine Zeitung – was kümmerte mich auf den Höhen des Ideals der Trotz der Könige, der Zorn der Völker und das verwirrende Geschrei der Parteien? Diese Stimmung war es auch, die mich fast ein Jahr lang zum Vegetarianer machte. Ich hatte in einer der Dichtungen von Percy Shelley die begeisterte Schilderung einer Familie gelesen, deren Glieder grundsätzlich sich des Fleischgenusses enthielten und dadurch nicht blos körperlich blühend, gesund und elastisch, sondern auch frei von Leidenschaften und voll inneren Friedens geworden waren. So wollt’ ich werden: frei von jeder aufregenden Leidenschaft, ein Feind alles Rohen, immer in einer Atmosphäre des inneren Glückes und Friedens, eine Pflanze, die stille wächst und Alles, was an sie herankommt, verarbeitet zur Förderung ihres Lebensprocesses. Darum entschloß ich mich trotz der sonst schon schlechten Stiftskost zum Vegetarianismus. Ich hatte auch, wie alle Schwärmer, die Bestätigung meiner Theorie auf allen Seiten bei der Hand. Ich sprang eine Zeitlang täglich nach Tisch die paar hundert Stufen auf den Schloßberg hinauf und fand zu meiner freudigen Ueberraschung, daß bei dieser Turnübung das Gehen mit jedem Tage leichter und das Athmen unbeschwerlicher vor sich gehe, was ich natürlich nicht der Uebung, sondern der Fleischenthaltung zu gute schrieb. Später führten mich die Belehrungen eines Arztes zur gewohnten Lebensweise zurück.

Auch für den anderen Wahn, für das romantische Schwelgen und Schwärmen, gab es zum Glücke eine Cur, welche sich die Gesundheit der Natur selber vorschrieb und auswählte; es war eine Reise. Der Rhein mit seinen Burgen und Sagen, die Loreley und der Kölner Dom – das waren Zauberklänge für das Ohr des Romantikers. Der Vater erhob Einsprache und fand eine Reise erst als Belohnung für die wohlvollendete Studienzeit berechtigt, aber dem Zureden wohlmeinender Freunde und den dringenden Bitten des Sohnes verwilligte er endlich zwanzig Gulden, denen mein mitleidiges liebenswürdiges Bäschen in Tübingen aus ihrer Casse noch acht Gulden hinzufügte. Mit achtundzwanzig Gulden in der Tasche reiste ich vierzehn Tage lang im Herbste 1845 von Tübingen über Stuttgart, Heilbronn, Heidelberg nach Köln, wo ich drei Tage weilte, vor dem Dome träumte und alle Kirchen nach Gemälden durchstürmte, dann zurück über Mannheim mit der ersten Eisenbahn, die ich sah, nach Straßburg, von da über den Kniebis nach Hause.

O goldene Zeit, da man mit achtundzwanzig Gulden eine vierzehntägige Bildungsreise machen konnte, da die Welt und die eigene Genügsamkeit noch gestattete, mit den Alten zu fühlen: „Der ist den Göttern am nächsten, der die wenigsten Bedürfnisse hat!“

Arm am Beutel war ich heimgekommen, aber um so reicher am Geiste. Von keiner spätern Reise habe ich so reichen Gewinn heimgetragen. Mit der frischen Empfindung einer Jugend, die das Bewundern und Staunen noch nicht verlernt hat, hatte ich mich den Dingen hingegeben, und diese hatten gewirkt. Ich fand mich wie neugeboren. Der romantische Traum war ausgeschlafen, das „Aechzen und Krächzen“ war abgethan. Ich hatte die Städte, die Schiffe, den Verkehr, den Handel, die Beschäftigungen der Menschen, mit Einem Worte: die Welt mit ihren praktischen Interessen und realen Aufgaben gesehen. Ich wandte mich von der Mondscheinseligkeit ab und kehrte mich der Helle des Tages zu. Es war Zeit; denn mit dem zweiten Studienjahre kamen die Fragen, die an den Mann gingen, die ernsten Probleme der Philosophie und Theologie.



[101]
Bis zur Schwelle des Pfarramts.[6]
IV. 2. Unter den Philosophen.


Motto: Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen zeitlebens gern unmündig bleibt und warum es Anderen so leicht wird, sich zu ihren Vormündern aufzuwerfen. Zur wahren Reform der Denkungsart, mag sie auch noch so langsam vor sich gehen, ist nur die Freiheit nöthig, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen.
  Kant.


Als wir nach Ablauf der Ferien wieder durch das Stiftsthor einzogen, lag nach einer traditionell gewordenen Studienordnung Kant’s Kritik der reinen Vernunft auf unserem Pulte aufgeschlagen. Das war nach dem Zuckerbrode der schönen Literatur eine harte und schwere Speise. Da galt es „Bretter bohren“, wie unser Präceptor sich ausgedrückt hatte. Bis man nur an diese schwerfällige Schreibweise sich einigermaßen gewöhnt hatte, bis man einige Uebung darin erlangt hatte, diese Lastwagen von Perioden ordentlich ab- und auszupacken, bis man sich des eigentlichen Sinnes dieses philosophischen Kauderwelsch, der wahren Bedeutung dieser fremdartigen Kunstausdrücke völlig versichert hatte, war schon ein großes und mühsehliges Stück Zeit vergangen. Aber nun erst das Ergebniß dieser scharfsinnigen, mit so viel Bedacht und Gewissenhaftigkeit geführten Untersuchungen! Es war Einem zu Muthe, wie wenn man gewaltsam an den Füßen gepackt und auf den Kopf gestellt wird. Kant muthete uns dieselbe umfassende Umwälzung der Denkweise zu, wie sie Copernikus seinen Zeitgenossen zugemuthet hatte. Copernikus hatte dem Menschen gleichsam die Erde unter den Füßen weggenommen und ihn in die ideale Mitte des Sonnensystems gestellt, um ihm von da aus ein Weltbild zu zeigen, welches dem Augenschein schnurstracks widersprach; Kant nahm dem Menschen die Dinge vor den Augen weg und versetzte ihn in den idealen Mittelpunkt seines Selbstbewußtseins, um ihm von hier aus die Welt in einem neuen, ungeahnten Lichte zu zeigen.

„Du meinst“ – so etwa sagt er zum Menschen – „die Dinge seien so, wie sie sich Deinen Sinnen darstellen? Täuschung! Was sie sind, sind sie nur durch Dich, durch Dein Auge, das ihr Bild so und so zurückspiegelt; was sie sind in einem ganz anders organisirten Auge, in dem Auge des Bewohners einer anderen Welt zum Beispiel, das wissen wir nicht. Du siehst die Dinge in Raum und Zeit, aber Raum und Zeit sind nichts [102] Wirkliches, in der äußeren Welt Vorhandenes; das sind nur Formen, welche Dein Geist zu den Dingen hinzubringt, Gläser, durch welche Dein Anschauungsvermögen die Dinge betrachtet, Gefäße, in welche Du vermöge einer nothwendigen Einrichtung Deiner Natur die auf Dich eindringenden Dinge einfassest. Was diese Dinge sind ohne Dich, ohne die Formen, die Du an sie heranbringst, also an sich selbst, nach ihrem eigentlichen Wesen und ihrer wahren Natur, das weißt Du nicht. Wir erkennen also die Dinge nur, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie sind; ‚das Ding an sich‘ bleibt dem Menschen ewig unbekannt.“ Und unser Dichter spricht ganz im Sinne Kant’s, wenn er unter den „Worten des Wahnes“ die Meinung aufführt, daß dem irdischen Verstande die Wahrheit je werde erscheinen, „ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand; wir können nur rathen und meinen; du kerkerst den Geist in ein tönend Wort, doch der freie wandelt im Sturme fort.“

Man folgte dem kühnen Revolutionär im Reiche des Gedankens Schritt für Schritt; man ließ sich die Trugschlüsse aufzeigen, welche die menschliche Vernunft in allen ihren bisherigen Speculationen über Gott und Welt und Menschenseele begangen hatte, und man blickte mit einem gewissen kritischen Wohlgefallen auf diese Trümmerwelt des gewöhnlichen Meinens und Glaubens. Aber so recht wohl wurde es Einem doch nicht in dieser dünnen und scharfen Luft der Kritik. Sobald man nur der Zucht des strengen und scharfsinnigen Meisters einen Augenblick entronnen und sich selbst zurückgegeben war, stellte sich der alte Adam, das gemeine, hausbackene Denken wieder ein und sprach bei sich selbst: „Ja! der Baum, den ich da vor mir sehe, ist doch gewiß ein Baum; ich kann seine Geschichte verfolgen von dem Kerne an, aus dem er erwächst, bis zur Krone, in welcher er sich vollendet – warum sollte er anders sein, als er mir erscheint? Der menschliche Geist mit den nothwendigen Formen seiner Anschauung und seines Denkens wird doch für die Dinge der Welt berechnet sein und diese für ihn; nur weil das Auge sonnenhaft ist, vermag es die Sonne zu erblicken; was nicht etwa ich als Einzelwesen, was der Mensch vermöge der Einrichtung seiner Natur so anschauen und so denken muß, das wird auch in Wirklichkeit so sein. Was der Mensch vermöge der nothwendigen Formen seiner Anschauung und seines Denkens auf Erden bindet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was er also auf Erden löst, das wird auch im Himmel los sein. Ueberdies giebt es, wenn Kant Recht hat, nicht blos keinerlei Erkenntniß des Uebersinnlichen, der Dinge an sich, es giebt im Grunde auch keine Erkenntniß der sinnlichen und wahrnehmbaren Dinge; denn auch von diesen erkennen wir nicht das Wesen, sondern nur den Schein, den sie auf unser Auge werfen; was sie wirklich sind, wissen wir nicht. Es giebt also überhaupt keine Wissenschaft, keine Erkenntniß, keine Wahrheit. ‚Wir können nur rathen und meinen‘, und ‚die Kritik der reinen Vernunft‘ hat zwar das Denken geschult, wie kein anderes philosophisches System, aber in ihrem Ergebnisse hat sie nicht über Pyrrho und Hume, die Zweifler an aller Wahrheit, hinausgeführt.“

Unter diesen und ähnlichen Gedanken fing ich an zu zweifeln, ob ich überhaupt Kant verstanden, seine eigentliche Meinung richtig aufgefaßt habe. Ich wagte nicht meine Unwissenheit gegen irgend Jemand einzugestehen; ich fürchtete, ausgelacht zu werden; denn ich meinte, was mir so viel Kopfzerbrechen mache, sei für die Anderen eine leichte Sache. Ich raffte Alles zusammen, was an Popularisirung und Erläuterung des schweren Buches von Anhängern, zum Theil noch Zeitgenossen des großen Philosophen, im Druck erschienen war, aber das verwirrte nur noch mehr; denn es verbarg die wahre Gestalt des furchtbaren und schwer zugänglichen Kritikers hinter dem Bilde eines brauchbaren, dem gewöhnlichen Verständniß angenäherten Dogmatikers.

Einer Jugend, die gern aus dem Vollen schöpft, die in’s Unbegrenzte schweift, die mit neugierigem Sinn wissen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, mochte die Selbstbescheidung des greisen Denkers von Königsberg, sein besonnenes Maßhalten, und bedächtiges Grenzensetzen nicht behagen. Man schaute von dem Brod der Entbehrung, das er reichte, nach den vollen Fleischtöpfen, welche die auf ihn folgenden Philosophen in Aussicht stellten. Da sollte das Welträthsel endgültig gelöst, die absolute Philosophie mit der absoluten Religion gefunden und der ewige Friede zwischen Wissen und Glauben geschlossen sein.

Fichte, der Weiterleiter der Kant’schen Philosophie, sprach mich als großer Mensch und granitener Charakter gewaltig an, aber den Denker verstand ich nicht. Die „Wissenschaftslehre“ legte ich nach einigen Versuchen, die Schale zu zerbrechen, wieder weg. Sollte ein Mensch in vollem Ernste der Meinung sein, daß alle Dinge außer ihm, die Häuser, die Berge, die Bäume, die Sterne, die Menschen um ihn nur das Erzeugniß und die Abspiegelung seines eigenen Ich seien? Mochte auch eine solche Annahme als eine natürliche Folgerung aus den Kant’schen Voraussetzungen sich ergeben, so wollt’ ich doch lieber an meine eigene Unfähigkeit, philosophische Gedanken zu fassen, glauben, als an solche Ungeheuerlichkeiten im Gehirne eines Denkers. Ging ich darum in ehrfurchtsvoller Scheu an Fichte vorüber, so stieß mich dagegen Schelling förmlich ab. Er galt mir als der Philosoph der Romantik und der Reaction.

Eine vortreffliche und geistvolle Abhandlung Arnold Ruge’s über „unsere Classiker und Romantiker“ hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Hier wurde über die Romantik – in dem weiteren Sinn des Wortes, in welchem bald nachher Strauß einen Friedrich Wilhelm den Vierten von Preußen als den Romantiker auf dem Throne der Cäsaren zeichnete – die unerbittliche Geißel der Satire und des männlichen Zornes geschwungen: sie wurde an den treffenden Beispiele der Tieck, Schlegel, Novalis, Stolberge etc. gezeichnet als das souveräne Belieben des eitlen sich selbst bespiegelnden Ichs, das die ganze Welt zum Spielball seiner Laune und Willkür macht, das geistreiche Wesen, das dilettantische Genießen und Versuchen höher stellt, als den bürgerlichen Fleiß und die tüchtige Arbeit für vernünftige Weltzwecke, für das tägliche Leben eine eigene aristokratische Moral der Genies erfindet und die Gesetze der gemeinen Sittlichkeit mit Füßen tritt, in der Philosophie an die Stelle eines geordneten Denkens geniale Schrullen und geistreiche Aperçus setzt, in der Kunst die Regel und das Gestaltbare verachtet und das Formlose, Unaussprechliche zu gestalten sucht, in der Politik für das Mittelalter schwärmt und in der Religion nach dem Katholicismus hinüberschielt.

Diesem Dämmer der Romantik wird die lichte Welt des Gedankens und der Formenschönheit, der gesunde Realismus eines Kant, Goethe, Schiller als der Classiker der deutschen Nation gegenübergestellt. In diesem saftigen Gemälde erschien Schelling als der Philosoph, als der Johannes der Romantik. Es mag viel Leidenschaft in diesem Urtheil liegen, aber ich konnte ihm doch nicht ganz Unrecht geben, nachdem ich Schelling’s „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit“ studirt hatte. Das Büchlein ist hübsch, geistreich, gefällig geschrieben, aber die Grundbegriffe desselben: der Gott, der anfänglich noch nicht Gott, sondern sein eigener bewußtloser Ur- und Ungrund ist, aus dem er sich zum Erfassen seiner eigentlichen Gottheit erhebt, der Mensch, der durch eine vor- und außerzeitliche That, also vor seiner Existenz nicht nur seinen sittlichen Charakter, sondern sogar seine Körperbeschaffenheit bestimmt etc. – erschienen als phantastisch und gnostisch, und ein solcher Denker verlor sich in die dunkeln Gründe der Mythologie.

Kam so von dieser Seite her wenig Licht, so stürzte man sich mit um so größerem Vertrauen auf Hegel. Die Hegel’sche Philosophie erlebte eben damals – Anfang und Mitte der vierziger Jahre – ihre schönste Zeit. Noch hatte der allgemeine Geist sich nicht feindselig und mißtrauisch von der Philosophie abgewandt und der Ruf nach Erfahrung und exactem Wissen den Sinn für die Speculation noch nicht ertödtet. Wohl hatte die Hegel’sche Philosophie aufgehört, Staatsphilosophie zu sein, aber das gereichte nur zu ihrem Vortheile; junge, unabhängige Geister waren eben daran, die keimkräftigen und fruchtbaren Gedanken des Systems, zum Theile glücklich befreit von den Klammern der eintönigen, schwerfälligen Formel, in alle Gebiete des Wissens und bald auch des Lebens hinauszutragen. Die „Hallischen Jahrbücher“ legten im Tone des frischen, kecken Jugendmuthes die Grundsätze Hegel’s als Maßstab an die Zustände des Staates und der Kirche an. Strauß, Zeller, Schwegler übersetzten die geheimnißvollen Orakelsprüche des Meisters in ein schönes, verständliches [103] Deutsch, hellten manche dunkle Punkte in selbstständiger Forschung auf und zerstreuten die Nebel, in welche sich der Staatsphilosoph von Berlin wohl oft absichtlich gehüllt hatte, und Baur’s, des großen Tübingers, Fackel leuchtete erst hell und weithin durch die dunkeln Gebiete der Religionsgeschichte, als er sie an Hegel’s Licht angezündet hatte. Andere bearbeiteten die Rechtswissenschaft, wieder Andere die Aesthetik mit glänzendem Talente im nämlichen Geiste, und die Geschichtsschreibung zumal nahm einen neuen Aufschwung, indem sie doch wesentlich von Hegel gelernt hatte, sich in den Geist der Zeiten liebend zu versenken und die Ereignisse in den großen Zusammenhang beherrschender Ideen zu stellen.

Für den Studirenden jener Zeit hatte die Bearbeitung der Hegel’schen Philosophie zu allgemeinem Gebrauche den ungemeinen Vortheil, daß er den Geist derselben in sich aufnehmen konnte, ohne sich lange mit der mühsamen und oft unerquicklichen Form herumzuschlagen, in welcher derselbe sich durch die Schriften des Philosophen selbst zum Lichte rang, daß er des Kerns habhaft werden konnte, ohne sich die Zähne und Lippen an der stachligen Schale zu verwunden. Das „Ansich und Fürsich und Anundfürsich“ hat mir wenig Kopfzerbrechens gemacht; die sogenannte dialektische Methode habe ich weder verstanden noch anzuwenden gesucht; um die Haltbarkeit des Details habe ich mich wenig gekümmert; es war das große Weltpoëm des Gedankens, das den Jüngling berauschte; es war der grandiose Wurf einer umfassenden, alles Wirkliche in sich schließenden Weltanschauung, was ihn fesselte und mit sich fortriß; die ganze Welt eine Offenbarung der Vernunft, des Einen ewigen Geistes, der die Natur zum Schemel seiner Füße und den Menschengeist zu seinem Throne gemacht hat, ein geordnetes Stufenreich aufsteigender Entwickelungen, die ihren ruhelosen Trieb in dem Geiste haben, welcher zugleich ihr Grund und ihr Zweck und Ziel ist, der seine Wesensfülle ausbreitet von der Natur an, dem noch gebundenen und verhüllten Geiste, bis zu der lichten Welt der Freiheit und Vernunft im Menschen, und hier wieder stufenweise aufsteigend im Gewissen und Denken des Einzelwesens, dann in den Ordnungen und Sitten des Hauses, der Gesellschaft, des Staates, zuletzt in den höchsten Fernen seiner Erscheinung, in der Kunst, Religion und Philosophie, in welchen er sein eigenes Wesen anschaut und genießt. Daher die Welt ein ewiges Werden, ein ruheloser Proceß, ein Drängen von Stufe zu Stufe, steter Fortschritt und nie endende Entwickelung, ein sausender Webstuhl, an welchem das lebendige Kleid der Gottheit gewoben wird, weil jede Stufe der Weltentwickelung zwar eine Offenbarung des ewigen Geistes, aber unter den Bedingungen und in den Schranken der Zeit ist, jedoch diesem ruhelosen Processe fehlt das unverrückbare helle Auge nicht, der ordnende, gestaltende, sich ewig gleichbleibende und selige Geist, von dem, durch den, zu dem alle Dinge sind. Die ganze Welt eine Offenbarung der Vernunft – und die Völkergeschichte das Weltgericht oder der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit; jede Nation die Trägerin einer Idee, an der sie untergeht, um ihren reifen Kern einer anderen, mit dem Dienste eines neuen Weltgedankens betrauten zu übergeben; die Völker, wie die Individuen, die auf dem Schauplatze der Weltgeschichte auftreten, gleichsam um den Thron des Ewigen geschaart als die Vollbringer seiner Gedanken und die Zierrathen seiner Herrlichkeit, in ihren blinden Leidenschaften und eigennützigen Bestrebungen wider Willen die Werkzeuge Dessen, der sie lenkt und ihr Thun in sein Lichtreich verwebt. Der einzelne Mensch zwar auf der einen Seite Geschöpf, eine verschwindende Welle im Ocean, eine selbstlose Erscheinungsform, aber doch zugleich ein Gefäß des Ewigen, der sich in allem Endlichen offenbart, ein Mitarbeiter Gottes, ein Missionär des Geistes, berufen, aus der Sinnlichkeit zur Vernunft, aus seiner Natürlichkeit zur Freiheit sich durch eine That des Geistes emporzuarbeiten.

Gewiß ein imponirendes, für eine phantasievolle Jugend bestechendes Weltbild! Dieser Philosoph schien alle früheren Systeme zugleich aufgelöst und erfüllt zu haben. Die Kluft, an welcher das Denken des Begründers der neueren Philosophie, Cartesius, gescheitert war, die Kluft zwischen Natur und Geist, der ausgedehnten und der denkenden Substanz, die nur äußerlich durch eine dritte, durch einen Deus ex machina, überbrückt war, schien hier ausgefüllt; der Dualismus löste sich auf in einen vollständigen Monismus des Gedankens und auch die Natur war Geist aus Geist. Spinoza’s Ein und Alles war hier gerettet, aber die Starrheit der Einen Substanz und die Unfreiheit der Dinge war aufgelöst in dem lebendigen Geist, an welchem die Wesen der Welt nicht ihre äußere Schranke, sondern ihr innerstes Gesetz, ihren eigenen Lebenstrieb haben. Leibnitzens Monaden, das heißt die Dinge der Welt als lebendige selbstthätige Wesen, von denen jedes das Universum in seiner Weise abspiegelt und die sich nur durch den Grad der Deutlichkeit ihrer Vorstellungen von einander unterscheiden, erschienen wieder in dem Stufenreiche der Vernunft, das sich von den gebundensten Formen der Natur an, in welchen der Geist gleichsam seufzend nach Licht ringt, immer höher und höher zur vollen Helle des Bewußtseins erhebt. Dem vorsichtigen Denken und Scheiden Kant’s gegenüber mochte diese Speculation immerhin wie ein Rausch aussehen, aber war sie nicht doch das letzte Wort seines Idealismus, indem sie die ganze Welt der äußeren Dinge nur als eine Abspiegelung des Geistes, als einen Ausdruck des Gedankens betrachtete? Und war der Gott, der hier verkündigt wurde, nicht eben derjenige, welchen die ganze neuere Philosophie oft im herben Kampfe, manchmal in schlecht geschlossenem Frieden mit der Kirche gesucht hatte, der Gott, den Goethe so treffend bezeichnet hat in dem Worte:

„Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm webt und lebt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.“

Und war die Welt, deren Bild hier entworfen wurde, nicht eben diejenige, welche die ganze neuere Philosophie verlangte, ein gesetzmäßiges, aus eigenen innewohnenden Kräften handelndes, durch keine äußerlichen Eingriffe gestörtes Ganzes voll innerer Zweckmäßigkeit und Vernunft?

Ja, ein tief religiöser Zug schien durch diese Philosophie zu gehen. Der ewige Geist, von dem, zu dem alle Dinge sind, die Welt die Werkstatt seiner Gedanken, der Schauplatz seiner Weisheit und Güte, sodaß Alles recht und gut ist an seiner Stelle (alles Wirkliche vernünftig und alles Vernünftige wirklich, wenn man die Hegel’sche Paradoxie recht verstehen will), die Weltgeschichte ein Weltgericht, der Mensch aus der Nacht der Natürlichkeit sich emporringend zu Gott – da schienen sich alle Stimmungen und Forderungen der Religion mit Leichtigkeit anknüpfen zu lassen, und wenn man über den unfertigen, anfangs bacchantisch taumelnden Gott spottete, der erst warten muß, bis der Philosoph ihm ein Licht über sich selbst aufsteckt, so schien uns das ein tiefes Mißverständniß zu sein, zu welchem allerdings der Philosoph durch manche Aeußerungen Anlaß gegeben haben mochte. So tapfer wir uns gegen die sogenannte „Persönlichkeit“ Gottes wahrten, so sehr wir es mit Goethe hielten:

„Was soll doch euer Hohn
Ueber das All und Eine?
Der Professor ist eine Person;
Gott ist keine –“

so schien es uns doch selbstverständlich, daß der Geist, der schon der Natur die Spuren eines Alles zusammenschauenden Denkens aufgedrückt, der in den Bewegungen der Sterne Rechenexempel gelöst hatte, an welche aller menschliche Scharfsinn nicht hinanreicht, nicht erst beim Menschen die Klarheit über sich selber zu suchen habe.

Schenkte mir so die Philosophie eine Weltanschauung, bei welcher der denkende Geist trotz aller Knoten, die noch zu lösen waren, und aller Geheimnisse, die noch übrig blieben, im Ganzen ausruhen könnte, so verdankte ich ihrem Studium ein noch werthvolleres Gut: die Freude an der unabhängigen, niemals abgeschlossenen Forschung. Nichts in der ganzen Menschengeschichte war mir häßlicher und abscheulicher, als die Engherzigkeit der Theologen, welche der freien Forschung ihr unfehlbares Buch oder ihr fertiges Dogma entgegenstellen. Ich faßte einen rechten Widerwillen gegen die Kirche, welche sich ohne Unterschied, ob katholisch oder evangelisch, im Amte der Ketzerrichterin gefiel und gegen die Meinungen der Philosophen bald den Arm des Staates, bald die Wuth des Volkes aufrief. Die [104] von Staat oder Kirche verfolgten Denker, die Spinoza, die Wolf, die Fichte, die Strauß hatten meine volle Sympathie. Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt! Die Wahrheit selbst sei Gott befohlen! Es giebt nur Ein Buch, das auf jeder Seite ewigen göttlichen Gehalt trägt – das ist die Welt, und es giebt nur Ein Mittel, die Wahrheit daraus zu finden – das sind zwei gesunde Augen. Aber jenes Buch ist so groß, daß Keiner es ausliest, und die Augen nehmen so verschiedene Gesichtspunkte, daß Jeder hören soll, was der Andere sieht. Von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen, ist eines der allgemeinsten Menschenrechte, und nur die freieste Ausübung dieses Rechtes bringt die menschliche Erkenntniß vorwärts.

Was geht über diese freie Lust des Forschens und Schauens?


[148]
IV.[WS 3] 3. Die religiöse Frage.
Motto: Gott bekehre dich zu der heiteren
Religion eines Herder, Jakobi, Kant!
(Jean Paul in einem Briefe an seinen Sohn.)


Näher und näher rückten wir unserem Ziele, der Theologie. Nach der allgemeinen philosophischen Grundlegung kam die Religion an die Reihe. Ein eigenes Semester war den Untersuchungen über ihren Ursprung und ihr Wesen gewidmet. Schon in die bisherigen Studien hatte ihre geheimnißvolle Gestalt auf alle Weise hineingespielt. Alle die großen Denker, Spinoza, Leibnitz, Kant, Fichte, Hegel, Schleiermacher, Feuerbach, hatten sich irgendwie mit ihr auseinandergesetzt; jedes philosophische System hatte eine bedeutsame Stelle für sie offen gelassen.

Freilich, die Religion, die man aus diesen Händen empfing, war nicht die Religion der Kirchen. In den stillen Werkstätten des deutschen Geistes wurde an einer Reformation gearbeitet, welche nicht weniger eingreifend war, als diejenige des sechszehnten Jahrhunderts, ja geradezu als die zeitgemäße Fortsetzung des damals Begonnenen erscheinen mußte.

Ich will versuchen, in der Kürze die Veränderungen anzugeben, welche in diesen Arbeitsstätten der Wissenschaft mit der Religion vorgenommen wurden.

Wenn man zuvörderst fragte: woher stammt die Religion? so antwortete die Kirche: vom Himmel, aus einer übernatürlichen Offenbarung Gottes, welche in Thaten, wie in Worten für alle Zeiten niedergelegt ist in einem auf wunderbarem Wege entstandenen, unfehlbaren Buche, der einzigen Quelle, wie der unverrückbaren Norm der wahren Religion. Die Wissenschaft sagte: nein, die Religion ist ein Erzeugniß des menschlichen Geistes, wie der Staat, wie die Kunst, wie die Wissenschaft, daher rein menschlichen Ursprungs und göttlichen nur soweit, als alles wahrhaft Menschliche zugleich göttlich ist, sofern sich im Menschengemüthe das Göttliche offenbart. Im Menschen liegt ein Verlangen nach einer festen Ordnung für sein getheiltes und zerfahrenes Wollen und nach einem unbedingten Maßstabe für den Werth seiner Handlungen, eine unabweisbare innere Forderung, sein Dasein und Schicksal, sein Wohl und Wehe, sein Dulden und Arbeiten in einen lebendigen Zusammenhang mit dem Weltganzen und den darin waltenden Mächten zu stellen, ein Streben, wie Goethe sich ausdrückt, sich einem Höheren, Reinen, Unbekannten freiwillig hinzugeben. Aus diesem Verlangen, aus dieser Nöthigung entspringt Alles, was unter den Menschen irgendwo als Religion erscheint, alle Bilder, welche [149] die Einbildungskraft sich schafft, um jenes geahnte Ewige zur Anschauung zu bringen, alle Vorstellungen, welche der Verstand bildet, um jenen Weltzusammenhang sich zu deuten, alle Handlungen, durch welche der Mensch in Berührung mit jenem Höheren und Reinen zu treten sucht. Aus dieser gemeinsamen Quelle haben alle Religionsstifter geschöpft, die einen reichlicher, die anderen karger, die einen reiner, die anderen mit trüberen Gefäßen, aber Alle nur aus ihr: Buddha und Mohamed, wie Jesus und Paulus, Sophokles so gut wie Jesaias.

Es giebt daher keine übernatürliche Offenbarung Gottes im Sinne der Kirchen; jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums nannte Schleiermacher eine Offenbarung, und selbst der Philosoph des Glaubens, Jakobi, ließ keine andere Offenbarung Gottes gelten, als die allgemeine und fortwährende in der Vernunft und im Gewissen des Menschen. Es giebt daher keine alleinseligmachende Religion: alle Religionen sind Versuche, dem religiösen Triebe der menschlichen Seele nach Ort und Zeit einen Ausdruck zu geben, keine so falsch, daß nicht das Wesen der Religion irgendwie in ihr sich ausgeprägt hätte, keine so wahr, daß das ganze Wesen der Religion rein und ungetrübt in derselben zum Ausdruck käme. Es giebt daher kein unfehlbares, göttliches Buch der Religion. Was die Kirchen dafür ausgeben, ist nur ein unter den Bedingungen und Bildungszuständen einer bestimmten Zeit abgelegtes menschliches Zeugniß von der Religion, werthvoll nur so weit, als es verstanden hat, dem in der Menschenbrust ruhenden Verlangen nach Licht und Heil einen allgemeingültigen classischen Ausdruck zu geben. So standen sich Wissenschaft und Kirche in der Frage nach der Quelle der Religion schroff gegenüber.

Fragte man zweitens: Was gehört zur Religion? so sagte die Kirche: sehr Vieles, die Wissenschaft: nur ganz Weniges, aber dieses Wenige trägt eine Ewigkeit in sich.

Sehr Vieles! sagte die Kirche, nämlich eine heilige Geschichte, eine untrügliche Lehre, ein auf göttlicher Einsetzung beruhender Cultus. Eine heilige Geschichte, die in den heiligen Büchern erzählten Wunder und Heilsthatsachen, welche von Gott selbst unter den Menschen gewirkt worden sind zu ihrer Erlösung aus Schuld und Verdammniß. Eine untrügliche Lehre als Gotteswort, sei dieselbe nun von Concilien auf Grundlage der Ueberlieferung oder von Theologen auf Grundlage der Bibel als Norm für alle Gläubigen entworfen worden. Endlich der gottgemäße Cultus, das Gebet, die Predigt, Taufe und Abendmahl und wie diese statutarischen Uebungen heißen mochten. Wer jene heilige Geschichte nicht glaubt, wer diese Glaubenssätze der Kirche nicht für wahr annimmt, wer an jenen zur Ehre Gottes und zum Heil der Seele eingesetzten kirchlichen Handlungen nicht Theil nimmt, der wird nicht selig – so urtheilten einstimmig die Kirchen.

Die Wissenschaft sprach zu diesen Forderungen der Kirchen ein ganz entschiedenes und einstimmiges Nein: All das Viele, das ihr mir nennt, mag in seiner Art und an seinem Platze gut und werthvoll sein, aber zum Wesen der Frömmigkeit gehört es nicht; es ist für die Religion etwas Abgeleitetes, mehr oder weniger Zufälliges, Unwesentliches, Untergeordnetes. Die Frömmigkeit verlangt nur Weniges, aber dieses trägt eine Ewigkeit in sich, nenne man dieses Eine und Wenige, wie man wolle, denn unter hundert Namen und Formeln kehrt es immer wieder; nenne man es mit dem vierten Evangelium die Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit, bezeichne man es durch jene Gottes- und Nächstenliebe, in welcher Jesus die Summe von Gesetz und Propheten gefunden hat, nenne man es mit dem Apostel Paulus das neue Geschöpf oder den in der Liebe thätigen Glauben oder mit Schleiermacher das innere Schauen und Erfassen des Unendlichen in allem Endlichen. Wer’s hat, versteht’s unter allen Namen und Hüllen. Gegen dieses Eine, was Noth thut, ist Alles, was die Kirchen drüber hinaus fordern, Nebensache, zum Wesen der Religion nicht erforderlich.

Was die heilige Geschichte betrifft, so sprach Lessing ein- für allemal das maßgebende Wort: „Zufällige Geschichtswahrheiten können nie der Grund für ewige Geisteswahrheiten werden.“ Alles geschichtlich Ueberlieferte ist der Untersuchung, der Kritik, dem Zweifel ausgesetzt, die Religion aber hat ihren bleibenden Grund in den ewigen Thatsachen der Welt und des Menschengemüthes. Ein geschichtlich Ueberliefertes werde ich für wahr halten, wenn es innerlich möglich und äußerlich genügend bezeugt ist. Annahme oder Verwerfung hängt also von Verstandesoperationen ab, die ich vornehme, hat also mit der Wärme und Innigkeit meines religiösen Lebens nicht das Geringste zu schaffen. Für die Frömmigkeit kommt es nicht an auf dasjenige, was vor so und so vielen Jahrtausenden einmal vorgefallen sein soll, sondern auf das, was heute geschieht, was in jedem Augenblicke, von jedem frommen Menschen sich wiederholen läßt. „Der Glaube hat es nicht mit Vergangenem, sondern mit Zukünftigem zu thun“, hatte schon Luther erkannt und gesagt, aber leider nicht angewendet.

Diese Dinge schienen mir so klar, so einleuchtend, so selbstverständlich, daß ich recht böse wurde auf die Kirche, in der ich lebte, und auf das Theologengeschlecht von Jungen und Alten um mich her, welche den Mund immer so voll hatten von „Unglauben“, „ungläubiger Wissenschaft“ etc., wenn diese letztere nur ihre einfache Schuldigkeit that, die Ueberlieferung der Vergangenheit nach ihren Gesetzen und mit ihren Mitteln zu erforschen. Ich meinte, eine Kirche, die etwas taugte, müßte sich über jede ernste Forschung freuen.

Wie mit der Historie, so verhielt es sich auch mit der Dogmatik, mit der sogenannten reinen Lehre. Luther hatte hierin genau gedacht, wie der Papst. „Alles gegläubt oder Nichts gegläubt; ist die Glocke an Einer Stelle geborsten, so täugt sie gar Nichts mehr,“ das war das Losungswort, welches er für seine neue Kirche ausgegeben hatte, und die Folge war zwei Jahrhunderte hindurch gewesen: ein herrschsüchtiges Pfaffenthum, Zank und Verfolgungssucht ohne Ende, Ertödtung des wissenschaftlichen Sinnes und des intellectuellen Fortschritts, Austrocknung des religiösen Lebens.[7]

Lessing hatte gerufen: „Luther, großer Mann, Du hast uns vom Joche der Tradition befreit – wer befreit uns von dem viel schwereren des Buchstabens?“ Die Wissenschaft half diesem Seufzer gründlich ab. Sie machte die Erkenntniß, daß es für den Werth des Menschen nicht ankomme auf das, was er glaube, sondern was er sei, wie er fühle und handle, zu einem Gemeingute der Bildung. Die Religion, sagte sie wie aus einem Munde, ist nicht Lehre, nicht Glaubenssatz, nicht Verstandeserkenntniß, nicht eine Summe metaphysischer, physikalischer, historischer Wahrheiten, die stets dem Streite unterliegen; sie ist Leben, das innere Leben der Menschenseele in und mit Gott; sie ist Gefühl, Geist, Gesinnung. Was sind alle Dogmen, alle gelehrten Systeme der Theologen? Geschicktere oder ungeschicktere, aber stets ungenügende Versuche, von den Erfahrungen des Herzens Rechenschaft zu geben, Forderungen eines innern Bedürfnisses, Aussagen über ein Gefühl, Bilder, Symbole, um das, was im Innersten lebt, sich selbst und Anderen verständlich zu machen. Diese Aussagen wechseln nicht blos mit den Zeitaltern und entlehnen ihre Farbe von den jeweilen herrschenden Denkbegriffen und allgemeinen Vorstellungen, sie wechseln im Grunde mit jedem Menschen. Keine zwei Menschen verbinden mit demselben Worte denselben Sinn. Die Religion erträgt daher keine todte, für alle Menschen und alle Zeiten feststehende Formel; sie ist Sache der persönlichen Ueberzeugung. Was war denn Luther mit seinem „Es sei denn, man widerlege mich aus der Schrift oder mit klaren Gründen der Vernunft, so werde ich nicht widerrufen; hier steh’ ich – ich kann nicht anders –“ was war er anders als das verkörperte Recht der persönlichen Ueberzeugung gegenüber jeder Kirchensatzung? Und was bedeutete jenes große Wort, das er unmittelbar nach der Leipziger Disputation niedergeschrieben hat, werth, über alle protestantischen Kirchthüren gesetzt zu werden: „Ich glaube, ein christlicher Theologe zu sein und im Reiche der Wahrheit zu leben. Darum will ich frei sein und mich keiner Autorität weder eines Concils, noch eines Kaisers, noch einer Universität, noch eines Priesters gefangen geben, um frei zu bekennen Alles, was ich als wahr eingesehen habe. Warum sollte ich’s nicht wagen, wenn ich, der Eine Mann, eine bessere Auctorität zeigen kann, als ein Concil?“

Was Luther in kühner, instinctiver Mannesthat vollzog, das begründete die Philosophie durch eine genaue Grenzscheidung zwischen dem religiösen und dem wissenschaftlichen Gebiete. Das [150] hatte schon Spinoza im Auge, als er erklärte, daß die Religion nicht wahre, sondern fromme Dogmen verlange; hier lag der Nerv in dem weltgeschichtlichen Kampfe Lessing’s mit Götze, und diesen Unterschied stellt der „Nathan“ in einem für alle Welt verständlichen Bilde vor Augen; hier wurzelte die tiefgreifende Unterscheidung, welche der scharfe Kritiker machte zwischen der Religion Jesu und der Religion über Jesus. Soweit es galt, die Religion von aller Dogmatik zu befreien, hatten Kant und Fichte Recht, das Wesen der Religion auf die Sittlichkeit zurückzuführen, wie seinerseits Schleiermacher, es weder in einem Wissen noch im Handeln, sondern nur im Gefühle wiederzufinden, wie sehr sonst alle diese Erklärungen über die Religion der Verbesserung bedürftig sein mochten.

Hier, konnte man meinen, sei endlich einmal der Weg entdeckt, auf welchem Wissenschaft und Religion friedlich neben einander gehen könnten, das Mittel für immer gefunden, der Wissenschaft ihre Wege frei zu erhalten und unverlegt durch die anmaßenden Einsprachen der Priester, aber ebenso die Religion in ihrem heiligen Rechte unabhängig zu stellen von den wechselnden Meinungen und Streitfragen des Tages. Hier schien für immer und gründlich von der Religion abgestreift, was ihren bisherigen Gang am meisten geschändet hatte: die Intoleranz. Nie mehr, sollte man erwarten, würde die Verwerfung irgend einer Formel über Gott und göttliche Dinge dem Unglauben an das Göttliche, der Irreligiosität gleichgesetzt werden, und nie mehr würde ein Mensch den andern um seines Glaubens willen lästern oder verdummen. Von dieser hohen Warte aus hatte Schleiermacher das schöne Wort zu seinen Zeitgenossen gesprochen: „Die Anhänger des todten Buchstabens, den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt; die wahren Beschauer des Ewigen waren immer ruhige Seelen entweder allein für sich und dem Unendlichen oder, wenn sie sich umsahen, Jedem, der das große Wort nur verstand, seine eigene Art gern vergönnend. Nur die freie Lust des Schauens und Lebens, wenn sie in’s Unendliche geht, setzt das Gemüth in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es aus den drückenden Fesseln der Meinung und der Begierde.“ Es war ein ebenso wohlthuendes wie erhabenes Bild, zu sehen, wie zwei unter sich sehr verschieden Denker dem Dritten, den alle Welt vorher um seiner religiösen Meinungen willen als einen Atheisten verabscheut hatte, gemeinsam die Palme der Religion um die Schläfe legten. Jakobi hatte den um jene Zeit neu entdeckten Spinoza mit den Worten begrüßt: „Sei mir gesegnet, großer, ja heiliger Benedictus! Wie Du auch über die Natur des höchsten Wesens philosophiren und in Worten Dich verirren mochtest, seine Wahrheit war in Deiner Seele und seine Liebe war Dein Leben.“ Und Schleiermacher forderte seine Zeitgenossen auf, den Manen des großen Spinoza eine Locke zu weihen; denn die Welt des Glaubens, wie die des Wissens werde eine Auferstehung feiern, wenn die Theologen werden so frei und die Philosophen so fromm sein wie Spinoza. Ich gedachte bei diesem Bilde des großen Galiläers, der seinen Schülern, als sie Feuer und Schwefel über Ungläubige verlangten, das Wort entgegenhielt: „Ihr wißt nicht, weß Geistes Kinder Ihr seid. Ich bin nicht gekommen, zu verderben, sondern zu retten,“ und ich vernahm das Gericht über die Kirche meiner Zeit, wie über diejenige der Vergangenheit, gemeinsam aus dem Munde der Denker wie der Frommen.

Dieselbe Reinigung, wie mit der Historie und der Dogmatik, nahm die Philosophie mit dem Cultus der Kirchen vor. Sie sagte: Der einzig nothwendige Cultus, auf den Alles ankommt, ist die Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit. Der vernünftige Gottesdienst, der von Allen verlangt werden kann, ist das gesammte, nach Gottes Ordnung geführte Leben; der wahre Tempel für die Anbetung Gottes ist die Welt mit ihren Versuchungen, Aufgaben und Pflichten; das rechte, allein nothwendige Gebet ist das Leben in der beständigen Nähe Gottes. Jede Meinung, Gottes Wohlgefallen durch etwas anderes zu erlangen als durch eine gottgemäße Gesinnung und einen pflichtgetreuen Wandel, ist nicht Gottesdienst, sondern Afterdienst, wie Kant in seiner „Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ so kräftig ausführte. Die Kennzeichen der Frömmigkeit sind nicht das Beten, das Kirchengehen, das Bibellesen, nicht das andächtige Schwärmen, sondern ausschließlich das rechtschaffene Handeln, die gewissenhafte und freudige Pflichterfüllung vor den Augen Gottes. Darum kann der Unterschied, welchen die Kirchen aufgestellt haben zwischen geistlichen und weltlichen Geschäften, zwischen heiligen und profanen Dingen, vor der Wahrheit nicht bestehen. Alles, was der göttlichen Ordnung gemäß ist, ist heilig. Was man geistig nennt, Beten, Kirchengehen, Predigen etc., kann sehr unheilig und geistlos geschehen; was man weltlich und profan nennt, bauen und pflanzen, kaufen und verkaufen etc., kann ein sehr geistiges und heiliges Geschäft sein. Die Anbetung Gottes, welche in der heiligen Gesinnung und in rechtschaffenem Wandel besteht, kann von Allen gefordert werden, dagegen, was man außerdem Gottesdienst nennt, was man gewöhnlich allein so nennt, gehört zu den freien Stücken, mit denen es Jeder halten kann nach Bedürfniß, die wechseln und sich ändern nach Land und Zeit und Bildung, die ihren Werth nicht in sich selbst, sondern nur in dem Dienste haben, den sie jener allein nothwendigen Gottesverehrung leisten.

Diese Grundsätze, die doch eigentlich nur erneuerten, was alle Vorkämpfer einer reineren Religiosität von den Propheten Israels an bis auf Luther angestrebt, in classischen Worten ausgesprochen, durch den Kampf ihres Lebens besiegelt hatten, schienen nichts Geringeres zu enthalten, als die Befreiung der Religion von der Kirche. Die Religion ist nicht Historie, nicht Dogmatik, nicht Kirche. Das hieß natürlich nicht: weg mit der Historie, weg mit der religiösen Lehre, weg mit der Kirche! Das hieß nur: Jedes an seinen bescheidenen Ort! Die Geschichte als ein wichtiges Bildungsmittel der Religion, die Dogmatik als der stets erneuerte Versuch, auch den religiösen Factor der menschlichen Natur in den Zusammenhang der gesammten Welterkenntniß denkend einzureihen, die Kirche als die Pflegerin des religiösen Idealismus unter den Völkern, Jedes an seinen bescheidenen Platz! Aber die Religion ist etwas ganz anderes, als diese Dinge.

Die Religion rein menschlichen Ursprungs! Die Religion frei von der Geschichte, von der Glaubenslehre, von der Kirche! Das waren tiefeingreifende, durchschlagende Einsichten. Aber die Wissenschaft ging noch einen Schritt weiter; sie setzte ihr Reinigungsgeschäft bis in den innersten Kern der frommen Gesinnung fort. Daß ich es kurz sage: sie befreite die Religion von der Selbstsucht, die bisher immer mit ihr gelaufen war und ihr reines Wesen getrübt und geschändet hatte.

Alle Kirchen beruhten auf dem Glauben an eine menschenähnliche, willkürlich handelnde Gottheit, welche äußerlich in den Lauf der Dinge einzugreifen die Macht und den Willen habe, daher sich unter Umständen durch Gebete und andere kirchliche Handlungen der Menschen in ihrem Handeln bestimmen lasse. Nicht eine nothwendige, aber eine sehr natürliche Folge dieser Gottesanschauung war die selbstsüchtige Frömmigkeit, welche die Gottheit als Werkzeug für die Erfüllung der Wünsche des Herzens gebrauchte, die lohnsüchtige Religion, welche für ihre Leistungen an Gott die Glückseligkeit in diesem und dem jenseitigen Leben als den verdienten Lohn forderte. Ueberdies: wie kurz ist der Weg von dieser Gottesanschauung zur Gottesleugnung! Man denke sich Luther’s Gebet am Krankenbette von Freunden, oder bei anhaltender Trockenheit („das bitt’ ich mit Ernst, will’s auch gewährt haben“, „erhörst Du uns nicht, so werden die Gottlosen Dich und Deinen Sohn Lügen strafen“ etc.), man denke sich dieses Gebet in einem weniger heroischen und glaubenskräftigen Munde, man denke es unerhört – wie nahe liegt da die Rede: es ist Nichts mit Gott; es regiert keine Weisheit und Liebe im Weltall; Stoff und blinde Nothwendigkeit ist Alles. Zeigt nicht gerade unsere gegenwärtige Zeit in großen Zügen diesen Uebergang vom Gottesglauben der Kirche zur entschiedenen und bewußten Gottesleugnung?

Die Wissenschaft, zu deren Füßen wir damals saßen, ging darauf aus, vom Gewande der Gottheit alles Menschenähnliche, alles Wandelbare und Veränderliche, alles Willkürliche abzustreifen. Sie betrachtete in allen ihren selbstständigen Trägern die Welt unter dem Gesichtspunkte einer festgefügten Ordnung, welche einen Einbruch durch eine außer ihr stehende Gewalt weder irgendwo zeige noch überhaupt gestatte, als einen ununterbrochenen Zusammenhang von natürlichen Ursachen und Wirkungen, in welchen von außen Nichts hineinkomme, und konnte daher das Göttliche nur als den in diesen Ordnungen [151] waltenden, in diesem Zusammenhange der natürlichen Dinge schaffenden und sich auswirkenden Geist festhalten, wie verschieden und mannigfaltig sie das auch in Worten und Formeln auszudrücken versuchte. Daß die Religion bei dieser sogenannten immanenten Weltanschauung dahinfallen müsse, wie man mir sagte, wollte mir nicht einleuchten. Ich sah, wie alle die Denker und Forscher, welche jene Weltanschauung pflegten und herausarbeiteten, der Religion ihren Platz in dem System ihrer Gedanken anzuweisen wußten; Schleiermacher besonders, dessen Organ für die Religion so fein und scharf ausgebildet war, führte den Gedanken auf allen Punkten, welche die Religion berührten, durch, daß der Naturzusammenhang und die Wirksamkeit Gottes sich decken, daß die Religion auf keinem Punkte Ursache habe, Wunder oder überhaupt ein äußerliches Eingreifen Gottes in den Weltzusammenhang anzunehmen.

Ohne Zweifel erlitt die Religion unter dieser Weltanschauung eine tiefgreifende Veränderung; das war ein schmerzlicher Schnitt mitten in’s Herz aller bisherigen Religionen. Aber jene Veränderung schien der Religion nur zum Nutzen zu gereichen und dieser Schnitt in’s Herz versprach Heilung von vielen Krankheiten und volle Genesung. Nicht einen wunderthätigen, in die Weltordnung um der Wünsche und Bedürfnisse des Menschen willen eingreifenden Gott verlangt das wirklich fromme Herz, sondern nur den wahren, gegenwärtigen, fühlbaren Gott, bei dem es in der Angst des Zeitlichen ausruhen, aus dem es Kraft und Licht, Trost und Stärke schöpfen kann. Jetzt erst schien die Religion unter den Menschen werden zu können, was sie ihrem Wesen nach ist: selbstlose, uneigennützige Hingebung.

Für eine solche vertiefte, vergeistigte, geläuterte Religion einst wirken zu dürfen – welch’ eine erhebende und begeisternde Aussicht!


[198]
IV. 4. Die Dogmatik und die moderne Weltanschauung.


[199] einheitlich, mit sich übereinstimmend im Ganzen und in den Theilen, wie es das frühere gewesen war. Lessing’s Forderung war nicht: keine Theologie mehr! So weit, wie die Aufklärung von heute, war er nicht. Seine Forderung war: eine neue Theologie, welche alle Fragen des Verstandes, die sich auf dem Grunde unserer religiösen Erfahrung im Zusammenhang mit unseren übrigen Welterkenntnissen erheben, von einer neuen Grundanschauung aus ebenso einheitlich, klar und bestimmt beantwortet, wie es die frühere von ihren Kenntnissen und Voraussetzungen aus gethan hatte.

Ich habe Lessing erst später, nach den Studienjahren, eingehender und gründlicher studirt, aber das war wenigstens die Richtung, in der ich lief, als in unserem Studiengang die Reihe an die Dogmatik kam. Zuerst wollte ich die Orthodoxie genau kennen lernen, nicht die verdünnte, abgeschwächte, verschämte, wie sie mir in den sich rechtgläubig oder positiv rühmenden Theologen meiner Zeit entgegentrat, sondern jene echte, ungebrochene, selbstbewußte, die mit Luther sprach: „Alles geglaubt oder nichts geglaubt; ist die Glocke an Einem Orte geborsten, so taugt sie überhaupt nicht mehr“, oder mit Quenstedt: „wenn in den canonischen Büchern Einiges nach Menschenart oder mit menschlicher Bemühung, nicht durch die Eingebung des heiligen Geistes geschrieben wäre, so käme das ganze Ansehen der Bibel in Gefahr; wenn ein einziges Verslein ohne den unmittelbaren Einfluß des heiligen Geistes geschrieben ist, so wird der Satan gleich bei der Hand sein, dasselbe vom ganzen Capitel, vom ganzen Buch, zuletzt von der ganzen Bibel zu sagen.“

Ich las die wahrheitsgetreue Darstellung der lutherischen Dogmatik von Schmid und legte daneben die großen, schweinsledernen Folianten von Calov und Quenstedt, um die Belegstellen aus den Quellen zu schöpfen. Das war freilich ein barbarisches Latein, durch welches man sich hindurcharbeiten mußte; das war eine Scholastik, so gräulich und ungenießbar, wie je die mittelalterliche gewesen war, so unfruchtbar für das Leben, wie für die Wissenschaft, weil diese Lehrer der Kirche, ihren Kopf auf ein altes Buch gedrückt, nichts von Allem sahen und sehen wollten, was rechts und links vorging, aber es war eine Ganzheit des Standpunktes, eine Tapferkeit des Glaubens, eine Folgerichtigkeit des Denkens, die sich Achtung erzwang. Man gebe mir nur zwei Dinge: das Weltsystem, welches die Phantasie des auf die Reformation folgenden Geschlechts trotz Copernicus und Galilei noch erfüllte, die in Himmel, Erde, Hölle dreigetheilte Welt und daneben das einzige Factum, den Fall des ersten Menschen im Paradiese mit seinen schrecklichen Folgen, und ich will die ganze Kirchenlehre, Dogma für Dogma, nachconstruiren. Die Welt hatte so schön begonnen, hervorgequollen aus Gottes Hand; der Geist schwebte über den Wassern, und des Ewigen Wort ertönte: es werde Licht! und aus der Reihe der Welten und Wesen, die diesem Rufe folgten, trat zuletzt der Mensch hervor, nach Gottes Bilde geschaffen, schön und gut, wie die ganze neuerschaffene Welt, der Herr der Erde und der Träger der göttlichen Gedanken. Aber unglücklicherweise fällt er in einer schwachen Stunde, verführt von dem Geist der Hölle, der auf die Erde züngelt. Mit einem Male verdunkelt sich die Welt. Das Paradies verschwindet; die Erde trägt Dornen und Disteln; mit der Sünde kommt der Schmerz, seitdem das Loos des Sterblichen, und am Ende der traurigen Bahn steht der Tod, der leibliche, und noch schrecklicher, der geistige, die Verdammniß, die der erzürnte Gott über das ganze kommende Geschlecht verhängt um der Sünde des Einen willen. Das Herz ist böse; die Vernunft ist verfinstert, der Wille verkehrt, und ein Geschlecht um das andere eilt der Hölle zu.

Aber während der Mensch sich hierunten vergeblich abringt mit seinem Loose, hebt im Herzen der Gottheit selbst ein Kampf an; die Liebe ringt mit der Gerechtigkeit. Die Liebe ruft Rettung; die Gerechtigkeit verlangt Sühne für die ganze, in’s Unendliche abgelaufene Sündenschuld. Wer soll die Sühne bringen? Der Mensch nicht, denn alle Menschen stehen ohne Ausnahme unter dem Bann der Sünde und des Fluches. Nur ein Gott kann es thun, aber ein Gott in Menschengestalt, damit, was er thut, den Menschen seinen Brüdern gutgeschrieben werden könne. Gott entschließt sich, Mensch zu werden, genügt dem Gesetze, das Adam verletzt hatte, durch ein schuldloses Leben, nimmt die Strafe der Sündenschuld auf seinen Rücken und schlägt sie an’s Holz in seinem Kreuzestode. „Es ist vollbracht,“ ruft er, „Satan, der Fürst der Welt, ist verurtheilt. Sünde, Fluch und Tod sind gerichtet; der Himmel ist wiedergebracht,“ und der Gottesheld steigt zuerst in die Behausungen der Todten, erbricht die Riegel der Hölle und kündigt den gefangenen Geistern die frohe Botschaft an, dann schwingt er die Siegesfahne über seinem Grabe und erhebt sich triumphirend wieder in den Himmel. Seitdem ist der Himmel wieder offen über dem sterblichen Geschlecht; die Gnade kann sich wieder in vollen Strömen ergießen, aber natürlich nur über diejenigen, welche die dargebrachte Sühne als eine auch für sie geschehene anerkennen, welche, verzweifelnd an sich selbst im Gefühle ihrer Schuld, das Verdienst jener erlösenden Gottesthat im Glauben ergreifen.

Das ist der phantasievolle Rahmen, in welchen die Kirche Dogma um Dogma eingefaßt hat, in welchen unsere Völker über anderthalb Jahrtausende ihre tiefsten Betrachtungen über Gott und Welt, ihre heiligsten Gefühle und erhabensten Stimmungen, ihr Hoffen und Lieben und Leiden hineingelegt haben – das größte Drama, das sich denken läßt, denn sein Schauplatz ist der weiteste: er umfaßt Himmel und Erde und Hölle, und sein Thema ist das größte: es ist der Mensch in seinem Ringen um sich und seinen Gott. Das größte Drama – und doch nur wie ein verklungenes Märchen aus der Jugendzeit für den gegenwärtigen Menschen, wie eine Göttergeschichte, der er sich erinnert in der Kindheit einmal mit begierigem Ohre und mit leuchtenden Augen gelauscht zu haben, die aber mit allen seinen jetzigen Welterkenntnissen und sittlichen Einsichten im grellsten Widerspruche steht. Mir machte es keine Mühe, sie abzuschütteln; ich war aus ihr hinausgewachsen, lange ehe ich sie zum Gegenstande des gelehrten Studiums machte; alles, was ich gelesen und getrieben hatte, fast die ganze neuere Literatur in Prosa und Poesie, athmete einen anderen Geist. Fast alle meine Studiengenossen hatten ihr Zweifeljahr; wie sie’s angriffen, die Vernunft zu geschweigen und zum „Glauben“ zurückzukehren, war mir unklar.

Aber ich wollte nicht blos überhaupt fertig sein mit der Orthodoxie. Der Theologe mußte sich Rechenschaft geben, warum er damit fertig sei und was er an die Stelle zu setzen habe. Ich nahm daher „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, dargestellt von Dr. David Friedrich Strauß. Zwei Bände, 1840“ vor mich. Das war einmal grüne Weide nach dem unfruchtbaren Acker der altkirchlichen Dogmatik. Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, wie viel ich diesem Buche verdanke. Man sollte Keinen zum theologischen Examen zulassen, der sich mit demselben nicht gründlich auseinander gesetzt hat. Hier wird Dogma für Dogma von der Weltschöpfung an bis zum Weltuntergang, von dem Paradiese an, von welchem das menschliche Leben ausgeht, bis zu Himmel und Hölle, in welche es mündet, durch alle Stufen seiner Entwickelung, in seinen schüchternen biblischen Anfängen bis zu seinem Abschluß in der katholischen und altprotestantischen Kirchenlehre verfolgt; dann wird jeder Widerspruch, der sich gegen dasselbe erhoben hat, jeder Aufschrei der Vernunft, jede Klage des Gemüthes, jede Auflehnung des sittlichen Bewußtseins einzeln abgehört und zuletzt zusammengefaßt in der gewaltigen Stimme einer auf neuen Grundlagen ruhenden Wissenschaft und Bildung. Das ist nicht die Kritik des einzelnen Mannes, die dem Brunnenrohre gleicht, das jeder Knabe eine Weile zuhalten kann; das ist die Kritik der Jahrhunderte, der Geschichte selbst, die als ein brausender Strom heranstürzt, gegen den alle Schleußen und Dämme nichts vermögen.

Und dieses Geschäft, das wohl jeden Andern durch seine Einförmigkeit ermüdet hätte, wird hier mit einer immer gleichen Geistesfrische, mit stets wechselnden Darstellungsformen, mit so viel Geist und Geschmack, mit so viel künstlerischer Virtuosität zu Ende geführt, daß das gelehrte Werk der Wissenschaft fast zur angenehmen und erquickenden Unterhaltungslectüre wird. Ich las mit Lust und Aufmerksamkeit bis zu Ende. Das alte Götterbild lag zertrümmert zu meinen Füßen; ich hatte mit der Orthodoxie, und zwar nicht nur mit diesem und jenem an ihr, sondern mit der ganzen Weltanschauung, welche ihr zu Grunde liegt, für immer gebrochen, und ich wußte warum.

[200] Aber was an die Stelle? Die eine Forderung, welche Lessing gestellt hatte, war erfüllt: „Das unreine Wasser der alten Orthodoxie war völlig ausgegossen“, aber war nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? Oder wo war das reine Wasser, in welchem es hinfort gebadet werden konnte? Mit anderen Worten: wo war die reinere Glaubensform, in welcher ein anders denkendes, von anderen Weltbegriffen beherrschtes Geschlecht demselben religiösen Triebe unserer Natur, denselben frommen Empfindungen, demselben Ringen des Gemüthes nach Heil und Versöhnung, welchem die Väter durch die Bilder und Vorstellungen der Orthodoxie genügt hatten, einen neuen, der Zeit entsprechenden Ausdruck gab? Lessing hatte gerathen, die alten Lichter fortbrennen zu lassen, bis die Sonne aufgehe. Strauß hatte die alten Lichter alle ausgelöscht, aber wo war die Sonne, die nicht nur den Geist erhellte, sondern auch das Gemüth erwärmte? Die, wie oft sie auch den Weg glücklich andeuteten, doch mageren, oft sterilen und abstracten Formeln aus der Hegel’schen Philosophie, welche Strauß am Schlusse eines jeden Abschnittes an die Stelle des zertrümmerten Glaubens setzte, konnten dafür nicht gelten.

Treffend hat ein neuerer Schriftsteller über Strauß geurtheilt: „Talentreicher, gelehrter, scharfsinniger, geschmackvoller ist Lessing nicht gewesen, aber er war gleichwohl die höher und origineller angelegte Natur. Es fehlte Strauß jene letzte Vertiefung des Geistes und Gemüthes, die volle Mitempfindung des menschlichen Wesens und Geschickes, die den Weisen, den Geschichtschreiber, den großen Forscher, den Gründer einer Schule, den Führer einer geistigen Genossenschaft kennzeichnet.“ Demjenigen, was die Völker suchen in ihren Religionen und Confessionen, oft im Lichte, oft auf dunkeln, verworrenen Wegen, ist Strauß, eine vorherrschend kritische und ästhetische Natur, nicht gerecht geworden.

Aber war denn jene zweite, positive Aufgabe, welche Lessing in Aussicht gestellt, Strauß nicht gelöst hatte, nicht anderwärts bereits gelöst? Alles wies auf Schleiermacher, der die Innigkeit und Wärme des religiösen Gefühls mit der Kraft und Freiheit der Wissenschaft in einem so seltenen Grade verbunden, der in seinem grundlegenden Werke aus den Jahren 1821 und 1822 „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ den Versuch gemacht hatte, Religion und Christenthum im Einklange mit den Anforderungen der Wissenschaft der Zeit darzustellen. Es kostete viel Schweiß, durch das umfangreiche Werk sich durchzuarbeiten. Nach der anschaulichen Plastik des Straußischen Styles diese schwere Sprache, diese gewundene Darstellung, diese künstlichen Gedankenwege, diese spintisirende Reflexion! Aber der Gewinn war groß. Hier erschienen Religion und religiöse Gemeinschaft als wesentliche Factoren der menschlichen Natur und als weltbewegende Mächte in ihrer ganzen Tiefe und Bedeutung, aber [201] abgelöst von all den äußerlichen Uebernatürlichkeiten, durch welche die Orthodoxie sie ungenießbar gemacht hatte, und gleichsam vom Himmel auf den natürlichen Boden der Erde verpflanzt. Man

WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


befand sich in der tiefsten Berührung mit einem Unendlichen und hatte doch nicht nöthig, auf den natürlichen Zusammenhang der Dinge, auf die Gesetzmäßigkeit der Weltordnung zu verzichten.

Wohl versicherte der Theolog, daß sein Glaube mit der Philosophie nichts zu schaffen habe; er wolle nur das fromme Gefühl belauschen, seine Aussagen aufschreiben und in einen Zusammenhang bringen, aber zum Glücke lauschte er mit dem Ohre eines Philosophen, der an den großen Aufgaben der Wissenschaft selbstständig gearbeitet hatte. Das Universum, in das hier der Mensch gestellt wird, ist die Eine ungetheilte Welt des Copernikus, in der es kein Oben und Unten, kein Hüben und Drüben, daher auch keinen außerweltlichen Gott giebt. Der Gott, der hier regiert, kennt keine Wunder und keine vereinzelten Handlungen, wird ihm ja sogar das Prädikat der Persönlichkeit abgesprochen; seine Wirksamkeit erscheint nur in der Gesammtheit des endlichen Seins und der natürlichen Ursachen, so daß nie von einer Begebenheit die Rede sein kann, die ihren Grund nicht in dem von Gott gesetzten Zusammenhange der natürlichen Ursachen und Wirkungen hätte. Aus diesem Zusammenhange sucht der Theologe auch die Erscheinung Jesu Christi natürlich zu begreifen. Dieser ist ihm kein Wesen, das vom Himmel kommt und zum Himmel fährt, das vor seiner menschlichen Geburt schon irgendwie existirt hat und auf übernatürlichem Wege zur Welt kommt, sondern ein Erzeugniß der Schöpferkraft der gottbefruchteten Menschennatur, und sein einziger Titel ist: Mensch, der seiner Idee angemessene Mensch. So ist auch die Kirche nichts anderes, als eine Gemeinschaft von Menschen, welche den gottinnigen Geist Jesu Christi durch das Wort, durch gewisse sinnbildliche Handlungen, durch die Selbstdarstellung ihrer Persönlichkeit fortzupflanzen suchen.

Wie ängstlich auch Schleiermacher bemüht war, seine Ansichten den altkirchlichen Lehren anzunähern, was ohne Gewaltsamkeiten, Künsteleien, Widersprüche nicht abging, so hat er doch für Den, welcher einige Nebel und Schleier auf die Seite schieben kann, die sämmtliche Begriffswelt der überlieferten Theologie in dem einheitlichen Geiste einer neuen Welterkenntniß radical umgestaltet, und was einem Lessing als die Aufgabe der Zukunft vor Augen geschwebt hatte, das war hier in einem großartigen Versuche angestrebt worden. Ich schied von dem Meister, dem ich oft genug um seines Schaukelsystems willen böse geworden war, doch mit innigem Danke und großem Respecte. Das Urtheil über Schleiermacher steht heute noch nicht fest. Man liebt es, seinen Namen als ominös zu betrachten, und Strauß insbesondere war in seinen Urtheilen sehr unfreundlich gegen den auf dem Wege von den „Reden“ zur „Glaubenslehre“ zum Diplomaten umgewandelten Mystagogen, wie [202] er ihn nennt, und wandte auf ihn das sarkastische Wort aus Schiller’s Wallenstein an: „Und wer ihn eine falsche Katze schilt, der hat’s mit mir zu thun.“ Gewiß mit Unrecht. Der Briefwechsel (Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Berlin 1858) zeigt eine zwar sehr complicirte, aber lautere und gegen sich treue Individualität, und seine Handlungsweise in der gefährlichen Zeit der kirchlichen Reaction in Preußen offenbart einen Charakter, der mannhaft für seine Ueberzeugungen einsteht und immer der Freiheit dient. Die Zweizüngigkeit seines theologischen Systems ist nicht die Schuld seines Charakters, sondern die Folge seiner geistigen Ausrüstung und seiner Zeit.

Unter solchen geistigen Einflüssen – Strauß durch Schleiermacher ergänzt und Schleiermacher durch Strauß corrigirt – bildete sich der jugendliche Geist seine eigene Glaubenslehre, die freilich zum Glück bis auf den heutigen Tag noch nicht abgeschlossen ist; denn die Wahrheit hat das Vorrecht, immer noch einige Geheimnisse für sich zu behalten. Als ich meine erste Stiftspredigt gehalten hatte, nahm mich der mit ihrer Beurtheilung beauftragte Repetent (Staib) auf seine Studirstube und sprach die lakonischen Worte: „Das war keine Predigt – das ist ein Programm der modernen Weltanschauung.“


[288]
IV. 5. Die „Tübinger Schule“.


Trotz der vielfachen Ungunst der Zeit, von welcher damals die theologischen Studien gedrückt wurden, ist mir doch Ein Glück widerfahren, das ich nicht aufhören werde, dankbar zu rühmen: ich hatte Ferdinand Christian Baur zum Lehrer und zwar gerade in der Zeit, da er im frischen Zuge seiner epochemachenden Entdeckungen war.

Ich sehe noch die hohe ehrwürdige Gestalt mit dem feinen, charaktervollen Kopfe, mit der hochgewölbten Stirn, mit den krausen Haaren, die schon in das Grau des Alters spielten – er stand in der Mitte der Fünfziger – wie er Morgens acht Uhr von der Hölle her – so nannte man seine Wohnung wegen ihrer tiefen Lage; die Orthodoxen dachten sich dabei noch ganz andere Beziehungen – gegen das Colleg schritt, nachdem er schon vier Stunden angestrengter Arbeit hinter sich hatte; er stand Sommers und Winters um vier Uhr am Pulte, im Winter einige Stunden in der ungeheizten Stube, um die Mägde zu schonen. Ich sehe ihn noch, wie er gegen Abend langsamen Schrittes, gedankenvoll seinen regelmäßigen Spaziergang die Neckarstraße hinunter über den Wörth machte, eine ehrfurchtgebietende Erscheinung. Ich habe Niemand gehört, der über diesen Mann Uebles gesprochen hätte. Natürlich verfluchte man ihn Land auf und ab als den großen Heiden und Ungläubigen, der das Gift der Gottes- und Christusleugnung in die Herzen der künftigen Diener der Kirche aus voller Schale gieße, und die Träger der kirchlichen Reaction reizten oft und auf alle Weise die Regierung zum Einschreiten. Aber nicht blos erkannte Jedermann Baur’s enormes Wissen und seine selbstlose Hingebung an die Aufgabe der Wissenschaft bereitwillig an, sondern es wagte auch Niemand, den großen und reinen Charakter anzutasten. Denn die Tugenden der reinsten Humanität, ein Adel der Gesinnung und eine Kindlichkeit des Herzens im schönsten Sinne des Wortes, eine Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit, Schlichtheit des Wesens bei allem berechtigten Selbstgefühle, ein offenes Auge und ein warmes Interesse für alles Menschliche bei aller Concentration auf sein Fach, eine wohlwollende Milde und Lindigkeit bei aller Schärfe eines ausgeprägten Charakters, ein freundlich eingehendes Verständniß für fremde Art und Ueberzeugung, sobald sie nicht fanatisch war, leuchteten Jedem aus diesem großen Gelehrtenleben entgegen.

Viele meinten, der Mann sei ausschließlich Kopf, gleichsam der verkörperte kritische Verstand, und Solche, welche auf Geistreichheit oder fromme Empfindsamkeit reisten und des Wunders halber bei ihm einkehrten, fanden sich wenig angesprochen von der ruhigen Sachlichkeit seiner Rede und seines Wesens und posaunten dann in die Welt hinaus, bei Baur sei Alles, was sonst ein Menschenherz erfülle, verschlungen von einem einseitigen Intellectualismus. Sie maßen die Größe nach ihrer Kleinheit. Baur hielt, wie Lessing, viel auf reinliche Sonderung der Gebiete: Gott, was Gottes, dem Kaiser, was des Kaisers – dem Verstande was des Verstandes, und dem Gemüthe, was des Gemüthes ist. Nie mischte er in Fragen, welche der Verstand zu entscheiden hat, sogenannte Bedürfnisse des Glaubens oder des Gemüthes. Das vierte Evangelium z. B. war seinem tiefsinnigen Geiste in seiner Art ebenso sympathisch wie einem Schleiermacher, aber diese Sympathie verhinderte seinen Verstand nicht, das Buch genau so zu erkennen, wie es ist, und gestützt auf diese kaltblütige Untersuchung zu erklären, daß es ein verhältnißmäßig spätes Erzeugniß sei, daß es nicht herrühre von „dem Jünger, den der Herr lieb hatte“, daß sein Christus weder der Jesus der Geschichte, noch der Christus des eigenen Glaubens sei. Darum waren die Lösungen der wissenschaftlichen Aufgaben bei Baur so klar, so durchschlagend, so fruchtbar und fördernd. Aber das treffende Wort Schelling’s: „das Gemüth ist schön, wenn es im Grunde bleibt“, verstand er sehr wohl. Er trug eine seltene Fülle und Tiefe des Gemüthes in sich nicht blos für den Hausgebrauch des täglichen Lebens, sondern gerade auch für die Behandlung der großen Aufgaben der Religion, in welchen sein Lebensberuf lag. Seine ganze Weltbetrachtung war eine tiefreligiöse, und nur wer die Thatsache der Religion so warm und lebendig in sich erfahren hatte, konnte alle diese dogmatischen und historischen Fragen, die zum Wesen der Religion nicht gehörten, so ruhig kritisch behandeln in der Ueberzeugung, daß die Frömmigkeit dabei nicht verliere, sondern gewinne.

Es war eben in den vierziger Jahren, in welche meine Studienzeit fiel, daß Baur nach langen, mühseligen Vorarbeiten seine epochemachenden Werke veröffentlichte, seine für die ganze Evangelienfrage grundlegende Abhandlung über das vierte Evangelium, sein umfassendes Werk „Paulus, der Apostel Jesu Christi“, das in drei Abtheilungen das Leben, die Schriften, die Lehre des Heidenapostels behandelte, und seine „Kritischen Untersuchungen über die canonischen Evangelien“.

Ich kann auf jene Zeit nur mit Neid und Wehmuth zurücksehen. So viel Neues lernt man später kaum im ganzen Leben wieder, als man damals in einem Jahre lernen konnte. All diese reifen köstlichen Früchte genoß man gleichsam frisch vom Baume weg; es war Einem, als hätte man sie schütteln geholfen. Die Wahrheit war wie ein flammendes Feuer, das einen ganzen Wald angelernter Vorurtheile in Brand setzte und weithin Licht verbreitete. Die „Decke Mosis“ fiel von den Augen und mit aufgedecktem Angesichte sah man die alten Zeiten, die wichtigsten Zeiten, von welchen der Strom unserer tiefsten Bildung ausging, in ihrer natürlichen und ursprünglichen Beleuchtung aufsteigen. Das Unverstandene und dumpf Angestaunte schloß sich auf; das Starre kam in Fluß; das Abgerissene wurde eingereiht in den Zusammenhang der natürlichen und begreifliche Geschichte. Wer mit der Freude und Unbefangenheit eines jugendlich strebenden Geistes sich diesen Entdeckungen der Wissenschaft hingab, der wußte es ein für alle Mal, daß die Erkenntniß der höchste Genuß ist.

Die Anhänger der kirchlichen Ueberlieferung erheben den hartnäckigen Vorwurf, daß Baur ein negativer, das heißt nur ein auflösender und verneinender Theologe gewesen sei. Nur die Beschränktheit kann so urtheilen. Baur ist im wahren Sinne des Wortes der positivste Theologe des Jahrhunderts. Er hat die verschütteten Anfänge des Christenthums wieder entdeckt und an der Stelle des conventionellen, aber unmöglichen das wahre [289] Geschichtsbild der ersten christlichen Jahrhunderte aufgerollt. Das Christenthum war in seinen Urkunden als ein Wunder überliefert und achtzehn Jahrhunderte hindurch als ein solches geglaubt. Aber seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gingen alle Bewegungen dahin, das Wunder für unglaubwürdig zu halten. Goethe hat im Sinne aller Träger der fortschreitenden Geistesbildung, selbst eines Jacobi, des berufenen Schutzredners der Religion des Christenthums, an Lavater geschrieben: „Du hältst das Evangelium, wie es steht, für die göttlichste Wahrheit; mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebärt und daß die Todten auferstehen; vielmehr halte ich dies für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur.“ Dieses Goethe-Wort war gleichsam die Losung, um welcher ein junger Repetent im Tübinger Stift seinen Feldzug gegen die vier Evangelien begann: Strauß gab 1835 sein „Leben Jesu“ heraus; er zerrieb mit umfassender Gelehrsamkeit und meisterhafter Kunst die vier Berichte theils an einander, theils an den Thatsachen der allgemeinen Erfahrung und den Gesetzen des menschlichen Denkens, und sein Ergebniß war: dieses Leben Jesu ist Mythus.

Die Kirche gerieth in einen panischen Schrecken. Alles von der frevelhaften Hand des kalten Unglaubens niedergerissen, was bisher das Gemüth der Völker gefüllt hatte, was für das Herz Trost im Leben und Sterben gewesen war! Weg mit dieser ungläubigen Wissenschaft! Weg mit der bösen Philosophie! Weg mit der schrecklichen Kritik! Die Katheder füllten sich mit „gläubigen“ Professoren; auf den Kanzeln wurde die Vernunft wieder lutherisch behandelt, und es begann jene kirchliche Reaction der vierziger und fünfziger Jahre, an deren Folgen wir heute noch leiden.

Aber auch die Wissenschaft ihrerseits war nicht befriedigt. Sie liebt das Licht, aber der Straußische Feldzug hatte auf dem weiten Wege der ersten christlichen Jahrhunderte fast alle Lichter ausgelöscht, fast alle Wegweiser und Zaunpfähle ausgerissen und eine unwirthliche Oede zurückgelassen. Sie beruht auf dem Grundsatze vom zureichenden Grunde, aber wo war der zureichende Grund für diese weltgeschichtlichen Wirkungen des Christenthums? Daß das Leben Jesu nach den vier Evangelien ein Mythus sei, das war unzweifelhaft, aber welches Leben Jesu war dann die Wahrheit? Daß es so nicht hergegangen sein kann, war klar, aber wie war es denn hergegangen? Die Antwort auf diese Fragen, das Werk der aufbauenden Kritik, ist Baur’s unvergängliches Verdienst. Baur hat zu dem Werke seines glänzenden Schülers mehrere Jahre geschwiegen, was ihm dieser, für Lob und Dank außerordentlich empfindlich, wie er war, niemals verziehen hat, weil er dahinter Menschenfurcht oder Aerger, sich überholt zu sehen, gewittert hat. Aber mit großem Unrecht. Niederreißen geht schneller, als aufbauen, und Baur war eine tiefgründige, stetig, aber langsam vorschreitende, echt positive Natur; er war der Bohrer, der mit seinem Stahl in den Felsen drang, jede Steinschicht, durch die er drang, untersuchte und notirte und mit seinem Funde erst vor die Oeffentlichkeit trat, wenn er auf den Erzgrund gestoßen war. Immer näher und näher hatte er die feste Stelle umschrieben, von der aus er operiren konnte, und plötzlich stand er mitten inne. Es waren die bekannten vier paulinischen Briefe, das einzig Sichere und Unangefochtene auf dem schwankenden, von der Kritik unterhöhlten Boden der neutestamentlichen Literatur. Hier setzte er den Fuß auf; Auge und Ohr vorläufig gegen alles Uebrige nach rückwärts und vorwärts verschlossen, sah und hörte er nur, was auf diesem Punkte zu sehen und zu hören war; von hier schritt er mit langsam abgemessenen Schritte, jedes weitere Fleckchen Erde genau untersuchend, vorwärts bis zur Consolidirung der christlichen Kirche um die Mitte des zweiten Jahrhunderts. Als hier der Weg geebnet war, als er klar sah, was zur Zeit des Paulus und nach ihm gewesen ist, fragte er: Was muß vor Paulus gewesen sein? Worin muß die entscheidende That Jesu selber bestanden haben? Was Baur auf diesem Wege fand, das kann die Geschichtschreibung im Wesentlichen in ihre Bücher eintragen. Das Christenthum war erklärt und begriffen als eine natürliche Frucht der religiösen Entwickelung des menschlichen Geistes; wo vorher Wunder, Zufall, Unbegreiflichkeit geherrscht hatte, war jetzt innerer Zusammenhang, organische Entwickelung, eine menschlich natürliche Geschichte.

Aber sollte man zu diesem an den Quellen entdeckten Christenthum nicht sagen: „wir haben Dein Geheimniß errathen; wir wissen jetzt, was hinter Dir steckt; fertig, abgethan! Du bist der Geschichte verfallen und hast der Gegenwart nichts mehr zu sagen noch zu bieten!“? Baur dachte nicht so, und mir schien dieses Christenthum herrlicher, tiefer, gehaltreicher, als alles Christenthum der Kirchen mit seinen Legenden und Dogmen. Mir war es, ich hörte einen Luther, einen Zwingli rufen: „Jetzt endlich ist in Erfüllung gegangen, was wir zu unserer Zeit anstrebten, aber nicht erreichten. Von dem entstellten Kirchenthum wollten wir zurück zum ursprünglichen Christenthum; das war der Nerv unseres reformatorischen Kampfes. Dieses ursprüngliche Christenthum glaubten wir zu haben in den Originalurkunden unserer Religion, in den Schriften des neuen Testaments. Wir nahmen diese unbesehen aus den Händen der katholischen Kirche und unter den Voraussetzungen dieser Kirche auf, daß sie von Aposteln und Apostelschülern, also Augen- und Ohrenzeugen herrühren, daß sie überdies unter unmittelbarer göttlicher Eingebung frei von allen Spuren menschlichen Kämpfens und Irrens entstanden, der einheitliche, widerspruchslose Ausdruck des ursprünglichen Christenthums seien. Nun sehen wir aber, daß diese Schriften nicht von Aposteln oder Apostelschülern herrühren, daß sie vielmehr die Versuche von anderthalb Jahrhunderten darstellen, unter heftigen Kämpfen und Gegensätzen die christliche Wahrheit auf den richtigen Ausdruck zu bringen, daß sie daher selber etwas Abgeleitetes sind und man, um das ursprüngliche Christenthum, das wir suchten, zu finden, noch einen guten Schritt über sie hinaus und zurückmachen muß zu dem religiösen Grundgefühl Jesu selber, das den Anstoß zu dieser ganzen Bewegung gegeben hat. So erst wird das ursprüngliche Evangelium gefunden und unsere Reformation vollendet sein.“

In der That lag hierin Baur’s Leistung. Nachdem er alle diese Schriftwerke auf ihre Entstehung hin und ihrem Inhalte nach untersucht und ein jedes an seinen Ort gestellt hatte, belauschte er den Pulsschlag der Religion im Herzen Jesu selber, so weit er aus diesen Urkunden noch herauszuhören war. Er glaubte ihn noch am deutlichsten und ungetrübtesten aus dem Matthäus-Evangelium zu vernehmen,[WS 4] aus jenen Seligpreisungen der Bergpredigt, aus den herrlichen Gleichnissen, aus den geistvollen und tiefsinnigen Worten über das Wesen und die Bedingungen des Gottesreiches. Er fand die Grundstimmung des Christenthums in einem vom tiefsten Gefühl des Druckes der Endlichkeit durchdrungenen, aber in diesem Gefühle über alles Endliche und Beschränkte weit übergreifenden, unendlich erhabenen religiösen Bewußtsein, in jener Innigkeit und Traulichkeit des religiösen Gefühles, in welchem der Mensch nicht mehr der Knecht, sondern das Kind Gottes ist, in jener Gottes- und Menschenliebe, welche die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten ist, in jener Reinheit und Lauterkeit der sittlichen Gesinnung, auf welche Jesus immer wieder zurückkommt, in seinem Kampfe gegen allen kirchlichen Heuchelschein, in jener vollkommenen Gerechtigkeit, bei der es nicht blos auf die That ankommt, sondern auf die Gesinnung, nicht auf den Buchstaben, sondern auf den Geist, in jener Auffassung der Religion überhaupt, nach welcher es keine anderen Bedingungen für den Eintritt in das Gottesreich giebt, als die rein sittlichen, nämlich die Erfüllung des göttlichen Willens.

Auf diese Grundanschauungen, in welchen die Frömmigkeit und die Sittlichkeit sich die Schwesterhände reichen, müsse man, meinte Baur, als auf das ursprünglich und echt Christliche doch immer wieder zurückkommen nach all’ dem Schaden, den die Ueberwucherungen eines einseitigen Confessionalismus und die häßlichen Zänkereien um das Dogma in der Gesellschaft anrichten. Dieselbe Höhe des Christenthums, dieselbe Reinheit und Idealität der sittlichen Lebensauffassung, welche Baur in den drei ersten Evangelien als die Religion Jesu entdeckte, trat ihm auch aus den Briefen des Paulus entgegen, wie gebrechlich er auch die [290] Schläuche fand, in welche dieser erste Philosoph des Christenthums den neuen Wein gefaßt hatte, wie schwach auch die Denkbegriffe und dogmatischen Anschauungen sich erwiesen, durch welche er die Thatsache des Christenthums sich und seiner Zeit zu einem denkenden Verständnisse bringen wollte. Baur’s Sprache legte den trockenen Ton der gelehrten Abhandlung ab und erhob sich zu der Wärme freudiger Begeisterung, so oft er in dem Briefe des großen Apostels auf jene Abschnitte stieß, da dieser vom Standpunkte des Religionsphilosophen aus das Christenthum mit den vorhergehenden Religionen verglich und in seinem innersten Wesen erfaßte als die Religion des mündigen und freien Menschen, der nun, da er die Quelle des Guten, den göttlichen Geist, in sich trägt, keines Zuchtmeisters mehr bedarf und die Herrschaft der sinnlichen Naturmächte, denen die Völker zuvor gedient, von sich geworfen hat, als die Religion des Gotteskindes, das den knechtischen Geist der Furcht ausgezogen hat, weil die Liebe sich in sein Herz ergossen hat – oder so oft er die Feder ansetzte, das Charakterbild jenes seltenen Mannes zu entwerfen, der im Kampfe mit dem Judaismus für die religiöse Freiheit vom Joche aller Menschensatzungen einstand durch sein Flammenwort, wie durch das Martyrium seines Lebens; jenes Mannes, der in dem weltgeschichtlichen Principe des Glaubens die Innerlichkeit des frommen Gemüthes gegenüber der Aeußerlichkeit des Abmachens und Verrichtens verkündigte, der selbstlos sein Leben in den Dienst eines rein geistigen Zweckes stellte, froh in Aengsten und Nöthen, stets im Feuer, als ein Sterbender und doch lebend, unterdrückt und doch nie verzagend, ein Armer, der Viele reich machte. Man kann Baur’s „Paulus“ nicht bei Seite legen, ohne durch alle die gelehrten Untersuchungen die Wärme herausgefühlt zu haben, mit welcher der sittliche und religiöse Gehalt des Christenthums den Verfasser erfüllte.

Baur befriedigte Beides: die Forderungen der Wissenschaft und die Ansprüche des Gemüths. Man lernte bei ihm kritisiren und glauben. Man nahm die biblischen Schriftsteller, wie sie waren; man ließ sie genau sagen, was sie sagten; man hatte kein Interesse, sie zu modernisiren; man gestand sich die ganze Kluft ehrlich ein, welche unsere heutige Anschauung von der ihrigen trennt, aber man behielt den Respect vor dem Christenthume als Religion, vor den ethischen Mächten der Hoffnung, des Glaubens, der Liebe, die es entbunden, vor dem unaussprechlichen Schatze reiner Geistigkeit in den Tiefen des Gemüthes, der in diesem oft steinigten Acker verborgen liegt, vor dieser Wunderwelt der Liebe, welche bald in unvergänglichen Lebensworten, bald in gotterfüllten Persönlichkeiten aufgeschlossen ist. Hier schien gefunden, was Lessing, noch vielfach tastend und unsicher, gesucht hatte: die Religion Jesu im scharfen Unterschiede von der Religion über Jesus; jene, ewig und unvergänglich, rief zur Nachfolge auf, diese, vom Anfange an bis heute wechselnd, sodaß nie zwei Menschen über sie einig waren, forderte die Kritik heraus.

Aber wo war die Kirche für diese Religion? Baur versetzte seine Schüler in die schwersten Conflicte, die es im Leben giebt. Trat der junge Theologe, der zu den Füßen Baur’s gesessen war, in den praktischen Dienst der Kirche, so war das Erste, was man von ihm forderte, daß er eine vor vierthalb Jahrhunderten verfaßte Glaubens- und Bekenntnißschrift, die sogenannte Augsburger Confession, unterschreibe, von welcher doch seine wirkliche Ueberzeugung durch Himmelsweiten getrennt war; kam er dann anfangs als Vicar, später als Pfarrer an eine Gemeinde, so befand er sich fast an jeder Stätte, an welche sein Amt ihn stellte, im Widerspruche mit dem von der kirchlichen Oberbehörde bewachten und geschützten Glauben derselben; diesen Widerspruch zu Tage treten lassen, bedeutete ein Meer von Unbill und Kränkung und Kummer bis zur Absetzung. Was war da zu machen? Man machte es auf alle Weise. Die Einen schützten sich vom Anfange ihres theologischen Studiums an gegen die Pfeile der „ungläubigen“ Wissenschaft durch den breiten massigen Schild, welchen Professor Beck in seinem saftigen biblischen Realismus darbot, oder durch die geschmeidigeren, mit modernem Oele getränkten Waffen, welche der liebenswürdige und weitherzige Vermittler Lauderer so gewandt handhabte. Andere machten sich den altbekannten Unterschied zwischen exoterischer und esoterischer Lehre zu nutze, predigten nach dem Spruche „Wess’ Brod ich ess’, dess’ Lied ich sing’“ den hergebrachten Glauben und behielten ihre Ansichten für sich. Noch Andere schworen die Ketzereien der Universität zur rechten Zeit bald geräuschvoll, bald stiller in die Hände des Consistoriums ab und machten Carrière. Die Besten waren redlich bemüht, die Kluft zwischen der eigenen wissenschaftlichen Ueberzeugung und dem Kirchenglauben durch ein pädagogisches Verfahren auszufüllen, indem sie das Licht des Gedankens langsam, in behutsam abgemessenen Strahlen in die dichte Schicht der kirchlichen Vorstellungen fallen ließen – ein classisches Beispiel für diesen Versuch hat Strauß in seinem „Christian Märklin“ aufgestellt –, oder sie entsagten dem Dienste der Kirche und übernahmen ein Lehramt an einer Lateinschule oder an einem Gymnasium.

Was ich in dieser Lage zu thun hätte, konnte mir nicht zweifelhaft sein. Wie verlockend auch der Traum des Pfarramts war, der von den Tagen der Kindheit her noch so schön vor dem Auge stand, meine Ueberzeugungen unterdrücken oder drehen oder bemänteln konnte ich und wollte ich nicht. Ich entschloß mich, dem Dienste der Kirche zu entsagen. Gegen den Schluß des dritten Studienjahres bat ich um Urlaub für zwei Tage, um zu den Eltern zu reisen. Ich machte ihnen meine Lage klar – meine theologischen Ansichten waren ihnen längst bekannt – und drang in sie, mir die Mittel zum Studium der Rechtsgelehrsamkeit zu bewilligen; ich versprach, durch anhaltenden Fleiß in zwei Jahren damit fertig zu werden. Aber unter heißen Thränen der Mutter beschworen sie mich, das theologische Studium zu absolviren und nur wenigstens das Examen zu machen. Es war nicht blos die ökonomische Rücksicht, was sie leitete; der Austritt aus dem „Stift“ wäre mit einer Rückerstattung der vom vierzehnten Jahre an verwendeten Stipendien verbunden gewesen. Es war noch mehr die stille Hoffnung, welche die guten Eltern nährten, daß Gott, wenn seine Zeit da sei, ihren Sohn wohl noch zum Glauben bekehren werde, wie sie sich ausdrückten. Ich konnte den Thränen und Bitten nicht widerstehen und zog, traurig zwar, in’s „Stift“ zurück, betrieb aber hinfort die theologischen Studien nur so weit, als es zur Ablegung eines erträglichen Examens nöthig war, und warf mich mit aller Kraft theils auf die Erlernung der neueren Sprachen, theils auf meine alten lieben Classiker, in der Absicht, mich auf das Lehrfach vorzubereiten. Nicht wenig bestärkte mich in diesem Fleiße die Hoffnung, die Geliebte der Jugend in wenigen Jahren heimführen zu können, während die Theologen damals ihre zehn, fünfzehn Jahre auf Vicariaten herumgeschupst wurden, ehe sie eine fixe Anstellung erlangten. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Bald traten Ereignisse ein, die stärker waren, als der Wille der Menschen. Der folgende Abschnitt wird zeigen, wie Gott gelenkt hat.


[322]
Eine Welt aus Rand und Band.


Es war in den letzten Tagen des Februar 1848. Ich saß Abends zwischen vier und fünf auf der Museumsbibliothek, Bücher lesend und ordnend. Ein Lärm dringt von der Straße herauf, der immer lauter wird; ich trete an’s Fenster und öffne es. Drunten vor der Post hält ein Reiter auf schweißtriefendem Pferd, der einigen Umstehenden Dinge mittheilt, durch welche alle in die größte Aufregung versetzt werden. Ich schließe das Fenster und renne hinunter. „Louis Philipp gestürzt, die Republik in Frankreich proclamirt.“ Das war ein Funke in ein Pulverfaß. Längst hatte ich den Zorn über die Zustände der Kirche auf das Bestehende im Staat übergetragen, und Börne, Ruge, Heine, Herwegh hatten mir längst mit den Altären die Throne unterhöhlt. Frankreich eine Republik, das hieß in dem jugendlich erhitzten Gehirn, das keine Schwierigkeiten auf dem Wege sieht, sofort: Deutschland eine Republik. Ich stürmte mit pochendem Herzen in die Gesellschaft, die heute ihren dies academicus hatte, und rief in den Lärm des Kneiptages: „Louis Philipp entthront, Frankreich Republik.“ Man fragte nicht wie und wann und was; Alles löste sich in stürmischer Bewegung auf; man fiel einander vor Glück und Rührung in die Arme, brausende Freiheitsreden und Freiheitslieder erfüllten das Local und die Straßen, bis die Stiftsglocke rief. Am anderen Morgen eilte ich wieder auf das Museum, um alle von der Censur verbotenen Bücher, welche in einem geheimen Schranke aufbewahrt lagen, vor Allem Heine’s „Wintermärchen“, auf den Lesetisch zu legen. Man staunte über die Kühnheit, und auch mein Mitbibliothekar, Friedrich Vischer, dem die radicale Stimmung nicht fehlte, fragte bedenklich, ob denn das schon angehe. Aber es ging; denn es war keine Polizei mehr da. So war es durch ganz Deutschland. Nie hat man eine Welt schneller aus Rand und Band gesehen. Allen Gewalten war der jähe Schreck in die Glieder gefahren; jede Auctorität war gelähmt. Zum ersten Male nach langem Druck durfte man wieder reden und schreiben, was man wollte; der lang verhaltene Groll über Metternich und den deutschen Bund, in welchen Namen sich Alles zusammenfaßte, was das deutsche Volk an Schmach und Unfreiheit nach außen und innen erduldet hatte, machte sich mit Einem Male Luft in der Presse, auf der Straße, in Volksversammlungen. Die Luft schwirrte von Idealen und Wünschen, die in’s Maßlose schweiften; ein Volk von Denkern und Duldern sah sich über Nacht in ein politisches Volk umgewandelt, wenn man ein Schwärmen in’s Blaue ohne Klarheit und praktische Ziele Politik nennen will.

Bei uns in Süddeutschland wurde das politische Fieber gleich in den ersten Tagen noch gesteigert durch seltsame Gerüchte, die vom Rhein herdrangen: zweimalhunderttausend Franzosen seien in den Schwarzwald eingebrochen und bezeichnen, unaufhaltsam vordringend, ihren Weg durch Sengen und Brennen und Morden. Die erhitzte Phantasie solcher Zeiten glaubt Alles, aber wer wollte auch noch zweifeln, wenn er fliehende Familien aus Rottweil und Freudenstadt mit schwerbepackten Wagen ankommen sah und ihre haarsträubenden Erzählungen von dem weithin sichtbaren Rauche der brennenden Dörfer anhörte? Mir blutete das Herz bei dem Gedanken an meine armen Eltern und Geschwister; das Pfarrdorf meines Vaters, Schwenningen, lag nur drei Stunden hinter Rottweil. „Das ist von dem Lumpengesindel schon ganz überschwemmt,“ erzählte eine der geflüchteten Familien. Als endlich aus dem sechs bis sieben Stunden von Tübingen entfernten Städtchen Horb ein Abgeordneter, fast außer Athem vor Schrecken, ankam, von der Terrasse der neuen Aula aus eine Ansprache an die Studenten hielt und unter fürchterlichen Schilderungen von den Verheerungen, welche die vorwärts dringende Mordbrennerbande ringsum anrichte, sie bei allen Heiligen beschwor, seine bedrängte Vaterstadt zu retten, da lief, wie einst in den Tagen der Kreuzzüge, ein begeistertes: Gott will es! Gott will es! durch die Reihen der entzündeten Jugend, und der ergraute Professor Volz, der in früheren Tagen irgendwo eine militärische Charge bekleidet hatte, bot sich mit jugendlichem Feuer der Truppe zum Führer an in dem heiligen Kriege.

Sogleich sandte man nach Stuttgart um eine Ladung entbehrlicher Gewehre; in allen Schmiedewerkstätten hämmerte man Sensen, in allen Messerschmiedläden kaufte man Dolche; was einer Mordwaffe nur ähnlich sah, wurde hervorgeholt. Am zweiten Abend war die Ausrüstung fertig und das Bataillon formirt; es bestand aus fünf- bis sechshundert Mann; Niemand wollte zurückbleiben, außer wer keine Waffen mehr erhalten konnte. Nachts neun Uhr zog man aus, unter dem Absingen von Vaterlands- und Freiheitsliedern – gut, daß die Nacht den komischen Anblick verhüllte. In Rottenburg, dem Sitze des schwäbischen Bischofs, machte man Halt und nahm Erfrischungen ein. Aber seltsam! Das sehnlich erwartete Commando: Vorwärts, marsch! wollte nicht ertönen; man schrie über Feigheit; man murrte über den Feldherrn. Endlich, nach einigen Stunden ungeduldigen Wartens, hieß es: es ist alles nur blinder Lärm. Beschämt kehrte man um und kam gegen Morgen wieder in der Musenstadt an. Aehnliches begegnete an anderen Orten.

Man hatte damals nicht Zeit, nach der Quelle dieses seltsamen Franzosenlärms, der bis München gedrungen war, zu forschen; man vergaß das komische Intermezzo schnell ob den vorwärts drängenden Ereignissen und den raschen Bewegungen des öffentlichen Lebens. Vom Studium war natürlich keine Rede mehr. Unter denn Waffen schweigen die Musen. Die Stiftsordnung hatte überall Löcher bekommen. Eines Abends nach Tisch ertönt im Speisesaale der Ruf: Ferien, Ferien! Man schickt den Aufseher: Der Ephorus soll auf den Platz [323] kommen. Der Ephorus kommt, und nun ergreift einer der ernstesten und strebsamsten Jünglinge, ein wahres Muster von Fleiß und Ordnungsliebe, der früh verstorbene Theodor Riecke, das Wort und begründet mit sehr revolutionären Redewendungen die Forderung. Der Ephorus, der mehr als Philologe, denn als Pädagoge tüchtige Professor Walz, erklärt, daß Ferien zu ertheilen nicht in seiner Macht stehe; der hohe Studienrath habe da zu entscheiden. „Wir fragen Nichts mehr nach dem Studienrath,“ tönte es aus den Reihen. Anstatt die Schreier, wie es sich gebührte, in den Carcer abführen zu lassen, entfernte [324] sich der Mann erschrocken, setzte sich in derselben Nacht in die Post nach Stuttgart und brachte am anderen Tage die Ferien in der Tasche mit – vierzehn Tage oder drei Wochen früher, als die Studienordnung es mit sich brachte.

Aber so kam ich nun in die nächste Nähe des Revolutionsherdes. Denn Schwenningen, wo ich die Ferien im elterlichen Hause zubrachte, liegt hart an der Grenze Badens. Hier, in Baden, hatten Hecker und Struve ungeduldig die Fahne der Republik aufgesteckt. Ich machte Ausflüge nach Donaueschingen, Villingen, Triberg und fand überall die monarchische Gesinnung fast bis zum letzten Funken erloschen. Alles jubelte Hecker zu als dem großen Befreier von der Tyrannei der Fürsten.

Unterdessen wurden die Wahlen zum Parlamente ausgeschrieben. Ueberall stellten sich die Bewerber um einen Sitz dem Volke persönlich vor, bald in großen Bezirks-, bald in kleineren Gemeindeversammlungen. Vier bis fünf Stunden weit strömten ganze Caravanen nach Spaichingen, wo sämmtliche Bewerber vom Fenster des Rathhauses aus ihre Programme, respective ihre goldenen Berge dem mündigen Volke vortragen sollten. Zuerst sprach Menzel, der Stuttgarter Literat, unter dem Namen des Franzosenfressers bekannt; er redete gelehrt und doctrinär und erzählte ein Langes und Breites vom „vergeblichen Landtag“ und anderen Dingen, die das Volk nicht verstand. Er wurde ausgepfiffen und mußte zurücktreten. Darauf folgte Rapp, ein protestantischer Pfarrer, ein geborener Redner und talentvoller Schriftsteller. Er wurde anfangs gern gehört, als er aber in höchst drastischer Weise auf die Fürsten und ihre Lola Montez zu reden kam, machten ihm die hinter ihm im Rathszimmer stehenden Beamten und andere ordentliche Leute Vorwürfe und versuchten, ihn vom Fenster wegzuziehen, er aber wandte sich an das Volk und rief: „Die Herren da drinnen wollen daß ich nach ihrer Pfeife tanze, ich bin aber ein Pfarrer und darf nicht tanzen.“ Von dem Augenblicke an war er verurtheilt, das fühlte man. Am besonnensten und tüchtigsten sprach Rheinwald, wenn auch in meinen Augen zu reactionär; er erhielt nachher die meisten Stimmen.

So verliefen die langen Frühlingsferien unter politischer Aufregung. An das Examen, das in vier Monaten drohte, dachte man natürlich nicht. Anstatt in den Kirchenvätern zu lesen, übte ich mich im Schießen; anstatt der alt- und neutestamentlichen Exegese trieb ich die Grundrechte des deutschen Volkes. Als wir wieder in Tübingen einrückten, empfing uns das alte Stift mit strenger, vorwurfsvoller Miene. Mann für Mann mußte entweder seinen Austritt nehmen oder die Erklärung unterzeichnen, daß er sich von jetzt an den Ordnungen der Anstalt unterwerfen wolle. Alle thaten das Letztere, aber der Sturm, der einmal in die Zeit gefahren war, konnte so rasch nicht aus den jungen Köpfen getrieben werden.

Gleich in den ersten Tagen setzte ich eine Adresse an die Oberbehörde auf, in welcher nichts Geringeres verlangt wurde, als die Aufhebung des Stifts. Das sei ein gemeinschädliches Institut. Es locke Unzählige, die keinen inneren Beruf zur Theologie haben, zu dieser heran durch die materiellen Vortheile, die es biete, und erzeuge Dummköpfe oder Heuchler, und diejenigen, welche das Räthsel der Sphinx gelöst und den Muth haben, die gefundene Lösung auszusprechen, entlasse es untüchtig für die Kirche. Es sperre die Theologie von dem Strom des allgemeinen Geisteslebens ab in ein engbegrenztes Haus und bilde gedrückte, eckige, unpraktische Leute – und wie diese Dinge alle hießen. Und wirklich – der größere Theil der Zöglinge zeigte sich bereit, die seltsame Adresse zu unterzeichnen, bis es der Beredsamkeit eines Repetenten, Namens Lechler, gelang, Viele einzuschüchtern und zurückzuschrecken.

Ging es aber im stillen Hause der Studien so lebhaft her, so war draußen die Bewegung nicht geringer. Es hatte sich ein Bürgerverein gebildet, welcher alle die Aufgaben, welche dem engeren und dem weiteren Vaterlande erwuchsen, an die Hand nahm. Alles strömte herbei vom ärmsten Weingärtner bis zum höchsten Staatsbeamten. Die Leitung war in den Händen von Professoren und Studenten. Der Geist war der eines gemäßigten Freisinns. Eines Abends mitten im dichtesten Gedränge, als eben ein Redner die republikanische Bewegung in Baden schmähte, murmelte ich ein Wort des Unmuthes vor mich hin. Man ruft: der Mann soll uns von der Tribüne herab sagen, was er weiß. Schüchtern, weil ungewohnt, in öffentlicher Versammlung zu sprechen, wehre ich mich, aber ich werde durch das Gedränge hindurch halb gestoßen, halb getragen. Nun schildere ich zuerst, was ich auf meinen Streifzügen in Baden gesehen und gehört hatte, und entwerfe sodann mit kecken Zügen ein Programm der Politik. Das Parlament in Frankfurt wähle vor allen Dingen einen General und stelle das Militär sämmtlicher deutschen Staaten unter seinen Oberbefehl. So im Besitze der Macht, entwerfe es die deutsche Verfassung, und diese könne nur die Republik sein, welche allein die Einheit und Kraft des Ganzen mit der nöthigen Selbstständigkeit der einzelnen Glieder und Stämme zu verbinden im Stande sei. Nun furchtbare Bewegung im Saale! Indignation von der einen, Zujauchzen von der anderen Seite. Der allgemeine Tumult übertönt die Glocke des Präsidiums. Dieses nimmt den Hut und verläßt den Saal, ihm nach die Gleichgesinnten, etwa die Hälfte der Versammlung. Als das Strömen und Laufen aufgehört hatte, lade ich die Anwesenden zur Gründung eines neuen, demokratischen Vereins ein; er constituirt sich sofort und einige Bogen füllen sich mit Beitrittserklärungen.

Das war denn doch selbst für jene Zeit zu arg. Ein Theolog an der Schwelle des Examens, ein Stiftler, der Zögling einer Staatsanstalt, welche eine Stiftung des Fürstenhauses war – und Leiter eines demokratischen Vereins, der auf den Sturz des Fürstenhauses ausging! Von Stuttgart kam nach einigen Tagen die Weisung: Candidat L. verlasse entweder das Stift oder trete von der Leitung des demokratischen Vereins zurück! Ich erklärte mich zum letzteren sogleich bereit und kündigte sofort im Blatt die Auflösung des Vereins an, aber nur, um ihn am gleichen Abend unter dem Titel „Volksverein“ mit unveränderten Statuten wieder zu sammeln. Ich ging zu Professor Baur, der Mitglied des Stiftsinspectorates war, und fragte, ob man auch so gegen mich einschreiten werde? „Bitte, schweigen Sie von der Sache! Wir sind dieser Dinge überdrüssig.“ So leitete ich den Verein den ganzen Sommer mit ziemlichem Geräusch, und kein Hahn krähte darnach. Unter allem Schwindel, der natürlich mitlief, machte ich damals die Erfahrung, daß der Mensch wächst mit seinen Zwecken, daß man in großen Zeiten Gaben erhält, von welchen man in kleinen selbst keine Ahnung hat, daß, wer von einer großen Idee ganz erfüllt ist, das Unmöglichscheinende leistet. Ich arbeitete nach allen Seiten; es ging Alles so leicht und mühelos von Statten; ich that das Nöthige für das Examen, hielt täglich Vorträge, schrieb Artikel für unser Zeitungsblatt, verfaßte Aufrufe, Adressen dahin und dorthin, schlief nur wenig und befand mich niemals wohler und gesünder, als in jener Zeit.

Gegen Ende August war das Examen; es lief gut ab. Aber was nun? Als die Ergebnisse der Prüfung in der Aula verkündigt waren und in einem Nebenzimmer Jeder auf einem bereit liegenden Bogen einzutragen hatte, was er in der nächsten Zeit treiben und wo er sich aufhalten werde, da fühlte ich mich gar verlassen und einsam. Ich hätte mit Luther, als ihn der Cardinal fragte: „wo willst Du bleiben, wenn der Papst Dich in den Bann thut?“ nur antworten können: „unter dem Himmel.“ Ich wußte nicht wohin und konnte mir auch nicht denken, wo mich Jemand brauchen könnte. Wenn wieder so ein Trupp freudvoll und leidvoll, unter Küssen und Händedrücken abzog und man das alte Burschenlied sang:

„Bemooster Bursche, zieh ich aus,
Behüt dich Gott, Philisterhaus!
Zur neuen Heimath zieh’ ich ein,
Muß selber nun Philister sein“ –

da fiel mir die ganze Schwere des ungewissen Menschenlooses auf’s Herz; eine neue Heimath kannt’ ich nicht, und zum Philister fehlte mir noch ganz die Stimmung. Ich hätte dieses sorgenlose Leben mit all den Anregungen für Geist und Gemüth so gern noch fortgetrieben; ich hätte noch recht lange baden mögen in diesem Strome freier zweckloser Wissenschaft; ich konnte den Gedanken nicht ertragen, auf immer scheiden zu müssen von der lieben Musenstadt, die mir in jeder Beziehung eine alma mater gewesen war, von diesen reizenden Hügeln und Thälern, die mir so vertraut geworden waren.

Ich beschloß, vorläufig die Ferien über noch zu bleiben, und bezog die vacante Stube eines Freundes gegenüber der [325] „Hölle“ mit der herrlichsten Aussicht auf das Neckarthal und die Hügel der schwäbischen Alb. Zum ersten Male empfand ich die Wonne, mich von der Traulichkeit einer eigenen Stube umfangen zu sehen und die Stunden durch keine Seminarglocke mir bestimmen zu lassen. Ich besorgte die Museumsgeschäfte fort, studirte Zeller’s „Geschichte der griechischen Philosophie“ und widmete die Abende der Politik.

In diese Zeit fielen zwei Ereignisse, die über mein künftiges Schicksal entscheiden sollten. Eines Morgens berief mich der Fabrikant Rau von Gaildorf, ein Hauptwühler im Lande, auf die Post. Kaum saßen wir zusammen, so trat der Polizeidirector Meier, Policen-Meier genannt, herein und setzte sich in einiger Entfernung von uns zu einem Glase Wein. Da man damals keine Polizei fürchtete, theilte mir Rau seinen Plan mit. Er wollte das württembergische Oberland von Tuttlingen an revolutioniren, von Dorf zu Dorf Zuzug sammeln und mit ungeheuren Massen gegen Stuttgart ziehen. Hier werde im geeigneten Augenblicke die Republik ausgerufen; Alles sei bereit, der Revolutionsplan von der Stuttgarter Demokratie bis in’s Einzelne entworfen, die Straßen für Aufwerfung der Barricaden bezeichnet etc. Ich erhob Bedenken gegen den Plan, der mir abenteuerlich klang und schwindelhaft schien, aber Rau reiste in blindem Vertrauen auf den Sieg vorwärts in sein Verderben. Ich bestieg sogleich die Post nach Stuttgart, kam dort gerade zu einer imposanten Volksversammlung an, die aber durch die Schuld der Redner kläglich ablief – man merkte ihren Worten die Furcht vor der Polizei an –, und traf dann Abends die Führer der Rauischen Bewegung in einer behaglichen Bierstimmung in einem Wirthslocale draußen vor der Stadt. Ich wußte nun, was ich zu thun hatte. Die Stürmer in Tübingen brachte ich durch meine Schilderung der Situation zur Ruhe, einen Studenten der Theologie, Namens Weihenmeyer, der ausgereist war, um die Gegenden von Reutlingen bis Plochingen aufzuwiegeln, ließ ich durch zwei Freunde, die ich ihm nachschickte, festnehmen, und als der Landtagsabgeordnete Nagel von Balingen in höchster Eile angefahren kam und anfragte, wie wir in Tübingen uns zu verhalten gedenken, Rau sei mit sechshundert Mann in Balingen eingezogen und es sei große Neigung vorhanden, sich ihm anzuschließen, da bat ich ihn, heimzueilen und seine Mitbürger von dem wahnsinnigen Unternehmen zurückzuhalten. Ich fühlte mich ordentlich, der Retter des Vaterlandes zu sein. Ach! wenn das der König wüßt’? Einen Orden glaubt’ ich mindestens verdient zu haben.

Bald darauf kam die erste Reutlinger Volksversammlung. Der Tübinger Volksverein hatte mich zum Sprecher bestimmt. Auf einer Wiese sammelte sich eine unabsehbare Menschenmenge. Auf der Terrasse eines Landhauses waren die Redner aufgestellt. Professor Kapff (Käryx genannt) eröffnete die Versammlung mit einer kernigen und gediegenen Rede und verlangte von ihr ein Mißtrauensvotum gegen die Rechte des Frankfurter Parlaments und eine Zustimmung zu dem Vorgehen der Linken. Allgemeiner Applaus: angenommen! Damit war ich nun aber gar nicht zufrieden. In scharfer Rede kritisirte ich die ganze bisherige Thätigkeit des Parlaments; die Rechte und das Centrum und die Linke seien in gleicher Verdammniß; es seien Schönredner und Doctrinäre, die unter endlosen Reden über allgemeine Grundsätze die Zeit zum Handeln und Organisiren verpaßt und der fürstlichen Reaction Zeit zum Aufathmen gegeben haben. Das Parlament müsse abberufen und Neuwahlen ausgeschrieben werden, aus ihnen werde friedlich und groß die deutsche Republik hervorgehen, deren Bild nun in glänzenden Farben entworfen wurde. Während ich so von der Tribüne herunter sprach, oft unterbrochen von einem nicht enden wollenden Jubel, vertheilte unten wieder ein junger Theologe, Namens Schuster, die berühmte perikleische Rede über die Herrlichkeit des athenischen Freistaates, die wir aus „Thucydides“ übersetzt und als Flugblatt gedruckt hatten, unter die Bauern und Handwerker, die natürlich Nichts davon verstanden. Die Menge war rasend vor Freude; die Mützen fuhren unter endlosem Halloh in die Luft; ein Amerikaner stürzte auf die Bühne und umarmte mich vor allem Volke. Höher konnte der Rausch nicht mehr steigen und zu dämpfen war er nicht mehr. Die Versammlung war zu Ende; man zerstreute sich wieder. Abends hörten Baur und Zeller, welcher Letztere als Baur’s Tochtermann auf Besuch in Tübingen war, durch die geöffnete Thür der „Hölle“ einem Ständchen zu, das mir die Tübinger Demokratie brachte.

Zwei Tage darauf gab der „Schwäbische Merkur“ den Hauptinhalt meiner Rede mit dem deutlichen Fingerzeig wieder, daß man solche gefährliche Leute eigentlich hinter Schloß und Riegel setzen sollte. Die erschrockenen Eltern, die auf diesem Wege die erste Kunde von meiner politischen Thätigkeit erhielten, schickten sogleich meinen Bruder Theodor ab, um mir ernstlich an’s Herz zu reden. Als sein schwerer Tritt in der Morgenfrühe die Treppe heraufkam – ich lag noch im Bette – dachte ich einen Augenblick: „Wenn es die Polizei wäre, die dich verhaften will!“ Närrischer Gedanke! Was ich gesagt und gethan hatte, das hatten bis dahin tausend Andere auf Straßen, in Parlamenten, in Volksversammlungen, in der Presse gesagt und gethan. Die volle Redefreiheit war garantirt und bisher beschützt worden. Stand ich nicht mit dem Policenmeier auf dem besten Fuße und hatte mit ihm beim Glase Wein oft und viel politisirt? Und sollte mein noch so junges Verdienst um die Rettung des Vaterlandes schon vergessen sein? Und doch war die Furcht nicht ohne Grund. Seit der Rau’schen Schilderhebung war eine merkliche Wendung in dem Verhalten der Staatsgewalt, ja auch in der öffentlichen Meinung eingetreten. Was vorher als unschuldig hingegangen war, wurde jetzt notirt. Doch blieb ich arglos und lachte der Gefahr.

Als zwei befreundete Abgeordnete der Ständekammer, Stockmaier und Pfäfflin, in Landtagsgeschäften nach Tübingen kamen, luden sie mich ein, mit ihnen nach Stuttgart zu fahren; wenn Gefahr drohe, wollten sie mich unter dem Mantel ihres Mandats verbergen. Ich ging fröhlich mit, logirte im Hause von Verwandten, deren streng loyale und monarchische Gesinnung mir Schutz gewährte, und bewegte mich harmlos im Strudel des Cannstatter Volksfestes, das alljährlich am Tage nach der Geburtstagsfeier des Königs, am 28. September, abgehalten wurde. Aber je länger, je weniger behagte mir die Luft. „Was? Du bist da?“ begrüßten mich viele Bekannte verwundert. Es war mir bald, wie wenn ich von Spionen umgeben wäre. Guckte Jemand durch ein Opernglas, so meinte ich, es sei auf mich gerichtet. Da galt kein Zögern mehr. Ich nahm rasch ein Postbillet nach Hause, und richtig! eine Stunde nach meiner Abfahrt erschien die Polizei im Hause der Verwandten, um nach mir zu fragen. In Tübingen benutzte ich die Haltestunde, Nachts zwölf bis ein Uhr, um auf mein Zimmer zu eilen, einige Sachen zu ordnen und auf den Tisch ein Billet an einen Freund zu legen, der mir meine Habseligkeiten nachschicken sollte. Zu Hause wurde ich herzlich willkommen geheißen; kein Wort des Vorwurfs oder Tadels entschlüpfte den Lippen der guten Eltern, doch merkte ich ihnen wohl an, wie schwer es auf ihnen lag.

Lange sollte mir die Rast im elterlichen Hause nicht gestattet sein. Am folgenden Morgen kam mit demselben Postzuge, der mich gestern gebracht hatte, ein Bote von Tübingen mit der Nachricht, daß in der letzten Nacht die Polizei mir an der Post aufgepaßt, weil sie mich von Stuttgart her erwartet habe; es hätte freilich keine Noth gehabt, denn der Volksverein sei in großer Zahl bewaffnet in einer Nebenstraße zu meinem Schutze aufgestellt gewesen, aber weit weg vom Geschütz mache doch langes Leben. Was war da zu thun? Ich bat den Vater um zwei Kronthaler, packte in eine Botanisirbüchse eine Pistole und ein paar Hemden und nahm in derselben Stunde den Weg nach der Schweiz. „Leb’ wohl, mein Heimathland! auf ewig lebe wohl!“[8]


  1. Mit obigem Artikel eröffnen wir eine Reihe bedeutsamer Aufzeichnungen eines gefeierten Kanzelredners und Schriftstellers, der in den Kreisen des deutschen Protestantenvereins als einer der entschiedensten Vertreter der freisinnigen Richtung eine hervorragende Stellung einnimmt. Der Verfasser beabsichtigt, den großen Geisteskampf zwischen Autorität und Freiheit zu schildern, wie er in den Lebens- und Bildungsgängen eines Theologen der letzten Jahrzehnte sich ausgeprägt und widergespiegelt hat.
    D. Red.
  2. Brätlein nennt man im Schwabenlande Sauerkraut mit Spätzlein („Knöpfle“), vom Mittagstische übrig geblieben und im Ofenrohre bis gegen Abend zugebrätelt.
  3. Wer kein Geld in der Tasche hat, kann vor dem Räuber singen.
  4. Didicisse fideliter artes emollit mores.
  5. Verfasser der bekannten Shakespearestudien.
  6. Durch einen gerade sehr starken Andrang sogenannter Zeitartikel, deren Inhalt eine beschleunigte Veröffentlichung erforderte, sind wir in die Nothwendigkeit versetzt worden, den weiteren Abdruck der unter der obigen Ueberschrift im letzten Jahrgange der „Gartenlaube“ begonnenen Schilderungen für einige Zeit zu sistiren. Wir haben diese Unterbrechung einer so werthvollen und in weiten Kreisen der gebildeten Welt mit warmer und nachhaltiger Theilnahme begrüßten Artikelreihe sehr lebhaft bedauert, gänzlich fern aber mußte uns die Ahnung liegen, daß wir bei der Wiederaufnahme des Fadens vor einer so ernsten und schmerzlichen Pflicht stehen würden, wie es diejenige ist, der wir in diesem Augenblicke zu genügen haben. Es war ein in der vollen Blüthe frischester Vollkraft lebender und wirkender Mann der Wissenschaft und des freiheitlichen Kampfes, der erst im verflossenen Jahre auf unsere Bitte diese Erinnerungen aus seiner Jugendgeschichte niedergeschrieben und in ihnen ein bedeutsames Stück deutscher Cultur- und Geistesgeschichte so anziehend charakterisirt hat. Seinen Namen wollte er jedoch dabei vorläufig noch nicht genannt wissen – er hatte die Lösung dieses vielfach die Neugier erregenden Geheimnisses für einen ihm geeignet erscheinenden Moment sich vorbehalten. Ein schnell hereingebrochenes Verhängniß jedoch hat es anders gewollt; es hat ihn den Moment nicht erleben lassen, und wir glauben unsererseits nunmehr der Eingebung eines herzlichen Pietätsgefühls folgen und die oben mitgetheilte Fortsetzung nicht ohne die Bemerkung hinaussenden zu sollen, daß der Autor dieser persönlichen Eröffnungen und selbstbiographischen Aufzeichnungen kein anderer gewesen als Heinrich Lang, der freigesinnte Pfarrer in Zürich, der durch seine bahnbrechenden Zeitschriften weithin berühmte Vorkämpfer einer durchgreifenden Reform der Religion. Nach kaum zweitägiger Krankheit ist der rüstige Mann am 12. Januar jählings seinem schönen und segensreichen Wirken entrissen worden, und noch ist der Schmerz zu neu, noch zu groß die Erschütterung, welche die unerwartete Trauerkunde überall bei den Liberalen Deutschlands hervorgerufen hat, als daß schon gegenwärtig eine volle Würdigung des Hingeschiedenen erfolgen könnte. Unzweifelhaft fest aber steht für alle Kundigen, daß in ihm die deutsche Wissenschaft und Literatur eine leuchtende Zierde, die Sache der Freiheit und namentlich der religiösen Befreiung einen ihrer macht- und geistvollsten Vorkämpfer verloren hat.
    Lang war ein Deutscher von Geburt und hatte bis zu seinem Ende stets sehr innige Wechselbeziehungen mit Deutschland unterhalten. Durch die revolutionären Bewegungen von 1848 und 1849, an denen er sich betheiligt hatte, war er frühzeitig aus seiner schwäbischen Heimath in die Schweiz geworfen worden, die er seitdem nicht wieder dauernd verlassen hat. Als geborener Redner von großer und hinreißender Begabung, wollte er dem Kanzelberufe nicht entsagen; als ein ausgezeichneter Denker und Forscher mit tief religiösem Gemüthe wollte er für eine aufrichtige und entschiedene Versöhnung der Religion wirken mit allen Consequenzen der modernen Wissenschaft und Cultur. Diese mit kühnem Feuer und aller Energie eines gereiften Charakters von ihm ergriffene Aufgabe ist unablässig das Ziel seines Strebens geblieben, wie es in der treuen Arbeit für seine gleichgesinnte Gemeinde, in seinen Vorträgen, seinen wissenschaftlichen Werken und seinen berühmten Zeitschriften „Religiöse Zeitstimmen“ und „Reform“, sowie in seiner Eigenschaft als hervorragendes Mitglied des Deutschen Protestantenvereins sich dargestellt hat, dessen jährliche Hauptversammlungen durch den seltenen Gedankenreichthum seiner von tiefer Freiheitsgluth durchhauchten Predigten einen ganz besonderen Glanzpunkt erhielten. Auch die Redaction der „Gartenlaube“ betrauert in ihm einen geschätzten Mitarbeiter. Möge er sanft ausruhen von der Arbeit des gewaltigen Kampfes, aus dem ein vorzeitiger Tod ihn abgerufen hat! – Die noch restirenden Artikel zu dem Cyklus „Bis an die Schwelle des Pfarramts“ sind in unseren Händen und werden thunlichst schnell zum Abdruck gelangen.
    D. Red.
  7. Vgl. „Martin Luther, ein religiöses Charakterbild, dargestellt von Heinrich Lang.“ Berlin 1870.
  8. Mit diesen zwei Kronthalern hat Lang, der in Deutschland niemals wieder dauernd gewirkt hat, seine später mit so vielen Ehren fortgesetzte und abgeschlossene Laufbahn in der Schweiz begonnen, auch ein Beweis für die seltene Thatkraft, welche diesem mannhaften Streiter innewohnte.
    D. Red.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: erschallt
  2. Vorlage: Wagemann
  3. Vorlage: VI.
  4. Vorlage: vernehme