Aus dem dritten württemb. Reichstags-Wahlkreis

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Textdaten
Autor: Gustav Kittler
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Titel: Aus dem dritten württemb. Reichstags-Wahlkreis
Untertitel: Erinnerungen und Erlebnisse
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Entstehungsdatum: 1910
Erscheinungsdatum: Vorlage:none
Verlag: Im Selbstverlag des Verfassers
Drucker: Vereinsdruckerei Heilbronn
Erscheinungsort: Heilbronn
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Kurzbeschreibung: Politische Memoiren Gustav Kittlers
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[1]
Aus dem dritten württemb.
:: Reichstags-Wahlkreis ::



Erinnerungen und Erlebnisse
von Gustav Kittler










:: Im Selbstverlag des Verfassers ::
Druck der Vereinsdruckerei Heilbronn
1910
[2]
Zum Geleite.




Ein alter Veteran der Sozialdemokratie hat aus den eigenen Niederschriften und persönlichen Erinnerungen die nachstehenden Schilderungen ausgegraben. Nicht um ein in systematische Formen gepreßtes Geschichtswerk war es ihm zu tun, sondern er wollte uns Jüngeren und den späteren Geschlechtern, nicht zuletzt aber auch den wenigen Zeitgenossen von damals in einer anschaulichen Schilderung die mit dem Werden und Wachsen unserer Bewegung in der Stadt Heilbronn und ihrer Umgebung verbundenen Ereignisse und Kämpfe geistig wieder auferstehen lassen.

Gerade die schlichte Einfachheit, mit der hier über fast ein Menschenalter berichtet wird, läßt dem unbefangenen Leser das Büchlein zur wertvollen Lektüre werden, die niemand ohne Bereicherung in der Erkenntnis des Bestehenden, höherer Wertschätzung des Vergangenen und mannigfachen anderen Gewinn aus der Hand legen wird.

Den Mitgliedern und Freunden unserer Sache wird hier ein tiefer Blick in die früheren Zeiten mit all’ ihren Mühen und Sorgen, ihren Siegen und Enttäuschungen, ihrem Hoffen und Streben möglich gemacht, wie nur der ergraute Verfasser ihn gewähren konnte. Möge darum dem Büchlein eine freundliche Aufnahme und recht starke Verbreitung beschieden sein auch über die Grenzen unseres Wahlkreises hinaus und möge es dazu beitragen, das Schaffen der Gegenwart mit den Erfahrungen der Vergangenheit nutzbringend zu durchdringen. Dadurch erfährt der Verfasser die beste Anerkennung und den wohltuendsten Dank für seine Arbeit.


G. Hitzler.[ws 1] 
[3]
Die Gründung und Entwicklung der Partei bis zu dem Attentatsjahr.

Im September 1874 erfaßte das damalige Gründungsfieber auch fünf Proletarier, je einen Schuhmacher, Schneider, Schreiner, Silberschmied und einen Schlosser in der ersten württembergischen Industrie- und Handelsstadt, sie gründeten eine Mitgliedschaft der Sozialdemokratischen Partei Eisenacher Richtung. Mit Jugendbegeisterung und ohne Geld ging es nun an die Arbeit, wöchentliche Parteiversammlungen wurden abgehalten, in denen neben der Erläuterung des Programms in Form eines Wochenberichts die neuesten Vorkommnisse besprochen und lebhaft diskutiert wurden.

Oeffentliche Volksversammlungen schlossen sich an, daneben wurde die Gründung von Mitgliedschaften der verschiedenen Gewerkschaften, der Holzarbeiter, der Schuhmacher, der Schneider betrieben und bald pulsierte ein reges politisches Leben. Aufklärungsarbeit gab es in Hülle und Fülle und wenn auch langsam, so schritt doch die Bewegung stetig fort, aus den 5 wurden 15 und 20, jeder einzelne Agitator und Werber für unsere große Sache. Die Gewerkschaften machten gleichfalls Fortschritte, weitere Mitgliedschaften der einzelnen Berufe wurden gegründet und auch auf diesem Gebiet ging es rüstig vorwärts. Sehr zu statten kam uns eine Agitationstour, die der damalige Präsident des [4] allgemeinen deutschen Arbeitervereins, Genosse Hasenklever,[ws 2] in Begleitung des Genossen Dreesbach[ws 3] nach Süddeutschland unternahm, kurz vor dem Vereinigungskongreß in Gotha. Wir hatten eine sehr stark, auch von Gegnern besuchte Versammlung, in der Hasenklever in glänzender Rede die damalige politische Lage besprach, besonders auch die Kulturkampfgesetze und die Gewaltpolitik Bismarcks scharf kritisierend. Unvergeßlich bleiben mir die Worte, die unser verstorbener Kämpfer dem Führer der Nationalliberalen, der die Maigesetzgebung verteidigte, als einziges Mittel gegen die Macht des Zentrums in der Diskussion zurief: „bilden Sie das Volk, dann werden jene schwarzen Vögel von selbst fortfliegen.

Wie recht Hasenklever hatte, sehen wir heute, nach 35 Jahren, die Gewaltpolitik Bismarcks hat dem Zentrum nur genützt, ja, es zur stärksten politischen Partei gemacht, wohl auch deshalb, weil die übrigen bürgerlichen Parteien es bisher an der nötigen Volksbildung fehlen ließen. Genosse Dreesbach referierte über das Programm und erntete für seine trefflichen Ausführungen stürmischen Beifall. Die Gewinnung einer Anzahl weiterer Parteigenossen, sowie weiterer Abonnenten auf unser damaliges Parteiblatt „Süddeutsche Volkszeitung“, war der Erfolg der glänzend verlaufenen Versammlung.

Unter den Diskussionsrednern der Versammlung befand sich auch ein junger Mann aus dem Stamme Israel, nennen wir ihn Isak,[ws 4] der auch Hasenklever entgegentrat, von demselben jedoch den wohlgemeinten Rat erhielt, erst die sozialdemokratischen [5] Forderungen, den Sozialismus kennen zu lernen, bevor er über diese wichtigen Gegenwartsfragen in öffentlicher Versammlung sprechen wolle. Und merkwürdig, während leider gewöhnlich junge und ältere Leute in Anmaßung und Arroganz, über einen solchen Rat lachen und spotten, befolgte ihn Isak, trat unserer Partei bei und wurde auf eine Reihe von Jahren die eigentliche Seele der Bewegung am Platze.

In Folge seiner besseren Schulbildung, er hatte höhere Schulen mit Erfolg besucht, während wir übrigen mit der miserablen Volksschulbildung vorlieb nehmen mußten, wurde er zu unserem geistigen Führer. Seine Finanzlage ermöglichte ihm die Anschaffung aller wichtigen Bücher und Zeitschriften, was uns, da wir mit kargem Lohn für Weib und Kind zu sorgen hatten, nicht möglich war. Nur eines war ihm versagt, das öffentliche Reden, es lag ihm nicht, auch konnte er, verhindert durch seine gesellschaftliche Stellung nicht leicht davon Gebrauch machen. Desto besser war er in der Feder und manch gepfefferten Artikel bekamen unsere Gegner von ihm vorgesetzt. Uns machte er mit Goethe, Schiller und Heine bekannt, beschaffte die Werke von Marx und Lassalle, die in Parteiversammlungen und privatim von ihm erläutert wurden. Viel verdanken wir Alten und die Bewegung hier ihm.

Eine kleine Probe zur Kennzeichnung seines Feuereifers mag hier am Platze sein. Ein damals viel genannter Pfarrer Novak, ein christlich-sozialer Wanderredner, hatte die Abhaltung eines Vortrags im Betsaal des evangelischen Vereinshauses [6] ausgeschrieben und nun verlangte unser Isak nicht mehr und nicht weniger, als daß wir in dieser gemischten Gesellschaft, an diesem geheiligten Ort, die Fahne des Sozialismus aufpflanzen. Nach lebhafter Debatte wurde der Vorschlag auch angenommen und wir Sozialdemokraten zogen an dem betreffenden Abend zum ersten und wohl auch letzten mal ins evangelische Vereinshaus mit scharf geschliffenen Waffen, um Novak zu bekämpfen. Angesichts der wenigen alten Weiber in Männerkleidung und der vielen alten und jungen Betschwestern unterblieb aber der Kampf und auch Isak war zufrieden. Daß wir die Wahlzeiten zur Ausbreitung unserer Ideen als besonders geeignet betrachteten, ist selbstverständlich.

Die nächste Reichstagswahl 1877 fand uns auf dem Plan, als Zählkandidat wurde Genosse Bebel[ws 5] aufgestellt, der es denn auch auf sage und schreibe 183 Stimmen brachte, notabene im ganzen Wahlkreis, was allerdings herzlich wenig, angesichts der Konstellation des Kreises, in dem Deutsche Partei und Volkspartei um das Mandat rangen, ein Erfolg war, mit dem wir zufrieden sein konnten und waren. Die Volkspartei kämpfte mit einem auch in Arbeiterkreisen sehr beliebten und geachteten Kandidaten, der zudem das Landtagsmandat des Oberamts besaß,[ws 6] zum ersten mal ernstlich um das Reichstagsmandat des Kreises. Die Arbeiter, soweit sie sich politisch betätigten, lagen bisher im Schlepptau der Volkspartei, die politische Schulung war noch nicht soweit fortgeschritten, daß sie sich sagten, in der ersten Wahl unter allen Umständen den sozialdemokratischen Kandidaten und es wurde [7] uns auf unsere diesbezüglichen Bemerkungen im Allgemeinen geantwortet: „Bebel wird ja doch nicht gewählt, wir müssen gleich den Volksparteiler wählen, damit er in der ersten Wahl schon durchkommt.

Vergeblich war aller Hinweis unsererseits, daß dies vollständig ausgeschlossen sei. Das Resultat des ersten Wahlgangs war denn auch Stichwahl zwischen Volkspartei und deutscher Partei, aus der dann mit unserer Hilfe der Volksparteiler als Sieger hervorging. Manch heißen Kampf hatten wir in der Folge noch mit der Volkspartei zu führen, bis es uns gelang, den größten Teil der Arbeiter auf unsere Seite, auf den Platz zu bringen, wohin sie naturgemäß gehören.

Hiezu benützten wir fast ausschließlich die volksparteilichen Versammlungen, einmal, weil das billiger für uns war, dann aber auch deshalb, weil uns die in Betracht kommenden Säle systematisch verweigert wurden. Nebenbei pflegten wir auch das gesellschaftliche Gebiet, ein Männergesangverein wurde gegründet, der sich zur Aufgabe machte, nur Lieder der neuen Zeit, Tendenzlieder einzuüben und zum Vortrag zu bringen.

Bald erschollen denn auch in von uns arrangierten Sonntagsunterhaltungen unsere alten vierstimmigen Chöre „Wer schafft das Gold zu Tage“, „Ein Sohn des Volkes will ich sein“, „Wer müht sich um geringen Sold“, „Die rote Fahne pflanzt nun auf“ und andere mehr. Unsere Frauen und Kinder, sowie eingeführte Bekannte wurden auch im Lied auf unseren Klassenkampf hingewiesen, die Genossen selbst zu neuem Kampf begeistert. [8] Gute politische Deklamationen und Rezitationen kamen zum Vortrag von Heine, Uhland, Freiligrath und anderen. Den Schluß bildete gewöhnlich das gemeinsame Absingen unseres Schlachtrufes: der Marseillaise.

Manches neue Mitglied wurde auch hier gewonnen, wie überhaupt diese Veranstaltungen dem dreifachen Zweck dienten: 1. das Unterhaltungsbedürfnis zu befriedigen, 2. neue Anhänger zu gewinnen, und 3. Munition, Geld für unseren Kampf zu schaffen. 1877 wurde die erste große Festlichkeit, ein Arbeiterherbstfest, abgehalten. Die Festrede hielt Dr. Rieth, der in der Hauptsache Freidenker und nebenbei etwas Sozialdemokrat war. Als besondere Sehenswürdigkeit wurde in einer Extrabude gegen kleines Eintrittsgeld das „rote Gespenst“ gezeigt, das ein ehrsamer Schuster ausgezeichnet mimte und viel Heiterkeit erregte, sowie einen netten Batzen in unsere Kasse brachte. Das Fest verlief in allen Teilen, besonders auch in finanzieller Beziehung, zur vollsten Zufriedenheit und wir schwuren uns, die Sache im nächsten Jahre wieder in noch größerem Maßstab zu machen. Aber der Mensch denkt und der Kutscher lenkt. In diesem Fall waren es sogar zwei Kutscher, Hödel[ws 7] und Nobiling,[ws 8] und das nächste Jahr war das berüchtigte Jahr 1878.



[9]
Die Attentate und deren Wirkung auf die Partei.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel krachte der Revolverschuß des verlumpten Klempnergesellen Hödel am 11. Mai in die regste politische und gewerkschaftliche Tätigkeit hinein.

„Was ist das?“ fragten wir uns. Unser erster Gedanke war Polizeimache, eine Teufelei des Gewaltmenschen Bismarck. Er will unserer Bewegung an den Kragen. Und richtig wurde auch die ganze Preßmeute auf uns losgelassen. Der Lump Hödel sei Sozialdemokrat, er habe im Auftrag unserer Partei das Attentat verübt, schrieben die damaligen Preßmamelucken. Ihr Herr und Meister, der „geniale Kanzler“, verlangte ein Gesetz zu unserer Unterdrückung, Ausrottung.

Vergeblich war es, daß von unserer Seite das Gegenteil nachgewiesen wurde, daß nachgewiesen wurde, daß Hödel in letzter Zeit die Sozialdemokratie bekämpfte im Auftrag des christlich-sozialen Hofpredigers Stöcker, daß er also christlich-sozialer Gegner der Sozialdemokratie sei, die Hetze ließ nicht nach.

Das hiesige „Intelligenzblatt“, die geistige Nahrung für unsere Stadt und deren Umgebung, stand in diesem wüsten Treiben seinen Kollegen in nichts nach, im Gegenteil, es suchte sie noch zu übertrumpfen.

Sein geistiger Leiter, namens Schnell, der übrigens meistens mit der Schere arbeitete und von uns deshalb den Namen Scherenschnell[ws 9] [10] erhielt, hatte sich des lieben Brotes wegen vom wütenden Demokraten zum Nationalliberalen durchgemausert und wie alle Renegaten, trieb er unsere Verfolgung, Verleumdung und Bekämpfung mit am tollsten. Jede Nummer dieses „Intelligenzblattes“ strotzte von Schmähungen und Verleumdungen gegen uns, das Unflätigste, was seine Schere erwischen konnte, wurde gegen uns abgedruckt. Diesem sauberen „Herrn“ mußte das Handwerk gelegt werden.

Am liebsten hätten wir bei unserem „Freund“ Schnell das einzige wirksame Mittel gegen Bubereien, eine gehörige Tracht Prügel, in Anwendung gebracht, doch damit wären die Verleumdungen nicht widerlegt, die Lügen nicht aufgedeckt gewesen und so wurde beschlossen, dies in einer öffentlichen Volksversammlung zu besorgen.

Ohne Widerstand uns abschlachten zu lassen, lag nicht in unserem Naturell. Der Redner war bald gefunden in der Person unseres leider zu früh verstorbenen Genossen Dr. Dulk.[ws 10] Anders stand es um ein Versammlungslokal. Ueberall wurden wir abgewiesen. Endlich gelang es, eine Gartenwirtschaft als Versammlungsort für einen Sonntagnachmittag zu erhalten. Die Tagesordnung lautete: „Das Attentat auf den Kaiser und das Attentat auf die Sozialdemokratie“. Genosse Dulk verstand es in meisterhafter Weise an Hand unseres Programms der überaus zahlreichen Versammlung nachzuweisen, daß die Sozialdemokratie mit dem Attentat auch nicht das mindeste zu tun habe, daß Hödel wegen moralischer Verlumpung schon längst aus unserer Partei ausgeschlossen wurde, in letzter Zeit im Dienste Stöckers stand und für die [11] Christlich-Sozialen unter den Berliner Arbeitern agitierte, also ein Christlich-sozialer und nicht Sozialdemokrat sei. Trefflich wurden die Lügen und Verleumdungen der Preßmenschen als solche gekennzeichnet und der stürmische Beifall der Versammelten bewies, daß das eigentliche Volk schon damals eine bessere Meinung von unserer Bewegung hatte. Trotz wiederholter Aufforderung meldete sich keiner der zahlreich anwesenden Gegner zum Wort. Nach einem kräftigen Appell des Vorsitzenden, in dem er das gemein-feige Verhalten des Scherenschnells besonders geißelte, wurde die prächtig verlaufene Versammlung geschlossen.

Diese Versammlung fand an dem denkwürdigen 2. Juni statt, zu derselben Zeit, zu der Nobiling seine Schrotflinte auf den alten Kaiser abfeuerte und denselben leider nicht unbedenklich verwundete. Die Kunde von diesem zweiten Attentat war auf telegraphischem Weg auch nach hier gelangt und kaum hatte unser Vorsitzender die Versammlung geschlossen, als ihm der anwesende Polizeiwachtmeister hievon Mitteilung machte.

Die Nachricht wirkte wie ein Donnerschlag. Uns war sofort klar, daß nun die Hetze aufs neue beginnen werde, daß Bismarck und die Reaktion gewonnenes Spiel hatten.

Wie vorausgesehen, kam es auch. Diesem Attentat folgte sofort die Reichstagsauflösung. Die Angststimmung und Erbitterung des deutschen Volkes mußte benützt werden, um einen der Regierung günstigen und willigen Reichstag zu schaffen.

Der Dalles war damals schon in der Reichskasse, trotz dem französischen Milliardensegen und einsichtige Politiker wußten, daß die Regierung, [12] daß Bismarck, mit dem Gedanken umging, dem deutschen Volke mehrere hundert Millionen neuer indirekter Steuern aufzulegen.

Der 1877 gewählte Reichstag war dem Kanzler nicht gefügig genug, hatte er doch das von demselben nach dem ersten Attentat vorgelegte Sozialistengesetz nicht unbesehen genehmigt, ganz besonders aber war er ihm bei der geplanten Zollpolitik nicht zuverlässig genug. Auch wußte er, daß die Sozialdemokratie diesen Raubzug auf den Geldbeutel der breiten Masse des Volkes energisch bekämpfen werde.

Jetzt galt es für den Blut- und Eisenmenschen Bismarck, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, erstens die geplante Schutzzollpolitik durchzuführen, mit deren Hilfe die leere Reichskasse wieder frisch zu füllen und zweitens die verhaßte Sozialdemokratie, die das Spiel verderben könnte, durch aufklären und warnen des Volkes, vorerst unschädlich und mundtot zu machen, ja sie möglicherweise gänzlich auszurotten.

Zuerst wurde, wie schon gesagt, der Reichstag mit der Begründung aufgelöst: er habe dem Reichsoberhaupt den nötigen Schutz gegen die umstürzlerische Sozialdemokratie durch Ablehnung des Sozialistengesetzes verweigert. In Wirklichkeit lag gar keine Ablehnung, sondern nur eine Verweigerung der Annahme in Bausch und Bogen vor, der Annahme eines Gesetzentwurfs, mit dessen Hilfe man alle und jede Opposition mit Leichtigkeit unterdrücken konnte.

Doch diese Tatsache genierte den „idealen Kanzler“ nicht, er ließ sie durch die ihm allezeit dienstwilligen, aus dem Preßfonds, Reptilienfonds, [13] gefütterten Preßkosacken in das Gegenteil umlügen. Die Hetze begann nun auch gegen den Reichstag, in doppelter Stärke aber gegen uns. Was auf dem Gebiete der Verleumdungen und Schmähungen damals gegen uns geleistet wurde, davon macht sich die heutige Generation keinen Begriff. Unsere Führer, die sich diesem Treiben entgegenstellten, die den wahren Grund der Hetze, die geplante Schutzzollpolitik und die dadurch verursachte riesige Steuererhöhung aufdeckten, wurden hinter Schloß und Riegel gesetzt und bis zum Wahltag gehalten, das richtige Mittel, nach des Gewaltmenschen Ansicht, der so recht in seinem Element war, um unsere besten Kräfte vom Wahlkampf fernzuhalten.

Die politischen Leidenschaften wurden bis zur Gluthitze, die Angst vor dem roten Gespenst bis zur Unerträglichkeit gesteigert mit Hilfe der feilen Presse.

Unter solcher Stimmung kamen die Reichstagswahlen 1878 zustande. Und Bismarck hatte die Rechnung nicht ohne den Wirt, die Dummheit des Deutschen Volkes und die Schlechtigkeit seiner Presse gemacht.

Schmunzelnd und händereibend betrachtete er die Neugewählten, nun hatte er was er wollte, eine überwiegende Mehrheit, die ihm alles und noch mehr bewilligte. Diese günstige Situation verdankte Bismarck lediglich den „Herren Hödel und Nobiling“.

Wer Hödel war, wissen die geneigten Leser bereits, nicht so bei Nobiling. Der war sicher ein geistig Umnachteter, ein Wahnsinniger, denn welcher geistig gesunde Mensch kann es über sich bringen, [14] aus sicherem Hinterhalt auf einen friedlichen Greis eine Schrotflinte abzufeuern? Was ihn zu seinem freventlichen Tun veranlaßte, wird nie aufgeklärt werden, da er gleich nach der Tat Hand an sich legte und sich tödlich verwundete. Soviel konnte jedoch festgestellt werden, daß er den sogenannten besseren Kreisen angehörte, bei der nationalliberalen Partei war und in Dresden die Sozialdemokratie in öffentlicher Versammlung bekämpft hatte. Trotz dieser unumstößlichen Tatsachen machte man die Sozialdemokratie für dessen Tun verantwortlich, schuf man ein Knebelgesetz für diese große Partei, so recht bezeichnend für die bürgerlichen Parteien und deren Herrn und Meister Bismarck.

Unserem zweifellos auch aus dem Reptilienfonds gefütterten Scherenschnell kam das zweite Attentat wie gerufen. Jetzt konnte er nicht nur seine Rache befriedigen für die wohlverdiente moralische Tracht Prügel, die er in unserer Versammlung erhalten, sondern auch so recht seinem innersten Herzenstrieb, uns zu beschimpfen und zu verleumden, folgen, ohne befürchten zu müssen, dafür wieder in öffentlicher Versammlung geprügelt zu werden.

Hatte er es das erste mal schon toll getrieben, so trieb er es jetzt noch toller. Kübelweise wurden die Schmähungen über uns ausgegossen, das Lügen verstand Scherenschnell so meisterhaft wie sein Meister. Unser Versuch, abermals in einer Volksversammlung Abrechnung zu halten, schlug fehl. Alle Saal- und sonstigen Türen waren uns verschlossen. Niemand hatte bei der Hetze den Mut, uns seine Lokalitäten zur Verfügung zu stellen. Es blieb uns nur noch ein Weg, dies [15] mittels Flugblatt zu besorgen und dieser Weg wurde auch beschritten.

Die Abfassung war Kollektivarbeit, Isak machte den Entwurf, die Ausarbeitung besorgten er und ich, die Reinschrift er allein. Es trug den Titel „Trau, schau wem?“[ws 11] und wurde von mir als Verantwortlicher gezeichnet.

In Kürze wurde darin geschildert, wer Hödel und Nobiling waren, daß sie mit uns absolut nichts zu tun, ja sogar unsere Gegner seien, unsere Forderungen und Bestrebungen dargelegt und der wahre Grund der Hetze aufgedeckt.

Sämtliche hiesigen Druckereien lehnten die Drucklegung ab aus Angst. So wurde das Flugblatt auswärts in unserer Parteidruckerei in 4000 Exemplaren hergestellt und in einer Kiste uns zugesandt.

Die Verbreitung war auf mittags 12 Uhr festgesetzt, vor jeder Fabrik sollte ein Genosse postiert werden um dies zu besorgen. Während ich um etwa halb 10 Uhr das Pflichtexemplar auf das Oberamt trug, besorgte Isak das Abzählen und Einpacken der Blätter in meiner Wohnung.

Unserem damaligen Oberamtmann, Regierungsrat M.,[ws 12] einem verknöcherten Bureaukraten, sträubten sich die Haare, als er das Flugblatt gelesen und er schnaubte mich an, „was, das wollen Sie verbreiten, das ist ja unerhört.“

„Gewiß, Herr Regierungsrat,“ entgegnete ich in aller Gemütsruhe, „wir müssen doch dieser unberechtigten Hetze entgegentreten und da bleibt uns kein anderer Weg, adje.“

[16] „Warten Sie, bleiben Sie noch,“ herrschte der Gewaltige mich an, war aber doch so anständig, mir einen Stuhl anzubieten und mich einzuladen, Platz zu nehmen, was ich auch tat, worauf er sich entfernte, um nach anderthalb Stunden schon wieder zu kommen, mit der Eröffnung, das Flugblatt verstößt gegen §§ 130 und 131 des Strafgesetzbuchs und wird mit Beschlag belegt.

„Wo ist das Flugblatt,“ herrschte er mich an.

„In meiner Wohnung,“ entgegnete ich, „dann schaffen Sie es her,“ „fällt mir nicht ein,“ war meine Antwort.

„Wenn Sie es wollen, dann holen Sie es. Ich halte überhaupt die Beschlagnahme für einen Gewaltakt und protestiere dagegen. Weder gegen § 130 noch 131 liegt ein Vergehen vor, dies haben mir auf Befragen mehrere Rechtsanwälte versichert.“

„Darüber hat jetzt das ordentliche Gericht zu entscheiden, das Flugblatt bleibt mit Beschlag belegt,“ hiemit endete unsere Unterredung.

Der Polizeiamtmann wurde von dem Gewaltigen beauftragt, die Flugblätter in meiner Wohnung zu holen. Dieser, obgleich auch Bureaukrat, war bisher so ziemlich anständig mit uns verfahren, sodaß ich ein menschliches Rühren mit ihm empfand und ihn unterwegs fragte, „wie wollen Sie Herr Amtmann, die Flugblätter wegschaffen, es ist eine ganze Kiste voll.“

„Was, eine Kiste voll?“ fragte er entsetzt, besann sich und beauftragte einen Schutzmann, uns auf etwa 10 Schritte Distanz zu folgen. In meiner Wohnung angekommen, fanden wir Isak eifrig bei seiner nahezu beendeten Arbeit.

[17] Ein Verbreiter war schon abgefertigt und unterwegs. Die Uebrigen rückten gerade an, denn es war mittlerweile 12 Uhr geworden. Als Isak den Polizeiamtmann und Schutzmann sah und erfuhr, um was es sich handelte, war er ganz aus dem Häuschen, er spuckte, was er in großer Erregung immer tat und wäre den beiden am liebsten ins Gesicht gesprungen. Ich hatte alle Mühe, um ihn halbwegs bei Vernunft zu erhalten.

Nachdem die heilige Hermandad mit unserem Schatz sich entfernt, der Schutzmann keuchend mit der Kiste, wurde kurzer Kriegsrat gehalten und beschlossen, sofort Beschwerde wegen der Beschlagnahme zu erheben, sowie nochmals bei einigen tüchtigen Rechtsanwälten anzufragen, ob der Inhalt des Flugblatts wirklich strafbar sei. Die Beschwerde wurde sofort erledigt, die Umfrage im Lauf des Nachmittags. Keiner der gefragten Rechtsanwälte konnte, trotz sorgfältiger Prüfung, in dem Flugblatt etwas strafbares entdecken.

Trotzdem wurde ich und ein Schuster, der die Verbreitung vor einer Silberwarenfabrik[ws 13] prompt besorgt hatte, zwei Tage später in Untersuchungshaft genommen. Dasselbe Verfahren, das man gegen unsere Genossen im übrigen Deutschland anwandte.

Das Flugblatt gab den gewünschten Vorwand ab um auch mich, den einzigen Redegewandten am Ort, aus dem Wahlkampf zu entfernen, um auch hier die Sozialdemokratie mundtot zu machen. Dies trat noch deutlicher zu Tage dadurch, daß ein Antrag, mich gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen, abgelehnt wurde unter dem nichtigen [18] Vorwand, der Tatbestand könnte verschleiert werden, auch liege Fluchtverdacht vor.

Von Fluchtverdacht konnte gar keine Rede sein, ich war verheiratet, Vater von 5 Kindern und überzeugt, daß das Flugblatt nichts Strafbares enthält, wie sollte es mir einfallen, einer solchen Lappalie wegen meine Familie im Stich zu lassen.

Meine Verhaftung erfolgte von der Hobelbank hinweg, doch wurde mir gestattet, in Begleitung des Stationskommandanten mich nochmals in meine Wohnung zu begeben, um mich umzuziehen und meiner Familie adje zu sagen.

Meine weinende Frau und Kinder tröstete ich damit, daß ich nichts Schlechtes begangen und bald wieder kommen werde.

Nun ging es dem Kgl. Amtsgericht zu, wo uns der Untersuchungsrichter, ein junger Assessor namens Kegelmaier,[ws 14] schon erwartete. Er eröffnete mir, daß ich wegen Vergehen gegen §§ 130[ws 15] und 131[ws 16] des Strafgesetzbuches in Untersuchung gezogen sei und begann auch sofort mit meiner Vernehmung. Ich bekannte mich als alleinigen Verfasser des Flugblatts und somit auch als allein Verantwortlichen, verteidigte die inkriminierten Stellen, erklärte, was und wen ich damit meinte und wies nach, daß sie nicht strafbar seien.

Nach beendetem Verhör wurde ich in Untersuchungsarrest abgeführt.

Eine etwa 10 Zentimeter starke eichene Türe mit starkem Eisenbeschläg, verschiedenen starken Riegeln und Schlössern versehen, wurde geöffnet und wir standen in einem stockdunklen Raum von etwa 80 Quadratzentimeter Inhalt, der sich [19] erst dürftig erhellte, als eine zweite gewaltige Türe, womöglich noch stärker als die erste, geöffnet wurde.

Wir befanden uns nun in der Arrestzelle, das heißt ich, denn mein Gefängniswärter hatte unter der Türe Kehrt gemacht und nach sorgfältiger Verschließung und Verriegelung beider Türen sich schleunigst wieder entfernt.

Wahrscheinlich roch es ihm zu stark an diesem Ort, so daß er sich nicht Zeit nahm, mich dem Insassen des Käfigs, es war nämlich schon einer drin, wie es sonst üblich ist, vorzustellen und mir meine Lagerstatt anzuweisen.

Es war aber auch eine Luft, besser gesagt, ein Gestank in diesem Raum zum Umfallen, so daß ich entsetzt nach jener Stelle rannte, von der Licht kam und wo ich ein Fenster vermutete, um frische Luft zu schöpfen.

Ja Schrecken, es war etwas da, wie ein Fenster, aber in einer Höhe, die von dem längsten Sterblichen ohne Hilfsmittel nicht zu erreichen war. Verzweifelt fragte ich den Insassen, „stinkt es denn hier immer so entsetzlich?“ worauf er tröstend antwortete: „Ja, aber ’s isch jetzt grad noch net arch“.

„So, es wird noch ärger? fragte ich immer entsetzter.

„Jo, wemmer de Honichhafe braucht, was ebba als a sei’ muaß,“ gab er mir sarkastisch zur Antwort.

Auf meine verwunderte Frage, „Honighafen,[ws 17] was ist denn das?“ antwortete er überlegen lächelnd: „Dös isch dös Häfele, uff dös mer sitzt, wenns an im Bauch zwickt, odder wie klane Kinder saga, wenn mer a Rolle muaß“.

[20] Ein geheimes Grauen erfaßte mich bei dem Gedanken, daß man hier gezwungen war, die intimste Verrichtung vor wildfremden Menschen zu vollziehen. Ich bin nicht prüde, aber dies ging mir denn doch über die Hutschnur.

Ob wohl Fürst Philipp zu Eulenburg[ws 18] vor seiner „schweren Erkrankung“ auch solch schöne Einrichtung kennen gelernt hat und gezwungen wurde, sie zu benützen? Sieht man denn maßgebenden Orts nicht ein, welche Tortur es für den halbwegs Feinfühlenden bedeutet, solche Verrichtungen vor den Augen und Ohren eines Fremden zu vollziehen? wenn nicht, dann treffen meine obigen diesbezüglichen Ausführungen ins Schwarze.

Während der Vorstellung, die nun begann und die ich besorgen mußte, mein Leidensgenosse, ein 24jähriger Bauernbursche aus Erligheim, wegen Messerstecherei in Untersuchungshaft, hatte von so was keine Ahnung, betrachtete ich meinen neuen Aufenthaltsort etwas genauer. Die Zelle ist etwa 12 Schritte lang, 8 Schritte breit und gut 4 Meter hoch. Dieser Raum wird spärlich beleuchtet von einem etwa 1 Meter hohen und 1 Meter breiten Fenster, das in der rechten Ecke der Zelle in zirka 2½ Meter Höhe angebracht ist und kann mittels Besteigen des Tisches notdürftig mit der Nase erreicht werden.

Gelüftet wird der Raum durch ein Viertel der Fenstergröße, das seitlich hinter das Andere geschoben wird. Zweidrittel des Tages lag auch noch die Sonne auf diesem kleinen Luftloch, sodaß die verpestete Innenluft nicht abziehen konnte.

So sah mein neues unfreiwilliges Domizil in [21] Beziehung auf Raum, Licht und Luftverhältnisse aus. Möbliert war es mit einem tannenen Tisch und zwei Stühlen ohne Lehnen, außerdem waren noch in den beiden Ecken Lagerstätten, sogenannte Pritschen aus Holz, auf den Fußboden fest angeschraubt, angebracht.

Die eigentlichen Betten bestanden aus Strohsack, dito Kopfpolster, Leintuch, sowie Teppich[ws 19] zum Zudecken, man denke aber ja nicht an Steppdecken, nein, es waren gute wollene, oder vielmehr härene Teppiche, die auf der bloßen Haut wohl ein bischen viel kratzten, sonst aber genügend wärmten, um so mehr, als wir 28 bis 30 Grad Wärme im Schatten hatten. Einen Wasserkrug hätte ich beinahe vergessen, der zugleich den Dienst des gemeinsamen Waschlavoirs versah.

Dies das Möblement, mein Liebchen was willst du noch mehr. Ich hätte nicht geglaubt, daß man so einfach zu leben im Stande wäre und wundere mich wirklich, daß Posadowsky,[ws 20] der zweifellos diese mehr als spartanische Einrichtung kennt, auf dem letzten evangelisch-sozialen Kongreß nicht auch die Arbeiter, die infolge ihres geringen Verdienstes trotz zahlreicher Familie, gezwungen sind, sich mit 2 kleinen Zimmern als Wohnung zu begnügen, im Hinblick hierauf des Luxus zieh, als Verschwender bezeichnete.

Die Wände starrten auf Mannshöhe vor Schmutz. Man sah an denselben nur zu deutliche Spuren der Reinigungsmethode des Riechorgans eines Schnupfers, die üblich war zur Zeit, als das Taschentuch noch nicht existierte. Es war just vor der großen Reinigung. Dieselbe wurde auch [22] noch während meines unfreiwilligen Aufenthalts vorgenommen und bestand darin, daß die Wände frisch geweißnet, hernach auf den Fußboden einige Kübel Wasser geleert und mit dem Schrupper hinausgebürstet, sowie das Stroh in Kopfpolster und Strohsack erneuert und die Teppiche geklopft wurden.

Immerhin sah der Käfig nachher etwas reinlicher und appetitlicher aus und roch etwas besser. Einmal jede Woche wurde auch große Lüftung vorgenommen, immer Sonntags nach dem Diner. Da wurden alle Türen und Fenster eine ganze halbe Stunde lang geöffnet und wir durften während dieser langen Zeit im Gänsemarsch, darauf wurde streng gesehen, im Gefängnisgarten, pardon, Gefängnishof, spazieren gehen, unser einziges, gewiß bescheidenes Sonntagsvergnügen.

Wo anders hat man, wie wir später sehen werden, selbst das nicht. Wie dehnten sich die Nasenflügel, wie weitete sich die Lunge in der frischen Luft, jetzt erst fühlte man so recht, was man die ganze Woche hindurch hauptsächlich hatte entbehren müssen.

Nur zu rasch war unsere lange halbe Stunde rum, im Gänsemarsch wie bisher, gings wieder zurück in unsere Zellen.

Nun duftete das ganze Gebäude nach der schlechten Zellenluft. Dieselbe hatte sich durch die großen Türen in den Mittelgang verzogen, auf den die Türen rechts und links mündeten.

Nicht lange währte es, nachdem unsere Türen wieder sorgfältig von außen zugemacht waren und mein Unglücksgenosse, der Unglücksmensch mußte den „Honighafen“ benützen. Da hatten [23] wir wieder die saubere Bescherung, die nahm uns vor dem anderen Morgen kein Mensch ab.

Er entschuldigte sich recht und gab mir als Entschädigung eine Prise, die ich auch sofort schnupfte. Dann kletterte ich auf unsern Tisch, um meine Nase dem Fenster zu nähern, aber o weh! Ich mußte meinen neuen Standort sofort wieder verlassen, weil bekanntlich die Düfte sich zuerst nach oben ziehen, es deshalb hier oben einfach nicht zum Aushalten war.

Seitdem weiß ich aber auch, warum alle Arrestanten Schnupfer sind, weniger deshalb, weil dies der einzige erlaubte Tabaksgenuß an diesem Orte ist, sondern mehr deshalb, weil es das einzige Mittel ist, um der Nase von Zeit zu Zeit einen anderen Geruch zuzuführen. Dem Zwang gehorchend, nicht dem eigenen Triebe wurde ich zum Schnupfer, zum Leidwesen meiner lieben Frau, die trotz ihrer Liebenswürdigkeit meine Taschentücher eben heute noch nicht gerne wascht.

Eine gute Stunde nach meiner Einkapselung rasselten wieder Riegel und Schlösser unseres Allerweltsraums und unser nächster Wächter und Beschützer erschien in Begleitung einiger andern, die Strohsack, Kopfpolster, Leintücher und Teppiche herbeischleppten, alles für mich bestimmt.

Mein erstes Wort an ihn war, „haben sie denn keine andere Zelle für mich, keine, wo ich allein sein kann, hier stinkt es ja entsetzlich, da kann es ja kein Mensch aushalten“, so sprudelte ich heraus.

Achselzuckend meinte er, „es ist jetzt alles besetzt, später vielleicht“.

[24] „Später vielleicht, später vielleicht, sagen Sie, wie lange glauben Sie denn, daß man mich in diesem Pestraum festhält?“

„Das weiß ich nicht, doch glaube ich, daß es nicht so rasch gehen wird“, antwortete er.

„Schöne Aussichten“, polterte ich weiter, „so eine Schweinerei, sehen Sie sich einmal die Wände an, wie die aussehen zum Erbrechen, den Fußboden, kohlschwarz“.

„Ja, wie in einem Salon sieht es nicht aus, es ist auch keiner, sondern eben ein Untersuchungsarrest und bald ist auch große Reinigung, dann wird es besser“, damit verzog er sich mit seinen Helfershelfern.

Ich polterte und schimpfte weiter bis wieder Schloß und Riegel knarrten, diesmal aber nur an der ersten Tür, an der zweiten wurde nur ein kleiner, viereckiger Raum geöffnet und zwar so, daß der Verschluß nach außen gelegt wurde, so daß sich nach außen ein kleines Tischchen bildete, auf welches das Essen, jetzt das Nachtessen, gestellt wurde, bestehend aus etwa einem Liter Wassersuppe.

Der Insasse holte das Vorgesetzte in das innere der Zelle, wo dann die Mahlzeit begann. Bei uns waren zwei Portionen serviert, da wir ja zu zweit waren.

Während dieser zweite die beiden Schüsseln auf unsern Tisch stellte, betrachtete ich diese neue Ueberraschung und dachte dabei, schade, daß innen in der Zelle nicht noch ein Trog zum Hineinleeren des Essens angebracht ist, dann wäre die Einrichtung des Schweinestalls vollständig.

[25] Die Klappe wurde wieder von außen geschlossen, wobei uns eine Stimme gute Nacht wünschte, das Abservieren wurde immer am Morgen mit dem „Honighafen“leeren besorgt, gewiß eine appetitliche Verbindung zweier notwendiger Verrichtungen. Dieses „Gute Nacht“ wünschen war für gewöhnlich das Zeichen des Feierabends insofern, als wir von jetzt ab bis zum andern Morgen nicht mehr gestört wurden.

Mein neuer Zimmergenosse, der eifrigst mit seiner Wassersuppe beschäftigt war, teilte mir dies, wie alles mich Interessierende, sofort mit und forderte mich gleichzeitig gutmütig auf, mein Nachtmahl einzunehmen.

„Essetse doch ihr Suppa, ehse kalt werd, sie isch net schlecht.“

Und wirklich, sie duftete nicht übel und da ich ohnedies ein Freund von mit gebräunten Zwiebeln abgeschmelzten Suppen bin, so versuchte ich die meinige und der Geschmack derselben machte dem Namen unseres Gastgebers, der Koch hieß, alle Ehre.

Aber selbst die beste Wassersuppe konnte in dieser Umgebung nicht munden. Ein Blick auf unsere appetitlichen Wände und ich legte den Löffel weg, indem ich meinen Tischgenossen bat, doch auch meine Portion zu essen, welcher Bitte er auch mit Behagen entsprach. In dem Gebäude selbst war mittlerweile vollständige Ruhe eingetreten, doch kaum war unsere Mahlzeit beendet, als wieder Schritte auf unserem Gang hörbar wurden und zwar in der Richtung zu uns. Der Schlüsselbund klirrte, Riegel und Schlösser knarrten und zwar diesmal an beiden Türen.

[26] Unser Koch erschien nochmals in eigener Person, aber nicht, um, wie ich zuerst meinte, sich zu erkundigen, wie uns unser Nachtmahl gemundet habe, sondern um mir Verschiedenes mitzuteilen. Zunächst entnahm er einem mitgebrachten Armkorb, den ich sofort als meiner Frau gehörend erkannte, einige Stückchen Wurst, Brot und eine Flasche Bier mit den Worten: „Hier schickt Ihnen Ihre Frau etwas zum Nachtessen und morgen früh bekommen sie Bücher und Zeitungen, auch bringt Ihnen Ihre Frau, so lange Sie hier sind, immer Vesper und Mittagessen und läßt sie schön grüßen.“

„Danke, danke,“ sagte ich, „das erste Angenehme an diesem vermaledeiten Ort, aber bitte, richten sie meiner Frau auch einen schönen Gruß aus, sagen ihr, daß ich hoffe, die Geschichte werde nicht lange dauern, sie solle sich also absolut keine Sorgen machen, ich würde bald wieder bei ihr sein, denn aus der Geschichte springe ja nichts heraus.“

Etwas ungläubig hörte er mir zu, versprach aber es auszurichten und wollte sich verabschieden.

„Bitte,“ sagte ich, „noch eins,“ ich hatte mittlerweile das Bier versucht und gefunden, daß es etwas warm war, „sagen Sie meiner Frau noch, sie möge künftig kein Bier mehr bringen, es werde ja warm auf dem weiten Weg,“ es war etwa eine Viertelstunde von meiner alten bis zu meiner jetzigen neuen Wohnung, „lieber gar kein Bier als warmes, doch möchte sie mir einige Zigarren mitbringen, denn das Rauchen sei hier absolut nötig.“

[27] „Schön,“ sagte er, „wird ausgerichtet, aber mit den Zigarren ist es nichts, hier darf nicht geraucht werden“.

„Was?“ polterte ich, „nicht geraucht werden in dem Pestloch, da soll doch ein Kreuzd . dreinschlagen, in dem Pestloch nicht geraucht, dann soll doch der Herr Untersuchungsrichter, überhaupt die Herren, die das verbieten, die Geschichte einmal praktisch durchmachen, vielleicht besinnen sie sich dann eines Besseren“.

„Die Hausordnung verbietet es,“ entgegnete er, „Hausordnung! Himmel Kreuzd . . bin ich denn ein Verbrecher, daß ich so behandelt werde?“ fauchte ich ihn an.

„Schimpfen Sie doch nicht so, es hat ja doch keinen Wert, ich kann ja nichts dafür, gute Nacht“ und damit verschwand er samt Korb, mit der nochmaligen Versicherung, alles auszurichten.

Er schien einzusehen, daß meine Wut berechtigt, daß ich nicht so unrecht hatte. Meine gute Laune, die bei dem Gedanken an Weib und Kinder etwas zurückzukehren schien, war schon wieder zum Teufel, das schöne Essen blieb unberührt, nur das Bier wurde zum Hinabspülen des Aergers so rasch wie möglich verwendet, jedoch nicht, ohne daß ich meinen Erligheimer – wie ich ihn der Einfachheit halber jetzt nennen will – nötigte, davon zu trinken. So bereitwillig er meine Suppe aß, so hartnäckig sträubte er sich, von meinem Bier zu trinken.

„Trinket seh doch selber dös bisle Bier, se hent jo sonst gar nex,“ meinte er gutmütig. Gewiß ein schöner Zug. Dagegen aß er die Wurst, die nicht auf der Speisekarte unseres Koch stand, [28] mit großem Behagen auf mein eifriges wiederholtes Zureden, sie war ihm etwas Neues, Seltenes. Sieben Wochen dauerte nun schon seine Untersuchungshaft und der Termin der Hauptverhandlung, in der es sich entscheiden sollte, ob er verurteilt oder freigesprochen wird, war auf 14 Tage später angesetzt.

Ich wanderte indessen wie ein gereizter Tiger in seinem Käfig in meinem auf und ab, auf Gott und die Welt, besonders aber auf Bismarck schimpfend und fluchend.

Unglücklicherweise stand meine Lagerstatt auch noch am Weitesten vom Fenster entfernt, die Bessere, vis-à-vis vom Fenster, hatte sich mein Erligheimer, als er die letzten Tage allein war, wie üblich, gewählt.

Also, richtig! Angekleidet wie ich war, warf ich mich nach 10 Uhr auf die Pritsche, nachdem die Lampe gelöscht – wo gerate ich jetzt wieder hin? Lampe, Licht? Außer dem Tageslicht ist in diesem Eldorado nichts derartiges bekannt.

Man denke sich nun die trüben Wintertage, die langen Winternächte in einem solch spärlich erleuchteten Käfige, darin einen Menschen, der sich keiner Schuld bewußt ist, ohne verurteilt zu sein, Tag und Nacht, Wochen, ja Monate lang eingesperrt und man kann sich einen Begriff machen von der Größe der geistigen und körperlichen Tortur, der der Angeklagte, noch nicht Verurteilte unterworfen wird, bevor nur der Richter sein Schuldig gesprochen.

Solche und ähnliche Gedanken bewegten mich, ich dachte an Weib und Kinder, besonders an letztere, da ich mit derselben innigen Liebe an [29] ihnen, wie sie an mir hingen. Wie werden sie den Vater vermissen? Wie werden sie die Mutter mit Fragen nach demselben bestürmen und wie wird die Mutter diese Fragen beantworten? Ich dachte an die allernächste Zukunft der Meinen, von was werden sie leben, nachdem der Ernährer hinter Schloß und Riegel sitzt? Ersparnisse waren keine vorhanden, was verdient wurde, reichte gerade notdürftig, bei sparsamer Lebensweise, zum Unterhalt der Familie.

Nachdem die Beiträge in drei Krankenkassen, die Prämie für Lebens- und Feuerversicherung bezahlt, die Verbands- und Parteibeiträge beglichen und die Kosten für zwei Zeitungen aufgebracht waren, blieb nichts, absolut nichts mehr übrig zur Rücklage, trotz verhältnismäßig hohem Verdienst, der durch Akkordarbeit herausgeschunden wurde. Doch in diesem Punkte beruhigte ich mich, Isak war da, die Parteigenossen waren da, sie lassen sicherlich die deinigen nicht darben, sagte ich mir und ich hatte recht. Ich dachte an die Voruntersuchung und unwillkürlich stieg mir wieder der Gedanke auf, sie lassen dich sitzen bis zum Wahltag, das waren gerade noch sechs Wochen. Dieser Gedanke brachte mein Blut abermals in Wallung, sodaß ich aufsprang, um meine unterbrochene Wanderung im Käfig wieder aufzunehmen.

Mein Erligheimer schlief indessen den Schlaf des Gerechten, was aus seinem Schnarchen hervorging. Diese Gelegenheit benützte ich, um behutsam den Honighafen herauszuziehen und der Natur ihr Recht zu geben. Erligheim erwachte nicht während dieser Prozedur und ich setzte meine Wanderung fort, bis mein aufgeregtes Blut sich [30] wieder einigermaßen beruhigt hatte, so daß ich gegen 3 Uhr in der Frühe ermattet auf die Pritsche sank, um sofort in einen tiefen Schlaf zu verfallen.

Nicht lange indes war dem geistig Gehetzten und Gefolterten der so notwendige Schlaf vergönnt. Ein Poltern und Laufen, Riegelziehen und Schlüsselrasseln riß ihn jählings aus dem Schlummer. An den noch müden Augenlidern, die sich kaum öffneten, fühlte er, daß er nicht lange, nicht genügend geschlafen. Erschreckt und verwirrt zugleich, sprang ich auf. Mein Erligheimer, der schon wach war, fragte verwundert: „no, was habetse denn?“

„Was ist denn das für ein Spektakel, für ein Gepolter, wieviel Uhr ist es denn?“ fragte ich dagegen statt ihm zu antworten.

„Noch net lang hats fünfe gschlaga un jetzt werdet die Honighäfa gleert un nochher werd abserviert, do kommt der Spektakel her,“ belehrte er mich.

„Sie habet aber guet gschlofa, i wach schun aweile un haban zugukt.“

Als ich ihm dann auseinandersetzte, wie sich die Sache in Wirklichkeit abgespielt, meinte er gutherzig: „Wissetse was, legetse sich an mein Platz, do liegetse näher am Fenster un könnet vielleicht besser schlofa, i bin jetzt die Gschicht scho gwöhnt, mir machts nex me aus wo i lieg.“ Hievon war er nicht abzubringen und dankend nahm ich denn auch an.

Nicht lange darnach wurde auch unsere innere Türe geöffnet und Vize-Cerberus, der Christian hieß, erschien, wie jeden Morgen um abzuservieren, nachdem er uns einen guten Morgen gewünscht. [31] Unser Wasserkrug wurde auch mitgenommen und frisch gefüllt zurückgebracht. Mein Erligheimer nahm die Fußbodenreinigung vor und dann erschien unser Frühstück in Gestalt einer dampfenden gutriechenden Wassersuppe, gleichzeitig aber auch mein Marktkorb, sowie ein großes Paket mit Büchern und Zeitungen.

Christian teilte mir mit, meine Frau sei unten, sie lasse mich schön grüßen und ich solle mir keine Sorgen machen, die Parteigenossen, besonders Isak würden schon für uns und unsere Kinder sorgen. Isak sei gestern noch beim Herrn Untersuchungsrichter gewesen, um meine Freilassung gegen Kaution zu ermöglichen und um die Erlaubnis zu erwirken, mir Bücher und Zeitschriften zustellen zu dürfen. Letzteres sei ihm gestattet worden, nur seien sozialdemokratische Bücher und Zeitungen ausgeschlossen. Was meine Freilassung gegen Kaution anlange, so habe er allein nicht darüber zu entscheiden, doch sei sie immerhin möglich, es müsse eben ein diesbezüglicher Antrag gestellt werden und Isak besorge heute das Weitere.

Dies waren frohe Botschaften und mit frischem Mut ging es ans Auspacken. Zuerst kam das Paket an die Reihe. Es enthielt Schlossers[ws 21] Welt- und Kolbs[ws 22] Kulturgeschichte, das Strafgesetzbuch, sowie die Strafprozeßordnung, das Preßgesetz und einige Zeitungen, worunter auch die liebe Neckarzeitung, die mir wie immer, diesmal jedoch besonders verdächtig vorkam, weshalb ich sie sofort einer genauen Besichtigung unterzog und richtig, die Zeitung, die ich in Händen hatte, war dem Kopf nach die Neckarzeitung, in Wirklichkeit jedoch unser Parteiblatt, die „Süddeutsche Volkszeitung“. [32] Isak hatte in schlauer Weise auf unser Parteiblatt den Neckarzeitungskopf aufgeklebt, um so dem ungerechten Verbot des Untersuchungsrichters ein Schnippchen zu schlagen.

Schmunzelnd nahm ich von diesem Befund Kenntnis, und ich bekam auf diese Art täglich unser Parteiblatt prompt zugestellt. Der Korb, an dessen Entleerung es jetzt ging, enthielt Butterbrot, Fleisch, Wurst und eine Flasche mit dreiviertel Liter Weißwein, sowie eine Dose, richtige Ziegamleder mit Schnupftabak, Sachen, die meine gute Stimmung erhöhten, mit Ausnahme des Weines, von dem ich wohl ein großer Freund bin, der mir aber angesichts unserer pekuniären Verhältnisse als entbehrlicher Luxus erschien.

Mit dem geleerten Korb bekam denn auch unser Christian den Auftrag, meiner Frau nebst vielen Grüßen an sie und die Kinder, sowie an die Parteigenossen, besonders aber an Isak, zu sagen, sie möchte mir in Zukunft keinen Wein mehr bringen, das koste zu viel Geld, auch genüge das Gebrachte für den ganzen Tag, da ich ja mein Essen ohnedies erhalte und die Kost unseres Herrn Kochs eine sehr gute sei.

Nun ging es ans Frühstück und zwar an ein sehr frugales. Zuerst etwas gute Wassersuppe, dann Butterbrot mit Wurst und etwas Wein. Mein Appetit war infolge der guten Nachrichten zurückgekehrt und es schmeckte mir vortrefflich.

Erligheim mußte trotz Sträubens an dieser Schlemmerei teilnehmen. Gewürzt wurde das ganze durch meinen zurückgekehrten Humor, von dem ich zum Glück eine gute Portion besitze, was mich schon über manche schlimme Stunde [33] hinweggebracht hat. Die „Neckarzeitung“ wurde zur Hand genommen, ich machte Erligheim mit dem Geniestreich Isaks bekannt, schilderte ihm das lange Gesicht des Herrn Untersuchungsrichters, falls er wüßte, wie er hinters Licht geführt wird, die Wut vom Scheren-Schnell, wenn er Kenntnis hätte, zu welchem Zweck der Kopf seines „geschätzten“ Blattes verwendet wird und helle Lachsalven erfüllten unseren Raum, wir hatten vollständig vergessen, daß wir hinter schwedischen Gardinen saßen und wurden erst wieder daran erinnert, als unser Christian abermals auf der Bildfläche erschien, um etwas auszurichten.

Christian sagte: „Einen schönen Gruß von Ihrer Frau und sie werde erst morgen früh wieder kommen, aber den Wein werde sie jeden Tag bringen und ich müsse ihn trinken, damit ich meine gute Laune nicht verliere, die Parteigenossen, ganz besonders Isak wollen es ausdrücklich haben und sie hätten gesagt, deshalb werde meiner Familie doch nichts fehlen.“

Und so blieb es beim Wein, und meiner Familie ging nicht das mindeste ab, der Opfermut und das Solidaritätsgefühl der Proletarier, der klassenbewußten Arbeiter von damals, waren größer denn heute.

Nachdem sich Christian wieder verzogen und unser Frühstück beendet war, setzten wir uns unter unser großartiges Fenster, ansonst es uns nicht möglich gewesen wäre, zu lesen. Zuerst kamen die Zeitungen an die Reihe, Erligheim bekam natürlich so viel er wollte und es war für mich eine Lust zu sehen, mit welcher Gier dieser Bauernbursche, der nun schon die siebente Woche in [34] Untersuchungshaft verbrachte, sich über die Zeitungen hermachte, um wieder etwas vom Außenleben zu erfahren, von dem er diese lange Zeit über vollständig abgeschlossen war.

Sämtliche vier Zeitungen registrierten meine Verhaftung, unser Parteiblatt in seinem Kommentar dazu mit einem Protest gegen die durch nichts zu rechtfertigende Gewaltmaßregel, besprach das Flugblatt und wies nach, daß auch nicht der mindeste Verstoß gegen das Strafgesetzbuch in demselben zu finden sei.

Nachdem die Zeitungen meinerseits rasch gelesen waren, begann ich das Studium des Strafgesetzbuches, besonders der §§ 130 und 131, die ich sofort auswendig lernte. Dann kam die Strafprozeßordnung an die Reihe und zuletzt das Preßgesetz. Erligheim, der mittlerweile mit den Zeitungen fertig war, bat mich, ihm aus dem Strafgesetz mitzuteilen, welche Strafe ihn eventuell treffen könne. Nach Durchlesen des auf seinen Fall zutreffenden § 227 mußte ich ihm leider sagen, daß dies eine Unmöglichkeit sei, da dem Richterkollegium ein großer Spielraum offen stehe, straflos würde er jedoch keineswegs ausgehen, da der Tod eines Menschen bei dieser Messerstecherei herbeigeführt wurde, doch könne er vielleicht mit der Mindeststrafe von 6 Monaten Gefängnis davonkommen.

Er jammerte natürlich nicht wenig, besonders in Rücksicht auf seinen Schatz, seine Lisbeth, ein Bauernmädchen seines Orts, da er befürchtete, sie durch seine Verurteilung zu verlieren. Ich tröstete ihn, ohne indeß zu unterlassen, ihn auf das Verwerfliche der Messerstecherei hinzuweisen, wodurch [35] auch in seinem Fall wegen einer Kleinigkeit ein junges Menschenleben vernichtet wurde.

Er verteidigte sich damit, daß die Andern auch gestochen hätten, versprach jedoch, nie mehr in seinem Leben bei Händel zum Messer zu greifen. Das Versprechen hat er, wie ich 12 Jahre später erfuhr, treulich gehalten.

Seine sechs Monate Gefängnis bekam er in der Verhandlung richtig weg, später jedoch, trotz Verbüßung derselben, bekam er auch seine Lisbeth zur Frau und ich traf ihn 1890 anläßlich einer Wählerversammlung in Erligheim als wohlbestallten Familienvater und guten Parteigenossen gesund und munter wieder.

Nach dieser Exkursion auf dem Gebiete der Strafrechtspflege wurden die Werke von Kolb und Schlosser in Angriff genommen. Erligheim bekam zuerst die leichter faßliche Kulturgeschichte von Kolb, während ich mich mit Schlosser beschäftigte. Doch nicht lange mehr, denn wieder rasselten unsere Riegel und Schlösser. Ich hoffte schon vorgeführt zu werden, täuschte mich jedoch, es war Mittag geworden und wir wunderten uns darüber, wie rasch die Stunden beim Lesen vergangen waren. Auf Befragen erhielt ich die Auskunft, daß ich heute schwerlich vom Untersuchungsrichter vernommen würde, sicher aber morgen.

Nach Tisch legte ich mich etwas nieder und schlief eine gute Stunde den Schlaf des Gerechten. Neugestärkt und belebt erwachte ich, Erligheim saß an seinem alten Platz und las, er konnte gar nicht satt werden. Sofort bestürmte er mich mit Fragen über das Gelesene. Trotz der populären Sprache [36] des Werkes war ihm so manches unverständlich. Ihm, mit seiner geringen Dorfvolksschulbildung, waren die einfachsten, klarsten Sätze teilweise unverständlich. Dagegen war er in der biblischen Geschichte bewandert, konnte den Katechismus, das Spruchbuch und die Gesangbuchlieder fast auswendig, ein Beweis seiner Intelligenz. Ein Beweis aber auch dafür, in welcher Weise sich bisher und heute noch Staat und Kirche an der Schulbildung der Jugend, besonders der Volkschuljugend versündigt.

Nach der Belehrung meines Erligheimers nahm ich Schlossers Weltgeschichte wieder vor und es herrschte Kirchhofruhe in unseren Mauern, die nur von Zeit zu Zeit durch weitere Fragen Erligheimers, über ihm nicht Verständliches, wozu ich ganz besonders aufgefordert hatte, unterbrochen wurde.

Wieder flogen die Stunden nur so vorüber und uns beiden zu rasch kam die Abendmahlzeit, die dampfende köstlich duftende Wassersuppe, die ich diesmal fast vollständig verspeiste.

Nach dieser Abendmahlzeit begannen wir eine fast zweistündige Wanderung in unserer Zelle, wir waren durch das lange Sitzen etwas krämpfig geworden, um dann unsere Lagerstatt aufzusuchen.

Ich schlief bald, die Reaktion nach der Aufregung der letzten Tage machte sich geltend und schlief bis gegen 4 Uhr in der Früh, wo ich dann durch unsere Gardinen dem erwachenden Vogelgesang lauschte und soviel wie möglich frische Morgenluft schöpfte.

Mit dem Frühstück kam auch pünktlich mein Korb, samt Grüßen von Frau, Kindern, Isak und verschiedenen Parteigenossen, die sich nach meiner [37] Familie umgesehen, sowie Frau und Kinder aufgemuntert hatten. Gleichzeitig kam auch wieder eine frohe Botschaft, Isak hatte die Kaution beisammen und bereits am gestrigen Nachmittag hatte er dem Untersuchungsrichter hievon Mitteilung gemacht.

Die Zeitungen, worunter die gefälschte Neckarzeitung, waren wieder pünktlich zur Stelle, ebenso Wein und genügend Proviant auf den ganzen Tag, so daß ich meiner Frau nebst den vielen Grüßen sagen ließ: „es sei des Guten zuviel, sie möchte künftig sparsamer sein.“

Nachdem gefrühstückt, ging es wieder an die Zeitungen, aus denen zu ersehen war, daß die Hetze gegen uns in alter Weise fortgesetzt wurde.

Unser Parteiblatt hieb natürlich diese Sauhirten, wie sie Bismark einst nannte, kräftig zusammen. Noch nicht fertig mit den Zeitungen, wurde ich schon vor den Untersuchungsrichter geführt.

Wie ich bereits früher bemerkte hieß der Herr Untersuchungsrichter Kegelmaier, der seinen Namen deshalb ganz mit Recht führte, weil er mit jedem kegelte, der halbwegs mit sich kegeln ließ. Jung und schneidig, ein richtiger Draufgänger, war der Herr, was ihm auch auf der Universität den Spitznamen – „der Stier von Uri“ – einbrachte.

Dieser schneidige Herr war mein Untersuchungsrichter. Er eröffnete mir zunächst, daß Herr Isak beantragt habe, mich gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen, daß die Kaution bereits aufgebracht sei und fragte nach meinem Einverständnis, das ich selbstverständlich augenblicklich gab. Nachdem der Antrag auf Haftentlassung protokolliert [38] und von mir unterzeichnet war, ging es wieder ans Inquirieren wegen des Flugblatts.

Zunächst bemerkte der Herr, daß er bezweifle, daß ich der Verfasser des Flugblattes sei, was er damit zu begründen suchte, daß das Manuskript eine ganz andere Handschrift als die meinige trage, verlas mir ein Protokoll, das Tags zuvor aufgenommen wurde, nach welchem ein hiesiger Buchdruckereibesitzer erklärte, ich sei bei ihm gewesen und habe wegen der Drucklegung mit ihm verhandelt, er habe es jedoch abgelehnt, das Flugblatt in Druck zu nehmen. Das Manuskript sei in fließender, kaufmännischer Schrift geschrieben, niemals von meiner Hand, erklärte er bestimmt, nachdem ihm meine Handschrift vorgelegt war.

Kegelmaier hatte ja recht mit seinem Unglauben, denn Isak war der Schreiber des Manuskriptes, wie ich bereits früher bemerkte; dieser durfte aber unter keinen Umständen mit in die Affäre gezogen werden, schon deshalb nicht, weil für mich dadurch nicht der mindeste Vorteil erwachsen wäre und zudem, weil ich als verantwortlicher Herausgeber für den Inhalt des Blattes geradeso haftbar war, wie als Verfasser und Manuskriptschreiber. Die Justiz hätte lediglich zwei Angeklagte und eventuell zwei Verurteilte gehabt und das mußte vermieden werden.

Die Sache hat auch insofern geklappt, als das Beweismittel des Gegenteils meiner Behauptung – das Manuskript – bei der Haussuchung in unserer Parteidruckerei in St. den Fingern der Schnüffler rechtzeitig entzogen wurde.

Nun ging es an das Flugblatt selbst, Satz für Satz wurde durchgenommen und von mir verteidigt.

[39] Als die Untersuchung beendet war, meinte er aus freien Stücken, mit § 130 wird wohl nichts anzufangen sein, und mit § 131 auch nicht, ergänzte ich ihn.

Auf die Frage, ob mein Gesuch auf Haftentlassung genehmigt werde, gab er achselzuckend mir zur Antwort: Ich hoffe es in Ihrem Interesse.

Hiermit war das zweite, ich hielt es für das letzte Schlußverhör, beendet, und ich wurde wieder in meine Zelle abgeführt, um sie erst vier Tage später wieder zu verlassen.

Die Zeit bis dahin wurde, wie bisher, ausgefüllt mit Lesen, Promenieren, essen und schlafen.

Ein Glück war es für mich, daß ich interessanten Lesestoff hatte, ich wäre sonst vergangen vor langer Weile. Meine Stimmung war eine gehobene, zuversichtliche, ich hoffte mit Bestimmtheit, gegen Kaution entlassen zu werden und als ich vier Tage später wieder vorgeführt wurde, sagte ich zu meinem Erligheimer, passen Sie auf, jetzt hat das Faulenzen ein Ende, jetzt werde ich entlassen, dann geht es bei Tag wieder an die Hobelbank, nach Feierabend aber in die Wählerversammlungen.

Diese meine gute Stimmung schlug sofort ins Gegenteil um, als der Untersuchungsrichter mir eröffnete, daß das Gesuch um Haftentlassung vom Richterkollegium abgelehnt sei. Ich fragte nach den Gründen der Ablehnung und bekam zur Antwort, daß als einziger Grund Fluchtverdacht angegeben sei.

Ich ließ meiner Entrüstung hierüber dem Untersuchungsrichter gegenüber freien Lauf, der erklärte, er trage an der Ablehnung des Gesuchs [40] keine Schuld, werde jedoch die Voruntersuchung, soviel an ihm liege, möglichst abzukürzen bestrebt sein.

Dies war ein Kanzleitrost, wie sich später herausstellte.

Wie ein gereizter Löwe in seinem Käfig, wanderte ich, in den meinigen zurückgebracht, in demselben herum, auf Gott und die Welt, besonders aber auf Bismarck schimpfend und tobend.

Alle Beruhigungsversuche Erligheims halfen nicht, ich wurde im Gegenteil auch gegen den armen Kerl sackgrob, der es ja wirklich gut mit mir meinte.

Erst am folgenden Tage beruhigte ich mich einigermaßen.

Die Tage verflossen nun in regelmäßiger Einförmigkeit bis zum 14. An diesem Tag war Hauptverhandlung gegen Erligheim und Genossen, zu der mein Erligheimer schon vor acht Uhr abgeholt wurde, ich hatte ihm alles Glück gewünscht.

Kurz vor zwölf Uhr kam er in ähnlicher Stimmung zurück, wie ich nach Ablehnung meines Gesuchs, er erhielt sechs Monate Gefängnis, der Haupttäter fünf Jahre Zuchthaus zudiktiert und nun war die Reihe des Tröstens wieder an mir, was mir auch nach kurzer Zeit gelang, dadurch, daß ich ihm die Verhältnisse und Einrichtungen, sowie die Behandlung am Strafplatz schilderte, ihm sagte, daß sein Vergehen, sowie die Strafe dafür nicht entehrend sei, daß die sechs Monate auch vorübergehen werden und daß später Jedermann und gewiß auch seine Lisbeth es bald vergessen werden.

Am anderen Vormittag schon wurde er nach dem Strafplatz abgeführt. Herzlich war unser [41] Abschied, wir waren uns in der kurzen Zeit ziemlich nahe getreten, ich wünschte ihm die nötige Geduld und möglichst angenehmes Verbringen seiner Strafzeit; er dankte mir herzlich für alles Empfangene, besonders für die ihm von mir gebotene Gelegenheit zum Lesen, sowie für meine Belehrungen hiezu, wobei er mir gestand, er sei jetzt schon Sozialdemokrat, soweit er die Sache verstehe.

Als er für immer weg war fehlte mir doch etwas und es war gut für mich, daß ich nach dem Essen ebenfalls diese Zelle verlassen durfte, um einen Stock höher eine andere, frisch gereinigte und geweißnete, viel hellere, in der ich allein war, zu beziehen. Diese lag entgegengesetzt der ersten nach Süden, hatte in der Decke eine mindestens einen Quadratmeter große Oeffnung, die mit einem starken Eisengitter versehen war. Durch diese Oeffnung drang das Licht eines noch größeren Dachfensters in die Zelle und ich freute mich wirklich, über die helle Zelle sowohl, als über die verhältnismäßig gute Luft und über das Alleinsein.

Doch man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.

Nachdem ich in meinem neuen Heim zwei Stunden geschlafen, erwachte ich an einem Beißen und Jucken an verschiedenen Körperstellen. Sollten das am Ende gar Wanzen sein? dachte ich, das wäre ja eine schöne Bescherung. Licht hatte ich leider keines, wie bekannt, um dieser Geschichte auf den Grund gehen zu können. Da verspürte ich ein Krabbeln und gleich darauf ein Beißen an meinem Hals, ein Griff nach der betreffenden [42] Stelle und ich hatte den Missetäter zwischen meinen Fingern zerquetscht. Heiliger St. Florian, ich war wirklichen und wie es schien, sehr hungrigen Wanzen unter die Zähne gefallen, was sich am Geruch des ersten von mir abgemurksten Exemplars deutlich bemerkbar machte. Hungrig waren die Biester auch, wie ich am andern Morgen erfuhr.

Die Zelle war seit 12 Tagen, behufs gründlicher Reinigung, unbewohnt. Die Gurkenzeit verspürte das Hotel Koch auch etwas, es war Hochsommer und flotte Geschäftszeit, unter der derartige Staatseinrichtungen immer etwas zu leiden hatten. Das war eine schöne Bescherung! Die hungrigen Viecher wüteten ärger an mir, wie Bismarck und seine Preßmeute gegen uns im deutschen Reich.

Das Gesindel, das bekanntlich sehr lichtscheu ist, war mit Anbruch des Tages verschwunden. Wohin? zeigte die nähere Untersuchung. Da die Wände keine Ritzen zeigten, mußte der Schlupfwinkel der ekelhaften Biester wo anders sein. Und richtig, nach Wegräumen des ganzen Bettes samt Strohsack und Kopfpolster, fand ich ihn auch im Holzgerüst der Lagerstatt. Hier zeigten die zahlreichen Ritzen und Fugen deutliche Spuren der niedlichen Tierchen. In den größeren Fugen konnte ich die blutgierigen Burschen mittels eines losgelösten Spahnes erwischen, sie wurden alle erbarmungslos abgemurkst.

Nachdem mit Hilfe von Wasser und Bürste die Spuren getilgt, Türen und das Fenster eine Zeitlang geöffnet wurden, während ich auf dem Gang promenierte, verzog sich auch der Gestank und die Hauptschweinerei war beseitigt.

[43] In den 4 Wochen, die ich hier noch zu verbringen hatte, lag ich beständig im Kampf mit diesen Viechern. Wenn ich meine Lagerstatt, natürlich ohne Holzgestell, das auf dem Fußboden befestigt war, in die Mitte der Zelle machte, so marschierten sie auf dem Fußboden daher und erkletterten dieselbe, oder aber sie marschierten an der Decke bis sie sich über mir befanden, und ließen sich dann auf mich herabfallen, wie ich selbst beobachtete. Sogar in meine Bücher hatten sich die hoffnungsvollen Sprößlinge, die immer frecher sind wie die Alten, eingenistet und spazierten, während ich las, ungeniert auf den Blättern herum, bis ihnen das Lebenslicht ausgeblasen wurde.

Ein Glück für mich war die gute Lektüre, die mir Isak beschaffte. Nachdem ich die Werke von Kolb und Schlosser gelesen, schickte er mir die „Kulturgeschichte der Menschheit“ von Buckle,[ws 23] ein Werk, das geistig die beiden andern weit überragt und dem ich viel verdanke. Stundenlang saß ich über dem Buch, kein Laut war hörbar und wenn dann der Schlüsselbund rasselte und unser Koch oder Christian mit seinem Unterfax erschien, so hätte ich sie am liebsten hinausgeworfen, denn es war mir jede Störung zuwider.

Mit dem Unterfax muß ich mich etwas näher beschäftigen, er verdient es. Er war ein kleiner schwarzer lebhafter Mann, anfangs Vierzig, gelernter Buchbinder, der richtige alte Kunde, der seine Zeit teils auf der Landstraße, in der Penne, der Herberge und in den Gefängnissen verbringt.

Hier hatte er 6 Wochen Haft abzusitzen wegen Führung einer falschen Fleppe, eines falschen Passes oder Wanderbuchs, das er, wie er vor Gericht [44] behauptete, gefunden hatte. In Wirklichkeit hatte er es, wie er mir mitteilte, selbst angefertigt, was auch seit 15 Jahren sein einziger Erwerbszweig war. Ein städtisches Wappen, ein Polizeisiegel auf einem Stückchen Schiefer nachzumachen, war für ihn, wie ich mich selbst überzeugte, eine Kleinigkeit; eine Handschrift nachzuahmen ein Kinderspiel.

In der Zeit nun, in der er die 6 Wochen Haft verbüßte, half er unserem Christian.

Am Tage nach der Hauptwanzenjagd, früh um 8 Uhr, hörte ich über mir ein Geräusch, es wurde eine Türe geöffnet direkt vor meinem Gitter und der Unterfax erschien, sich entschuldigend wenn er störe. Nachdem ich dies verneint, meine Neugierde war rege geworden, erkundigte er sich, warum ich eigentlich in Untersuchungshaft sei. Als er erfuhr, daß das Vergehen politischer Natur sein soll, sagte er, das habe er sich gedacht und fragte, ob er mir nicht irgendwie dienlich sein könne.

Als ich die Frage verneinte, sagte er offenherzig: „Sie mißtrauen mir, Sie tun mir damit jedoch unrecht, gegen Leidensgenossen und Sie sind jetzt doch auch einer, war ich stets ehrlich und hilfreich.“ „Nun, wenn Sie absolut etwas für mich tun wollen, so besorgen Sie mir Zigarren und Streichhölzer. Sehen Sie morgens meine Frau?“ Er bejahte und versprach, das Gewünschte prompt zu besorgen. Und er hat Wort gehalten.

Andern Tags gegen 11 Uhr erschien er wieder über mir, holte eine lange Schnur, sowie ein Päckchen aus seiner Tasche, befestigte Letzteres an der Schnur und ließ das Päckchen durch das Gitter in meine Zelle herab. Durch diese Manipulation gelangte ich zu Zigarren und [45] Streichhölzern. Zum Dank dafür wickelte ich ihm ein Stück Wurst, sowie etwas Käse aus meinem Vorrat ein, nachdem ich ihn gefragt, ob er dies wünsche, und er zog es zu sich hinauf.

Fast täglich erschien der neue Bekannte bei mir, ohne daß Christian oder unser Cerberus eine Ahnung davon hatten.

Eines Tages erschien er freudestrahlend mit der Botschaft, heute habe ich gewiß etwas Gutes für Sie, indem er mir ein Päckchen mit einer Zigarre als Inhalt herabließ, „die müssen Sie rauchen, die muß gut sein,“ meinte er. Er hatte es kreuzwichtig, so daß ich etwas mißtrauisch fragte, wo er diese Zigarre her habe? „Das sage er mir erst, wenn ich sie geraucht hätte“ und damit war er verschwunden.

Die Zigarre, ziemlich groß, sah vielversprechend aus und war auch vorzüglich, so daß ich mir sagte als ich dieselbe nachmittags rauschte, wo hat jetzt der Schlingel dieses vorzügliche Kraut her. Andern Tages beichtete er, dem Untersuchungsrichter Kegelmaier hätte er sie, beim Abstauben, von seinem Schreibtisch gemaust. Ich verbat mir energisch derartige Praktiken für alle Zukunft, sonst hätte unsere Freundschaft ein Ende und ich könnte überhaupt nichts mehr von ihm annehmen. Er versprach, es nicht wieder zu tun, bemerkte jedoch, wenn auch etwas kleinlaut, jedenfalls sei es besser gewesen, ich habe die Zigarre geraucht, als der Untersuchungsrichter.

Als Fax wieder fort war, mußte ich doch über den gelungenen Streich lachen. Eigentlich schlecht war der Kamerad nicht, trotzdem er mit dem Strafrichter, mit dem Strafgesetzbuch, fortwährend [46] auf gespanntem Fuße lebte. Er hatte im Gegenteil ein gutes, edles, aufopferungsfähiges Herz und war lediglich auf den Abweg geraten, nachdem er eingesehen, daß es bei der kapitalistischen Produktionsweise nahezu unmöglich ist, auf ehrliche Weise als Arbeiter sein bischen Dasein menschenwürdig zu fristen. Nachdem er bei vielen Großen gelernt, wie man mühelos erwirbt und wie man diejenigen behandelt, die der modernen Räuberei ein Ende machen wollen.

Er machte in unseren Gesprächen aus seiner Anschauung nicht das geringste Hehl und hielt sich noch für viel besser, als tausende sonst angesehener Staatsbürger, die lediglich ohne Gegenleistung auf Kosten anderer leben. Ob er recht hatte?

Auch auf meinen Fall nahm er Bezug, fragte mich, was schlechter sei, falsche Stempel anzufertigen, Unterschriften nachzuahmen, um armen Teufeln, die sich wegen einer Kleinigkeit gegen die Gesetze vergangen, zum Fortkommen zu verhelfen? Oder als Gesetzeswächter, was unsere Richter sein sollen, das Recht, die Gesetze mit Füßen zu treten, wie in meinem Fall? Ich konnte ihm leider nur sagen, daß sein Vergehen sicher das Kleinere sei.

Schon die vierte Woche saß ich in Untersuchungshaft. Kegelmaier bedurfte meiner nicht mehr. Die Untersuchung war beendet, das lag klar zu Tage, trotzdem wurde ich weiter in Haft behalten. Ich verlangte vorgeführt zu werden, aber Kegelmaier ließ mir sagen, wenn ich nichts Neues anzugeben hätte, habe es keinen Zweck. Ich drohte mit einer Beschwerde bei seinem Chef [47] dem Herrn Landgerichtsrat. Das hatte zur Folge, daß er versprach, mich morgen vorführen zu lassen.

Höchst ungnädig wurde ich nach meiner erzwungenen Vorführung von Kegelmaier empfangen. „Was ich eigentlich wolle, ob ich etwas Neues anzugeben hätte“, schnaubte er mich an.

Ich erklärte, „ich habe Frau und Kinder zu Hause, deren einziger Ernährer ich bin, die brauchen Brot und ich wünsche freigelassen zu werden, kann überhaupt nicht einsehen, daß man mich rechtlich noch in Haft hält, nachdem die Voruntersuchung, wie mir scheint, geschlossen, denn ich habe tatsächlich nichts mehr anzugeben.“

Er entgegnete mit Schärfe: „Daß Sie noch nicht auf freiem Fuß sind, ist nicht meine Schuld, das wissen Sie, auch hängt die Sache mit Stuttgart zusammen, da dort das Blatt gedruckt wurde, das verzögert sie auch, Sie müssen sich eben noch etwas gedulden, ich kann es nicht ändern.“

Mit diesem Kanzleitrost, mit dieser faulen Ausrede mußte ich abziehen, ohne daß auch nur ein Wort protokolliert wurde, ein weiterer Beweis dafür, daß die Voruntersuchung tatsächlich geschlossen war.

Die Galle wollte mir wieder steigen, doch war ich zu meinem Glück auf dem philosophischen Standpunkt angelangt „was man nicht ändern kann, nimmt man geduldig an.“ Ich hatte einsehen gelernt, daß ich durch Aufregung nichts ändere, dagegen mir nur selbst schade.

Der letzte Rest von Achtung vor unserer Justiz ging flöten. Der Glaube an die Gerechtigkeit und Unabhängigkeit unserer Richter ging bei mir damals schon zum Teufel.

[48] Es ist über die Zeit bis zu meiner Haftentlassung nur noch Weniges zu berichten. Die Tage vergingen einer wie der andere: Morgens bei Tagesbeginn Schlafen; dann mit kurzer Unterbrechung, wenn der Fax über mir erschien, Lesen bis zum Mittag; dann Nachmittagschlaf etwa eine Stunde, selten länger; hernach wieder Lesen bis zur Nacht und dann Promenieren und Rauchen bis zum Tagesgrauen.

Am Abend vor der Wahl war große Wählerversammlung in der damaligen einzigen städtischen „Turnhalle“ für den volksparteilichen Kandidaten, an deren Schluß ein dreifaches Hoch auf denselben ausgebracht wurde, das deutlich bis in meinen Käfig drang. In dieser Versammlung warf Isak alle Rücksichten bei Seite, bekannte sich öffentlich als Sozialdemokrat und verteidigte die Sozialdemokratie in kurzen Worten gegen die Lügen und Verleumdungen der Bismarckschen Preßmamelucken. Wenn auch seine Worte nicht fließend waren, so verfehlten sie doch den nötigen Eindruck nicht.

Da, am Wahltag in der Frühe, teilte mir unser Koch mit, daß ich diesen Vormittag entlassen werde. Ich soll meine Sachen packen und mich reisefertig machen.

Dies war bald geschehen. Um 10 Uhr wurde ich zum letztenmal während dieser Kampagne vorgeführt.

Der Untersuchungsrichter eröffnete mir, daß ich nun gegen Kaution entlassen würde und nahm zum Schein ein kleines Schlußprotokoll auf, bei welchem ich ihm deutlich meine Verachtung zu erkennen gab, was ihn veranlaßte, nochmals zu [49] erklären, daß er an der langen Dauer meiner Haft keine Schuld trage.

Um 11 Uhr war ich auf freiem Fuße. Auf dem Wege zu meiner Wohnung übte ich mein Wahlrecht aus. In meiner Wohnung waren verschiedene Parteigenossen, natürlich auch Isak, die mich aufs herzlichste begrüßten. Am Abend brachte mir unser Parteigesangverein, dessen Gründer und Mitglied ich war, vor meiner Wohnung ein Ständchen, welchem eine kleine Begrüßungsfeier im Parteilokal folgte. Bei den Ansprachen, die gehalten wurden, bekam die ganze reaktionäre Gesellschaft ihr gerüttelt volles Maß Verachtung weg. Die Genossen gelobten feierlich, bei der roten Fahne auszuhalten, möge kommen was will.

Wenige Tage vor der Annahme des Sozialistengesetzes im Reichstage bekam ich einen Beschluß der hiesigen Rats- und Anklagekammer zugestellt, nach welchem das Verfahren gegen mich und Genossen, wegen Vergehen gegen § 130 und 131 des Strafgesetzbuches eingestellt und wir außer Verfolgung gesetzt wurden. Es lag also klar auf der Hand, das Flugblatt diente lediglich zum Vorwand, um mich im Wahlkampf auszuschalten, kaltzustellen.

Nach Erhalt des Einstellungsbeschlusses begab ich mich sofort zum Untersuchungsrichter und verlangte, gestützt auf das Preßgesetz, die Herausgabe der Flugblätter.

Diesem Verlangen wurde auch anstandslos stattgegeben, da man mit einer Verbreitung der Blätter wohl nicht mehr rechnete, sonst, dies bin ich fest überzeugt, die Herausgabe, selbst bei nochmaligem Rechtsbruch, verweigert worden wäre.

[50] Kaum waren aber die Flugblätter wieder in unseren Händen, als sie auch schon bis auf das letzte Stück verbreitet wurden. Der Inhalt paßte so recht auf die augenblicklichen Verhandlungen des Reichstags, über das Sozialistengesetz, er schilderte treffend den wahren Grund der Sozialistenhetze.

Am nächsten Vormittag erschien in meiner Wohnung ein Herr in Begleitung von zwei anderen und eröffnete mir, daß die Kgl. Staatsanwaltschaft das Flugblatt abermals mit Beschlag belegt habe und daß er beauftragt sei, noch vorhandene Exemplare zu konfiszieren.

Mit tiefstem Bedauern teilte ich ihm mit, daß auch nicht ein Stück mehr vorhanden, sondern alle verbreitet seien.

Nachdem ich den Eröffnungsbeschluß unterzeichnet hatte, zogen die Herren mit leeren Händen wieder ab.

Kegelmaier aber erhielt für sein gesetzliches Handeln, bezüglich der Freigabe der Blätter, eine gehörige Nase, um die ich ihn keineswegs beneidete.

Acht Tage später trat das Schandgesetz, das Sozialistengesetz, in Kraft und am andern Tag schon wurde die hiesige Parteimitgliedschaft sozialistengesetzlich aufgelöst und das Vermögen konfisziert. Zu konfiszieren gab es hier so wenig wie bei den Flugblättern. Der Partei folgten die Gewerkschaften und unser Gesangverein auf dem Fuße. Auch hier mußte die hl. Hermandad mit leeren Händen abziehen.

Mit den Auflösungen begann die Aera der Haussuchungen. Da wir erklärten, keinerlei [51] Material mehr zu besitzen, suchte die Polizei erfolglos nach demselben.

Nun war offiziell alles vernichtet was halbwegs nach Petroleum roch, in Wirklichkeit brannte dasselbe lustig weiter, man nannte sich nur anders. Die Parteimitglieder gründeten einen Rauchklub und trafen sich dort jede Woche ebenso pünktlich wie früher. Es wurden Wachen ausgestellt, um vor Ueberraschungen der allzu neugierigen Hermandad gesichert zu sein.

Eine Anzahl ängstlicher Seelen blieb uns fern und etwas klein wurde das Häuflein der Treugebliebenen; das Schandgesetz sonderte den Weizen von der Spreu.

Am schmerzlichsten vermißten wir unser Parteiblatt, die „Süddeutsche Volkszeitung“, sowie das Zentralorgan der Partei, den in Berlin erscheinenden „Vorwärts“.[ws 24] Beide Blätter waren dem Gesetz zum Opfer gefallen. Nicht besser erging es denjenigen, die an ihre Stelle traten.

Die Unmöglichkeit der Abhaltung von Versammlungen bedrückte uns gleichfalls schwer. Unter den nichtigsten Vorwänden wurden Versammlungen mit den harmlosesten Themas verboten. Es genügte schon zum Verbot, wenn der Redner Sozialdemokrat war.

Die gemeine Polizeiwirtschaft veranlaßte uns von einer Einberufung von Versammlungen abzusehen, dafür aber die gegnerischen Versammlungen zu benützen, um für unsere Partei zu wirken, im übrigen aber die Hauptagitation mittelst Flugblättern zu betreiben.

Das für die Partei neugeschaffene Blatt, „Der Züricher Sozialdemokrat“,[ws 25] wurde auch hier [52] gelesen. Ich war der Expedient davon und ausgelesene Nummern wurden regelmäßig, mit Rotstrichen versehen, unter Kuvert an hiesige Richter oder Polizeigrößen versandt. Der richtige Empfang der Zusendungen wurde im Anfang durch ergebnislose Haussuchungen quittiert, denen wir schmunzelnd und mit verschränkten Armen beiwohnten, die Suchenden um die Liebenswürdigkeiten, mit denen sie von unseren besseren Hälften bedacht wurden, beneidend.

Dieser Kampf machte die Herren der Situation so nervös, daß sie uns und das prächtige Gesetz zum Teufel wünschten, ja sogar flehentlich baten, nicht mehr bei Haussuchungen mitwirken zu müssen.

„Vater, du sollst gleich heimkommen, Männer sind daheim und suchen alles aus“. Weinend sprach diese Worte mein achtjähriges Töchterchen am Ostersamstag 1881 kurz nach 7 Uhr vormittags in meiner Werkstatt.

Einen Begriff von der Wirkung dieser Worte auf mich kann man sich machen, wenn man weiß, daß ich nicht weniger denn 6000 Flugblätter in meiner Wohnung hatte, zur Verbreitung, mit dem Titel „An das deutsche Volk“.

Den Schurz hinweg, den Rock an und fort flog ich, mehr als ich ging, meiner Wohnung zu.

Ja, sie waren wieder da, sie suchten wieder zum so und sovielten Male. „Was geht hier in meiner Abwesenheit vor?“ herrschte ich den Beamten an. „Wir sind von der Kgl. Staatsanwaltschaft beauftragt, in der Wohnung des W. R. Haussuchung vorzunehmen.“ „Warum werde ich hievon nicht benachrichtigt? Diese Wohnung gehört mir! [53] R. ist mein Schwager!“ „Beschweren Sie sich!“ lautete die Antwort des Beamten. „Das werde ich tun!“ replizierte ich so heftig wie zuvor.

Das Zimmer des Schwagers war gleichzeitig die Registratur von mir. Alte wichtige Nummern des „Volksstaat“, alte und neue Einzelnummern des „Sozialdemokrat“, der „Süddeutschen Volkszeitung“, des „Vaterland“, Gewerkschaftsblätter, Frankfurter Zeitungen, Partei- und andere Broschüren enthielt diese Registratur. Die 6000 Flugblätter nicht, die waren in einem anderen Raume.

Während die Herren eifrigst suchten, die Kinder weinten, besonders das Kleinste, besprach ich mich im andern Zimmer bald leise, bald laut mit meiner Frau. Laut: Mache deine Hausarbeit. Leise: Mache das Paket auf und schaffe die Flugblätter in den oberen Raum. Laut: Beschwichtige die Kinder. Leise: Hier durch diese Oeffnung kannst du sie nach oben bringen.

Die Unterredung war beendet. Der gute Stern, der über unserer guten Sache waltet, ließ mich damals eine, wenn auch höchst ungesunde, doch günstige Wohnung besitzen.

Das Zimmer des Schwagers, wo die Herren arbeiteten, war durch einen schmalen Gang getrennt. Die Hauptwohnung bestand aus einem größeren Zimmer mit angeschlossener Kammer, die direkt unter dem unvergipsten, schrägen Dache lag und hier waren die 6000 Flugblätter untergebracht.

Während der Vater nun das Jüngste, einen Ausnahmsknaben, deshalb, weil er am 29. Februar 1880 geboren, zur Beschwichtigung auf den Arm nahm, den Gang auf- und abpatroullierend und die Arbeitenden beaufsichtigend, [54] schaffte die Mutter die 6000 Flugblätter durch die Dachsparren auf den oberen Boden.

Ein Schutzmann war mittlerweile vom Beamten abkommandiert, zu welchem Zweck, ahnte ich nur zu gut.

Die Arbeit schritt auf beiden Seiten vor, am raschesten in der Dachkammer. Die 6000 Flugblätter waren eine Stiege höher in der oberen Kammer, die auch mir gehörte.

Die Frau hatte natürlich oben zu tun und da ich mich dafür interessierte, ging ich mit dem Kinde auf dem Arm auch auf kurze Zeit nach oben.

Neben der oberen Kammer liegt eine zweite Kammer durch einen Lattenverschlag getrennt. Hier waltete auch wieder der gute Stern. Eine leere Kiste steht in der Nachbarskammer. Hier hinein mit, Frau, mit alten Kleidern zugedeckt und mit Hilfe dieses alten Stockes, des einstigen Reisebegleiters des Handwerksburschen, möglichst weit vom Lattenverschlag weggeschoben, sagte ich leise und verschwand wieder, um meine unterbrochene Promenade unten fortzusetzen.

Nach zweistündigen, heißen und schweißbringenden Bemühungen, ist man endlich unten auch fertig. Der Schutzmann ist zurückgekehrt und der Beamte eröffnete mir nun das Vorausgesehene: „Im Auftrag der Kgl. Staatsanwaltschaft habe ich nun auch bei Ihnen Haussuchung vorzunehmen.“ Ich verbeugte mich, kalt lächelnd, mit den Worten: „Bitte, suchen Sie“.

Es wird unten weiter gesucht. Der Beamte fragt den als Urkundsperson anwesenden Hausbesitzer: „Hat Herr K. – wie wohltuend für den Genossen, als Herr behandelt zu werden – oben [55] noch weitere Räume im Besitz? Die zögernde Antwort: „Ja, eine Kammer“.

Hinauf, weiter gründlich gesucht, gleichfalls vergeblich. Der Beamte stupft mit seinem Stock nach der Kiste. Der erbitterte Hausherr protestiert mit der Bemerkung: „Diese Kammer gehört mir, hier haben Sie nichts zu suchen!“

Es werden noch unter dem Protest des Hausherrn eine Reihe Ziegel auf dem Vorplatz durchstöbert und die nahezu vierstündige Haussuchung ist auch wieder beendet. Resultat: Nichts.

Um nicht mit vollständig leeren Händen abzuziehen, wird eine Anzahl Broschüren und Zeitungen, trotz Protestes, trotz Hinweis darauf, daß diese Broschüren mein Eigentum sind, schon wiederholt beschlagnahmt wurden, aber immer wieder herausgegeben werden mußten, mitgenommen, nachdem das übliche Verzeichnis darüber aufgestellt, unterzeichnet und mir ausgehändigt war.

Das war die denkwürdigste der vielen von mir erlebten Haussuchungen. Sie endete mit der weiteren Eröffnung des Beamten, daß er den Auftrag habe, mich der Kgl. Staatsanwaltschaft vorzuführen. Ich kleidete mich rasch an und folgte dem Beamten, nachdem ich meine Frau und Kinder beruhigt hatte.

Im Gerichtsgebäude angekommen, fand ich bereits einen Genossen vor, einen Schlosser, der zwischen zwei Schutzleuten vor der Türe des Staatsanwalts postiert war.

Mir ging sofort ein Licht auf! Man hat unsere Deckadressen erwischt, sagte ich mir. Dieser Schlosser ist Deckadresse, mein Schwager gleichfalls, es kann nicht anders sein und so war es auch.

[56] Bei sämtlichen Deckadressaten, es waren deren sieben hier, hatte man an diesem Ostersamstag auf einen Schlag gehaussucht. Das Ergebnis war Null, den Schlosser ausgenommen.

Unter dem Schandgesetz wurden nicht nur die Genossen von der Polizei auf Schritt und Tritt bespitzelt, sondern auch allen Briefen und Sendungen an dieselben wiederfuhr dieselbe Liebenswürdigkeit. Das Briefgeheimnis war aufgehoben, die Post hatte sich zur Handlangerin der Polizei degradiert. Dies zwang uns, um der Beschnüffelung zu entgehen, alle Briefe und Sendungen, welche Parteiangelegenheiten betrafen, nicht an unsere Adressen gehen zu lassen, sondern an die Adressen von solchen Personen, die sowohl bei der Polizei wie der Post nicht als Sozialdemokraten bekannt waren.

Solche Adressen nannten wir Deckadressen und wir hatten hier, wie bereits bemerkt, deren sieben. In Stuttgart hatte der Hauptexpedient des „Sozialdemokrat“ für Süddeutschland, der Genosse Pf., seinen Sitz. Infolge von Denunziation, wenn ich nicht irre des Polizeispitzels Waiblinger, der damals noch nicht entlarvt war, wurde Pf. am Gründonnerstag plötzlich verhaftet.

Das Deckadressen-Verzeichnis, das er zur größeren Sicherheit stets bei sich führte, wollte er vor seiner körperlichen Untersuchung, die unter dem Schandgesetz auch bei politisch Verdächtigen unnachsichtlich angewendet wurde, dadurch beseitigen, daß er es in den Mund schob, um es zu verschlingen. Die Polizei entriß es ihm aus dem Mund und gelangte so in den Besitz desselben. Mit diesem Fang glaubte unsere hl. Hermandad, [57] die bisher bei Haussuchungen immer mit langer Nase abgezogen war, einen Hauptschlag gegen uns führen zu können und stürzte sich am Ostersamstag früh mit wahrer Bravour auf uns.

In ganz Süddeutschland wurden an diesem Vormittag zu derselben Stunde Haussuchungen gehalten, hier nicht weniger denn sieben. Das Resultat im ganzen Süden war: Sie hatten den ganzen Vormittag im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet und mit Ausnahme unseres Schlossers hier, nichts gefangen. Also abermals lange Nasen.

Mit dem Schlosser, einem kemütlichen Sachsen, lag die Sache so! Er war befreundet mit einem unserer besten Genossen, einem Tapezier W. aus Hirschberg in Schlesien und durch denselben in unsere Reihen gekommen. Ich benützte seine Adresse, da er gänzlich unbekannt war, als Deckadresse, zum Bezug des „Züricher Sozialdemokrat“. W., der kurze Zeit vorher mit seiner Braut, einem hiesigen Mädchen, unsere Stadt verlassen hatte, um in seiner Heimat zu heiraten und selbstständig zu werden, gab dem Kemütlichen auf sein Bitten das bekannte neue „Wintermärchen“ von Heinrich Heine.

Dieses Schriftchen, das mit Sozialismus oder Sozialdemokratie nicht das mindeste zu tun hat, dagegen mindestens ein halbes Dutzend Majestätsbeleidigungen enthält, wurde bei der Haussuchung bei unserem Sachsen gefunden und das Kamel hätte ich beinahe gesagt, gab auf Befragen an, er habe es von W. erhalten. Gleichzeitig gab er an, er habe ein Paket erhalten und als er es öffnete, seien Zeitungen darin gewesen, mit dem Titel „Sozialdemokrat“. Er habe sich gesagt, das [58] Paket gehöre jedenfalls mir und habe es mir ausgehändigt.

Das heißt man denn doch die Kemütlichkeit auf die Spitze getrieben, umsomehr, als der E . . . seine letzte Angabe, den „Sozialdemokrat“ betreffend, sich tatsächlich aus den Fingern gesogen hatte. Seine Adresse war noch gar nicht benützt, der arme Kerl war aber durch die Haussuchung so verwirrt, daß er nicht nur den armen W., sondern sich selbst ans Messer lieferte, indem er sich mit seiner Angabe als Verbreiter des „Sozialdemokrat“ denunzierte. Dies war der Grund zu seiner sofortigen Verhaftung und der Grund zu meiner Vorführung vor die Staatsanwaltschaft, vor deren Tür ich ihn postiert fand, ein wahres Jammerbild.

Nach meinem Eintritt bei dem gestrengen Herrn Staatsanwalt richtete derselbe zunächst eine unverfängliche Frage an mich, die ich auch bereitwilligst beantwortete. Als er nochmals fragte, erklärte ich ihm, daß ich die Antwort verweigere, bis ich wüßte, zu welchem Zweck die Fragen an mich gerichtet würden. Nun eröffnete er mir, daß ich im Verdacht der Verbreitung verbotener Schriften stehe. Auf meine Frage: „Worauf gründet sich dieser Verdacht?“ erklärte er: „Schlosser F. habe die von mir oben angegebenen Mitteilungen bezüglich des „Sozialdemokrat“ gemacht“. Ich war wie aus den Wolken gefallen, soviel Dummheiten hatte ich von dem kemütlichen Sachsen denn doch nicht erwartet. Ich sagte deshalb auch auf diese Eröffnung des Staatsanwalts: „Das ist aber gar nicht möglich, das glaube ich nicht, das kann gar nicht sein!“

[59] Nun wurde der Gestrenge grob und donnerte mich an: „Wollen Sie damit sagen, daß ich Sie belüge, daß ich Ihnen etwas vorschwindle?“ „Keineswegs“, replizierte ich, „sondern nur, daß ich es für unmöglich, ja unbegreiflich halte, daß F. solche Angaben gemacht habe, da dieselben lediglich aus der Luft gegriffen seien; jeder tatsächlichen Grundlage entbehren und ich mir diese Angaben des F. nur dadurch erklären könne, daß er durch die Haussuchung bei ihm so verwirrt wurde, daß er nicht mehr wußte, was er sprach.“

Nun legte mir der Gestrenge das mit F. aufgenommene Protokoll vor und richtig, hier stand es schwarz auf weiß, was er mir eröffnet hatte, von F., wenn auch mit zittriger Hand, fein säuberlich unterschrieben. Nun mußte ich an das von mir für unmöglich Gehaltene glauben und konnte auf die Frage des Staatsanwalts: „Nun, glauben Sie jetzt, daß F. die Angaben gemacht und was haben Sie darauf zu antworten?“ nur erklären: „Bitte nehmen Sie meine obigen Ausführungen, die ich zu dieser Sache machte, zu Protokoll, sie entsprechen den tatsächlichen Verhältnissen“. Dies geschah und als das Protokoll von mir unterzeichnet war, wurde ich von dem Gestrengen verabschiedet mit den Worten: „Sie sind vorläufig entlassen“.

Das Jammerbild stand immer noch vor der Türe und ich warf ihm einen Blick zu, der ihn halbwegs zur Vernunft brachte, denn er gab vor dem Staatsanwalt an – er wurde sofort nach mir nochmals vernommen – meine Aussagen könnten richtig sein, er sei so verwirrt und wisse nicht mehr, wo ihm der Kopf stehe.

[60] Also vorläufig entlassen! Ich sagte mir, denn ich kannte meine Pappenheimer und wußte, was noch nachfolgte, dies Wörtchen „vorläufig“ läßt tief blicken, wie Sabor[ws 26] sagt und machte mir meinen Vers darauf.

Nachgefolgt ist zunächst die Verbreitung des Flugblatts „An das deutsche Volk“ und zwar in der Nacht vom Ostersonntag auf Ostermontag, trotz aller Haussuchungen am Ostersamstag.

Diese Verbreitung, die auf die betreffende Nacht im Deutschen Reich längst geplant war, wurde, wie im übrigen Deutschland so auch hier und in der Umgegend, trotz unseres gehabten Peches prompt durchgeführt.

Am Ostersamstagabend kam das kleine Häuflein der Treugebliebenen, es war noch ein kleines Häuflein, darunter sogar einige Neugeworbene, aber lauter richtige und tüchtige Proletarier, im Rauchklub zusammen, um die Situation zu besprechen.

Warum das Häuflein so klein war, hatte einesteils darin seinen Grund, daß viele, um den Polizeischikanen aus dem Wege zu gehen, sich zurückzogen und nicht mehr aktiv sich beteiligten; der andere Grund war aber auch der, daß wir auch hier, wie im übrigen Deutschland, Mostianer hatten, ältere Parteigenossen, die sich der Most’schen Richtung angeschlossen hatten und uns unter dem Sozialistengesetz sogar direkt bekämpften.

Es ist nötig, die Richtung, wenn auch kurz, so doch etwas näher zu schildern. Johann Most,[ws 27] ein begabter Feuerkopf, gelernter Buchbinder und Besitzer des Reichstagsmandats für Chemnitz, das er sich vor dem Schandgesetz erobert hatte, wurde durch die fortwährenden Schikanen der Reaktion [61] gegen ihn ins Exil getrieben, er schüttelte den Reichsstaub von seinen Pantoffeln und ging anfangs 1879 nach London. Er saß während der Attentatshetze, während der Reichstagsauflösung, während der Beratung und Annahme des Schandgesetzes, in Plötzensee, dem bekannten Berliner Gefängnis und büßte eine 1½jährige Gefängnisstrafe ab, die ihm unsere „Freunde“, die bekanntlich keine Klassenjustiz treiben, wegen einer in einer Volksversammlung gemachten Aeußerung aufdiktiert hatten. Nach Verbüßung dieser Strafe hatte er nochmals sechs Monate auf dem Kerbholz, was ihn veranlaßte, nach seiner Entlassung aus Plötzensee der deutschen Justiz den Rest zu schenken, der deutschen Freiheit zu entsagen und dafür in London seine Freiheit, die Most’sche „Freiheit“[ws 28] zu gründen. Diese Most’sche „Freiheit“ wurde hauptsächlich nach Deutschland geschmuggelt und war tatsächlich einige zeitlang im Anfang des Sozialistengesetzes das einzige wirkliche sozialdemokratische Blatt, das in schärfster Weise Bismarck und seine Mamelucken bekämpfte. Kein Wunder, daß die Parteigenossen Deutschlands nicht nur Abonnenten der „Freiheit“ wurden, sondern dieselbe auch noch eifrigst verbreiteten.

Unsere deutsche Parteileitung, die trotz Schandgesetz im geheimen immer noch bestand, ging nicht sofort mit der Schaffung eines im Ausland erscheinenden Zentralorgans vor, weil sie erst den Versuch machen wollte, ob es nicht möglich wäre, auch unter dem Schandgesetz in Deutschland in allergemäßigtster Form eine Presse zum Zusammenhalt der Parteigenossen zu schaffen. Alle diesbezüglichen Versuche schlugen fehl, die Polizei [62] verbot auf Grund des famosen Gesetzes das Weitererscheinen dieser Zeitungen oft schon nach wenigen Tagen. Allen aber wurde früher oder später das Lebenslicht ausgeblasen.

Nun erst wurde der Züricher „Sozialdemokrat“ geschaffen. Mittlerweile hatte sich die Most’sche „Freiheit“ so eingebürgert, daß es im Anfang schwer hielt, überhaupt Abonnenten für unser neues Zentralorgan, den Züricher „Sozialdemokrat“ zu bekommen. Das zu lange Zuwarten bei der Schaffung dieses Blattes rächte sich zunächst an der Partei bitter. Mit dem Erscheinen des „Sozialdemokrat“ änderte Most seine Schreibweise in der „Freiheit“ insofern, als er sich nicht mehr allein gegen die deutsche Regierung wandte, sondern gleichzeitig auch gegen unser Zentralblatt, den „Sozialdemokrat“, in dem er einen gefährlichen Konkurrenten sah, ja gegen die Partei und die Parteileitung selbst. Was Most in der Herabwürdigung und Beschimpfung der führenden Parteigenossen leistete, überstieg alles bisher dagewesene. Dies hatte zur Folge, daß der überwiegende Teil der deutschen Genossen sich von ihm und seiner „Freiheit“ abwandten. Ein nicht unbedeutender Bruchteil blieb ihm solange treu, bis unwiderleglich festgestellt war, daß die Mostsche „Freiheit“ in London mit deutschem Polizeigeld unterstützt wurde, daß das Blatt unter dem Schutz der deutschen Polizei zu uns kam, was auch eine Erklärung dafür abgab, daß das Mostblatt immer so prompt und regelmäßig nach Deutschland kam, während unser Züricher „Sozialdemokrat“ dann und wann abgefangen wurde.

Nun hatte endlich die Mosterei für Deutschland [63] ein, wenn auch klägliches Ende gefunden. Von diesem Bruchteil der Treugebliebenen hatten wir auch hier, wo wir überhaupt von allem haben müssen, eine erkleckliche Portion.

Von den älteren Parteigenossen waren ganze sieben Mann, einschließlich mir, der alten Richtung treugeblieben, alle übrigen waren Anhänger Mosts geworden. Es war auch bequemer zu damaliger Zeit, Mostianer zu sein, als der alten Richtung anzugehören, deshalb, weil sich die Tätigkeit der ersteren lediglich darauf beschränkte, kräftig auf uns zu schimpfen und höchstens noch die Most’sche „Freiheit“ zu verbreiten, was angesichts des Umstandes, daß die „Freiheit“ eigentlich Regierungsblatt war, von derselben unterstützt wurde zu dem Zweck, unsere Bewegung zu spalten, zu ruinieren, keine gefährliche Tätigkeit darstellte.

Man hat auch tatsächlich wenig davon gelesen, daß Mostianer in dieser Zeit verurteilt wurden, außer sie benahmen sich gar zu tollpatschig, wie z. B. hier, wo sie in einer kleinen Wirtschaft eine öffentliche Versammlung hielten, die dem Wirt wegen Hergabe des Lokals 14 Tage Gefängnis einbrachte.

Nun, der K. Fritz, so heißt der Wirt, hat über diese Bescherung damals nicht schlecht geschimpft. Im übrigen kümmerten sich die Mostianer verdammt wenig um Politik. Sie wären gegen die Beteiligung an der Wahl, gegen das Parlamenteln, wie sie sich ausdrückten, überhaupt. Sie sagten, nur mit Hilfe einer Revolution können die Zustände geändert werden. Es ist deshalb nur nötig, das Volk aufzuklären, auf die Revolution vorzubereiten und das besorgt unsere Most’sche [64] „Freiheit“ ausgezeichnet. Man sieht, es sind so ziemlich dieselben Argumente, die unsere heutigen Anarchisten ins Feld führen. Bei der alten Richtung dagegen gab es ziemlich Arbeit, da wurde die Aufklärung nicht allein dem Parteiblatt überlassen, sondern sie wurde wie bereits bemerkt, in gegnerischen Versammlungen besorgt, sie wurde besorgt, indem die Reichstagsreden unserer Genossen unter dem Volk verbreitet wurden, sie wurde besorgt dadurch, daß von Zeit zu Zeit, bei Nacht und Nebel, bei Winterkälte, Sturm und Regen, scharfgeschriebene Flugblätter in die Massen geschleudert wurden, ein Stück Arbeit, von dem man sich einen Begriff machen kann, wenn man weiß, daß die Genossen manche Samstagnacht die ganze Nacht über auf den Beinen waren, um dies zu besorgen.

Ein solches Stück Arbeit war also auch wieder in der Nacht vom Ostersonntag auf Ostermontag 1881 zu bewältigen. Am Ostersamstagabend war, wie schon früher festgesetzt, großer Kriegsrat. Nachdem die Haussuchungen durchgesprochen, sowie die Erfahrungen, die dabei gemacht wurden, gegenseitig ausgetauscht waren, ging es an die Hauptsache, die Besprechung über die Flugblattverbreitung. Die Vorarbeiten waren schon früher erledigt, die Stadt war in Bezirke eingeteilt und die Verbreiter für die einzelnen Bezirke, sowie für das Land, bestimmt. Es galt nur noch endgültig darüber schlüssig zu werden, ob die Verbreitung vorgenommen werden soll, trotz der stattgefundenen Haussuchungen.

Nachdem ich die Sachlage klargelegt und darauf hingewiesen hatte, daß meine Verhaftung, sowie [65] die Verhaftung verschiedener Genossen sicher sei, überließ ich die Entscheidung über die Verbreitung den dazu bestimmten Genossen, welche einstimmig die Verbreitung beschlossen. Von dieser Verbreitung, weil zu gefährlich, waren ausgeschaltet einige Genossen mit zahlreicher Familie, sowie meine Wenigkeit. Da vorauszusehen war, daß ich als Leiter der Verbreitung so wie so schon in die Affäre gezogen werde, mußte ich imstande sein, mein Verbleiben während dieser Verbreitung genau nachweisen zu können. Nachdem ich die Genossen noch genau instruiert hatte bezüglich ihres Verhaltens bei der Verbreitung und bei einer eventuellen Verhaftung, ihnen ganz besonders einschärfte, nach der Verbreitung ja nicht mehr zusammen zu kommen, sondern am besten sich sofort nach Haus zu begeben, trennten wir uns.

Die Verbreitung ging dann auch glatt vor sich. Um 10 Uhr abends begab ich mich in Begleitung eines Kollegen in meine Wohnung, um klipp und klar nachweisen zu können, daß ich zu Hause war während der Verbreitung. Um ½11 Uhr begann dieselbe und kurz vor 11 Uhr waren die beiden Zugänge zu meiner Wohnung schon von Schutzleuten besetzt, wie ich vom Fenster aus bemerken konnte und ich wußte, daß die Verbreitung vollzogen, daß die Polizei aber auch schon Kenntnis von derselben hatte.

Diese rasche Kenntnis verdankte unsere Hochwohllöbliche nicht etwa ihrer eigenen Findigkeit, sondern lediglich dem Umstand, daß ein bekannter Zutreiber und verkappter Polizeispitzel ein in der Eile verlorenes Blatt auf der Straße fand und dasselbe schnurstracks auf der Polizeiwache ablieferte. [66] Nun war dort natürlich Feuer im Dach. Die ganze Schutzmannschaft wurde gegen die Missetäter aufgeboten. Zuerst wurde meine Wohnung besetzt, die übrige Schutzmannschaft schwärmte nach allen Richtungen, um die Frevler zu fangen. Der Herr Polizeiwachtmeister Kaiser beteiligte sich sogar in höchst eigener Person an diesem Fang und ihm wäre beinahe etwas derartiges geglückt.

Trotz der Ratschläge, nach der Verbreitung nicht mehr zusammenzukommen, hatten vier der Verbreiter sich auf Verabredung wieder getroffen und wollten nun die Wirkung ihrer Tätigkeit auf die Polizei beobachten. Diese vier Unglücksmenschen liefen dem gestrengen Kaiser in die Hände, der in ihnen, da er einen davon wiederholt mit mir in Gesellschaft sah, sofort die Attentäter witterte und alle vier nach der Polizeiwache zur körperlichen Untersuchung verbrachte.

Auf dem kurzen Wege dorthin, während der Gestrenge gravitätisch neben ihnen marschierte, entledigten sie sich noch einiger in ihrem Besitz befindlicher Flugblätter, sowie verschiedener Nummern des „Sozialdemokrat“, indem sie die Sachen einfach, ohne daß der Gravitätische es bemerkte, hinter sich zu Boden fallen ließen und kamen so völlig hasenrein auf der Wachtstube an. Nach hochnotpeinlicher, jedoch völlig resultatloser körperlicher Untersuchung und nachdem ihre Namen und Wohnungen festgestellt waren, wurden sie jedoch entlassen. Kurz darauf kam ein Schutzmann den gleichen Weg gegangen, sah die Bescherung und sammelte sie, um sie ebenfalls aufs Wachtzimmer zu bringen. Das Gesicht des gestrengen Wachtmeisters soll ein sehr langes geworden sein, als [67] der Schutzmann berichtete, wo er das Gebrachte gefunden hatte.

Infolge dieses Vorgangs wurden die vier am nächsten vormittag auch wirklich verhaftet und gezählte fünf Wochen in Untersuchungshaft herumgezogen. Nicht besser erging es einem weiteren Genossen, einem Schuhmacher, demselben, der an unserem Herbstfest 1877 das „rote Gespenst“ mimte, der bei uns den schönen Namen Saussele führte und bei dem wie überhaupt bei allen bekannten Genossen, am nächsten vormittag Haussuchung gehalten wurde.

Saussele, der auswärts verbreitet hatte, lag noch im Bett als unser Kaiser mit zwei Schutzleuten bei ihm vorsprach. Er blieb auch ruhig weiter liegen als der Gestrenge seine Kleider, die an der Wand hingen, durchsuchte.

Als der Wachtmeister aber einige vergessene Flugblätter aus der hinteren Rocktasche zu Tage forderte, sprang er wie elektrisiert auf die Beine und schnaubte den Gewaltigen an: „Was machen Sie da! Ich glaube gleich, Sie wollen mir Flugblätter in die Tasche schieben, um mich verhaften zu können.“ Natürlich gabs nun eine kleine Auseinandersetzung zwischen beiden, die damit endete, daß Saussele trotz allen Protestierens verhaftet wurde. Mir selbst ging es auch nicht besser, wie wir vorausgesehen hatten.

Als ich am Ostermontag um ½5 Uhr zum Fenster hinaussah, waren immer noch zwei Schutzleute vor meiner Wohnung postiert und froren erbärmlich, denn die Nacht und besonders der Morgen waren ziemlich kühl. Doch auch ihre Qual ging bald zu Ende. Kurz vor 5 Uhr [68] erschien der Stationskommandant namens Deckele mit zwei Landjägern vor meiner Haustür und begehrten Einlaß. Nun durften die Schutzleute abziehen.

Die Neuangekommenen mußten nicht wenig wettern, bis ihnen der Hausherr gleichfalls unter Wettern die Türe endlich öffnete und unter gehörigem Räsonieren nach ihrem Begehr fragte.

Als sie ihm mitgeteilt hatten, daß sie von der Staatsanwaltschaft beauftragt seien, bei mir abermals Haussuchung vorzunehmen, hätte er sie am liebsten wieder zum Hause hinausgeworfen. Es kostete mich alle Mühe, ihn zu bewegen, bei der Haussuchung als Urkundsperson zu fungieren. Nun wurde abermals, nahezu zwei Stunden resultatlos gesucht, worauf mir der Vorführungsbefehl präsentiert wurde und dann gings unter Bedeckung der drei Mann dem nahen Landgerichtsgefängnis[ws 29] zu.

Auf diesem Wege mußte ich an dem Hause eines der Verbreiter vorbei. Derselbe stand wohlbehalten unter der Haustüre und fragte anscheinend verwundert, bei dem „Guten Morgen“, den wir uns gegenseitig wünschten, was sie denn eigentlich mit mir vorhätten. Der gute Mann ahnte nicht, daß ihn wenige Stunden später das gleiche Schicksal ereilen würde.

An meinem Bestimmungsort angelangt, wurde ich zunächst in sicheren Gewahrsam genommen, d. h. ich wurde zu einem sogenannten Fruchthändler, einem Sackträger gesperrt, der neben dem Sacktragen noch einen Handel mit der Frucht seines Herrn auf eigene Rechnung betrieben hatte und derentwegen hinter Schloß und Riegel saß.

[69] Meines Bleibens war hier jedoch nicht lange, denn nach einer kurzen Stunde, schon vor 8 Uhr in der Früh, wurde ich trotz Feiertag dem Herrn Untersuchungsrichter vorgeführt und ich traf in ihm einen alten Bekannten aus dem Jahre 1878, den mittlerweile zum Landrichter avancierten ehemaligen Assessor Kegelmaier.

Derselbe tat als ob er von 1878 her etwas Besonderes für mich hätte, machte mir wohlgemeinte Vorwürfe wegen meiner politischen Tätigkeit, wodurch ich nur meine zahlreiche Familie ins Unglück bringe und spielte den wohlmeinenden Ratgeber.

Ich dankte ihm für die warme Teilnahme an mir und den Meinigen, versicherte ihn jedoch, daß ich mir keiner Schuld bewußt sei und hoffentlich bald wieder auf freien Fuß gesetzt werde. Er erklärte mir, die heutige Unterredung sei lediglich Privatsache, er sei nur gekommen, um dafür zu sorgen, daß ich in möglichst anständige Gesellschaft komme. Da wo ich bis jetzt untergebracht sei, sei keine Gesellschaft für mich und befahl, mich in Nr. 1 unterzubringen zu einem Lehrer und einem Kommissionär, das sei die beste Gesellschaft, über die er augenblicklich verfüge.

Hierauf verabschiedete er mich, den von so viel Liebe und Entgegenkommen nicht wenig Gerührten.

Nr. 1 im hiesigen Landgerichtsgefängnis ist eine Zelle, etwa vier Meter lang und drei Meter breit, mit einem großen Fenster in der Mitte. Sonst unterscheidet sich das Ding in Nichts von der Einrichtung des Amtsgerichts. Doppeltüren, Pritschen, Honighafen, alles derselbe Stil, nur infolge des größeren Fensters besser beleuchtet und [70] gelüftet. Da die Vergitterung nach innen geht insofern zweckmäßig, als man an derselben Turnübungen vorzunehmen imstande ist, um seine Knochen vor dem Einrosten zu bewahren.

Das war nun soweit alles gut, des Guten zuviel war nur der Umstand, daß in diesem für zwei Personen bestimmten Raum, wegen Raummangel zunächst deren drei zu kampieren gezwungen waren, was dazu führte, daß mir als dem zuletzt Eingetroffenen die Lagerstatt über Nacht auf dem blanken Fußboden bereitet wurde in Form von Strohsack, Kopfpolster und Teppichen mit den üblichen Leintüchern. Das Ganze wurde, um wandeln zu können, tagsüber auf eine Pritsche gebracht.

Eine weitere nennenswerte Wohltat wies meine neue Behausung gleichfalls auf. Wanzen gab es keine, wie mir auf sofortige angelegentliche Erkundigung bestimmt versichert wurde.

Die beiden Insassen sahen auch wirklich anständiger von Außen als von Innen aus. Der Herr Lehrer besonders war innerlich ein sehr schmutziger Kamerad. Er war verheiratet, ein angehender Vierziger und war wegen falscher Anschuldigung in Untersuchungshaft genommen. Der Schmutzfink hatte einen Demokraten, einen Bierbrauer seines Ortes, wegen Kaiserbeleidigung fälschlich denunziert, was den dicken Brauer einige Tage nach Nr. 1 des Landgerichtsgefängnisses brachte, wo ihn aber sein Busenfreund der „Herr“ Lehrer sofort ablöste, um nicht einige Tage, sondern einige Wochen dort zu verbringen und noch extra wegen falscher Anschuldigung sechs Wochen Gefängnis aufgebrannt zu erhalten.

[71] Dieser Edle, etwas stark dumm aber eine richtige Knechtseele, gab mir während unseres Beisammenseins öfters Stoff, ihn ganz gehörig unter den Hobel zu nehmen und ziemlich abgehobelt verließ er uns nach vierzehn Tagen, um seine sechs Wochen abzubrummen als Nachkur.

Der Andere, ein ziemlich umfangreicher Fünfziger, saß wegen Wechselreiterei schon im vierten Monat in Untersuchungshaft. Der arme Kerl war durch die lange Haft schon ganz gebrochen, willenlos geworden und zufrieden, wenn er um 6 Uhr abends seinen Liter Wein bekam, um ihn aus der Kaffeetasse zu schlürfen. Seine Angehörigen hatten ihm für jeden Tag einen Liter Wein bewilligt, sonst kümmerte sich aber kein Teufel um ihn, trotzdem er Weib und erwachsene Kinder hatte, was dem Armen manche Träne entlockte. Solcher Gestalt und Qualität waren die beiden, mit denen ich für die nächsten Wochen Wohn- und Schlafraum zu teilen hatte.

Am nächsten Morgen um 8 Uhr wurde ich Kegelmaier vorgeführt. Nachdem er mir eröffnete, daß ich im Verdacht stehe, der Leiter der Verbreitung der verbotenen Druckschrift „An das deutsche Volk“ zu sein und deshalb in Haft genommen wurde, fragte er mich zunächst, ob ich von dem mir nach der Strafprozeßordnung zustehenden Recht der Beschwerde gegen meine Verhaftung Gebrauch machen wolle.

Ich erklärte hierauf, daß ich vorerst auf das Beschwerderecht verzichte, da ich hoffe, falls er die Untersuchung beschleunige, schon vor Ablauf der Beschwerdezeit wieder auf freiem Fuße zu sein. Er versprach die Angelegenheit so rasch wie möglich zu erledigen und nun ging es ans inquirieren.

[72] Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, wer als von uns bei dieser Affäre verhaftet wurde und mit mir das gleiche Dach teilte.

Zunächst der Kemütliche, ein Schlosser; dann mein Schwager, gleichfalls ein Schlosser; der Saussele, ein Schuster und die vier: zwei Schreiner, ein Zigarrenmacher und ein Kupferschmied. Bei letzterem, dem vierten, sagte Kegelmaier, sie seien in flagranti, d. h. auf der Tat ertappt worden, ich aber dachte, du lügst mich nicht an, denn wenn dieselben auf der Tat ertappt worden wären, so hättet ihr sie sofort hinter Schloß und Riegel gesteckt und ich und der August hätten uns gestern früh nicht guten Morgen sagen können.

Von dieser, wie er glaubte, mich niederschmetternden Eröffnung hoffte er ein reumütiges Bekenntnis meiner Schuld, täuschte sich aber gewaltig, denn ich gab zu Protokoll, daß ich von der ganzen Sache nichts wisse. Sehr enttäuscht und äußerst ungnädig wurde ich dann an diesem Tage von ihm entlassen, um am nächsten Morgen um dieselbe Zeit wieder vorgeführt zu werden.

Bei dieser zweiten Vernehmung erfuhr ich Betrübendes und Erfreuliches. Zunächst, daß der arme W. in Hirschberg verhaftet wurde und per Schub nach hier verbracht werde. Dann weiter, daß mein Schwager aus der Haft entlassen sei, was nicht mehr als recht und billig war, denn das Unschuldskind hatte wirklich keine Ahnung von der Benützung seiner Adresse.

Daß die übrigen Verhafteten jede Beteiligung an der Verbreitung in Abrede stellen, daß Saussele zu Protokoll gab, er habe Verdacht auf den Wachtmeister Kaiser, derselbe habe ihm die Flugblätter [73] in die Tasche gesteckt, anders könne er sich das Vorhandensein in seiner Tasche nicht erklären.

Als ich diese Mitteilung erhielt, mußte ich trotz meiner trüben Stimmung hell auflachen und auf die Frage Kegelmaiers, was ich dazu sage, nur erwidern, daß der Beweis des Gegenteils wohl schwer zu führen sei.

Diese Verhandlung fand in Gegenwart des Stationskommandanten Deckele und des Wachtmeisters Kaiser statt. Als Letzterer weinerlich bemerkte: „Aber Herr K., das wissen Sie doch, daß ich so etwas nicht mache“, konnte ich ihm in wenig trostreicher Weise nur bemerken: „Ich befürchte Herr Wachtmeister, daß wenn die Sache zur Hauptverhandlung kommt, Sie keinen leichten Standpunkt haben werden“, was ihn nicht wenig alterierte, bei Kegelmaier aber ein verschmitztes Lächeln auslöste.

Weiter wurde mir eröffnet, daß durch Nachfrage bei der Post festgestellt sei, daß unter der Adresse meines Schwagers am Gründonnerstag ein 15 Kilo schweres Paket an meine Frau abgegeben wurde, das jedenfalls die verbreiteten Flugblätter enthalten habe. Meine Frau verweigere in dieser Untersuchungssache jedwede Auskunft und es läge nun an mir zu erklären, was das betreffende Paket enthalten habe.

Ich gab zu Protokoll, daß ich es dem Gericht überlassen müsse, den Nachweis zu erbringen, daß in dem Paket die verbreiteten Flugblätter enthalten gewesen seien und daß ich dieselben verbreitet habe.

Hierauf drohte Kegelmaier, die Untersuchung auch auf meine Frau zu erstrecken und dieselbe gleichfalls verhaften zu lassen. Ich antwortete ihm: [74] „Tun Sie, was Sie nicht lassen können“. Damit war auch dieses Verhör beendet.

Als ich nach einigen Tagen, da mir die Haft zu lange dauerte, von meinem Beschwerderecht Gebrauch machen wollte und um Vorführung bat, mußte ich zu meinem großen Erstaunen erfahren, der Herr Untersuchungsrichter sei auf unbestimmte Zeit nach Berlin verreist.

Und so war es auch. Die unbestimmte Zeit dauerte länger als drei Wochen und wir politischen „Verbrecher“ mußten ruhig weiter sitzen bis es dem Herrn Kegelmaier gefiel, von Berlin zurückzukehren und sich unser zu erinnern. Eine prächtige Justiz das, nicht wahr?

Diese lange Zeit verbrachte ich abwechselnd mit Lesen und anfangs auch mit Schrauben unseres Schullehrers, auf den ich es besonders abgesehen hatte.

Nachdem der Schullehrer verknurrt war und zum Abbrummen seiner sechs Wochen uns verlassen hatte, wurde auch der Kommissionär etwas mitteilsamer. Er erzählte mir seine Leidensgeschichte und dabei erfuhr ich, daß er in den letzten acht Wochen überhaupt nicht mehr vernommen wurde. Ich gab ihm den Rat, sich beim Landgerichtsdirektor melden zu lassen, was er denn auch tat, aber nicht vorgeführt wurde, sondern es wurde ihm der Bescheid, seine Akten liegen bei der Staatsanwaltschaft und er müsse sich eben gedulden.

Ich meinerseits beauftragte unseren Cerberus, sofort nach der Rückkehr des Untersuchungsrichters mich zu melden, mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß ich Beschwerde erheben wolle sowohl wegen meiner Inhaftnahme, als meiner ferneren Inhaftbehaltung.

[75] Jeden Morgen beim Erscheinen unseres direkten Hüters war meine erste Frage: „Ist der Untersuchungsrichter noch nicht zurück?“ Aber Tage um Tage und Wochen um Wochen verrannen und der sehnlichst Erwartete erschien nicht auf der Bildfläche.

Endlich an einem Sonntagmorgen in der fünften Woche wurde meine Frage bejaht. Auf meine weitere Frage, ob ich gemeldet sei, erklärte dieser Untergewaltige ganz trocken, er melde mich nicht.

Nun war bei mir Feuer im Dach, daß ich ihn nicht am Kragen nahm war alles. Einen gewaltigen Krach schlug ich ihm, so daß der Gang widerhallte und er schleunigst die Türe von außen zumachte.

Nach seinem Weggang sagte ich zu meinem Leidensgenossen: „Nun passen Sie auf, nun wirds lustig. Wenn ich morgen früh, spätestens bis 9 Uhr nicht vorgeführt bin, nehme ich diesen Stuhl und gehe gegen die Türe los und wenn der Stuhl kaput geht, nehme ich den nächsten, überhaupt was hier ist, immer gegen die Türe, ich will doch sehen, ob ich hier rechtlos bin.“ Der arme Teufel fing an zu weinen und zu jammern, während ich im Käfig in ohnmächtiger Wut hin und her rannte und am liebsten gleich auf die Türe losgegangen wäre. Und wieder sah ich die verdammten Mucken wie 1878 vor meinen Augen.

Nur sehr schwer beruhigte ich mich nach und nach und bekam erst mein seelisches Gleichgewicht wieder, als nachmittags um 2 Uhr unsere Türe zur Hälfte geöffnet wurde und unser Cerberus erschien, der mir auf meine sofortige Frage: „Warum melden Sie mich nicht?“ nun die beruhigende Antwort gab: „Ich melde Sie“.

[76] Er hatte sich scheints die Sache überlegt, vielleicht auch meine lauten Drohungen gehört und nahm als Vorwand für sein ungewohntes Erscheinen die Mitteilung, daß von der Tischlerkasse für mich 2 Mark zu Bier abgegeben worden seien. Derartige Mitteilungen machte er sonst immer bei seiner Morgenvisite. Mein Kommissionär atmete sichtlich erleichtert auf und auch ich beruhigte mich vollends. Am andern Morgen um 8 Uhr wurde ich dann auch pünktlich vorgeführt.

Ein frostiger Willkomm wurde mir zuteil und ich merkte sofort, daß der an der Türe postierte Cerberus mich gehörig eingeseift hatte. „Das Schlußprotokoll wird nun aufgenommen und Sie werden wegen Ueberfüllung des hiesigen Landgerichtsgefängnisses nach Weinsberg transportiert“, schnarrte mich Kegelmaier bissig an. „Schön“, gab ich zur Antwort.

Das Schlußprotokoll war, da ich absolut keine Angaben mehr zu machen hatte, rasch aufgenommen. Nun fragte der Bissige: „Beschwerde wollen Sie auch führen, über was denn?“ „Nun über meine Inhaftnahme sowohl, als über meine Inhaftbehaltung“. „Das können Sie! Das weiß ich!“ „Ich will aber meine Beschwerde selbst abfassen und bitte zu diesem Zweck um Zustellung von Tinte, Feder und Papier“. „Das können Sie haben“. Und zu dem Gerichtsdiener gewandt bemerkte er höhnisch: „Geben Sie dem K. Tinte, Feder und einen Bogen Papier, den kann er vollschreiben und wenn der ihm nicht langt, dann geben Sie ihm noch einen, den kann er auch noch vollschreiben“.

Mir stieg natürlich die Galle ob dieser [77] Gemeinheit, diesem Hohn dem wehrlosen Untersuchungsgefangenen gegenüber. Und von dieser Stunde an war ich der Feind dieses Menschen. Ich beherrschte mich jedoch und sagte gemessen: „Herr Untersuchungsrichter, ich bin gewöhnt mich kurz zu fassen, ein Bogen genügt mir.“

Trotz meiner Empörung brachte ich es über mich, noch die Bitte an den Bissigen zu richten, mir zu gestatten, daß ich vor meinem Transport nach Weinsberg mein jüngstes Büblein, von dem ich wußte, daß es stark kränkelte, sehen zu dürfen. Der Unmensch lehnte diese Bitte mit einem kurzen „Nein“ schroff ab.

Der Cerberus stellte mir, in meine Zelle zurückgebracht, das Gewünschte zu und ich schrieb die Beschwerde sofort nieder. Ein Bogen genügte mir vollauf hiezu.

Am andern Tag mittags 2 Uhr wurde ich aus meiner Zelle geholt und mit meinem Bücherpaket unter dem Arm im Gang aufgestellt unter einer sehr gemischten Gesellschaft.

Da war ein wegen Wucher angeklagter reicher Wirt von Besigheim, verschiedene in den Fruchthandel verwickelte Sackträger, einige wegen Kuppelei Angeklagte, im ganzen etwa fünfzehn mehr oder minder schwere Verbrecher, darunter aber kein einziger Parteigenosse. Für sie, die auswärtigen Unbekannten, hatte Kegelmaier Platz im hiesigen Gefängnis, für mich den Hiesigen, den Bekannten, nicht. Es lag klar auf der Hand, daß es nur ein kindischer Racheakt war, der ihn bestimmte, mich nach Weinsberg transportieren zu lassen.

Wir wurden in Reih und Glied aufgestellt. Die Landjägermannschaft, ich glaube des ganzen [78] Oberamts, es waren mindestens zehn anwesend, lud vor unseren Augen die Gewehre. Kegelmaier patrouillierte grinsend auf und ab. Hierauf schritt einer der uniformierten Gewehrträger an uns vorüber, jeden scharf ins Auge fassend und mit Donnerstimme die Worte sprechend: „Ihr seid uns zum Transport übergeben, ich mache auch darauf aufmerksam, daß wir beim geringsten Fluchtversuch jeden unnachsichtlich niederschießen werden.“

Nach Beendigung dieses feierlichen Aktes begann der Abmarsch in drei Kolonnen. Erste Kolonne: Zutreiber und andere edle Elemente unter Bedeckung von vier Landjägern, in der Zweiten mußte meine Wenigkeit marschieren in Gesellschaft des Besigheimers und drei Fruchthändlern unter dem Schutz des Stationers Deckele und zwei Landjägern; in der dritten Kolonne der Rest, beschützt von vier Landjägern. So gings um ½3 Uhr mittags in geringen Abständen, unter grinsender Freude Kegelmaiers, an der katholischen Kirche[ws 30] vorbei die Kirchbrunnenstraße hinauf, durch die Sülmer- und Karlstraße, Weinsberg zu.

Ich muß gestehen, unsere drei Kolonnen machten nicht geringen Effekt, was besonders mir schmeichelte. Stolz wie ein Spanier marschierte ich mit meinem Päckle unter dem Arm durch meine Vaterstadt, rechts und links Bekannte grüßend. Dem Stationer Deckele sagte ich: „Der Herr Untersuchungsrichter hat vielleicht geglaubt, er spiele mir einen Possen mit dem Transport nach Weinsberg, er hat mir im Gegenteil einen großen Gefallen erwiesen damit, ich freue mich über den schönen Spaziergang. Bitte, richten Sie es ihm aus.“

[79] Ein prächtiger Nachmittag wars, die Sonne schien nicht zu heiß über Berg und Tal, ein leichtes Lüftchen regte sich, ein richtiger Tag zum spazieren gehen. Wie weitete sich da die Lunge, die die langen vier Wochen auf die schlechte Kerkerluft angewiesen war. Im Landgericht gabs keinen Sonntagsspaziergang wie im Amtsgericht. Die ganze lange Zeit hatte man zwischen den vier Wänden zu verbringen.

Schön gemächlich ging es Weinsberg zu. Auf dem Galgenberg[ws 31] wurde kurze Rast gemacht, dann ging es zu Tal, wo unsere saloppe Gesellschaft gleichfalls nicht geringes Aufsehen erregte. Bei diesem Abstieg war Deckele so gnädig, sich abermals in ein Gespräch mit mir einzulassen, wobei ich ihm prophezeihte, daß die Sache ausgehen werde wies Hornberger Schießen, was er natürlich stark bezweifelte.

Wohlbehalten und ohne den geringsten Zwischenfall langten wir an unserem neuen Bestimmungsort[ws 32] an und wurden von dem dortigen Cerberus, der entsetzlich bärbeißig aussah, aber ein seelenguter Kerl war, in unseren Zimmern untergebracht.

Ich bekam ein solches allein, was, wie mir mein neuer Logisherr andern Tages sagte, ich dem Umstand zu verdanken hatte, daß Kegelmaier in einem Begleitschreiben mich angeschwärzt, ich hetze die Mitgefangenen auf. Meine neue Behausung war groß, geräumig, mit drei Pritschen versehen, aber kalt, nach Norden, der Weibertreu[ws 33] zu gelegen.

In der Nacht schlug das Wetter um, ein kalter Regen setzte ein mit Sturm und ich fror andern Tags wie ein Schneider. Es war mir [80] unmöglich ruhig zu sitzen, um zu lesen und angekleidet warf ich mich auf die Pritsche und deckte mich mit den Teppichen zu, um mich zu erwärmen.

Auf meine Klagen mittags, versprach mein neuer Hauswirt, mich andern Tags auszuquartieren. Es werde unten etwas frei und so geschah es auch. Ich bekam ein nach Süden gelegenes Quartier mit großem Fenster und der Aussicht auf Gärten und Weinberge, auf die Ellhofener Landstraße.

Nachmittags erhielt ich noch eine besondere Ueberraschung. Die Frau meines neuen Wirtes brachte mir meinen jüngsten Sprößling, der, wenn er auch sehr bleich, doch soweit munter aussah und eine nicht geringe Freude beim Wiedersehen seines Vaters äußerte.

Die Weinsberger Leute waren von anderer Qualität wie dieser Kegelmaier in meiner Vaterstadt. Abends wurde mir die Mitteilung, daß der Herr Oberamtsrichter, Landgerichtsrat H., mich am anderen Morgen besuchen werde, er habe schon seit Jahren das Gefängnis nicht mehr betreten, wurde mir gesagt.

Und er kam wirklich, auf einen Stock gestützt, ohne welchen er überhaupt nicht gehen konnte und unterhielt sich längere Zeit mit mir, fragte mich auch, ob ich besondere Wünsche hätte. Er wollte lediglich den Sozialdemokraten kennen lernen.

Von der Stunde an kampierte ich überhaupt nicht mehr hinter verschlossenen Türen. Dieselben wurden vielmehr weit geöffnet und ich konnte auch auf dem langen geräumigen Gang spazieren gehen, was immerhin eine wesentliche Wohltat für mich war. Der nächste Sonntag war noch ein schwerer Tag für mich. Ich sah die Leute spazieren gehen von [81] meinem Käfig aus und warf mich in berechtigter Wut auf meine Pritsche, auf Gott und die Welt schimpfend.

Da, am Dienstag früh, kam mein Hüter wirklich freudestrahlend zu mir mit der frohen Botschaft: „Sie werden heute entlassen.“ Rasch packte ich meine Habseligkeiten und um 8 Uhr schon wurde ich vorgeführt und mir meine Entlassung infolge meiner Beschwerde offiziell verkündet. Nach einem herzlichen Abschied von meinen Logiswirten richtete ich meine Schritte der Heimat zu.

Auf halbem Wege, in der Nähe des Galgenbergs, begrüßte mich ein frohes Jauchzen. Es waren meine Leidens-, meine Parteigenossen, die gleichfalls entlassen und von meiner Entlassung Kenntnis hatten. Sie waren mir entgegen gepilgert.

Da gabs ein freudiges Begrüßen und Händeschütteln. Alle waren munter und frohen Mutes, wenn auch etwas bleich durch die lange Haft. Meine Beschwerde hatte ihre Wirkung getan, wir wurden alle auf freien Fuß gesetzt.

Die Neulinge, um die es mir bang war, hatten sich alle brav gehalten. Auch der Kemütliche war nach und nach wieder zu Vernunft gekommen und hatte seine Dummheiten wieder gut gemacht und das ging so zu. Genosse W. war wirklich von Hirschberg in Schlesien per Schub, auf die scheußlichste Weise, nach Heilbronn verbracht worden, trotzdem in Hirschberg angeboten wurde, ihn mit Zivilkommissär auf eigene Kosten nach hier zu verbringen. Tagsüber im Gefangenenwagen, des Abends, wie der größte Verbrecher, geschlossen nach dem Arrest der betreffenden Stadt, in der Frühe wieder geschlossen zur Bahn. Einmal [82] sogar, in einer bayerischen Stadt, zusammengeschlossen mit einem übelberüchtigten Frauenzimmer, bei hellem Tage einen ziemlich weiten Weg zur Bahn, kam der Aermste mehr tot als lebendig hier an.

Zum Glück für ihn bekam er die Zelle neben dem Kemütlichen und jeder der beiden hatte einen alten gerissenen Kunden als Zimmergenossen. Das war das Glück für unseren armen W.

Begünstigt durch die Einrichtung des Gefängnisses, die Abortkanäle standen miteinander in Verbindung und man konnte, wenn man den Kopf in den Abort steckte, mit dem Zellennachbar, der ein gleiches tun mußte, sprechen. Besonders appetitlich und für das Riechorgan angenehm war diese Art Verkehr allerdings nicht, aber Not bricht Eisen und die Not war in diesem Fall nicht klein. Die Beiden wurden von ihren Zimmergenossen auf diesen möglichen Verkehr hingewiesen, benutzten denselben und verkehrten telephonisch, ehe das Telephon erfunden war.

Infolge dieses Verkehrs widerrief der Kemütliche alle seine erstgemachten Angaben und bezeichnete sie als in der Verwirrung gemachte Unrichtigkeiten. Das neue Wintermärchen habe er von einem Unbekannten gekauft, der Name W’s. sei ihm nur deshalb im Verhör gekommen, weil er mit demselben über dieses Werkchen gesprochen hatte. W. selbst bestritt natürlich ganz entschieden, dem Kemütlichen das Büchlein gegeben zu haben. Der Anklage gegen W. war dadurch der Boden entzogen und er mußte entlassen und außer Verfolgung gesetzt werden.

[83] Wie er wieder nach Hirschberg gelangte, darum kümmerte sich unsere damalige deutsche Justiz den Pfifferling, sie stellte ihn einfach, ohne einen Pfennig Geld auf die Straße, es ihm überlassend, seine weite Heimreise nach Belieben zu bewerkstelligen. Die verdammte Affäre endete immerhin noch glücklich für uns.

Nun ging es an ein Erzählen des Erlebten. Saussele, der bei der Begrüßung wie immer mit dem ganzen Gesicht lachte, mußte zuerst berichten. Die Hauptsache seines Berichtes habe ich schon früher mitgeteilt und es verbleibt mir nur noch nachzutragen, wie Kegelmaier seine Angaben aufnahm.

Auf seine Angabe, daß er den Wachtmeister Kaiser im Verdacht habe, ihm die Flugblätter in die Tasche geschoben zu haben, donnerte ihn der Gewaltige an: „Was! was! wie können Sie das beweisen“. „Ja, beweisen kann ich’s leider nicht, aber den Verdacht habe ich eben“, gab er kühl und gelassen zur Antwort und dabei blieb er, trotz aller Wut Kegelmaiers und des gestrengen Wachtmeisters.

Die Erlebnisse der anderen habe ich gleichfalls schon geschildert. Sie gaben an, daß sie einen gemeinsamen Spaziergang gemacht, von der Flugblattverbreitung nichts wüßten, daß die auf dem Weg zur Polizeiwache gefundenen Flugblätter und Zeitungen nie in ihrem Besitz gewesen seien und daß sie überhaupt nicht wüßten, warum sie verhaftet wurden. Das war das ganze Ergebnis der Voruntersuchung, wahrhaftig ein sehr klägliches. Zu einer Hauptverhandlung kam es überhaupt nicht. 14 Tage später wurden wir sämtlich außer Verfolgung gesetzt und das Verfahren eingestellt.

[84] So endete die hiesige große Haupt- und Staatsaktion im Jahre 1881 gegen uns mit einer großen Blamage der Staatsretter. Unsere fünf Wochen Untersuchungshaft hatten wir dank dem Schandgesetz allerdings weg, doch mürbe hat uns die Haft nicht gemacht, höchstens verbissener.

Auch bei dieser Gelegenheit zeigte sich wieder die Opferwilligkeit unserer Genossen im schönsten Lichte, sie sorgten reichlich für uns und unsere Familien. An Kegelmaier, der mir auf dem Wege zu meinem Geschäft fast täglich begegnete und den ich früher immer grüßte, ging ich von der Zeit ab vorbei ohne zu grüßen.

Etwa ein halbes Jahr später erschien im „Sozialdemokrat“ ein gesalzener und gepfefferter Artikel über den deutschen Richterstand. Der Artikel wurde rot angestrichen und die betreffende Nummer unter der Adresse „Seiner Hochwohlgeboren Herrn Premierleutnant Kegelmaier zur Zeit Staatsanwalt beim Landgericht Heilbronn“, dem Bissigen zugesandt. Die Adresse wurde von einem Bekannten geschrieben, der Brief selbst in Ludwigsburg zur Post gegeben.

Den richtigen Empfang quittierte Kegelmaier damit, daß er die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Verbreitung des letzten Flugblatts gegen mich beantragte, da sich neue Verdachtsmomente ergeben hätten. Sein Antrag wurde jedoch abgelehnt. Bei der nächsten Begegnung lachte ich ihn höhnisch aus. Rache ist süß.

Im selben Jahr noch hatten wir Reichstagswahl, die wir als einfache Arbeiterpartei mitmachten, wobei wir wieder unsern Genossen Bebel als Zählkandidaten aufstellten.

[85] Obgleich unsere Wählerversammlungen im voraus verboten wurden, infolgedessen sich unsere Tätigkeit auf gegnerische Versammlungen und auf Flugblätter beschränken mußte, blieb unsere Stimmenzahl gegen 1877 ziemlich gleich.

Still, aber sicher wurde weitergearbeitet hinter verschlossenen Türen und unter Aufstellen von Posten, Sonntagsunterhaltungen und Ausflüge veranstaltet und dabei immer neue Streiter geworben.

Die Flugblattverbreitung war zu einer unserer ständigen Einrichtungen geworden, ohne daß es der Polizei gelang, je einen der Unsrigen zu erwischen.

Im Jahre 1883 beteiligten wir uns hier erstmals an der Gemeinderatswahl, allerdings mit negativem Erfolg. Unsere Kandidaten blieben mit etwa 100 Stimmen hinter den gegnerischen zurück. Aber Leben brachte unser Eingreifen bei dieser Wahl in die Bude. Bourgeoisie und Spießbürgertum rannte wie besessen zur Urne, um die Wahl eines Sozialdemokraten zu verhindern und während man früher etwa 400 Stimmen nötig hatte, um einen kurulischen Sessel zu erobern, brauchte man jetzt schon über 800, um das gleiche Ziel zu erreichen. Die höchste Stimmenzahl unserer Liste erhielt Genosse K.[ws 34]

Der Ausfall dieser Wahl zeigte uns sowohl wie unseren Gegnern, daß wir hier eine Macht geworden waren. Bei dieser Wahl kämpfte Genosse Isak seit 1878 erstmals wieder mit. Er war von Reutlingen zurückgekehrt und hatte sich mit altem Eifer uns sofort wieder angeschlossen.

Das Jahr 1884 brachte uns dreifache Arbeit, eine Reichs- und Landtagswahl, sowie eine [86] Stadtschultheißenwahl für unseren verstorbenen Oberbürgermeister.

Die Reichstagswahl verlief wie vor 3 Jahren. Keine Versammlungen, Agitation für unseren Zählkandidaten Bebel in gegnerischen Versammlungen und mittels Flugblätter, nebenbei wieder energische Kleinarbeit, persönliche Agitation. Resultat 1119 Stimmen, beinahe 1000 Stimmen mehr wie früher.

Es ging auch bei uns vorwärts trotz Schandgesetz.

Bei der Landtagswahl beschränkten wir uns in Rücksicht auf das Ausnahmegesetz darauf, nur in der Stadt uns an dieser Wahl zu beteiligen und zwar mit einem eigenen Kandidaten, in der Person des roten Apothekers.[ws 35]

Es gelang uns in unserer guten Stadt, auf unseren Kandidaten, einen Fremden, 721 Stimmen zu vereinigen, ein Achtungserfolg, der, da Deutsche Partei und Volkspartei, letztere mit ihrem allbeliebten Kandidaten H. erbittert um den Sieg rangen, nicht gering anzuschlagen war. In der dadurch nötig werdenden Stichwahl, in der wir die Entscheidung hatten, verhalfen wir, wie bei den Reichstagswahlen, dem Volksparteiler zum Sieg.

Bei der Stadtschultheißenwahl hatten sich drei tüchtige Männer offiziell beworben unter den von den bürgerlichen Kollegien aufgestellten Bedingungen. Ein Amtmann beim hiesigen Oberamt, ein Landrichter aus Stuttgart und ein Amtmann bei der Regierung, ein Hiesiger.

Ein weiterer Bewerber war da, der aber von vornherein erklärte, er unterwerfe sich den gestellten Bedingungen nicht, werde sich überhaupt der [87] Wählerschaft nicht vorstellen und kein Programm entwickeln.

Dieser schneidige vierte war kein Geringerer als der mittlerweile zum Staatsanwalt avancierte Kegelmaier. Als Staatsanwalt war er ganz seinem schneidigen, rücksichts- und herzlosen Naturell entsprechend beschäftigt und hatte sich durch einige schneidig durchgeführte Anklagen einen Namen bei allen gemacht, die glaubten, Schneidigkeit sei die Grundbedingung für einen tüchtigen Stadtvorstand.

Für Kegelmaier hatte sich auch schon ein Wahlkomitee gebildet, bestehend aus einigen Mitgliedern des Veteranenvereins, dessen Mitglied er selbst war und einigen rapiaden sonstigen Bürgern. Der Hauptwahlmacher dieses Komitees war ein gewisser Augenwasserfabrikant, der seine ohnedies schon heisere Stimme vollends ganz heiser schrie.

Zum Vorsitzenden der hiesigen Partei hatte dieses Komitee, unter Führung des Heiseren, auch eine Abordnung gesendet und um Wahlhilfe nachgesucht, wurde aber kurz mit der Bemerkung abgewiesen, daß Kegelmaier viel zu wenig objektiv sei, sich überhaupt zu allem anderen eher eigne, als zum Stadtvorstand und von unserer Seite energisch bekämpft werde.

Nachdem die drei erstgenannten Bewerber ihre Programmreden gehalten, entschieden wir uns für den Regierungsamtmann.

Die sogenannte „gute Gesellschaft“, unter Führung der Deutschen Partei, hob den Landrichter auf den Schild und der hiesige Amtmann wurde der Kandidat der Volkspartei und Weingärtner. Dieser Herr hatte eine [88] Weingärtnerstochter zur Frau, daher die Anhänglichkeit des Standes.

Jede Gruppe warb eifrigst für ihren Kandidaten. Das Komitee für Kegelmaier, an der Spitze der Heisere, machte einen Höllenspektakel. Der Wahltag war auf einen Montag angesetzt. Die Woche vorher erschien jeden Tag ein Flugblatt dieses Komitees, manchmal auch sogar zwei. Sämtliche hiesigen Zeitungen waren mit Aufrufen und Anpreisungen Kegelmaiers vollgepfropft. Heute erfuhr die Wählerschaft, daß Kegelmaier die Kandidatur abgelehnt habe, und morgen, daß er sie wieder angenommen. Diese Komödie wiederholte sich nicht weniger denn fünfmal.

Es war der reinste Fastnachtsrummel, der von diesem Komitee und von Kegelmaier selbst aufgeführt wurde. Kein ruhig Denkender nahm die Kandidatur Kegelmaiers mehr ernst. Ruhig Denkende gab es aber bis zum Wahltag nicht mehr viel, wie der Wahlausfall zeigte.

Kein Mensch wagte sich an den gestrengen Staatsanwalt heran. Nur von unserer Seite wurde eine gründliche Abrechnung, sowohl mit ihm, als mit seinem Komitee gehalten.

In einer großen Versammlung im Theatersaal, am Samstag vor der Wahl, die auch von Anhängern Kegelmaiers stark besucht war, wurde die Hauptabrechnung vorgenommen. Es wurde der Wählerschaft gezeigt, welche Narrenpossen Kegelmaier und sein Komitee bisher in diesem Wahlkampf aufgeführt hatten. Kegelmaier selbst wurde im richtigen Lichte geschildert, es wurde nachgewiesen, daß er sich zum Stadtvorstand absolut nicht eigne.

[89] Trotz der Anwesenheit zahlreicher redegewandter Anhänger von ihm hatte keiner den Mut für ihn einzutreten, ihn zu verteidigen.

Am Sonntag, am Tag vor der Wahl, wurde die Wählerschaft mittelst Flugblatt in Kenntnis gesetzt, daß Kegelmaier sich ihr am Abend im Harmoniegarten[ws 36] vorstellen werde. Hier erfuhr man in letzter Stunde von ihm, daß er seine Kandidatur aufrecht erhalte. Man erfuhr, daß auf dem Rathause ausgeputzt werden müsse, man erfuhr von ihm, daß er kein Programm nötig habe. Wer ihn kenne, werde wissen, daß wenn er gewählt werde, er seine Pflicht tun werde. Mit schmetternder Stimme haranguierte er die zahlreich erschienenen Wähler von der Gartenterrasse aus eine gute halbe Stunde lang.

Als wir nach ihm das Wort verlangten, wurde es einfach verweigert, ja der Wortmelder wurde von Kegelmaiers begeisterten Anhängern beinahe geprügelt.

Andern Tags, am Wahltag selbst, jagte noch ein Kegelmaier’sches Flugblatt das andere. Wenn ich nicht irre waren es fünf Stück. Die Wahlaufregung war bis zur Gluthitze gesteigert. Ich habe viele Wahlkämpfe mitgemacht, einen solchen nicht mehr.

Das Wahlresultat ergab für Kegelmaier 2040 Stimmen. Die übrigen drei Bewerber erhielten zusammen noch nicht 1000 Stimmen. Der Landrichter erhielt 423, der von uns unterstützte Amtmann 359 und der Volksparteiler 139 Stimmen. Wir hatten bei dieser Wahl, gegenüber dem Jahre vorher, über 300 Gemeindewählerstimmen verloren.

[90] Die Kegelmaierianer feierten ihren Sieg durch einen solennen Fackelzug und er bedankte sich grinsend für die Wahl und für diese Ehre.

Nun begann für die nächsten zwanzig Jahre die Kegelmaierei in unserer Stadt, deren Folgen wir heute noch nicht ganz überwunden haben. Vielleicht beschäftige ich mich später speziell mit dieser Bescherung.

Im selben Jahr war nochmals unser guter Stern in Tätigkeit. In Stuttgart wurde wieder der Hauptexpedient des „Sozialdemokrat“, der Genosse B., infolge von Denunziation des immer noch nicht entlarvten Spitzels, den wir in unseren Reihen hatten, verhaftet.

Man hegte dorten die Befürchtung, es könnte wie 1881 das Deckadressenverzeichnis in die Hände der Hermandad fallen und setzte die süddeutschen Genossen hievon in Kenntnis mit den Worten: „Alles wegräumen, nicht echt.“

Der Brief nach hier mit den inhaltschweren Worten war richtig adressiert, auch bezüglich der Straße und Hausnummer, aber es gab zwei Personen hier mit dem gleichen Vor- und Zunamen. Der Briefträger, der allem Anschein nach wenig auf Straße und Hausnummer geachtet, brachte den Brief an die falsche Adresse, an einen alten Spießbürger, der den Brief auch öffnete.

Leider hatte der Spießer soviel Grütze, daß er sofort wußte, um was es sich handelte und den Brief dem Polizeiwachtmeister Kaiser zuschickte.

Um sich nach vollbrachter Tat durch einen Vesperschoppen zu stärken, begab er sich ins Wirtshaus. Hier erzählte er brühwarm das soeben Erlebte in Gegenwart unseres Genossen Sch., [91] dessen leider längst verstorbener Schwager zufällig der richtige Adressat war, was aber unser Spießer nicht wußte.

So gelangte, Dank unserem guten Stern, auch diese Gefahr rechtzeitig zu unserer Kenntnis und bis die Herren wieder angerückt kamen, war alles weggeräumt, alles futsch. Sie mußten wieder mit leeren Händen abziehen.

Einen Reinfall hätte diese Haussuchung abgeben können deshalb, weil dieser Genosse unsere Registratur besaß, die auf das gegebene Alarmzeichen in den Kinderwagen gepackt und mit dem Kind solange spazieren geführt wurde, bis die Haussuchung vorüber war.

Im Jahr 1885 hatten wir wieder Gemeinderatswahl, an der wir uns selbstverständlich beteiligten.

Kegelmaier hatte sich in der kurzen Zeit, wie nicht anders zu erwarten war und wie wir seinen Wählern schon vor seiner Wahl prophezeit hatten, so gut eingeführt, daß ein großer Teil dieser Wähler nun mit uns stimmten und unser Kandidat mit nahezu 900 Stimmen zu ihm aufs Rathaus entsandt wurde, als erster Sozialdemokrat in einer württembergischen Gemeindevertretung.

Manchen harten Strauß gab es in den nächsten Jahren mit dem kleinen Bismarck auszufechten, der, wenn auch kleiner, so doch mindestens so gewalttätig und womöglich noch skrupelloser war wie der Große.

Im Anfang hatte unser Vertreter keinen leichten Standpunkt, da auch seine lieben Kollegen Burgois und Spießbürger ihn als unliebsamen Eindringling betrachteten und demgemäß zu behandeln suchten. [92] Er hatte den Kampf zunächst mit der ganzen liebenswürdigen Gesellschaft zu führen.

Kegelmaier versuchte es anfangs mit der ihm angeborenen Schneidigkeit und Grobheit. Doch unser Vertreter, der auf dem Standpunkt stand, „auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil“, diente ihm in gleicher Weise, blieb ihm überhaupt nichts schuldig und brachte es in Bälde soweit, daß er von allen seinen Kollegen noch am anständigsten behandelt wurde.

Doch damit soll keineswegs gesagt sein, daß er wirklich anständig behandelt wurde, das konnte nach seinem Naturell unser Ortsvorstand einfach nicht und die Folge davon war, daß er in kurzer Zeit sein ganzes Kollegium gegen sich hatte, was ihn zu dem geflügelten Ausspruch brachte: „Das Protzentum hat sich mit der Kannaille verbündet.“

Diesen Ausspruch hat er allerdings privatim getan, denn sonst wäre ihm unverhohlen gesagt worden, wer eigentlich die Kannaille sei. Doch zurück zur allgemeinen Parteitätigkeit.

Unter weiterer emsiger Arbeit für unsere gute Sache rückten die Angstwahlen von 1887 heran.

Der bis Ende 1887 gewählte Reichstag wurde schon im Januar von dem eisernen Kanzler aufgelöst, angeblich, weil er die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres nur auf drei und nicht auf sieben Jahre, wie die Regierung verlangte, bewilligt hatte; in Wirklichkeit aber, weil die Regierung neue Militärforderungen im Auge hatte, wodurch dem deutschen Volke weitere Millionen neuer Steuern jährlich aufgebürdet wurden.

[93] Hierzu schien der Regierung dieser Reichstag nicht bewilligungslustig genug und lediglich deshalb die Auflösung.

Was bei dieser Wahl seitens der Konservativen und Deutschparteiler, unter Assistenz der Regierung, an Wahlschwindel geleistet wurde, überstieg alles bisher dagewesene.

Wer das Kriegsgeheul der konservativen und nationalliberalen Presse, das von der offiziösen Presse unterstützt wurde, gehört, wer die massenhaft verbreiteten Tröl’schen Karten, auf denen mit roten Klecksen die Uebermacht der Franzosen an der deutschen Grenze verzeichnet stand, gesehen, wer die Bilderbogen gesehen, auf denen deutsche Frauen von französischen Truppen mißhandelt, dem Bauer die letzte Kuh aus dem Stall geholt wurde, der kann sich einen Begriff von dem Schwindel machen, durch welchen der deutsche Wähler in Angst und Schrecken versetzt und die Niederlage der Oppositionsparteien herbeigeführt wurde.

Das Schandgesetz wurde gegen uns noch schärfer gehandhabt wie früher. Von Versammlungen war gar keine Rede, ja selbst unsere Wahlflugblätter und Stimmzettel wurden gegen Recht und Gesetz konfisziert, so daß viele Wähler nicht einmal unseren Stimmzettel erhalten konnten.

Diese Wahl endete mit einem Verlust für uns von 500 Stimmen. Unser Kandidat Fleischmann, ein aus Frankfurt a. M. Ausgewiesener, erhielt 621 Stimmen, während 1884 bei der Reichstagswahl 1119 Stimmen auf unseren Kandidaten fielen.

Aber nicht nur wir hatten einen Stimmenrückgang, sondern die Volkspartei, die bisher das [94] Mandat hatte, in noch viel höherem Maße, und der dritte Wahlkreis ging an die Konservativen, die von der Deutschen Partei unterstützt wurden verloren, dank der Zwitterstellung und lendenlahmen Agitation der Volksparteiler.

Mit dem Ausfall der Angstwahlen von 1887 konnte der eiserne Kanzler ebenso zufrieden sein, wie mit dem Ausfall der Wahlen von 1878. Die Opposition im Reichstag verlor 64 Mandate. Die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag war von 25 Vertretern auf 11 herabgesunken, trotzdem die Partei im Reiche 225.000 Stimmen mehr erhielt als 1884. Konservative und Nationalliberale verbanden sich und bildeten so eine feste Regierungsmehrheit. Das Zentrum, das bisher in der Opposition stand, gab auf Weisung des Papstes, an den sich der geniale Kanzler gewandt hatte, klein bei und so hatte Bismarck eine politische Situation, wie er sie sich nicht besser wünschen konnte, ähnlich wie 1878.

Sofort zeigte sich auch, daß der angegebene Auflösungsgrund nur ein Vorwand war, daß die Regierung, der Kanzler, viel weitergehende Forderungen hatten als die Bewilligung der Friedenspräsenzstärke auf die Dauer von sieben Jahren.

Eine neue Militärorganisation wurde vom Reichskanzler dem Reichstag vorgelegt, wodurch unter anderem die Dienstpflicht um drei Jahre verlängert, sowie die Kosten für das stehende Heer bedeutend vermehrt wurden. Mit Hurra stimmte der sogenannte Kartell-Reichstag dem und noch mehr zu.

Als Entschädigung für diese weiteren Lasten wurde den deutschen Wählern das [95] Reichstagswahlrecht beschnipfelt, indem man die Legislaturperiode des Reichstags, d. h. die Zeit auf welche der Reichstag jeweils früher gewählt wurde, um zwei Jahre verlängerte.

Zähneknirschend sahen wir diesem Treiben zu, uns am meisten über die Dummheit des deutschen Michels, des deutschen Wählers ärgernd, die uns wieder einen solchen Reichstag bescherte.

Da galt es noch viel Aufklärung zu schaffen, um den Unverstand der Massen zu beseitigen und uns waren durch das miserable Sozialistengesetz die Hände gebunden. Aber trotz alledem ging es wieder rüstig an die Arbeit. Das Knebelgesetz wurde in den nächsten Jahren etwas laxer gehandhabt, wodurch uns möglich wurde, da und dort eine öffentliche Versammlung mit einem unverfänglichen Thema abzuhalten. Unsere Haupttätigkeit blieb jedoch nach wie vor auf die mündliche Agitation und die Flugblattverbreitung beschränkt.

Unser Isak, der die Angstwahlen von 1887 noch in unseren Reihen mit altem Eifer mitmachte, lief im nächsten Jahre in den Hafen der Ehe ein. Von diesem Zeitpunkt an vollzog sich eine Wandlung bei ihm, die uns immer mehr und mehr entfremdete und zuletzt seinen Austritt aus der Partei herbeiführte. Er hatte sich in kurzer Zeit vom revolutionären Sozialdemokraten zum zahmsten Reformer umgemausert. Heute schwärmt er, wenn ich nicht irre, für Naumann. Unglaublich! aber wahr. Wenn dieser Verlust für uns auch schmerzlich war, unersetzlich war er nicht. Andere Streiter und Kämpfer traten an seine Stelle und die Bewegung ging rapid vorwärts, wie die Landtagswahl von 1889 bewies.

[96] Auch hier mußten wir uns wieder auf die Beteiligung in der Stadt beschränken, teils in Rücksicht auf das Schandgesetz, teils wegen Kandidaten- und Geldmangels.

In der Stadt hatten wir in der Person unseres Gemeinderats einen Kandidaten gefunden, der es auf 1014 Stimmen brachte, ein Erfolg, der uns selbst nicht am wenigsten überraschte, bedeutete er doch eine Zunahme unserer Stimmen seit der letzten Reichstagswahl um mehr denn 700, ein gutes Vorzeichen für die nächste Reichstagswahl, bei der wir wieder unseren Gemeinderat als Kandidaten aufstellten.

Bei dieser Wahl wurde uns zum erstenmal seit Bestehen des Sozialistengesetzes die Abhaltung von Wählerversammlungen gestattet, d. h. sie wurden uns nicht im Voraus verboten, dagegen wurden uns die meisten unter den nichtigsten Vorwänden aufgelöst.

Wie es bei dieser Wahl zuging, davon einige Beispiele. In Löchgau bei Besigheim war auf Sonntag nachmittag Wählerversammlung anberaumt. Unser Kandidat, in Begleitung einiger Parteigenossen, mußte der Kosten wegen den eine kleine Stunde dauernden Weg zu Fuß zurücklegen. Ehe wir auf unserem Weg die letzten Häuser Besigheims erreichten, erschien aus einer Seitengasse die heilige Hermandad in Gestalt von drei Landjägern und setzte sich uneingeladen und ohne ein Wort zu sagen an unsere Spitze, um mit uns nach Löchgau zu marschieren.

Dort angekommen erwartete uns eine weitere Ueberraschung. Bei den ersten Häusern schwenkte noch eine Kolonne, bestehend aus zwei Landjägern [97] und dem Polizeidiener, seitlich zu uns ab und bildete den Schluß unseres Zuges. In dieser Formation marschierten wir durchs Dorf nach dem Versammlungslokal. Uns konnte auf diese Weise und unter diesem Schutz absolut nichts passieren und es gaudierte uns höchlichst, vier Sozialdemokraten unter dem Schutz von sechs Gesetzeswächtern.

In der Versammlung angekommen, die überaus stark besucht war, eröffnete uns ein dort schon anwesender weiterer Gesetzeswächter in Zivil, daß die Versammlung auf Grund des Sozialistengesetzes verboten sei und wir demgemäß keinerlei Reden halten dürften.

Wir bedankten uns zunächst für die uns widerfahrene Ehre, ohne zu unterlassen darauf hinzuweisen, daß es uns schier etwas zu viel dünkte und bemerkten, daß wenn uns das Redenhalten verboten sei, uns kein Mensch und kein Gesetz verbieten könne, uns mit den Anwesenden sonst gemütlich zu unterhalten.

Das geschah denn auch in ausgiebigstem Maße im Erzählerton seitens unseres Kandidaten und die ganze Versammlung lauschte seinen Worten, nicht zum wenigsten unsere sechs Beschützer. Der in Zivil Anwesende protestierte zwar wiederholt, jedoch vergeblich. Es wurde nicht früher Schluß gemacht, als bis alles uns nötig Scheinende gesagt war.

Das Resultat dieser nicht abgehaltenen Versammlung war, daß bei der Wahl unser Kandidat die meisten Stimmen erhielt.

In Bietigheim lag die Ueberwachung der Versammlung in den Händen des dortigen [98] Stadtschultheißen und dieser Ortsgewaltige löste unter stürmischem Protest der Versammelten auf, weil unser Kandidat die Verlängerung der Legislaturperiode von drei auf fünf Jahre eine reaktionäre Maßregel nannte. Hier mit dem gleichen Erfolg wie in Löchgau, dreiviertel der Wähler Bietigheims stimmte damals sozialdemokratisch.

In Frankenbach war der damalige Ortsgewaltige, der zugleich Landtagsabgeordneter für das Oberamt war,[ws 37] Ueberwacher der Versammlung. Diese Ordnungssäule glaubte ein Uebriges tun zu müssen. Er löste schon auf, ehe unser Kandidat zum Wort kam, bei ein paar kurzen Worten, die der Eröffner und Leiter der Versammlung sprach. Auch hier stürmischer Protest der Anwesenden, die auf unsere Aufforderung, in einem anderen Lokal ein Stündchen beisammen zu sein, uns wie ein Mann dahin folgten.

Der Ortspascha, der die Unvorsichtigkeit beging uneingeladen auch dorthin zu folgen, bekam manche bittere Pille zu schlucken. Es wurde ihm bedeutet, daß, da es sich um keine Versammlung hier handle, er genau soviel zu sagen habe wie jeder andere Gast.

Auf klobige Bemerkungen seinerseits wurde er gefragt, ob er sich diese Bildung im Landtag angeeignet habe. Diese Lektion scheint bei dem Gewaltigen gefruchtet zu haben, denn ich habe ihn in keiner späteren Versammlung mehr gesehen. Das Resultat auch dieser Auflösung war eine Verdoppelung unserer Stimmenzahl.

Es würde zu weit führen alle Auflösungen hier zu registrieren. Nur noch eine, die von [99] Böckingen, der heutigen sozialdemokratischen Hochburg des Wahlkreises, will ich erwähnen.

Der dortige Ortsgewaltige, der gleichfalls Ueberwachender war, verdankte seine Wahl zum Ortsvorsteher ausschließlich den Arbeitern, denen er ein ganzes Bündel von Versprechungen gegeben hatte.

Als unser Redner beim Kapitel indirekte Steuern verweilte, nachwies wie diese Steuern wirken, daß der kleine Mann, der Arbeiter, im Verhältnis zu seinem Einkommen am schwersten dadurch belastet, besteuert wird, löste dieses Genie die Versammlung auf.

Nun erhob sich ein Sturm in der überfüllten Versammlung, wie ich in Böckingen noch keinen erlebt habe. Rufe wie: „Schmeißt ihn naus!“ „Da habt ihr ihn!“ „So hält man die schönen Versprechungen vor der Wahl!“ und andere mehr wurden laut. Der Gewaltige war ganz klein geworden, geisterbleich stand er unter seinen lieben Mitbürgern und unser Redner konnte noch einen kräftigen Appell an die Anwesenden richten, am Wahltag mit dem sozialdemokratischen Stimmzettel auch gegen diese Auflösung zu protestieren, was denn auch allseitig befolgt wurde.

Ein frischer Zug ging bei den Wahlen 1890 durch das deutsche Volk. Die Wähler hatten einsehen gelernt, daß sie 1887 auf das schmählichste belogen und beschwindelt wurden. Sie hatten einsehen gelernt, daß die Sozialdemokratie mit ihrer Behauptung recht hatte, daß es sich bei der Auflösung des Reichstags 1887 lediglich um weitere Militärbewilligungen, um weitere Volksbelastungen handelte.

[100] Der Kartellreichstag hatte alle Prophezeiungen der Sozialdemokratie wahr gemacht.

Für einen großen Teil der Wähler lautete die damalige Wahlparole: „Rache dafür, daß man uns vor drei Jahren so belogen, so beschwindelt hat.“

Die Stimmung in der Wählerschaft konnte auch der Regierung nicht verborgen bleiben und man suchte zu retten, was zu retten war.

Am 4. Februar, am 20. war Wahltag, erschien ein kaiserlicher Erlaß, in welchem den deutschen Arbeitern eine gründliche Verbesserung ihrer Lage in Aussicht gestellt wurde. Von diesem Erlaß versprach man sich, wie Bismarck, der es wissen mußte, im Juli 1890 ausplauderte, bedeutende Erfolge bei den bevorstehenden Wahlen.

Man hatte indeß die Rechnung ohne unser berechtigtes Mißtrauen gemacht und dieser Erlaß hatte auf den Ausfall der Wahl keinerlei Einfluß.

Der 20. Februar 1890 war ein Siegestag der deutschen Sozialdemokratie und wurde zum Todestag des Schandgesetzes. 1.427.298 Stimmen wurden in Deutschland für die Sozialdemokratie abgegeben und die Zahl ihrer Vertreter im Reichstag stieg von 11 auf 35, hatte sich somit mehr als verdreifacht und das alles trotz Sozialistengesetz.

Mit Begeisterung und Jubel wurde dieser Wahlausfall von den klassenbewußten, kämpfenden Arbeitern aufgenommen. Es war eine Entschädigung für die nahezu zwölfjährige Drangsalierung durch das Schandgesetz, es war aber auch ein Beweis dafür, daß die Idee des Sozialismus mit Ausnahmegesetzen und Gewaltmaßregeln nicht auszurotten ist. Die Partei, die durch das Ausnahmegesetz vernichtet werden sollte, war unter diesem [101] Gesetz zur stärksten Partei Deutschlands geworden. Grund genug für uns zur Freude.

Neben der allgemeinen Freude hatten wir in unserm Wahlkreise insofern noch die besondere, daß sich unsere Stimmenzahl nahezu vervierfacht hatte, von 621 im Jahr 1887 auf 2415 gestiegen war und der Wahlkreis in der Stichwahl mit unserer Hilfe für die Opposition zurückerobert wurde. Der Volksparteiler wurde wieder gewählt.

Weiter brachte uns dieser Wahlkampf eine erkleckliche Anzahl direkter Anhänger, zahlende Parteigenossen, die wir angesichts der vermehrten Ausgaben für Agitation notwendig brauchen konnten.

Aber noch einen weiteren Erfolg zeitigte diese Reichstagswahl: den Sturz des „genialen eisernen“ Kanzlers Bismarck. Wenige Monate nach der Wahl hatte der Gewaltmensch aufgehört, in Deutschland die erste Geige zu spielen. Er war zum einfachen Privatmann degradiert.

Ihm folgte einige Monate später sein ureigentstes Machwerk, das Schandgesetz, das zwar unsägliches Elend, viele Not und Sorgen, durch Ausweisungen, auf Grund des Belagerungszustandes, über eine große Anzahl unserer Parteigenossen und deren Familien brachte, der Partei als solcher aber nicht nur nicht geschadet, sondern nur genützt hat.

Den Fall dieses Gesetzes, das für immer einen Schandfleck in der deutschen Geschichte bildet, feierten wir auch hier in gebührender Weise.

Nun hatten wir wieder Ellenbogenfreiheit, nachdem die Zwangsjacke gefallen und nützten dieselbe auch bestens aus. Ueberall wurden Volksversammlungen abgehalten und [102] Parteimitgliedschaften gegründet. Die durch das Ausnahmegesetz aufgelösten Gewerkschaften erstanden neu und wenn je das Dichterwort: „Das Alte fällt, es ändert sich die Zeit und neues Leben blüht aus den Ruinen“,[ws 38] eine berechtigte Anwendung fand, so im Jahr 1890 in Bezug auf die Partei- und Gewerkschaftsbewegung.

Leider waren in den letzten Jahren innerhalb der Partei starke Meinungsverschiedenheiten über die zu befolgende Taktik zu Tage getreten, die sich nach der letzten Reichstagswahl, besonders in den großen Städten des Reiches bedenklich zuspitzten.

Die erste Maifeier, die in dieses Jahr fiel, gab den Anlaß, diese Differenzen noch zu steigern. Ein Teil der Parteigenossen, besonders die Jüngeren, faßten den Beschluß des internationalen Kongresses bezüglich dieser Feier dahin auf, daß vollständige Arbeitsruhe, mit entsprechenden Massenumzügen, die allein richtige und würdige Feier des Tages sei. Sie erließen in dem in Berlin erscheinenden Parteiblatt, der „Volkstribüne“, einen diesbezüglichen Aufruf, ohne sich vorher mit der Reichstagsfraktion, der damaligen Parteileitung, zu verständigen.

Diese war anderer Meinung; von der Erwägung ausgehend, daß zunächst alles zu vermeiden sei was bei der Regierung, wie den bürgerlichen Parteien, als Vorwand benützt werden könnte, um das Sozialistengesetz zu verlängern. Da durch allgemeine Arbeitsruhe und verbotene Massenumzüge leicht aber ein solcher Vorwand geschaffen werden konnte, stand die Parteileitung damals auf dem heute leider noch eingenommenen Standpunkt: Arbeitsruhe und Umzüge, soweit beides ohne [103] Maßregelung, ohne Konflikt durchzuführen sei, sonst aber nur Abendfeiern.

Die Jungen, wie sie allgemein geheißen wurden, nicht mit Recht, da unter ihnen sich auch eine Anzahl älterer Genossen befanden, machten dem gegenüber geltend, daß in diesem Fall von einer Demonstration, von einem wirksamen Massenprotest am 1. Mai nicht mehr gesprochen werden könne, die ganze Maifeier vielmehr zu einer Veranstaltung mit hoher obrigkeitlicher Genehmigung herabgedrückt werde und dann für das kämpfende Proletariat wertlos sei.

Wer hatte nun in dieser Streitfrage recht? Offenbar beide Richtungen.

In dem hin- und herwogenden Streit wurde seitens der Jungen der Parteileitung und ihren Anhängern Rechnungsträgerei, Aufgeben des Klassenkampfstandpunkts, parlamentarische Versumpfung u. a. m. vorgeworfen und damit weit über das Ziel hinausgeschossen.

Die radikale Richtung trat in die Fußstapfen der abgetanen „Mosterei“ und wirtschaftete damit in kurzer Zeit vollständig ab.

Der Parteileitung war es ungemein erschwert, all die Angriffe, Anschuldigungen und teilweise auch böswilligen Verleumdungen zu entkräften und zurückzuweisen, weil das Ausnahmegesetz noch bestand, durch welches die Führer der Partei aus Berlin, dem Hauptort der Bewegung der Jungen, ausgewiesen waren, infolge dessen es keinem der Führer möglich war, in Berlin selbst in öffentlicher Versammlung den Angriffen und Anwürfen zu begegnen.

[104] Der erste Streitpunkt wurde indeß vorläufig im Sinne der Parteileitung geregelt. Die erste Maifeier wurde ohne allgemeine Arbeitsruhe, vorwiegend durch Abendfeiern begangen. Die übrigen Differenzpunkte fanden später in einer Riesenversammlung in Berlin, in der Genosse Bebel sprach, dadurch ihre Erledigung, daß sich die Versammelten, mit verschwindenden Ausnahmen, auf die Seite der Parteileitung stellten und das Gebaren der Opposition entschieden verurteilten.

Leider war hiemit der Parteistreit keineswegs beendet. Die ganz verbissenen Elemente wühlten, meistens aus persönlichen Gründen, lustig weiter und mußten auf dem im Oktober gleichen Jahres in Halle abgehaltenen Parteitage aus der Partei ausgeschlossen werden.

Wie von allem, was in der Partei vorging, mußten wir auch hier am Ort von diesen Streitigkeiten unser Teil abhaben. Auch wir hatten eine erkleckliche Portion von diesen sogenannten Jungen am Platze, manche Parteiversammlung hatte sich mit denselben zu beschäftigen, nicht zum Vorteil der Parteibewegung.

Jedoch, alles nimmt ein Ende, so auch dieser Parteistreit, der immerhin das Gute zeitigte, den zu gemäßigten Elementen in der Partei nicht die Führerrolle zu übertragen, die Partei vor Verflachung zu schützen.

Im Sommer 1890 wurde durch den Tod des Landtagsabgeordneten für das OA. Besigheim in diesem Wahlbezirk eine Nachwahl zum Landtag notwendig, an der wir uns gleichfalls beteiligten. Wir stellten wieder unseren Gemeinderat als Kandidaten auf, der es denn auch in diesem fast [105] ländlichen Bezirk auf über 400 Stimmen brachte, ein weiteres Zeichen, daß es vorwärts ging trotz alledem.

Der Parteitag in Halle, der erste, der in Deutschland während der Dauer des Ausnahmegesetzes wieder stattfand, wurde auch unsererseits zum erstenmal durch einen Delegierten beschickt.

Nach dem Fall des Ausnahmegesetzes begannen unsere Gegner den Kampf mit „geistigen Waffen“ gegen uns. Dieser Kampf bestand aber in der Hauptsache darin, daß man uns die Versammlungslokale abzutreiben suchte. Schultheiß, Pfarrer und Lehrer waren bei dieser Tätigkeit ein Herz und eine Seele, während im allgemeinen die Eintracht dieses dreiblätterigen Kleeblatts darin bestand, daß die Herren Pfarrer und Schultheißen den Lehrer schuhriegelten, wo sie nur konnten, während sie selbst gegenseitig um die Oberherrschaft im Dorf kämpften und stritten.

Wo es diesen edlen Seelen infolge von Lokalabtreibung nicht gelang, uns von ihrer Domäne fernzuhalten, rückten gelegentlich alle drei in unserer Versammlung an, um den Kampf in anderer Weise zu führen.

Wir freuten uns immer beim Erscheinen dieser Kapazitäten im voraus, wußten wir doch aus Erfahrung, daß nun unsere Versammlung interessant würde. Gewöhnlich wurde der Lehrer vorgeschickt, er mußte Bresche schießen, dann folgte der Pfarrer und zuletzt der Herr Schultheiß. Alle drei hatten keinen blauen Dunst von Sozialismus, von den sozialdemokratischen Forderungen. Es war uns ein leichtes, ihre Ausführungen zu widerlegen.

Der Lehrer wurde dahin belehrt, daß die Sozialdemokratie ja hauptsächlich auch für ihn, [106] für seinen Stand eintrete, daß auch er und seine Kollegen unter der ungerechten indirekten Besteuerung schwer zu leiden haben, daß die Volksschullehrer überhaupt das Aschenbrödel unter der Lehrerschaft seien und daß wir für eine Besserstellung dieser Lehrerschaft, sowie eine Hebung der Volksschule, energisch eintreten. Wenn die Lehrer uns trotzdem bekämpfen, so könne man mit Recht sagen: „O Herr, vergib Ihnen, denn Sie wissen nicht was Sie tun.“

Dem Herrn Pfarrer wurde gewöhnlich sein Herr und Meister, Jesus Christus, um die Ohren geschlagen. Es wurde ihm nachgewiesen, daß derselbe auf Seiten der Armen, der Unterdrückten stand, während die heutige Kirche es umgekehrt mache, stets auf der Seite der jeweils herrschenden Klassen zu finden sei, wie die Kirchengeschichte zeige. Ja mehr noch, daß da wo die Kirche im Staat die Oberherrschaft habe, das arme Volk von ihr ebenso schlimm ausgebeutet und ausgesaugt würde, wie von den herrschenden Klassen und daß sie die Armen und Aermsten als Entschädigung dafür stets auf ein besseres Jenseits vertröste, während die jeweiligen Stellvertreter Christis es sich im Diesseits wohl sein ließen. Es wurde ihm gesagt, daß wenn Jesus Christus heute zu uns käme, er nirgends anders als auf der Seite der Sozialdemokratie zu finden wäre, die wirklich praktisches Christentum treibe und daß er in diesem Falle mit eisernem Besen die heutige christliche Kirche ausfegen würde.

Der Herr Schultheiß, der unter der Lebenslänglichkeit der Ortsvorsteher sich allgemein als Dorfpascha ausgewachsen hatte und infolge dessen [107] die unbeliebteste Persönlichkeit im Ort war, wurde zum allgemeinen Gaudium der Ortsbewohner in gleich unbarmherziger Weise vermöbelt. Es war eine Freude zu sehen, wie nach einer solchen Redeschlacht die Augen der Versammlungsteilnehmer glänzten und wir wurden immer um baldiges Wiederkommen ersucht. Zu unserem großen Leidwesen erschienen die einmal eingeschlachteten Kämpfer ein zweitesmal nicht mehr auf der Bildfläche.

In den Städten hatten wir eine andere Spezies Kämpfer mit geistigen Waffen gegen uns, Real- und Gymnasiallehrer, die meistens den Professortitel führten und sich infolge dessen für befähigt hielten, uns tot zu machen.

Die Aermsten, die meistens keine Ahnung vom wirklichen Leben hatten, dagegen über viel Buchweisheit verfügten, die sie in breitester Weise auskramten, waren die allerungeeignetsten Gegner und es war ein leichtes für uns, sie mit den nackten Tatsachen gleichfalls gründlichst abzuführen.

Zugegeben muß indes werden, daß dieser Kampf mit wenigen Ausnahmen anständig geführt wurde. Es waren wirklich geistige Waffen, mit denen man kämpfte.

Einer dieser Streiter in unserer Stadt war der ehemalige Reichstagskandidat der Deutschen Partei, der damalige Professor und wenn ich nicht irre jetzige Oberstudienrat E. in Stuttgart. Auch er wagte ein Tänzchen, ließ es aber infolge der Abfuhr, die er sich holte, bei dem einen Mal bewenden, nicht etwa deshalb, weil er unanständig behandelt worden wäre. Er selbst erklärte, daß er nach den Informationen der von ihm gelesenen Zeitungen nicht geglaubt hätte, daß in unseren [108] Versammlungen so ruhig und sachlich diskutiert würde, und daß es auch dem politischen Gegner möglich sei, seinen Standpunkt ungestört darzulegen.

Er mußte eben einsehen, daß gegen die Argumente der Sozialdemokratie auch mit geistigen Waffen nicht anzukämpfen war.

Daß die hiesige Geistlichkeit auch ihr Kontingent zu diesen Kämpfern stellte, war insofern selbstverständlich, als diese Herren glaubten und heute noch glauben, eines der heiligsten Güter der Menschheit, die Religion, sei durch unsere Agitation in Gefahr und deshalb sei es Pflicht, in die Arena zu steigen.

Den Anlaß bot ihnen ein von uns arangierter öffentlicher Vortrag im „Sonnensaal“ hier. Zu diesem Vortrag hatten wir den ehemaligen Rabbi von Buddenhausen[ws 39] gewonnen, der sein Predigtamt in der Synagoge an den Nagel gehängt, unser Genosse geworden war und dieses Amt in unseren Versammlungen, zum Nutzen der Allgemeinheit, weiter ausübte. Leider ist der einst so beredte Mund seit einer Reihe von Jahren gänzlich verstummt, unser guter Dicker sitzt aber immer noch rüstig in seinen vier Wänden in Stuttgart, mit Tinte und Feder für unsere große Sache weiter arbeitend.

Ihn also hatten wir gewonnen. Als Thema zu seinem Vortrag wählte er „Atheismus“, ein Thema, so recht geeignet, unsere Frommen auf die Beine zu bringen. Die Versammlung war auf einen Sonntag nachmittag anberaumt und wir hatten wie immer freie Diskussion zugesichert.

Bald erfuhren wir auch, daß unsere Geistlichkeit erscheinen werde, um in der Diskussion das Wort [109] zu ergreifen und wir freuten uns im Voraus auf diesen weiteren Kampf mit geistigen Waffen.

Da unser Referent, der schon so manchen Strauß siegreich ausgefochten hatte und den wir bei seinem Eintreffen von dem Stand der Sache in Kenntnis setzten, rundweg erklärte: „Ich halte meinen Vortrag, auf ein Stiergefecht aber lasse ich mich nicht ein“, nahmen wir diesen Kampf selbst auf. So geschah es auch. Der etwa anderthalbstündige Vortrag wurde gehalten und unser Genosse St. dampfte wieder Stuttgart zu.

Schon während des Vortrags hatte sich ein Hauptkampfhahn der hiesigen ev. Geistlichkeit, der damalige Stadtpfarrer Dr. W.,[ws 40] zum Wort gemeldet, das ihm auch nach Schluß des Vortrags bereitwilligst erteilt wurde. Seine Ausführungen, die etwa eine Stunde in Anspruch nahmen, gipfelten, wie nicht anders zu erwarten, in einer Verherrlichung des Christentums, der christlichen Lehre, als Allheilmittel für alle Schäden der Seele und des Leibes.

Wir dagegen führten in der Replik aus, daß dieses Christentum in seinem nahezu zweitausendjährigen Bestehen nicht im Stande war, seine Fundamentalsätze praktisch durchzuführen. Wir wiesen mit Hilfe der Geschichte nach, daß es auch garnicht in der Absicht der Kirche und deren berufenen Vertretern, der Geistlichen lag, dies zu tun, daß vielmehr die Kirche schon lange zum Handlanger der jeweils herrschenden Klasse herabgesunken sei und daß, entgegen dem Wunsch und Willen des Stifters dieser Religion das Gegenteil geschehe, was er wollte. Jesus Christus, der über das was er wollte, keinen Zweifel ließ, [110] indem er dem Reichen, der sich mit der Frage an ihn wandte: „Herr, was soll ich tun, um in das Himmelreich zu kommen“, zur Antwort gab: „Verkaufe alles was du hast und gib’s den Armen und komm’ und folge mir nach.“

Für die Armen wollte er im Diesseits sorgen, das geht aus obigen Worten klar hervor. Seine Nachfolger aber vertrösten diese Armen auf ein besseres Jenseits nach dem Tode und lassen sie im Diesseits verhungern. Wollte das Jesus Christus? Wie wird eine seiner Fundamentalforderungen in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft praktisch betätigt, die Forderung: „Liebet Euch untereinander“?

Da die Nüsse, auch für die guten Zähne des Dr. W., ziemlich hart zum knacken waren, die Zeit auch weit vorgeschritten war, wurde von unseren Gegnern vorgeschlagen, die Diskussion an einem der nächsten Sonntage fortzusetzen, womit wir uns einverstanden erklärten, unseren Gegnern auch die Anberaumung der Versammlung bereitwilligst überlassend.

Vierzehn Tage später, an einem prächtigen Sonntag nachmittag, war Fortsetzung im Saale der jetzigen Rosenau, dem damaligen Sauter’schen Gartensaal. Nicht nur der geräumige Saal war überfüllt, sondern eine fast gleichgroße Zahl Zuhörer war vor den geöffneten Fenstern postiert, um den Ausführungen zu lauschen. Die Herren Geistlichen waren ordentlich neidig ob der imposanten Zuhörerschaft, denn in ihren Kirchen sah es gewöhnlich viel leerer aus.

Zunächst legte Dr. W. los. Seine Antwort auf die von uns gestellten Fragen war, wie nicht [111] anders möglich, ziemlich mager, obgleich er vierzehn Tage Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten.

Seine Ausführungen bewegten sich im großen Ganzen in einer abermaligen Verherrlichung der christlichen Lehre, sie sei eine Lehre der Duldsamkeit und der Entsagung, der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit. Nicht nur von der Kanzel werde das „Liebet Euch untereinander“, die Nächstenliebe, die Sorge für die Armen, gepredigt, sondern all’ das werde auch im Privatleben von den Geistlichen fortwährend empfohlen und selbst praktisch geübt. Was zur Linderung der Not der Armen geschehen könne, geschehe jetzt und früher seitens der Kirche.

Wenn die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht so seien, wie wir es wünschen, so trage die Kirche hieran keine Schuld, da es nicht ihre Aufgabe sei, sich mit Politik zu befassen. Ein besseres Jenseits gebe es zweifellos. Wenn die Kirche ihre Anhänger auf dieses Jenseits verweise, so bilde dieser Hinweis immerhin einen Trost für das dornenvolle Erdenleben der Armen, die es immer gegeben habe und künftig auch geben werde.

Es war das alte Lied, das Heinrich Heine so treffend gekennzeichnet mit dem Verschen: „Das Eia popeia vom Himmel, womit man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel.“[ws 41]

Nach Dr. W. kam ein anderer Geistlicher an die Reihe, der in die gleiche Kerbe hieb und u. a. die christliche Nächstenliebe und Opferwilligkeit auch mit der mühevollen Heidenbekehrung zu beweisen suchte. Nebenbei schlug er noch ein Lamento darüber an, daß so viele heute der Kirche fern [112] blieben, dem Evangelium den Rücken gekehrt hätten und auf diese große Zahl habe die christliche Lehre jeden Einfluß verloren.

Nun kamen wir an die Reihe. Wir sagten den beiden Herren, daß Theorie und Praxis eben zwei ganz verschiedene Dinge seien. Mit den Hauptleitsätzen des Christentums seien wir voll einverstanden, wir verlangten nur, daß dieselben in die Praxis umgesetzt würden.

Zunächst die angezogene Duldsamkeit, wie sehe es hiemit tatsächlich aus? Es sei gar nicht nötig zu untersuchen, ob diese in der Theorie gepredigte Duldsamkeit anderen Religionen gegenüber auch praktisch geübt würde, beispielsweise der Jüdischen gegenüber. Es genüge schon, auf das Verhältnis der beiden christlichen Konfessionen zu einander hinzuweisen, um jedem Denkenden klar zu machen, daß von Duldsamkeit auch nicht die Spur vorhanden sei.

Entsagung! Diese Tugend der großen Masse des Volkes extra zu predigen, sei überflüssig. Die schlechte wirtschaftliche Lage zwinge, ungewollt, diese Tugend nur zu viel zu üben, während die Prediger derselben es verschmähen, sie praktisch bei sich anzuwenden, wie ihr behäbiges Aussehen beweise.

Wie es mit der Nächstenliebe in Wirklichkeit aussehe, könne man täglich beobachten. Die herrschenden Klassen lieben ihre Nächsten so sehr, daß sie ihnen nicht nur jeden Bissen, den die Armen zum Munde führen, verteuern, sondern ihnen womöglich nicht nur den einzigen Rock, sondern auch noch das Hemd ausziehen würden, um beides für sich zu verwenden.

[113] Das gleiche sei auch gegen die angezogene vielgerühmte Barmherzigkeit zu sagen. Bei der übergroßen Anzahl der Christen bestehe sie darin, um nur ein Beispiel anzuführen, daß diejenigen Abhängigen, die es wagen, gegen die heute herrschenden Zustände anzukämpfen, eine Aenderung, Besserung verlangen, unbarmherzig auf das Pflaster geworfen und samt ihren Familien dem langsamen Verhungern preisgegeben werden.

Der Satz „Liebet Euch untereinander“, wie werde der praktisch betätigt? Wenn man nur an die menschenmordenden Kriege denkt, die die allerchristlichsten Nationen miteinander führen, müsse man schon die Frage entschieden verneinen. Soll das vielleicht die christliche Duldsamkeit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe sein? Dann bedanken wir uns für die ganze Christlichkeit. Und, hat man je gehört, oder hört man je, daß die Prediger der Nächstenliebe, im Namen der Christlichkeit, vor Ausbruch oder während der Dauer eines solchen unheilvollen Krieges, gegen denselben von der Kanzel donnern, protestieren. Im Gegenteil, sie beten hüben und drüben zu dem lieben Gott, um den Sieg ihrer Waffen. Was soll nun der liebe Gott in einem solchen Fall tun, welchem von beiden Teilen soll er recht geben?

Aufgabe der Kirche sei es nicht, sich mit Politik zu befassen. Wir sind der Meinung, daß die Kirche schon lange zu einer politischen Einrichtung geworden, daß sie zu einem politischen Instrument der herrschenden Klassen herabgewürdigt wurde. Daß hohe und niedere Geistliche längst Politik treiben, daß dieselben, soweit sie ein Reichs- oder Landtagsmandat besitzen, immer auf der [114] Seite der Reichen, Besitzenden zu finden sind und sich um Nächstenliebe und Barmherzigkeit verdammt wenig kümmern.

Die Heidenbekehrung betreibe die christliche Kirche! „Weshalb in die Ferne schweifen, wo das Gute liegt so nah“. Die Herren mögen doch erst die christlich getauften Heiden bei uns bekehren, sie zu wirklichen Christen machen, selbst Christen werden, dann haben sie bei uns Arbeit in Hülle und Fülle. Daß die Kirchen so leer seien, sei nicht zu verwundern, wenn die Diener der Kirche auf dem bisherigen Wege weitermachen, werde es in Zukunft nicht besser, sondern schlimmer werden.

Nachdem wir noch einige Hauptpunkte unseres Programms erläutert, dargelegt, daß wir schon im Diesseits, wie der Nazarener, die Lage der Armen gründlich verbessern, die Armut, die keine Notwendigkeit sei, überhaupt beseitigen wollen, schloßen wir mit dem Hinweis, daß der Sozialismus, im engeren Sinn, nichts anderes als praktisches Christentum sei, die Kirche somit, falls es ihr ernst wäre mit ihrer Lehre, auf unsere Seite treten müßte.

Der stürmische Beifall bewies den Herren, daß die Redeschlacht keinen Sieg für sie, sondern für uns brachte. Eine große Anzahl neuer Anhänger hatten wir gewonnen, ein greifbares Resultat dieser Auseinandersetzungen, mit dem wir zufrieden sein konnten. Leider verschwanden auch diese Kämpfer von der Bildfläche und der Kampf mit geistigen Waffen in den Versammlungen hörte zu unserem großen Bedauern künftig nahezu ganz auf.

Noch eines Kämpfers gegen uns muß ich gedenken, eines findigen Staatsanwalts H. In der [115] Löwenbrauerei[ws 42] hier wurde ein organisierter Bierbrauer ohne Angabe von Gründen entlassen und wir mußten annehmen, daß die Entlassung lediglich auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Organisation erfolgte, somit nichts anderes als eine Maßregelung sei.

Um sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, wurde eine gewählte Kommission beauftragt, mit dem Bierbrauereibesitzer zu verhandeln. Dieser, ein richtiger Protz, der noch voll auf dem Herr im Hause Standpunkt stand, lehnte nicht nur jede Auskunft ab, sondern hörte die Kommission gar nicht an und behandelte sie in der protzigsten Weise. Die Folge davon war, daß in einer großen Versammlung der Boykott über das Löwenbier verhängt wurde.

Dies und ein harmloses Flugblättchen, in welchem der Einwohnerschaft der Grund zu dieser einschneidenden Maßregel mitgeteilt wurde, bildeten für den Findigen den Grund zur Erhebung einer Anklage wegen Erpressung. Die Verhandlung fand vor dem Schwurgericht statt und endete mit der Verurteilung von vier unserer Genossen. Zwei erhielten sechs, zwei drei Wochen Gefängnis; einer der Letzteren war unser derzeitiger Landtagsabgeordneter Sch.[ws 43]

Allgemein wurde über dieses Urteil der Kopf geschüttelt. Man sagte sich, nicht mit Unrecht, mit diesen Gründen kann man bei jedem Boykott, bei jedem Streik, ja bei jeder Aussperrung, eine Verurteilung herbeiführen.

Umgebracht hat uns dieser Kampf aber auch nicht. Von all’ den Kämpfern waren nur noch die Preßmenschen, die Preßmamelucken von der [116] Sorte unseres Scherenschnell übriggeblieben. Der Kampf „mit geistigen Waffen“ beschränkte sich lediglich noch auf die Presse.

Auf diesem Gebiete waren uns unsere Gegner insofern überlegen, als sie in allen Städten und Städtchen Zeitungen besaßen, während wir bei unseren geringen Mitteln uns damit begnügen mußten, für große Landstriche ein einziges Blatt zu haben. Es war uns deshalb nicht möglich, auf diesem Gebiete den Kampf erfolgreich zu führen, weshalb wir unseren Gegnern manches schenken mußten.

Wenn sie es in der Presse jedoch gar zu toll trieben, rechneten wir in öffentlicher Volksversammlung mit ihnen ab, was gewöhnlich zur Folge hatte, daß sie, wenn auch nur für kurze Zeit, etwas anständiger wurden. Die Katze läßt eben das Mausen so wenig, wie ein Scherenschnell und seinesgleichen das Verleumden, Verdrehen und Begeifern des politischen Gegners, besonders der Sozialdemokratie.

Dieser Kampf mit geistigen Waffen brachte uns nur Vorteil, wie unsere Erfolge bei den späteren Wahlen deutlich zeigten.

Die nächste Reichstagswahl fand 1893 statt. Der 1890 auf 5 Jahre gewählte Reichstag wurde schon nach 3 Jahren von der Regierung aufgelöst, weil er eine abermalige Erhöhung der Militär- und Marineforderungen ablehnte. Moloch Militarismus war nicht satt zu bekommen und sein Riesenhunger, der seit Bestehen des Reiches schon Milliarden verschlungen und immer noch nicht gestillt war, immer noch mehr verlangte, war selbst dieser Reichstagsmehrheit unheimlich geworden [117] und deshalb die Ablehnung der Regierungsforderung.

Nun wandte sich die Regierung durch die Reichstagsauflösung an das deutsche Volk. Es sollte durch Neuwahlen über diese Streitfrage entscheiden und es entschied nicht zu Gunsten der Regierung, indem es die Opposition nahezu in gleicher Stärke wieder in den Reichstag entsandte.

Die Stimmenzahl unserer Partei im Reich hatte um stark 300.000 zugenommen. Die Zahl unserer Mandate war von 35 auf 44, also um 9 gestiegen.

Aber auch in unserem Wahlkreis hatten wir einen schönen Fortschritt zu verzeichnen, unsere Stimmenzahl verdoppelte sich in diesen drei Jahren. Sie stieg von 2415 auf 4950, die Stadt brachte uns bei dieser Wahl allein 1547, gewiß ein schönes Resultat und ein Beweis dafür, daß wir nicht umsonst in den letzten Jahren gearbeitet hatten.

Dieser Erfolg war um so höher anzuschlagen, als wir noch nicht in der Hälfte der zu unserem Wahlkreis gehörenden Orte Wählerversammlungen abgehalten hatten, aus Redner- und ganz besonders aus Geldmangel. Aber auch insofern war der Erfolg von Bedeutung, als wir in den Wählerversammlungen sowohl, wie in unseren Wahlflugblättern, mit aller Schärfe betonten, daß wir diesem System des Militarismus keinen Mann und keinen Groschen bewilligen. Sieger in unserem Wahlkreis wurde wieder der Volksparteiler, jedoch nur in der Stichwahl und lediglich mit unserer Hilfe.

Den Wahlen 1893 folgten die allgemeinen Landtagswahlen 1895.

[118] Im Herbst 1894 war der damalige Vorsitzende des Landesvorstands im Auftrag desselben hier, um unseren Gemeinderat zu ersuchen, nicht nur die Kandidatur für die Stadt wieder zu übernehmen, sondern auch diejenige für das Oberamt Neckarsulm. Beides wurde, obgleich durch Annahme letzterer Kandidatur ein bedeutendes Stück Arbeit in Aussicht stand, zugesagt und damit schien die Kandidatenfrage für diese Bezirke erledigt.

Leider bestanden hier wieder Differenzen, d. h. sie hatten seit der sogenannten Jungenbewegung nicht aufgehört, zu bestehen. Ein kleiner Rest dieser Genossen war einfach unheilbar, neigte mehr zum Anarchismus, als zur Sozialdemokratie und benutzte jede Gelegenheit zum frondieren gegen die führenden Parteigenossen.

Eine solche Gelegenheit mußte die 1894 stattfindende Gewerbegerichtswahl abgeben. Die Partei hatte aus taktischen Gründen fast einstimmig beschlossen, eine sogenannte kombinierte Liste aufzustellen, d. h. die Namen von ganzen zwei Personen, die weder der Partei noch den Gewerkschaften angehörten, aus nächster Umgebung mit auf die Liste zu nehmen, wogegen diese „Radikalen“ in der Parteiversammlung Protest erhoben, jedoch ohne Erfolg.

Statt sich nun als Demokraten der überwiegenden Majorität zu fügen, beriefen sie in letzter Stunde vor der Wahl eine Versammlung ein, in der sie eine sogenannte reine Liste aufstellten, um am Wahltag mit dieser Liste die Partei aufs Gehässigste zu bekämpfen.

Erfolg hatten sie allerdings nur insofern, als der Krach wieder saß, stärker denn je, sonst aber die Liste der Partei glatt durchging.

[119] Eine daraufhin einberufene Parteiversammlung, die sich mit dieser Angelegenheit beschäftigte, schloß den Hauptmacher, den Buchbinder R., der noch verschiedenes auf dem Kerbholz hatte, aus der Partei aus, gegen ein paar Stimmen seiner Anhänger.

Hiemit hielt man diese leidige Angelegenheit für erledigt. Es sollte indeß anders kommen und das ging so zu: Vier Genossen erklärten sich mit R. solidarisch und erhoben gemeinsam mit ihm Protest beim Landesvorstand gegen den Ausschluß. Während den Landesvorstand die Angelegenheit beschäftigte, machten die fünf in den Gewerkschaften gegen die Parteigenossen, besonders die führenden am Platze, Stimmung. Man unterschob ihnen, sie seien Gegner der Gewerkschaften, weshalb sie dieselben nicht unterstützten, sich in deren Versammlungen nicht sehen ließen.

In Wirklichkeit lag die Sache so: Die wenigen führenden Genossen waren nicht nur gewerkschaftlich organisiert, sondern auch die Gründer der meisten der damals bestehenden Organisationen. Die vermehrte politische Arbeit aber nahm ihre freie Zeit voll in Anspruch, machte es ihnen unmöglich, so wie früher sich der gewerkschaftlichen Organisation zu widmen.

Aus diesem Umstand konstruierten die Frondeure, denen jedes Mittel recht war, die Gegnerschaft zu den Gewerkschaften. Der Hauptgrund aber, warum diese Hetze inszeniert wurde, war die Gründung einer zweiten politischen Organisation am Platze, hiezu hatte man Mitglieder nötig und die holte man auf diese Weise aus den Gewerkschaften.

Diese Schöpfung diente lediglich als Pressionsmittel gegen den Landesvorstand. Routine hatten [120] die Macher, das muß man ihnen lassen, mehr denn unser damaliger Landesvorstand, denn er fiel auf ihren Leim herein, annullierte den Ausschluß R., von dessen Aufrechterhaltung unser Kandidat, wie dem Landesvorstand bekannt war, die Beibehaltung der ihm übertragenen Kandidatur abhängig machte.

So endete mit Hilfe des Landesvorstands dieser damalige Streit zunächst mit einem Sieg der „Radikalen“, in weiterer Folge aber mit einer Niederlage der Partei von hier bei der Landtagswahl. Während unser früherer Kandidat es bei der Landtagswahl 1889 auf 1014 Stimmen brachte, erhielt der an seiner Stelle aufgestellte Stuttgarter Genosse 1895 nur 594 Stimmen.

Die Parteigenossen waren angesichts dieser Sachlage einfach außer Rand und Band und sie hatten auch allen Grund dazu, deshalb, weil in der Stadt bei dieser Wahl mit einem Sieg unseres alten Kandidaten zu rechnen war.

Kegelmaier, der sich immer mißliebiger zu machen verstanden hatte, es aber nicht einsah, streckte seine Hand nach dem Landtagsmandat aus. Der bisherige Inhaber des Mandats, der Volksparteiler H., war gestorben und die Volkspartei stand auf der Wahl, ob sie überhaupt, angesichts der drohenden Kandidatur Kegelmaiers, einen Kandidaten aufstellen solle; an geeigneten Männern fehlte es ihr ohnedies und in der Stadt hörte man nur eine Stimme „gegen Kegelmaier“.

Was Wunder, daß sich die Parteigenossen in den schönsten Hoffnungen wiegten und sich schon im Voraus auf diesen Wahlkampf freuten. Und all die Freude, all die schönen Hoffnungen wurden [121] ihnen genommen, zerstört durch den eigenen Landesvorstand. Wenn es noch ein Gegner gewesen wäre, der ein solches Unheil angerichtet, es wäre leichter zu verschmerzen gewesen.

In letzter Stunde stellte die Volkspartei in der Person des politisch vollständig unbekannten B.[ws 44] einen Kandidaten auf und das Wahlresultat war, die politische Null B. kam mit Kegelmaier in die Stichwahl und wurde in dieser zum Abgeordneten gewählt. B. mag sich dafür, daß dies so wurde, falls er es nicht schon getan hat, nachträglich bei unserem damaligen Landesvorstand bedanken.

So geht es eben im Leben, „kleine Ursachen große Wirkungen“. Eine kleine Gewerbegerichtswahl und ein superkluger Landesvorstand verhinderte vor 15 Jahren die Eroberung eines Landtagsmandats, um das wir heute noch kämpfen.

Wie diese Affäre endete, höre ich die geneigten Leser fragen. Nun die beiden Organisationen verschmolzen sich in Bälde wieder, die jüngere, die überhaupt nicht lebensfähig war, ging gegen den Willen Rs. und einiger Anderer in der älteren auf. R. und Genossen bildeten eine Anarchistengruppe und wurden so ihr eigener Herr. R. selbst bereiste kurze Zeit darauf mit einem Gleichgesinnten unser engeres Vaterland, machte in Anarchismus und schimpfte dabei in allen Tonarten auf die Sozialdemokratie.

Da es aber in der Anarchistengruppe einige wirkliche Anarchisten gab, tat es auch hier nicht lange gut, man verprügelte sich in Bälde, nicht mit Worten, sondern mit Fäusten und als die Sache vor den Kadi kam, denunzierte R. dem Richter seinen Genossen als Anarchisten.

[122] So wuchs sich dieser ehemalige Schützling unseres Landesvorstands immer mehr zum Prachtexemplar aus. Schwamm darüber.

Unser Parteisenior zog sich in Folge dieser Vorgänge längere Zeit von der Parteitätigkeit zurück, wurde passiv und nahm die frühere Tätigkeit erst nach wiederholtem Ersuchen der Parteigenossen wieder auf.

Auf die Landtagswahlen von 1895 folgten 1898 die Reichstagswahlen. Schon das Jahr vorher hatten wir dazu benützt, um in einer Reihe von Orten unseres Wahlkreises, in denen wir noch keine Versammlungen abgehalten hatten, das Versäumte nachzuholen.

In allen Versammlungen trat unser Gemeinderat, der auf dringenden Wunsch der Genossen wieder die Reichstagskandidatur angenommen hatte, als Redner auf, um so nach und nach bei sämtlichen Wählern unseres Wahlkreises persönlich bekannt zu werden. Dadurch hatten wir bei Beginn des Wahlkampfes tatsächlich schon ein schönes Stück Wahlarbeit im Voraus geleistet.

Im Wahlkampf selbst richteten wir unser Hauptaugenmerk darauf, in die Stichwahl zu kommen.

In Betracht kamen als ernstliche Kandidaten zunächst der volksparteiliche, dann kein Geringerer als unser Kegelmaier, der, nachdem ihm die Pforten des Halbmondsaales verschlossen blieben, sich selbst als Reichstagskandidaten aufstellte, gegen den Willen der Deutschen Partei, wie man aus deren Leiborgan, der „Neckarzeitung“ erfuhr. Vergeblich waren alle Bemühungen dieser Partei, Kegelmaier zum Niederlegen der Kandidatur zu bewegen, ja selbst Drohungen fruchteten nicht bei ihm.

[123] Kegelmaier hatte sich zum Kandidaten gemacht und blieb es auch. Da ihm vorerst die Unterstützung der Deutschen Partei fehlte, wandte er sich der im Werden begriffenen Bauernbundsbewegung zu, wurde als Vorstand der ersten württembergischen Industrie- und Handelsstadt Bauernbundskandidat.

Mit aller Energie traten wir in diesen Wahlkampf ein und unsere Mühe fand den schönsten Lohn. Das Resultat der Hauptwahl war: Stichwahl zwischen uns und dem Bauernbündler. Der Volksparteiler war auf der Strecke geblieben. Unsere Stimmenzahl betrug 6009, diejenige der Volkspartei 5083. Wir hatten also die Partei, die bisher das Mandat im Besitz hatte, um nahezu 1000 Stimmen überholt, ja in der Stadt hatten wir mit 1973 Stimmen die relative Mehrheit.

In der Stichwahl war schwerlich Aussicht auf Erfolg für uns.

Das Zentrum gab mit rund 3000 Stimmen den Ausschlag und Kegelmaier hatte die von der schwarzen Gesellschaft aufgestellten Bedingungen für Stichwahlhilfe anstandslos unterzeichnet.

Auch die Deutsche Partei, die bei der Hauptwahl sich ziemlich passiv verhielt, wurde von Kegelmaier in den Stichwahlkampf gepeitscht dadurch, daß er sie für die etwaige Wahl des Sozialdemokraten verantwortlich machte.

Die Volkspartei, die seit einer Reihe von Wahlen lediglich unserer Hilfe das Mandat zu verdanken hatte, brachte es mit Ach und Krach zu einem lendenlahmen Aufruf, in der Stichwahl für unseren Kandidaten zu stimmen, der auch [124] entsprechend seiner Lahmheit uns nicht einmal sämtliche volksparteilichen Stimmen der Hauptwahl zuführte. Nach oberflächlicher Berechnung stimmten 1500–2000 für Kegelmaier, die eine reaktionäre Masse war einig und fertig, wo es gegen den Sozialdemokraten ging.

Resultat: Kegelmaier mit einem Vorsprung von etwa 3000 Stimmen Sieger, unser Kandidat erhielt 9933 Stimmen.

Hatten wir auch nicht das Mandat erobert, so hatten wir doch einen bedeutenden Schritt in der Richtung gemacht. Der Volksparteiler war in unserem Wahlkreis ausgeschieden und wir gelobten uns, dafür zu sorgen, daß er es in Zukunft immer bliebe. Weiter sagten wir uns, es fällt kein Baum auf den ersten Streich und die Erringung von Mandaten ist nicht der einzige, der Hauptzweck unserer Wahlbeteiligung, sondern die Ausbreitung unserer Ideen und die Gewinnung neuer Anhänger für dieselben.

In diesem Sinn und in diesem Geist bewegten sich auch die Ausführungen, die in unserer Parteiversammlung in der „Rose“ gemacht wurden, nachdem das hiesige Wahlresultat endgültig feststand. Wir gelobten uns wie bisher, so auch künftig für unsere gute Sache weiter zu arbeiten, vielleicht falle uns bei der nächsten Wahl der Sieg doch zu. Darüber waren wir uns jedoch klar und der Ausfall der Stichwahl hatte es auch bewiesen, daß wir uns vorwiegend auf unsere eigene Kraft verlassen mußten. Eine große Reihe Aufnahmen in die Partei und die Gewerkschaften wurden gemacht, von Zeit zu Zeit ein neuer Wahlsieg unserer auswärtigen Genossen verkündet [125] und heller Jubel, helle Begeisterung herrschte in unseren Reihen.

Es war nicht die Stimmung einer unterlegenen, geschlagenen Partei, sondern frohe Siegeszuversicht beherrschte die Versammelten.

Während wir, nichts Schlimmes ahnend, uns wie schon geschildert, in unserer Parteiversammlung beschäftigten, hatte sich der Marktplatz mit einer Menschenmasse gefüllt und dumpfes Brausen drang bis in unser Versammlungslokal.[ws 45]

Wir beeilten uns nach der Sache zu sehen und fanden den Marktplatz Kopf an Kopf besetzt mit Personen jeden Standes. Es wurden Hochrufe auf Kegelmaier ausgebracht und unsere Anhänger antworteten mit Hochrufen auf unseren Kandidaten. Wie aus den Hochrufen zu entnehmen war, waren unsere Anhänger in der Mehrzahl. Es war kein Zweifel, die politischen Gegner waren aneinander geraten.

Nach sofort eingezogener Erkundigung erfuhren wir, daß unsere Schutzmannschaft, soweit sie im Wachtzimmer anwesend war, die Schuld trage an dieser Ansammlung, an diesem Hochrufen und der dadurch verursachten gereizten Stimmung. Nach Bekanntwerden des Wahlresultats hatten diese Ordnungshüter eine Anzahl auf dem Marktplatz befindliche junge Leute aufgefordert, Hochrufe auf Kegelmaier auszubringen und diese Elemente kamen der Aufforderung um so lieber nach, als sie dadurch einmal auf dem Marktplatz ungestört Hochschreien durften, so viel sie wollten.

Anfangs wurden diese Narrenpossen von unseren Anhängern, die nach der „Rose“ pilgerten, um das hiesige und womöglich auch auswärtige [126] Wahlresultate zu erfahren, nicht beachtet. Später Kommende, die in der überfüllten „Rose“ keinen Platz mehr fanden, blieben auf dem Marktplatz und beantworteten das nimmer zur Ruhe zu bringende Kegelmaiergeschrei mit Hochrufen auf unseren Kandidaten.

Die Ursache des Wahlkrawalls waren berufene Ordnungshüter. Als wir von der Sache Kenntnis erhielten, war die Erregung schon eine hochgradige. Da und dort waren die Gegner schon handgreiflich geworden und es war höchste Zeit, daß die Riesenmenge beruhigt und zum Auseinandergehen veranlaßt wurde.

Dies versuchte unser Kandidat von der Freitreppe des Rathauses aus und es gelang ihm auch. Auf der Hälfte der Treppe war der Stationskommandant mit einer Anzahl Landjäger postiert, der unseren Kandidaten dringend ersuchte, doch die Menge zu beruhigen, sie hätten alle scharf geladen und Befehl, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen.

Es gelang unserem Kandidaten sofort, sich Gehör zu verschaffen und er richtete einen energischen Appell an die Anwesenden, im Interesse unserer guten Sache und deren Ruf, den Platz zu verlassen. Besonders wandte er sich aber an unsere Anhänger mit der Bitte, dies zu tun. „Nicht mit dem Rüstzeug der Barbaren“, sondern mit Geisteswaffen kämpfen wir, in spätestens fünf Jahren treffen wir uns wieder, um mit diesen Waffen den endgültigen Wahlsieg zu erringen. Wer es wirklich ernst und ehrlich mit unserer guten Sache meine, möge es dadurch beweisen, daß er sofort den Platz verlasse.

[127] Der Appell hatte Erfolg, wie wir uns selbst überzeugten. Eine halbe Stunde später war der Marktplatz fast vollständig leer und wir begaben uns beruhigt nach Hause und ins Bett, da wir an nichts Schlimmes mehr dachten.

Da, kurz vor dem Einschlafen, es mochte seit unserer Heimkehr eine gute halbe Stunde verstrichen sein, drang es wie fernes Brausen an unser Ohr. Zuerst glaubten wir an eine Täuschung, aber es wiederholte sich in kurzen Zwischenräumen, es war kein Zweifel mehr möglich, es war nochmals was los. Gleich darauf wurde die Klingel an unserer Glastüre beinahe abgerissen und als geöffnet wurde stand unser Genosse Sch., der Rosenwirt, mit blutendem Kopf und der inzwischen verstorbene Genosse S. vor der Tür und berichteten: „Ganz Heilbronn ist in Aufruhr!“ Komme und suche die Leute zu beruhigen. „Wie ist das möglich?“ fragte ich, „der Marktplatz war doch soweit leer, als ich nach Haus ging.“

Der Kegelmaier ist mit seinen Anhängern von der „Harmonie“,[ws 46] wo sie Siegesfeier hielten, auf den Marktplatz marschiert und dieser hatte sich in kurzer Zeit wieder gefüllt. In bekannt schneidiger Weise, ohne daß sich das Mindeste ereignet hätte, forderte er die Anwesenden zum Verlassen des Platzes auf und als dem nicht sofort Folge geleistet wurde, die Aufforderung wurde von vielen gar nicht gehört, ließ er durch die alarmierte Weckerlinie die Hydrantenschläuche auf die Menge richten, die gar nicht wußte, wie ihr geschah.

Das machte natürlich die Getroffenen wild und unglückseliger Weise lag in dem Sackgäßchen bei der „Rose“, durch eine Straßenumpflasterung [128] angefallenes Steinmaterial aufgehäuft. Die Menge, die vor den Hydrantenstrahlen in das Gäßchen flüchtete, benützte diese Steine und bombardierte in ihrer Wut die Spritzer sowohl, wie die Kegelmaieranhänger und den „Ratskeller“. Genosse Sch., der das Steinwerfen verhindern wollte, erhielt mehrere Steinwürfe an den Kopf.

Dies in Kürze die Vorgänge während meiner Abwesenheit.

Eilig begaben wir uns wieder auf den in der Nähe liegenden Marktplatz. Unheimlich klang das Toben und Brüllen der erregten und erbitterten Menge von der Ferne. Unser Kandidat stürmte sofort die Rathaustreppe hinauf und richtete abermals einen Appell an die Anwesenden. Dann gings wieder herunter auf den Marktplatz, wo der anwesende Oberamtmann, der die Aufruhrakte verlesen hatte, ersucht wurde, dafür zu sorgen, daß das Spritzen sofort eingestellt werde, was denn auch auf seinen Befehl hin geschah.

Nun ging es hinein in die überfüllte „Rose“. Das Billard wurde kurzer Hand als Rednertribüne benützt und in flammenden Worten den Anwesenden nahe gelegt, daß ihr weiteres Verbleiben nur Unglück über sie und ihre Familien bringen werde, das Militär sei bereits im Anmarsch und sie möchten nicht Gelegenheit dazu bieten, daß die Flinte schieße und der Säbel haue. „Wer berechtigten Anspruch auf den Ehrennamen Sozialdemokrat mache, verlasse sofort durch die hintere Tür die „Rose“ und begebe sich, ohne den Marktplatz nochmals zu berühren, ungesäumt nach Hause“, so schloß unser Redner.

[129] In wenigen Minuten war die „Rose“ vollständig leer. Nun gings wieder hinaus auf den Marktplatz, der sich mittlerweile bedeutend gelichtet hatte. Das Spritzen war eingestellt, aber einzelne größere Trupps waren immer noch vorhanden, an die wir uns nun wandten, um sie durch gütliches und vernünftiges Zureden zum Verlassen des Platzes und zum Nachhausegehen zu bewegen.

Während dieser Arbeit, die auch fast durchweg von Erfolg war, hörten wir dann und wann von entfernteren Trupps wiederholte Hochrufe, die uns schnell, wie der Satan, zu der betreffenden Stelle brachten. Und wen fanden wir da? Eine Anzahl Bourgeoissöhnchen, die goldene Jugend von Heilbronn, waren diese Schreier. Ihre Absicht war klar, sie wollten den Skandal so lange weiter führen, bis das Militär erschien, wo sie dann verduftet wären, ihre Haut gerettet hätten, während unsere Anhänger die Zielscheibe für das Kleinkalibrige abgeben sollten. Wir kamen ihnen nicht schlecht auf den Kopf, sagte ihnen ihre Absicht geradezu ins Gesicht, dabei ihre Schuftigkeit und Gewissenlosigkeit kräftig betonend, was sie veranlaßte, schleunigst zu verduften.

Als bald darauf das Militär anrückte, gab es für dasselbe tatsächlich nichts mehr zu tun. Die Schußwaffe konnte nicht in Anwendung gebracht werden und die Vaterlandsverteidiger hätten ruhig in die Kaserne zurückkehren können. Da sie aber ausmarschiert waren, wurden sie unnützerweise zum patrouillieren durch die Straßen verwendet, wo sie ohnedies auf dem Heimweg begriffene Bürger mit Bajonett und Gewehrkolben zur Beschleunigung ihrer Schritte zwangen, eine [130] unnötige Maßregel, die in der Stadt allgemeine Erbitterung hervorrief.

Eine große Anzahl von Verhaftungen, zwischen 30 und 40, waren vorgenommen worden, aber nicht ein einziges Partei- oder Gewerkschaftsmitglied war unter denselben. Neugierige waren es meistens, die sehen wollten was los ist und die teilweise kaum den Marktplatz betreten hatten, als sie auch schon von der Polizei ergriffen und aufs Wachtzimmer geschleppt wurden.

So endete dieser Stichwahltag nicht nur mit einem Triumph, sondern auch mit einem Skandal Kegelmaiers. Nun, unsere gute Stadt war in den letzten Jahren derartige Skandale nachgerade gewöhnt geworden. Auch der Triumph Kegelmaiers war nichts anderes denn ein Skandal.

Wer war nun der Urheber dieser zweiten Ansammlung, dieses Skandals? Kein anderer als Kegelmaier und sein Anhang. Wären diese Herren mit ihren Champagnerräuschen in der „Harmonie“ geblieben, statt ostentativ auf den Marktplatz zu marschieren, so hätte Heilbronn noch heute auf diesen Skandal zu warten. Daß die Herren teils besoffen waren, geht aus der Tatsache hervor, daß sie sich auf dem Marktplatz selbst verprügelten, so der Schultheiß von Abstatt und der von Heilbronn. Oder hätte sich der Neugewählte früher ins Bett gelegt, um seinen Rausch auszuschlafen, statt die Feuerwehrleute zu alarmieren und zum Spritzen auf gaffende Leute zu mißbrauchen, dann wäre es keinem Menschen eingefallen, mit Steinen zu werfen. Der ganze Wahlkrawall wäre unterblieben.

[131] Kegelmaier und kein anderer war der Urheber dieses Krawalls. Man konnte sich ja leicht in seine gehobene Stimmung hineindenken. Dieser Wahlausfall brachte ihm nicht bloß ein Reichstagsmandat, die Bürgerkrone, sondern stellte auch seine sehr ramponierte Ehre wieder her, erlaubte ihm wieder das Tragen des Offiziersrockes, welches Recht ihm vor Jahren durch ehrengerichtlichen Spruch entzogen war. Seine gehobene Stimmung war daher erklärlich, nur hätte sie nicht dazu mißbraucht werden sollen, um andere Leute ins Unglück zu bringen.

Die nächste Folge dieser Vorgänge war, man sollte es nicht für möglich halten, die Schließung des Gewerkschaftshauses von Amts wegen. Man hatte Haussuchung gehalten nach Wurfgeschossen, natürlich resultatlos, bei der auch der Neugewählte, jetzt wieder Nüchterne, mitgewirkt und einen Christbaumhalter aus Stein, den die Steinhauervereinigung für sich gefertigt hatte und im Verkehrslokal aufbewahrte, auch als Wurfmaterial bezeichnet, das Rindvieh, hätte ich beinahe gesagt.

Aber nicht Dummheit war das Leitmotiv zu solchem Vorgehen, sondern Schlechtigkeit. Man log in die Welt hinaus, die Sache sei von uns abgekartet gewesen, die Steine seien schon am Tag vorher in den ersten Stock der „Rose“ geschafft und seien von hier aus gegen den „Ratskeller“ und das Rathaus geschleudert worden.

Der Erfinder dieser Schauermärchen war uns nur zu gut bekannt, ebenso wie der Zweck derselben, die Aufmerksamkeit von sich ab und auf andere zu lenken. Er machte es wie jener [132] Spitzbube, der, als er verfolgt wurde, aus vollem Halse schrie: „Haltet den Dieb“. Dies sagten wir ihm auch in einer Erklärung in den öffentlichen Blättern auf den Kopf zu.

Die Schließung der „Rose“ war vom Oberamt verfügt. Natürlich steckte auch er wieder dahinter, er hatte noch nicht genug Existenzen vernichtet. Ich begab mich noch am selben Tag mit der Frau unseres Genossen Sch., der infolge der Steinwürfe das Bett nicht verlassen konnte, aufs Oberamt, um die Maßregel rückgängig zu machen, jedoch vorerst ohne Erfolg. Einige Tage später gelang uns dies bei wiederholter Vorstellung.

Unsere nächste Aufgabe war, die Familien der Inhaftierten zu unterstützen, wenn auch deren Ernährer weder politisch noch gewerkschaftlich organisiert waren, so waren sie doch Arbeiter und deren Familien litten Not. Grund genug für uns zum Eingreifen. Wir erließen zunächst einen Aufruf an die Allgemeinheit, der auch Erfolg hatte. Es kam eine hübsche Summe zusammen, die uns in den Stand setzte, manche Träne zu trocknen, manch hungerndes Kind zu sättigen.

Eine Anzahl der Verhafteten mußten am nächsten und die folgenden Tage wieder entlassen werden, da ihnen absolut nichts Strafbares nachzuweisen war. Den Rest von 22, lauter Arbeiter, behielt man über vier Monate in Haft, fünf wurden in der Hauptverhandlung freigesprochen, da bei ihnen die Geschworenen die Schuldfragen verneinten. Die andern erhielten acht, sechs, vier und zwei Monate Gefängnis. Die übrigen bekamen vier bis sechs Wochen Gefängnis wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Alle hatten [133] durch die Untersuchungshaft die Strafe längst verbüßt, nur die mit sechs und acht Monaten mußten noch etwas nachsitzen.

In dieser Verhandlung bestätigten Angeklagte sowohl als die geladenen Zeugen, letztere unter ihrem Eid, den von mir vorstehend geschilderten Sachverhalt. Auch die fünf konnten nicht wegen Aufruhr und Landfriedensbruch verurteilt, sondern nur wegen Ruhestörung bestraft werden. Die ihnen zudiktierte Strafe war durch die Untersuchungshaft längst verbüßt. Allgemein wurde über die endlose Dauer der Voruntersuchung der Kopf geschüttelt und man konnte ebenso allgemein die Worte hören: „Wären die Inhaftierten nicht lauter arme Teufel, Arbeiter, so ginge die Angelegenheit rascher von statten.“ Aber wir haben ja keine Klassenjustiz, wer etwas derartiges behauptet, läuft Gefahr, selbst hinter Schloß und Riegel zu kommen.

Auch diese Vorgänge, von denen wir direkt ja wenig betroffen wurden, gaben mit den Anlaß, emsig weiterzuarbeiten.

In der Agitationsarbeit wurden wir durch eine ganze Reihe auswärtiger Genossen unterstützt. Ich nenne hier zunächst die in Stuttgart und Umgebung wohnenden. Es waren die Genossen Dulk, Blos,[ws 47] Behr,[ws 48] Tauscher,[ws 49] Kloß,[ws 50] Hildenbrand,[ws 51] Herrmann,[ws 52] Keil,[ws 53] Klara Zetkin[ws 54] und eine Reihe anderer, die bei Reichstagswahlen in unserem Wahlkreise tätig waren. Die Genossen Hasenklever und Dreesbach, sowie den Genossen Stern habe ich schon bei früherer Gelegenheit genannt. Auswärtige Redner waren die Genossen Max Kaiser,[ws 55] Ehrhardt,[ws 56] Ulrich,[ws 57] Schönlank,[ws 58] Wurm,[ws 59] [134] Ledebour[ws 60] und v. Vollmar,[ws 61] die alle in teilweise überfüllten Versammlungen das wahre Evangelium der Nächstenliebe predigten und unsere Bewegung am Platze dadurch bedeutend förderten.

Viele deckt bereits der kühle Rasen und es ist nicht mehr als billig, daß wir auch an dieser Stelle ihrer mit Liebe, Dankbarkeit und Verehrung gedenken.

Die Rede, die unser Genosse v. Vollmar bei seinem Hiersein in der alten Turnhalle hielt, unterschied sich insofern von seinen sonstigen Reden, als sie viel temperamentvoller war. Wir schrieben dies zunächst unserer guten Luft zu, allein das Rätsel löste sich nach der Versammlung in ganz anderer Weise.

Einige hiesige Genossen hatten ihn vor der Versammlung auf eine Herbstpartie auf der Cäcilienwiese verschleppt und der Rote mundete ihm so, daß er ihn nicht bloß versuchte, sondern kräftig trank. Nach der Versammlung gestand er uns lächelnd, daß er im Anfang seiner Ausführungen die Köpfe der Versammelten alle doppelt gesehen.

Nun, geschadet hat der Rote seinen Ausführungen nicht. Die Hiebe auf das Zentrum, mit dem er sich hauptsächlich zu beschäftigen hatte, sausten hageldicht hernieder und er vermöbelte es, gewürzt mit dem an ihm gewohnten Sarkasmus, unbarmherzig.

Ein wahrer Festtag aber war es für die Genossen hier und der Umgebung, als unser Führer, Genosse Bebel, gleichfalls in der alten Turnhalle, in überfüllter Versammlung sprach. Es war die dritte Anwesenheit Bebels in unseren [135] Mauern. Alle guten Dinge sind drei. Sein erstes Hiersein lag 20 Jahre zurück. Ende 1867 sprach er erstmals in einer Versammlung im „Sonnensaal“. Sein zweiter Besuch fiel in das Jahr 1882. Damals war er hier als Reisender. Er wollte die von ihm als Drechsler hergestellten Türgriffe an den Mann bringen. Von einer Versammlung konnte wegen des Schandgesetzes damals keine Rede sein.

Jetzt war er hier, um wieder zu sprechen. Als Thema hatte er „Die politische Lage“ gewählt. Ha, wie sausten da die Hiebe auf die bürgerlichen Parteien, atemlos lauschte die Kopf an Kopf gedrängte Masse den zweistündigen, mit so beredtem Mund vorgetragenen Ausführungen, dieselben am Schlusse mit Beifallssturm und nicht endenwollenden Hochrufen belohnend. Nach der Versammlung waren wir noch einige Stunden in unserem Parteilokal gemütlich beisammen.

Den nächsten Vormittag, es war ein Sonntag, benützten wir dazu, um unserem allverehrten Führer eine hiesige Spezialität, eine Besenwirtschaft zu zeigen. Um 11 Uhr dampfte er mit dem Schnellzug nach Berlin und schon anderntags erhob er seine gewichtige Stimme im Reichstag.

Es waren wirkliche Festtage.

Sapperlott, beinahe hätte ich vergessen eines unserer Genossen zu gedenken, unseres Bahnbrechers bei den hiesigen Landtagswahlen, unseres ersten Kandidaten bei diesen Wahlen: den roten Apotheker und Pillendreher, nebenbei Dichterling, Theodor Lutz. Auch er hat sein gut Teil Verdienst an unserem Vorwärtskommen. In seiner bekannten frisch-froh-fröhlich-freien Weise hat er in einer Reihe von [136] Versammlungen vom Leder gezogen und mit seiner unendlichen Liebenswürdigkeit die Zuhörer für uns gewonnen.

Die große Zahl der Genossen und Kollegen, die in den Gewerkschaftsversammlungen referierten, alle zu nennen, würde zu weit führen. Ich breche deshalb hier ab, um mich mit dem nächstliegenden, den Landtagswahlen von 1900 zu beschäftigen.

Bei diesen Wahlen trugen wir uns erstmals ernstlich mit dem Gedanken, das Mandat für das Amt Heilbronn für uns zu erobern. Für diesen Wahlkreis stellten wir unseren Genossen Sch. als Kandidaten auf, da wir in dem aussichtsreichen Wahlkreis eine Doppelkandidatur vermeiden mußten, unser Gemeinderat aber wieder für die Stadt kandidierte.

Energisch traten wir in diesen beiden Kreisen in den Wahlkampf und der Erfolg blieb auch, soweit das Amt in Frage kam, nicht aus.

In der Stadt erhielten wir 1401 Stimmen, immerhin ein bedeutender Fortschritt gegen 1895, wo unsere Stimmenzahl auf 594 zurückgegangen war. Dagegen reichte es uns nicht zur Stichwahl. Der volksparteiliche Kandidat B., der in den letzten sechs Jahren das Mandat im Besitz hatte und der in der Kammer in wichtigen Fragen mit unseren Genossen stimmte, deshalb für uns sehr wenige Angriffspunkte bot, hatte sich in der Stadt ziemlich festgesetzt und wurde auch wieder gewählt.

Im Landkreis jedoch brachten wir unseren Genossen Sch. in die Stichwahl mit dem Volksparteiler, dem bisherigen Besitzer des Mandats,[ws 62] in der Letzterer, indeß mit sehr geringer Mehrheit, wieder gewählt wurde. Soviel lehrte uns dieser [137] Wahlausfall, daß bei der nächsten Wahl dieser Wahlkreis von uns erobert würde.

Und diese Wahl kam rascher als wir uns dachten. Der Abgeordnete kränkelte schon 1900 und starb 1902, was eine Nachwahl nötig machte.

Wieder stellten wir den Genossen Sch. als Kandidaten auf, dessen hauptsächlichster Gegner kein Geringerer war, als der Reichstagsabgeordnete und Bauernbündler Kegelmaier, der absolut noch ein Landtagsmandat haben wollte, um seine Geschäfte als Stadtvorstand besser besorgen zu können. Böse Zungen behaupteten: Er wolle auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege einen Ministerposten erklettern.

Daß wir im Wahlkampf nicht sanft mit dem Streber umgesprungen sind, läßt sich denken. Trotzdem kam er mit unserem Genossen in die Stichwahl, was sich aus der Zusammensetzung des Wahlkreises erklären läßt. Nicht ganz die Hälfte der Wähler sind Bauern und da Kegelmaier Bauernbundskandidat war, stimmten sie für ihn. In der Stichwahl indeß eroberte unser Genosse das Mandat, das er heute noch besitzt und Kegelmaier mußte mit langem Gesicht abziehen. Wieder blieben ihm die Pforten des Halbmondsaales verschlossen.

Nochmals versuchte er es im OA. Weinsberg. Er war nicht zum abtreiben, jedoch mit dem gleichen Erfolg.

Diese kurz aufeinander folgenden Durchfälle scheinen seine Riesenkonstitution untergraben, gebrochen zu haben. Denn bei den 1903 stattgehabten Reichstagswahlen kandidierte er nicht [138] mehr, ob freiwillig oder gezwungen, lassen wir dahingestellt.

Als dann im Dezember 1903 die Gemeinderatswahl mit einem Sieg der Opposition endete, so daß künftig Volkspartei und Sozialdemokratie die Mehrheit im Gemeinderat hatten, wurde er vollends sterbenskrank und mußte einen sechsmonatlichen Erholungsurlaub antreten, der dann, wenn auch mit manchen Hindernissen, zu seiner Pensionierung führte.

So endete die Herrschaft eines Gewaltmenschen, den die Kurzsichtigkeit der Wähler auf einen Posten berufen, zu dem er sich, seiner ganzen Veranlagung nach, absolut nicht eignete, auf dem er aber nahezu 20 Jahre ein Gewalt- und Schreckensregiment führte, wodurch nicht nur Einzelne, die direkt davon Betroffenen, schwer geschädigt, teilweise sogar ruiniert, sondern auch das ganze Gemeinwesen in seiner Entwicklung gehemmt wurde.

Derselben Partei, die mit allen Mitteln seine Wahl auf diesen Posten zu verhindern suchte, der sozialdemokratischen, ist es zu verdanken, daß er denselben verließ.

Heute sitzt er in Stuttgart, verzehrt die 6000 Mk. jährliche Pension der Stadt Heilbronn und wird dick und fett dabei. Seine einzige Beschäftigung scheint in der Fortsetzung der auf der bekannten Badereise begonnenen Studien der weiblichen Schönheit zu bestehen. Man sieht ihn häufig in der Nähe des Bahnhofs, ganz versunken in diese Tätigkeit. Möge er, solange er lebt, niemals diese Studien beenden, er ist dann wenigstens beschäftigt und wird dadurch abgehalten, auf anderen Gebieten weiteres Unheil zu stiften. [139] Nun, mag er tun, was er nicht lassen kann, die Hauptsache ist, daß wir ihn los haben.

Nach dieser kleinen Abschweifung kehren wir wieder zu unserer Parteitätigkeit zurück.

Obgleich die Reichstagswahlen von 1898 uns einen Stimmenzuwachs von rund 400.000, sowie 9 weitere Mandate brachten, oder vielleicht gerade deshalb, das rapide Anwachsen unserer Stimmen und Mandate wirkte auf unsere Gegner und die Regierung beängstigend, versuchten sie und führten es auch durch, noch vor den Neuwahlen eine weitere Schröpfung der Steuerzahler durch einen neuen Zolltarif vorzunehmen. Eine Reihe von Handelsverträgen war zu erneuern. Dieser Umstand, sowie das Geschrei der Agrarier und Bauernbündler über eine angebliche Notlage der Landwirte und der Profithunger einer Anzahl Großindustrieller veranlaßte die Regierung zur Ausarbeitung des neuen Zolltarifs, wobei natürlich auch darauf Rücksicht genommen wurde, daß ein gehöriger Brocken bei diesem Geschäft in die Reichskasse kam, die fortwährend über Geldmangel zu klagen hatte.

Daß der Tarif, um allen diesen Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, zu genügen, inhaltlich so aussehen mußte, daß er mit Recht den Namen Hunger- und Wuchertarif verdiente, kann man sich lebhaft denken. Zu den Anhängern des neuen Tarifs zählten nicht nur die Konservativen und Nationalliberalen, sondern auch das Zentrum, das schon längst zur Regierungspartei emporgesunken war und seit einer Reihe von Jahren bei jedem Volksverrat, bei jeder Schröpfung [140] kräftig mitgewirkt hat. Gegner waren die Sozialdemokraten, Freisinnige und Volksparteiler.

Diese Parteien verlangten, daß bei den bevorstehenden Reichstagswahlen das Volk, die Wähler, über diesen Tarif entscheiden sollen. Letzteres fürchteten gerade die Tarifanhänger und nicht mit Unrecht. Es lag klar auf der Hand, daß die Wähler einem Kandidaten ihre Stimme nicht geben würden, der für eine bedeutende Erhöhung des Brot- und Fleischpreises, sowie des Preises einer ganzen Reihe anderer notwendiger Verbrauchsartikel, im Reichstag zu haben war.

Und das brachte der neue Zolltarif in erster Linie. Also unter keinen Umständen Entscheidung durch die Wahlen, sondern Entscheidung vor den Wahlen, lautete die Parole der Mehrheit. Um dieses Ziel noch vor Reichstagsschluß zu erreichen, scheuten sie vor keinem Mittel zurück, war ihnen jedes Mittel recht. Von einer sachlichen Beratung dieses Gesetzes war keine Rede mehr, der Opposition wurde nicht nur bei jedem diesbezüglichen Versuch das Wort abgeschnitten, sondern unter Rechtsbruch wurde die Geschäftsordnung des Reichstags geändert und als dadurch die Minderheit immer noch nicht niedergerungen war, folgte die Stellung und Annahme des berüchtigten Antrags Gröber,[ws 63] bekanntlich ein Bewohner unserer Stadt, der die Diktatur des Präsidenten bei Erteilung des Wortes zur Geschäftsordnung einführte und die Beschränkung der Redezeit hiebei auf fünf Minuten festsetzte.

Hierdurch war die Vergewaltigung der Minderheit erreicht, aber hiefür auch die Würde des Reichstags geopfert. Daß es gerade einer der schwarzen Brüder ist, der im Nebenamt hier eine [141] hohe Richterstelle einnimmt, der sich zu dieser Vergewaltigung hergab, ist sehr bezeichnend. Bezeichnend für die Intelligenz seiner Wähler ist aber auch, daß er trotzdem heute noch das Reichs- und ein Landtagsmandat besitzt.

Das Zentrum hat sich bei dieser Gelegenheit, wie in den letzten vorhergehenden Jahren, besonders geraucht. Es hat nicht nur diesem Tarif in allen Teilen zugestimmt, sondern auch die Vergewaltigung der Minderheit mit durchführen helfen. Dafür haben diese schwarzen Vögel, wie sie einst Hasenklever richtig nannte, den Wählern einen Wechsel auf die Zukunft ausgestellt, in Form einer Witwen- und Waisenversicherung, auf die der Schlußrefrain eines Couplets ganz gut paßt: „Da hört man gar nichts mehr.“[ws 64] Ernst war es dieser Heuchlergesellschaft ohnedies nicht mit diesem Antrag. Sie brauchte ihn nur, um ihre schofle Handlungsweise damit zu bemänteln.

So lagen die Dinge kurz vor den Reichstagswahlen 1903 und wir brannten förmlich darauf, bei diesen Wahlen die Quittung hiefür auszustellen.

Der Wahlkampf von 1903 rückte heran und mit Feuereifer gingen wir in diesen Kampf in unserem Wahlkreis. Von unserer Seite kandidierte wieder unser alter Kandidat, unser Gemeinderat.

Die Volkspartei hoffte mit ihrem Landtagsabgeordneten und Gemeinderat B. ihre alte Position wieder zu erobern; die Deutsche Partei hatte in der Person eines biederen Flaschnermeisters, gleichfalls Gemeinderat, ihren Kandidaten gefunden. Das Zentrum stellte als Zählkandidaten wie bisher den durch seinen im Reichstag 1902 gestellten Vergewaltigungsantrag berüchtigten Gröber auf. [142] Nun fehlt noch der Bauernbündler, da Kegelmaier bekanntlich abgesägt war. Dieser wurde gefunden in der Person des ehemaligen Pfarrers und jetzigen Führers des Bauernbundes, Dr. Wolf,[ws 65] mit dem großen Maul, wie er damals genannt wurde.

Unsererseits wurden diesmal im ganzen Wahlkreis Versammlungen abgehalten, wovon unser Kandidat in einer Reihenfolge allein über fünfzig abhielt. In allen Orten des Kreises, in denen er noch nicht war, stellte er sich den Wählern vor. Daß dabei die Brot- und Fleisch-, überhaupt die Allesverteuerer im richtigen Licht geschildert wurden, unbarmherzig Spießruten laufen mußten, läßt sich denken. In Orten, in denen wir kein Lokal erhielten, mieteten wir für einige Stunden ein Grundstück und hielten, wie die alten Deutschen, unsere Versammlung unter freiem Himmel ab.

Doch auch die übrigen Parteien waren emsig an der Arbeit, allen voran die Bauernbündler. Besonders deren Kandidat war ein gerissener Agitator, der mit allen demagogischen Kniffen die Wähler, vornehmlich die Bauern, haranguierte und belog, einfach „donterschlächtig“. Ob er sich diese Gerissenheit auf der von ihm verlassenen Kanzel angeeignet hat? Oder ob sie in seinem Blut liegt und er deshalb die Kanzel verlassen hat, wer weiß es?

Der Ausfall der Hauptwahl war, wie wir vorausgesehen und vorausgesagt hatten: Stichwahl zwischen uns und dem Bauernbündler. Unser Kandidat stand in der Stadt sowohl, wie im Wahlkreis, mit seiner Stimmenzahl an der Spitze. Im ganzen Wahlkreis hatte er 7816, der Bauernbündler 6476, Volkspartei 5566, Zentrum 3809 [143] und Deutsche Partei 2067 Stimmen. In der Stadt erhielten wir 2735, unser Stichwahlgegner nur 171 Stimmen.

In der Stichwahl siegte auch diesmal wieder der Bauernbündler. Er erhielt nicht nur sämtliche Stimmen des Zentrums und der Deutschen Partei, sondern auch etwa 1500 Stimmen der Volkspartei. Die reaktionäre Masse, bis auf einen Teil Volksparteiler, hatte sich wieder gegen uns zusammengefunden und einem der Ihrigen zum Sieg verholfen. Das Stimmenverhältnis war: Bauernbündler 14.043, wir 12.460 Stimmen.

War es uns auch diesmal wieder nicht gelungen, das Mandat zu erobern, so hatten wir doch unseren Hauptzweck, unsere Ideen weiter zu verbreiten, in vollem Maße erreicht, wie die steigende Zahl unserer Anhänger bei der Hauptwahl bewies. Es war sicher, daß mit der fortschreitenden Industrialisierung unseres Wahlkreises uns das Mandat unbedingt zufallen mußte.

Wenn es also hier für den Kreis auch keinen Wahlsieg zu feiern gab, so doch einen solchen für das große deutsche Reich. Das deutsche Volk, die deutschen Wähler, hatten 1903 die Quittung ausgestellt für den Wuchertarif. Sie schickten 81 Sozialdemokraten in den Reichstag und unsere Stimmenzahl bei der Hauptwahl 1903 hatte um nahezu 1.000.000 zugenommen gegenüber der Hauptwahl 1898. Damals 2.107.076, heute 3.010.472 Stimmen. Wir waren zur Dreimillionenpartei geworden, zur stärksten Partei im deutschen Reich.

Welch’ erhebender Gedanke. Diese Männer hatten sich durch ihre Stimmabgabe für unsere [144] Kandidaten, mit der Tätigkeit unserer Fraktion im Reichstag einverstanden erklärt. Sie hatten dadurch in nicht mißzuverstehender Weise dokumentiert, daß sie Anhänger der völkerbefreienden Sozialdemokratie seien. Ein solches Heer, in der kurzen Spanne Zeit gewissermaßen aus der Erde zu stampfen, dazu ist nur eine große Idee, wie die sozialdemokratische fähig und dieses Heer berechtigt zu dem Ausspruch: „Unser die Welt!“

1904 gab es wieder Arbeit für uns. Es galt, an Stelle unseres entthronten Ortsgewaltigen einen anderen zu wählen. Nur widerwillig und mit äußerster Vorsicht gingen wir an diese Wahl. Es ist und bleibt immer ein undankbares, riskantes Geschäft insofern, als man eben nicht in die Herzen der Menschen hineinsehen kann und nicht zum Voraus weiß, wie sie sich später entwickeln. Entwickelt sich ein mit unserer Hilfe Gewählter nicht zur allgemeinen Zufriedenheit, so hat man später nicht nur den Vorwurf, an seiner Wahl die Schuld zu tragen, sondern man macht sich auch die nötigen Selbstvorwürfe.

Da die Herren Bewerber aber eben auch Menschen sind, sehr wandlungsfähige Menschen sogar, ist es besser für unsere Partei, bei solchen Wahlen möglichst die Hand aus dem Spiel zu lassen. Bei dieser Wahl wurde, ich glaube auf Anregung der Deutschen Partei, der Versuch unternommen, die drei maßgebenden Parteien, Deutsche Partei, Volkspartei und Sozialdemokratie, zur gemeinsamen Aufstellung eines Kandidaten zu veranlassen.

Von obigen Erwägungen ausgehend, erklärten wir uns sofort zu Verhandlungen bereit mit dem [145] Bemerken, daß wir unsere Entscheidung erst dann treffen könnten, wenn die Bewerber sich vorgestellt, ihr Programm entwickelt hätten. Es fanden nun einige Vorbesprechungen zwischen gewählten Kommissionen der einzelnen Parteien statt, denen eine Hauptbesprechung nach Vorstellung der Bewerber folgte.

Bei dieser Besprechung zeigte es sich, daß wir und die Deutsche Partei uns verständigen, auf einen Bewerber einigen konnten, während die Volkspartei sich schon auf einen Bewerber festgelegt hatte, der aber uns Beiden nicht genehm war. So scheiterten diese Verhandlungen an der Volkspartei und wir gingen resultatlos auseinander.

Während die beiden anderen Parteien sich nun auf je einen der Bewerber festgelegt hatten, standen wir auf der Wahl, welchen der beiden noch übrigen Bewerber wir unterstützen sollen.

Im Ganzen waren vier Bewerber vorhanden: ein Stadtschultheißenamtssekretär von Stuttgart,[ws 66] ein Beamter im Finanzministerium, ein Landgerichtsrat von Ravensburg und ein solcher von hier.

Letzterer wurde von einem Bürgerkomitee unterstützt, das sich hauptsächlich aus bisherigen Anhängern der Volkspartei zusammensetzte. Die Deutsche Partei hob den Stadtschultheißenamtssekretär auf ihren Schild, die Volkspartei den Ravensburger Landgerichtsrat.

Wir, wie gesagt, standen auf der Wahl, ob wir den Finanzamtmann, der uns von allen Bewerbern am besten gefallen und für den auch die Deutsche Partei eventuell zu haben gewesen wäre, unterstützen wollten, oder den Kandidaten des Bürgerkomitees. Falls wir Letzteren unterstützten, [146] war dessen Wahl ziemlich sicher, aber er war für diesen Posten zu alt, wie sein Ravensburger Herr Kollege und so erklärten wir uns für den Finanzamtmann.

Der Wahlkampf verlief, abgesehen von einigem Radau, den das Bürgerkomitee der Kegelmaierwahl abgelauscht hatte, ruhig und sachlich. Stimmen erhielten: der Kandidat der Deutschen Partei 1459, unser Kandidat 1120, der Bürgerliche 772 und der Volksparteiliche 262. Ersterer war somit gewählt, trotzdem die überwiegende Mehrzahl der abstimmenden Wähler gegen ihn votiert hatte.

Dies hätte die Volkspartei verhindern können und dabei hätte sie ihrem eigenen Kandidaten eine schmerzliche Enttäuschung erspart. Der Mann hat uns damals wirklich leid getan und dabei wäre ihre eigene Schwäche nicht so offenkundig zu Tag getreten.

Angesichts der sogenannten bürgerlichen, parteilosen Kandidatur, unter der alle Parteien zu leiden hatten, haben wir noch am besten abgeschnitten. Die Disziplin unserer Wähler hatte sich wieder im glänzendsten Lichte gezeigt.

Ich bin nun am Schluß angelangt.

Veranlaßt zu dieser Arbeit hat mich zunächst die Absicht, bei den noch vorhandenen wenigen älteren Genossen Erinnerungen wachzurufen an frühere frisch-fröhliche, teilweise auch schwere Kampfeszeiten. Da ich lediglich aus dem Gedächtnis zitiere, ohne Tagebuch oder sonstige einst gemachte Notizen, mögen diese Genossen verzeihen, wenn ich mich bei Anführung von Vorkommnissen in der Jahreszahl geirrt haben sollte, was übrigens, wenn je, selten vorkommen [147] wird, da mein Gedächtnis immer noch ein sehr gutes ist.

Weiter mögen sie verzeihen, wenn ich ihnen Wichtigscheinendes weggelassen hätte. Nach meiner Ueberzeugung habe ich alles Wichtige und Wesentliche behandelt.

Wenn ich den Erzählerton wählte, die Schilderung in die Form der Erzählung kleidete, so deshalb, weil es in dieser Form möglich war, sie interessant, fesselnd und zugleich unterhaltend zu gestalten, wodurch die Leser weniger ermüdet werden, als durch ein einfaches, trockenes Aneinanderreihen der Vorgänge.

Auch aus Rücksicht auf das schöne Geschlecht wählte ich diese Form. Aus alter Erfahrung weiß ich, daß die schönere Hälfte der Menschheit gelehrte Abhandlungen nicht liebt, ungelehrte sogar verschmäht. Dagegen Erzählungen nicht nur liest, sondern schon mehr verschlingt und gerade auch diese Hälfte wollte ich zu Lesern haben. In Rücksicht auf sie und die jüngere Generation ist manches eingestreut, was nicht absolut zur Berichterstattung gehört. Wenn diese Absicht erreicht ist, wenn sich die gehegte Hoffnung erfüllt hat, dann bildet dies den schönsten Lohn mit für meine Mühe.

Die weitere Veranlassung war, der heutigen Generation ein anschauliches Bild zu geben von dem Werdegang der Arbeiterbewegung in unserem Wahlkreise. Ihr zu zeigen, wie diese Bewegung aus dem anfänglichen Nichts sich entwickelte, durch unablässige, emsige Arbeit, unter den teilweise schwierigsten und ungünstigsten Verhältnissen aber, in der verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit von 30 Jahren zur heutigen achtunggebietenden Höhe [148] gelangte. Ihr zu zeigen, daß die Begeisterung für unsere große Sache uns gewissermaßen spielend über die schwierigsten Situationen hinweghalf. Ihr zu zeigen, daß erst gesäet werden muß, bevor geerntet werden kann.

Die heutige Generation erntet einen Teil der Frucht, die in diesen 30 Jahren gesäet wurde. Diese Frucht besteht zunächst in den mächtigen gewerkschaftlichen Organisationen, die bewirken, daß der Einzelne nicht mehr der Willkür des profitwütigen, profithungrigen Unternehmertums schutzlos preisgegeben ist, daß die Länge der Arbeitszeit, die Höhe des Lohnes, nicht mehr von der Gnade des Unternehmertums, oder dessen schlechter Laune abhängig ist, sondern daß die Arbeiterorganisationen hier ein gewichtiges Wort mitreden.

Wenn die Arbeitszeit heute um zehn und mehr Stunden in der Woche gegen früher gekürzt wurde, wenn die Behandlung der Arbeiter gegen früher eine wesentlich bessere geworden ist, wenn trotzdem der Lohn nicht gefallen, sondern im allgemeinen gestiegen ist, so sind das alles Früchte der ausgestreuten Saat, Früchte der 30jährigen unablässigen Arbeit und Mühe.

Die Frucht besteht aber auch in der unüberwindlichen politischen Organisation, in der mächtigen sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Was verdankt unser arbeitendes Volk, unsere organisierten und unorganisierten Arbeiter, dieser einzigen, wirklichen Volkspartei?

Zunächst im Allgemeinen: Die nicht gering anzuschlagende politische Schulung weiter Volkskreise. Durch die unablässige Aufklärungsarbeit hat ein großer Teil des deutschen Volkes eine [149] politische Reife erlangt, die es den Regierungen sowie den herrschenden Klassen unmöglich macht, jetzt und künftig die Politik des Reiches einseitig und willkürlich nach ihrem Sonder-, nach ihrem Klasseninteresse zu gestalten, sondern hiebei auch Rücksicht auf das arbeitende Volk zu nehmen. Ein großer, nicht zu unterschätzender Erfolg. Von den sozialdemokratischen Vertretern im Reichstag wurden alle Gesetzesvorlagen in der Richtung geprüft: „Welchen Einfluß haben dieselben auf die Gestaltung der Lage des arbeitenden Volkes?“

Energisch und teilweise mit Erfolg wurden Verschlechterungen dieser Lage verhindert. Verbesserungen der Lage der niederen Beamten und Lehrer, der in den Staatsbetrieben beschäftigten Arbeiter, wurden beantragt und durchgesetzt.

Im Besonderen: „Wem verdankt die Arbeiterschaft die sozialpolitische Gesetzgebung?“ Das Haftpflicht-, das Unfallversicherungsgesetz, die Kranken-, Invaliditäts- und Altersversicherung, die Einführung der Gewerbegerichte u. a. sind auf die Initiative, die Veranlassung der Sozialdemokratie zurückzuführen, wie der Gewaltmensch Bismarck in einer Reichstagssitzung mit den Worten zugeben mußte: „Wenn wir die Sozialdemokratie nicht hätten, hätten wir auch das bischen Sozialpolitik nicht“.

Ein bischen ist es allerdings nur, diese Gesetzgebung bringt nicht das, was der Arbeiter mit Recht verlangen kann, hieran ist aber nicht die Sozialdemokratie schuld, sie hat Besseres beantragt, gefordert. Die Regierung und die herrschenden Klassen haben dies verhindert.

[150] Der erste Schritt auf diesem Wege ist indes gemacht und Aufgabe der heutigen Generation ist es, durch rastloses Arbeiten weiterzubauen, auszubauen. Aufgabe der jetzigen Generation ist es aber auch, an unsere Stelle zu treten.

Wir Alten werden mürbe, morsch und müde, das Banner entsinkt unseren Händen, nehmt Ihr es auf! An Euch liegt es, es zum endgültigen Sieg zu führen! Wir haben Bresche gelegt und eine breite Bresche, Millionen Anhänger zählen wir heute, Millionen, die mit Fug und Recht zu uns gehören, stehen uns noch fern, holt sie! Euch muß es ein leichtes sein, da ihr gleichfalls nach Millionen zählt. Eure heilige Pflicht ist es, sie zu holen und unser Vermächtnis kleiden wir in den wiederholten Ruf, holt sie! Befolgt ihr diesen Ruf, dann wird das rote Banner auf allen Zinnen wehen, die Menschheit wird befreit sein aus Not und Elend. Die neue Zeit, die goldene Zeit des allgemeinen Glückes, der wirklichen Brüderlichkeit, wird Euer Lohn sein. Auf diesen Weg gebe ich Euch zur Anfeuerung, zur Begeisterung, noch die Worte des Dichters mit:

Frei! wird der Mensch geboren,
Zum Knecht macht ihn die Not,
Wir wollen uns erringen
Die Freiheit und erzwingen,
Dem freien Mann sein Brot!

Hoch fliegt das rote Banner
Auf, schlafendes Geschlecht!
Schon fängt es an zu tagen,
Drum laßt uns kecklich wagen
Den Strauß, für unser Recht.

[151]

Wer hält in ihren Bahnen
Die goldnen Sterne auf?
Wer will die Stürme hemmen?
Wer wagt es, abzudämmen
Den Strömen ihren Lauf?

Der trete in die Schranken!
Der ist zum Kampf gefeit!
Dem mags vielleicht gelingen
Den Herrn der Herrn zu zwingen,
Den Geist der neuen Zeit, –

 Den Sozialismus.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gotthilf Hitzler (1882–1933), 1908–1917 Redakteur der neu gegründeten Heilbronner SPD-Tageszeitung Neckar-Echo, deren Druckerei, die Vereinsdruckerei, Kittlers Erinnerungen druckte
  2. Wilhelm Hasenclever (1837–1889)
  3. August Dreesbach (1844–1906)
  4. Abraham Gumbel (1852–1930)
  5. August Bebel (1840–1913)
  6. Kittler meint vermutlich Georg Härle, der allerdings erst 1878 für Heilbronn in den Reichstag gewählt wurde, wie beschrieben in der Stichwahl (am 16. August 1878) gegen den nationalliberalen Kandidaten Egelhaaf. 1877 gewann hingegen der nationalliberale Kandidat Gottlieb von Huber den Wahlkreis.
  7. Max Hödel (1857–1878)
  8. Karl Eduard Nobiling (1848–1878)
  9. Hermann Schell (1834–1904), Inhaber der Heilbronner Neckar-Zeitung
  10. Albert Dulk (1819–1884)
  11. Trau! schau! wem?
  12. Karl Christian Meurer (1815–1892)
  13. Vermutlich die Silberwarenfabrik Peter Bruckmann & Söhne
  14. Paul Hegelmaier (1847–1912)
  15. „§ 130 Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.“ Strafgesetzbuch, Fassung vom 20. März 1876
  16. „§ 131 Wer erdichtete oder entstellte Thatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.“ Strafgesetzbuch, Fassung vom 20. März 1876
  17. Hafen: Schwäbisch für Topf
  18. Philipp zu Eulenburg (1847–1921)
  19. Schwäbisch für Bett- oder Wolldecke
  20. Arthur von Posadowsky-Wehner (1845–1932)
  21. Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861)
  22. Georg Friedrich Kolb (1808–1884)
  23. Henry Thomas Buckle (1821–1862)
  24. Vorwärts
  25. Der Sozialdemokrat
  26. Adolf Sabor (1841–1907)
  27. Johann Most (1846–1906)
  28. Freiheit
  29. Landgericht Heilbronn, damals im Deutschhof untergebracht
  30. St. Peter und Paul
  31. Galgenberg
  32. Oberamtsgerichtsgebäude des Oberamts Weinsberg
  33. Burgruine Weibertreu
  34. Gustav Kittler selbst
  35. Theodor Lutz (1847–1913)
  36. Der heutige Stadtgarten am Konzert- und Kongresszentrum Harmonie
  37. Friedrich Reichert (1824–1907)
  38. Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, vierter Aufzug, zweite Szene
  39. Jakob Stern (1843–1911)
  40. Paul von Wurster (1860–1923)
  41. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen
  42. Eigentlich die Brauerei Neuffer
  43. Wilhelm Schäffler (1856–1910)
  44. Carl Betz (1852–1914)
  45. Das Gewerkschafts-Gasthaus Rose in der Rosengasse am Marktplatz, an dessen Stelle heute der Käthchenhof steht
  46. Das Gesellschaftshaus Harmonie von 1876
  47. Wilhelm Blos (1849–1927)
  48. Rudolf Behr
  49. Leonhard Tauscher (1840–1914)
  50. Karl Kloß (1847–1908)
  51. Karl Hildenbrand (1864–1935)
  52. Immanuel Herrmann (1870–1945)
  53. Wilhelm Keil (1870–1968)
  54. Clara Zetkin (1857–1933)
  55. Max Kaiser (1869–1935)
  56. Franz Josef Ehrhart (1853–1908)
  57. Carl Ulrich (1853–1933)
  58. Bruno Schönlank (1859–1901)
  59. Emanuel Wurm (1857–1920)
  60. Georg Ledebour (1850–1947)
  61. Georg von Vollmar (1850–1922)
  62. Robert Münzing (1844–1902)
  63. Adolf Gröber (1854–1919)
  64. Und dann wird’s still! von Otto Reutter (1870–1931)
  65. Theodor Wolff (1862–1927)
  66. Paul Göbel (1870–1921)