Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage/Die individuelle Ausprägung des göttlichen Ebenbildes in der Lehre von der individuellen Freiheit des einzelnen Christen und der Kirche
« Ausgestaltung und Durchbildung des göttlichen Ebenbildes in allen Lebensverhältnissen, sofern sie allen Christen gemein sind | Friedrich Bauer Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage |
Sittliche Ausgestaltung des göttlichen Ebenbildes im Kreuz und Leiden » | |||
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Es ist aber dem Christentum eigentümlich, und zwar ihm allein, der Individualität des Menschen ihr volles Recht angedeihen zu lassen, nicht zwar in verkehrter Weise, als ob die natürliche Individualität im Bereich der Ethik die Norm oder gar die alleinige Norm abgeben dürfte. Sie muß vielmehr unter die allgemeinen Normen des Christlich-Sittlichen gestellt und durch den Geist Gottes geläutert, gereinigt und geheiligt werden. Es gilt hier das Besondere im christlichen Leben mit dem Allgemeinen zu durchdringen, so daß auch das Individuelle das Gepräge des Göttlichen bekommt und die Individualität der einzelnen das Ebenbild Gottes in individueller Ausprägung, bei jedem Menschen anders und immer in seiner Eigentümlichkeit darstellt. Wie das Licht sich in verschieden Farben bricht und diese in hunderterlei und tausenderlei Übergängen und Mischungen eine ganze Farbenwelt darstellen, so ist es auch hier bei der ethischen Gestaltung des Menschenlebens. Je reicher, je mannigfaltiger und eigentümlicher die Gestaltung ist, desto mehr entspricht sie den Absichten Gottes, dessen ganze Schöpferthätigkeit auf die Ausprägung des Individuellen hingeht und der namentlich die Menschen so mannigfaltig an Art gemacht hat, daß man schon daraus als göttliche Bestimmung für sie entnehmen kann, daß sie die ihnen geschenkte Eigentümlichkeit mit allem Fleiß ausbilden. Nicht mit Unrecht – wenn man die Behauptung auf das Gebiet des natürlichen Lebens beschränkt – bezeichnet daher Steffens in seinem Buche „Die Karikaturen des Heiligsten“ die Eigentümlichkeit des Menschen, d. h. was er auf Grund seiner Naturbeschaffenheit werden kann und soll, als das Heiligste im Menschen und die Pflege desselben als die sittliche Hauptaufgabe des Menschen. Auch Schleiermacher hat das Verdienst, dem Individuellen und Eigentümlichen – wenn er es auch einseitig übertrieben gethan hat – zu seinem Recht verholfen zu haben. Es öffnet sich hier ein großes, weites, wenig oder gar nicht bebautes Feld für die Ethik. Das ist der Inhalt des oben genannten Teils.
Es wird also bei diesem Teil die Rede sein von der individuellen,| persönlichen Freiheit oder von der freien Bewegung und dem Spielraum, den Gott dem Christen (der Kirche) läßt, ohne daß er (resp. die Kirche) jedoch auf dem Gebiet derselben einer Norm und göttlichen Leitung entbehrt. Das ist der Lehrinhalt dieser Abteilung.
Unter individueller Freiheit versteht man das Recht des Christen, zwischen verschiedenen Handlungsweisen auf dem Gebiete des Erlaubten, deren keine an sich Sünde sein kann, freie Wahl zu treffen. (Gegensatz: Abhängigkeit von Autoritäten.)
Hier ist Spielraum für die individuelle Selbstbethätigung des Christen, für die Entfaltung seiner ihm von Gott gegebenen Eigentümlichkeiten, wie sie im Temperament, Alter, in den Gaben, inneren und äußeren Verhältnissen bestehen. Insofern drückt jeder Mensch von irgendwie ausgeprägter Individualität seinem Thun eine besondere Form auf, ein Siegel seiner Persönlichkeit. Das ist mit Ausnahme des Sündlichen, das sich daran hängt, Gottes Wille. Der Mensch muß einen Spielraum haben, wo er seine Persönlichkeit bethätigen kann ohne das Gängelband einer besonderen Vorschrift. Solche freie Bewegung ist nötig zur Bewährung des Menschen, um ihm Mündigkeit zu geben. Diese Freiheit ist Ziel der göttlichen Erziehung und muß es auch bei der menschlichen sein. Sie hilft zur freien Entfaltung des Guten, das Gott in den Menschen gelegt hat, wenn es auch nicht ohne Fehler, Straucheln und Fallen dabei abgeht. Die individuelle Freiheit des Christen ruht auf dem allgemeinen Freiheitsstand desselben.
Unter der Freiheit, in welcher der Christ steht, versteht man im allgemeinen ein doppeltes:
1. die evangelische Freiheit von Knechtschaft, Fluch und Strafe des Gesetzes, Freiheit von den äußeren Satzungen des Gesetzes, sonderlich des Zeremonialgesetzes, Gal. 5, 1; Augustana XXVIII Nr. 51–52;
2. die sittliche Freiheit, nämlich die Kraft und das vom heiligen Geist wiederhergestellte sittliche Vermögen, das vom Gesetz Geforderte ohne Zwang, mit Lust und Liebe zu wollen und zu thun. Röm. 8,2; Jak. 1, 25; Form. Conc. Epit. IV, 5–8.
Mit beiden hängt die individuelle Freiheit zusammen, mit der evangelischen wie mit der sittlichen Freiheit des Christen, indem jede eine notwendige Voraussetzung der individuellen Freiheit bildet.
| Der Gebrauch der individuellen Freiheit setzt nämlich einen Spielraum für freie Bewegung voraus. Das alttestamentliche Gesetz hat die für das Gebiet der freien Handlungen bedeutsame Eigentümlichkeit, daß seinen sittlichen Forderungen auch äußerliche Satzungen beigemengt waren, welche dann durch das Evangelium aufgehoben wurden. Jene mosaischen Satzungen, welche dem Menschen gleichsam Schrittfesseln anlegten (in Nahrung, Kleidung, Berufswahl, Heirat; in den Gelübden eine gewisse Freiheit), ließen keinen Spielraum für volle freie Bethätigung. So ist für die individuelle Freiheit die evangelische Freiheit Voraussetzung.Der Gebrauch der individuellen Freiheit setzt ferner Selbstbeherrschung voraus. Wer sich nicht beherrschen kann, hat keinen Halt gegen die Versuchung; er kann seine Freiheit nicht gebrauchen. Mithin muß der Mensch, um sich in seiner Freiheit gottgefällig bewegen zu können, erst sittlich frei sein, sonst wird ihm die individuelle Freiheit ein Anlaß zur Sünde, 1. Petr. 2, 16. Insofern ist sowohl evangelische als sittliche Freiheit eine Voraussetzung für den Gebrauch der individuellen Freiheit.
Wie unterscheidet sich aber die individuelle Freiheit von der sittlichen Freiheit? Insofern, als letztere sich beweist auf dem Gebiet des vom Gesetz Gebotenen, während die individuelle Freiheit sich bewegt auf dem Gebiet des Erlaubten.
Hier haben wir es zu thun mit den frommen Handlungen, zu denen der Christ nicht durch Gebot verpflichtet ist, und mit den natürlichen Dingen, deren Gebrauch dem Christen gestattet ist, dem Erlaubten. A potiore fit denominatio.
Unter dem Erlaubten verstehen die Römischen die Durchschnittsmoral für die große Masse, das minder Vollkommene, während die eigentliche Vollkommenheit in die Enthaltung von dem Erlaubten gesetzt wird.
Schleiermacher versteht unter dem Erlaubten das sittlich Indifferente und spricht ihm einen Platz in der Ethik ab. – Sittlich indifferent ist, was weder sittlich gut noch sittlich böse ist. Es gibt ja sittlich indifferente Handlungen, nämlich die dem Gebiete des natürlichen, besonders leiblichen Lebens angehörenden Funktionen und Bethätigungen, die an sich keinen Zusammenhang mit der Sittlichkeit haben,| 1. Kor. 8, 8. Indessen bekommt das Indifferente eine sittliche Bestimmtheit durch das handelnde Subjekt; so ist z. B. eine sittlich indifferente Handlung das Essen; dies kann aber eine unsittliche Handlung werden 1. durch Gier, 2. durch Neid, 3. durch Unmaß, 4. durch Feinschmeckerei. Die Art und Weise der Übung, das Maß von Zeit oder Kraft, welches darauf verwendet wird, das Motiv, der verfolgte Zweck, auch die Umstände, unter denen sie vorgenommen werden, geben jenen indifferenten Handlungen mehr oder weniger im einzelnen Fall einen moralischen Charakter. Darum ist zu sagen, daß die Lehre von dem sittlich Indifferenten wohl in eine christliche Ethik gehört. Der Begriff des Erlaubten reicht aber wohl weiter als der des sittlich Indifferenten.Rothe sieht in dem Erlaubten „ein Gebiet des sittlich Zweifelhaften“. Diese Definition ist verfehlt; denn als sittlich zweifelhaft ist die erlaubte Handlung eben überhaupt keine sittliche Handlung mehr, ist nicht mehr erlaubt. „Was nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde,“ Röm. 14, 23. Glauben heißt hier nichts anderes, als die persönliche individuelle Gewißheit haben, daß man den Gebrauch oder Genuß eines Dinges sich erlauben darf. Auf dem Gebiet des Erlaubten kann ja der Christ in Zweifel stehen, weil ihm die bestimmt lautende Vorschrift des Gesetzes fehlt. In einem solchen Fall gilt dann: was nicht aus völliger Gewißheit und aus Überzeugung geschieht, das ist Sünde, wider das Gewissen.
Stahl sagt: das Erlaubte liegt auf dem Gebiet der Erholung, des Genusses. Das ist richtig, insofern als Genuß und Erholung zu diesem Gebiet gehören. Es ist nicht schlechtweg so, wie manche sagen, daß Erholung und Genuß Pflichten seien. Der Genuß und die Erholung liegen auf dem Gebiet des Erlaubten; es herrscht hier nicht der strenge Pflichtbegriff. Es ist hier das Erlaubte im Gegensatz zum Gebotenen. Der Genuß an sich ist noch nicht etwas sittlich Gutes, aber auch nichts Sündliches. „Alle Kreatur Gottes ist gut und nichts verwerflich, das mit Danksagung empfangen wird.“ Er ist als Genuß eines bonum naturae selbst naturaliter bonum. Es ist ja gewiß, Genuß und Erholung hat sein Recht; aber „nur genießen wollen, macht“, wie Göthe sagt, „gemein“. Das sittlich Gute hängt mit dem Erlaubten, mit dem Genuß so zusammen, daß ein gewisses Maß von Erholung Pflicht, Übermaß aber Sünde ist. Der Pflichtbegriff steht, wie der Cherub an den Grenzen, innerhalb derer man| sich frei bewegen, über die man aber nicht hinausgehen darf, weder zur Rechten (in harter Haltung des Körpers) noch zur Linken (Übermaß des Genusses).Das Gebiet der individuellen Freiheit erstreckt sich von den unbedeutendsten Dingen bis zu den wichtigsten und höchsten Angelegenheiten des Lebens. Ein Spaziergang und die Schließung einer Ehe, die Wahl einer Person dafür, der Besuch einer Gesellschaft und der Anschluß an einen Verein, der die höchsten Angelegenheiten des Reiches Gottes verfolgt, der Kauf einer Ware und die Wahl eines Berufs, die Art und das Maß der Wohlthätigkeitsübung, 1. Kor. 7, 20. 21; Art und Zeit des Gebets: alles das liegt auf dem Gebiet der individuellen Freiheit. Das gilt aber nicht allein von einzelnen Personen, sondern auch von Gesellschaften, die von Gott geordnet sind und die sich frei zusammenschließen; auch diese haben einen freien Spielraum zur Bewegung und können eigentümliche Formen und Gestaltungen annehmen, denn hier bethätigt sich vor allem der menschliche Bildungstrieb, die schöpferische Thätigkeit auf dem Gebiet der Religion, Kunst, Wissenschaft, des Gewerbefleißes etc. Aus dem allen sieht man, wie außerordentlich groß, reich und mannigfaltig dies Gebiet ist. In allen diesen Dingen regiert kein göttliches Gesetz, kein Gebot, sondern die freiwaltende Persönlichkeit des Menschen.
Auf dem Gebiete des Erlaubten gibt es indessen Rücksichten, welche dem Christen eine Beschränkung im Gebrauch der Freiheit auferlegen. Es ist dies:
1. Die Rücksicht auf sich selbst, und zwar zunächst die Wahrung seiner inneren Unabhängigkeit vom Genuß. Der Mensch soll nicht ein Sklave, auch nicht des an und für sich erlaubten Genusses sein, weil es des Christen unwürdig ist, wenn er sich von irgend einer Gewohnheit beherrschen läßt, daß er nicht auch einmal auf den erlaubten Genuß verzichten kann, 1. Kor. 6, 12; 7, 29–31.
| 2. Des Christen Hauptrücksicht aber ist die auf das eigene Seelenheil. Auch einen an sich erlaubten Genuß, auch eine an sich unsündliche Handlung muß der Christ unterlassen, wenn beides für ihn eine Gefahr zur Versuchung, mithin eine nächste Gelegenheit zur Sünde einschließt. Wenn also einer weiß, wo seine schwache Seite ist, seine Versuchbarkeit liegt, wenn er weiß, von woher ihm Gefahren drohen, so muß er die Gelegenheit zu der betreffenden Sünde doppelt meiden (Bileams Verlangen nach irdischem Gut; Dina in Sichem; dagegen Joseph in Potiphars Haus); denn die Freiheit darf nicht mißbraucht werden zu einem Anlaß und Ausgangspunkt für die Sünde (Gal. 5, 13; 1. Petr. 2, 16). Auch das an und für sich Erlaubte muß, wo es Gelegenheit zur Sünde gibt, pflichtmäßig unterlassen werden; z. B. das Tanzen ist an und für sich keine Sünde, aber in der Weise, wie es getrieben wird, ist es oft nächste Gelegenheit oder Reizung zur Sünde. Joseph hätte, da er über das ganze Haus gesetzt war, sich in allen Räumen aufhalten können; aber weil er wußte, was Potiphars Weib für Pläne hatte, beschränkte er seine Freiheit. Es gilt die göttlichen Warnungen beachten, was Salomo unterließ und fiel, 1. Kön. 11, 1–13. Hier also gilt das Wort des heiligen Apostels: „Ich habe es alles Macht, aber es frommt nicht alles.“ Oft täuscht sich der Mensch hierin selbst, absichtlich oder unabsichtlich; da wird dann der Gebrauch der Freiheit zum Mißbrauch.3. Es gilt auch Rücksicht auf den Nächsten zu üben, die da besteht in der sorgfältigen Vermeidung alles dessen, wodurch der Anstand, die Schicklichkeit und vor allem das Gewissen des Nächsten verletzt wird, was durch Handlungen geschieht, die der andere für ethisch verboten erachtet, so daß er irre wird an dem, der ihm das Beispiel gibt oder selbst, aber mit bösem Gewissen, die Sache nachmacht, 1. Kor. 8, 9–13; Röm. 14. Das enge Gewissen der Schwachen soll geschont werden, daß der Bruder nicht verloren gehe. – Die genannten Rücksichten fordern eine Beschränkung im Gebrauch der Freiheit. Es gibt auch solche, die sie empfehlen; da handelt es sich um Förderung der Zwecke des Reiches Gottes, 1. Kor. 9, 12; Matth. 19, 12, oder des eigenen geistlichen Lebens, 1. Kor. 7, 32–34.
Die Königin aber, die auf diesem wie auf allen ethischen Gebieten herrscht, ist die Liebe zu Gott, zum Nächsten, zu sich selbst. Auch hier heißt es: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“, Röm. 13, 10. Auch ein unwichtiges Ding, eine gleichgültige Handlung bekommt einen| sittlichen Wert, wenn man spricht: „Dir zulieb, o Herr, will ich das thun oder lassen“, und: „meinem Bruder zulieb will ich das so oder so machen“, oder: „um meinen Weg nicht zu beschweren, will ich das so oder so machen“. Wie leicht wird es da dem Menschen, sich dies oder jenes zu versagen, was er nach der Freiheit, die er hat, sich gewähren könnte! Denn die Liebe ist lebendiger Trieb zum Guten. Sie gibt Lust und Liebe dazu, und das gibt allem Thun erst seinen wahren Wert.Wir müssen hier einen Blick werfen auf den Streit zwischen Pietismus und Orthodoxismus über die Stellung des Christen zu dem Erlaubten.
Über das rechte Verhalten des Christen auf diesem Gebiet war Streit zwischen Orthodoxen und Pietisten entstanden. Die Pietisten stellten den Grundsatz auf: „Alles was der Christ thut, soll zu Gottes Ehren, des Nächsten Nutz und zum Besten des eigenen Seelenheils geschehen.“ Sie beriefen sich auf Stellen wie Kol. 3, 17; 1. Kor. 10, 31; Röm. 12, 2; 1. Joh. 2, 15, und auf Grund dieser Stellen leugneten sie die Mitteldinge, d. h. eben die freie Bewegung auf dem Gebiet des Erlaubten, faktisch. Ihnen gegenüber machten die Orthodoxen den Satz geltend: Was nicht in der heiligen Schrift verboten ist, ist erlaubt. Sie vermischten dabei die individuelle Freiheit mit der evangelischen und behaupteten infolgedessen, die Pietisten wollten das kostbarste Kleinod der evangelischen Lehre, die Lehre von der evangelischen Freiheit, antasten. Der Irrtum der Pietisten war, daß sie das Recht des Erlaubten leugneten; sie dehnten den strengen Pflichtbegriff auf alle Handlungen aus; sie bedachten auch nicht, daß die Schrift auch eine Fürsorge für den Leib befiehlt, Röm. 13, 14; Kol. 2, 23. Aber die schlimmere Einseitigkeit war doch die der Orthodoxen. Der Streit dehnte sich hauptsächlich über drei Mitteldinge aus: Theater, Spiel und Tanz. Theoretisch wird man den Orthodoxen Recht geben können; allein praktisch wird der ernste Christ auf Seite der Pietisten stehen, jedoch ohne die pietistische Gesetzlichkeit. Damit sind die damals streitigen Punkte schon im Prinzipe entschieden.
Soweit das Theater nichts sein will als idealisierende Nachbildung der Wirklichkeit, kann man nichts dagegen einwenden, sonst müßte man die ganze weltliche Poesie verwerfen. Ebenso läßt sich gegen das Spiel an sich nichts einwenden. Auch der Tanz als rhythmische| künstliche Bewegung und Ausdruck erhöhter Lebensfreude ist nicht zu verwehren (der Tanz in Silo; Tanz Davids und Mirjams, Richt. 21, 19 etc.; 2. Sam. 6,12 etc.; Exod. 15, 20). Die Teilnahme an Theater, Spiel und Tanz ist jedem Christen erlaubt, sofern sie an sich nichts Gottwidriges haben. Sobald aber das der Fall ist, verbietet sich nach dem oben Ausgeführten von vornherein die Teilnahme. Man kann also nicht absolut sagen: jeder Christ kann teilnehmen; denn es kommt darauf an, wie ein Christ innerlich gestellt ist. Zündet er leicht, wenn die Versuchung an ihn herantritt, so muß er diese Vergnügungen meiden, da er ja durch seine Teilnahme der Sünde entgegen käme. Weiter muß der Christ fragen, ob er nicht dadurch seinen Mitchristen Anstoß gibt. Besonders aber muß er sein eigenes Gewissen fragen. Wenn er in seinen Gefühlen benebelt wird, abgelenkt vom Gebet und von Gott, so daß ihm der Übergang zum Gebet schwer fällt, so heißt’s für ihn: „nicht mehr!“ Gerade in unserer Zeit ist es gefährlich, an diesen Vergnügungen teilzunehmen, da sie vom Teufel sichtlich zu dem Weg gemacht werden, auf dem er seine Kinder zu sich führt. So sind unsere neuen Tänze viel gefährlicher als die alten, bei denen die beiden Geschlechter nicht in so nahe Berührung mit einander kamen. Im übrigen gilt: je mehr der Christ sich in die Gemeinschaft mit seinem Heiland vertieft, desto mehr wird sich die Lust an den Vergnügungen der Welt, die nicht sündlich sein müssen, aber häufig das werden, verlieren. Durch die vielen Rücksichten, die es zu nehmen gibt, schränkt sich für den einzelnen die Möglichkeit der Teilnahme ein. – Doch kann der Seelsorger hier nur abraten, nicht verbieten.
Die Vermittlung aber der Aussage, was in jedem einzelnen Fall zu thun und zu lassen sei, übernimmt das Gewissen, welches bei Christen durch Gottes Wort erleuchtet und gebunden ist und eine Norm abgibt, die ebenso universell ist, als sie für die einzelnen Fälle ausreicht (vgl. die Lehre vom Gewissen, § 23 u. s. w.). Hier hat, die Übereinstimmung mit dem göttlichen Wort im allgemeinen vorausgesetzt, jeder Christ sein eigenes Gewissen und muß nach demselben handeln, Röm. 14, 23: Was nicht aus dem Glauben (der Glaubensüberzeugung) kommt (oder dem Gewissen des einzelnen nicht entspricht), ist Sünde, vgl. v. 20 u. 5. „Ein jeglicher sei seiner Meinung gewiß.“ Es darf nichts mit Gewissensanstoß geschehen, Röm. 14, 14. Auch das als eng erkannte Gewissen muß man bei sich und andern schonen, 1. Kor. 8, 7. 9. 10. Für mich kann etwas Gewissenssache sein, was es für einen andern nicht ist; daher gibt es subjektive Gewissenspflichten auf dem Gebiete des Erlaubten. Ist man zweifelhaft, was zu thun ist, so ist die Regel, daß man das Sichere wähle, d. h. das, wo weniger Gefahr ist, daß man den Willen Gottes nicht treffe, als bei dem andern, das man auch thun könnte. (Umgekehrt ist der Standpunkt des Probabilismus.) Während man bei sich in solchen Fällen die größte Strenge anwenden muß, muß man in Beurteilung anderer, die auch in dem Falle sind, möglichst mild sein.
Das Gewissen aber wird in solchen Fällen bestimmt durch Gründe. (Nicht bloß durch Gefühl: „Es ist mir so.“ Zinzendorf.) Es gilt also hier die Vernunft zu gebrauchen, und zwar die erleuchtete, und ist sorgfältig zu überlegen, was das Rechte und der Gott wohlgefällige Wille sei, cf. Röm. 14, 20; 12, 2. Bei der Überlegung kommt aber außer den göttlichen Geboten und deren Anwendung die spezielle Lebensführung und Lebensaufgabe in Betracht, und es ist zu erwägen, ob ein einzuschlagendes Verhalten zweckmäßig sei, oder ein andres zweckmäßiger und besser (1. Kor. 7, 38) für mich, d. h. ob ich dadurch an meiner Selbsterbauung arbeite, oder ob mir etwas hinderlich und störend sei.
| In zweifelhaften Fällen, wofür weder das Wort Gottes etwas Spezielles enthält, noch die auf dasselbe gegründete Überlegung zum Ziele kommt und die Entscheidung eine wichtige Sache betrifft, ist auch das Los angewendet worden und anwendbar, Akt. 1, 26, unter Begleitung von Gebet, welches im Glauben geschehen muß.
Nach Akt. 1 kann das Los nicht verboten sein. Aber wir sehen: es handelte sich dort um einen ernsten Fall. Dem Losen war eine vernünftige Überlegung vorhergegangen. Das Werfen des Loses geschah unter Gebet. So war es kein blindes Hineingreifen in die Schicksalsurne. – Der Sinn des Loses ist, daß das, was man durch das Los erreichen will, nicht abhängig gemacht wird vom menschlichen Willen, sondern Gott überlassen. Der Mensch verzichtet da auf den Gebrauch seines Willens und seiner Überlegung und stellt unter Gebet alles Gott anheim. So geschah es dort, Akt. 1, wo es sich um die Einsetzung eines Apostels handelt, den nicht Menschen setzen können, sondern nur Gott.
Aus dem Alten Testament kennen wir viele Beispiele für den Gebrauch des Loses, Jos. 7 in der Geschichte Achans; dann bei Austeilung des Landes, Jos. 14, 2, Königswahl, 1. Sam. 10, 17, Sündopferböcken, Lev. 16, 8, und an andern Stellen, z. B. Neh. 10, 34; 11, 1 (cf. auch Spr. 16, 33: hier drückt sich die Glaubensüberzeugung des alttestamentlichen Gläubigen aus). Das Los war im Alten Testament zum Teil direkt von Gott befohlen, zum Teil erscheint es als Herkommen geübt.
Dürfen aber nun auch wir im Neuen Testament das Los anwenden, um zu einer Entscheidung zu kommen? In kleineren Dingen nicht, da wäre es ein Mißbrauch, denn es wird nicht mit Gebet geschehen, und so ist es da, kann man sagen, der Zufall, an den man sich bindet. Oft ist man zu bequem, um ernstlich nachzudenken, oder man sucht durch das Los einem Zugeständnis, das man machen müßte, auszuweichen. Aber in ernsten und schwierigen Fällen? Da muß man zunächst sagen: sich freiwillig dem Los unterwerfen, heißt auf den Gebrauch seiner Vernunft und Selbstbestimmung verzichten, als urteilende Persönlichkeit in einem bestimmten Falle abdanken. Ursache: man kann vielleicht nicht zu einer Entscheidung durchdringen oder möchte, was tadelnswert ist, die Verantwortung von sich abwälzen und wählt hiezu einen Weg, der fromm, eine besondere Stufe der Gottergebenheit zu sein scheint; aber es wird dadurch eine gewisse Passivität| des Charakters erzeugt, es wird die Pflicht der Ergebung ausgedehnt auch auf Fälle, wo Gott sie nicht fordert, sondern dem Menschen Spielraum läßt für seine freie Entscheidung. Es ist der Gebrauch des Loses ein „salto mortale“; wer ihn unternehmen will, unternehme ihn im Glauben; im übrigen ist zu bedenken: wo Gott uns unsern Verstand und freien Willen gibt, sollen wir ihn auch gebrauchen und nicht ablehnen, selbst zu entscheiden, sintemal er auch dem, welcher um die ihm mangelnde Weisheit bittet, solche zu geben verheißt, Jak. 1, 5. Immerhin aber wird man in gewissen Fällen die Anwendbarkeit des Loses, besonders auch nach Spr. 16, 33 u. 18, 18 (vgl. auch Ez. 45, 1; 47, 22), zugestehen müssen.Das Orakeln mit Bibelstellen gehört auch hieher und wiewohl es nicht unbedingt zu verwerfen ist, so werden die Fälle doch sehr vereinzelt sein, wo die Anwendung von Mißbrauch frei ist und nicht irre führt. Es tritt hier eine Art Theurgie ein. Auch in pietistischen Kreisen findet man häufig die Trägheit, welche Nachdenken und Überlegung scheut und eine möglichst unmittelbare Gewißheit für zweifelhafte Fälle von Gott haben will. Daraus entstehen gefährliche Täuschungen und Reden: „Dies hat mir der HErr eingegeben zu reden oder zu thun“, „Das ist eine göttliche Führung“, während es oft das Fleisch ist, das spricht, nicht der Geist, während der Mensch damit oft seine eignen Wege beschönigen will und Gott weit entfernt ist, seine Billigung zu solchem Thun zu geben. Dahin gehört auch die Neigung, sich bestimmte Zeichen zu setzen, wie 1. Mos. 24, 14. Wer es wagt, muß wissen, was er thut und Eliesers Zuversicht haben, sonst spielt er ein gefährliches Spiel und kann dafür bezahlt werden. Alle solchen Mittel, die Gott herausfordern zu einer unmittelbaren Antwort auf schwer lösbare Fragen, müssen in größter Ehrfurcht vor dem lebendigen Gott und mit großer Glaubenszuversicht gebraucht, auch als seltene Ausnahme, nie als Regel angesehen werden. – Es gibt aber unzählige kleinere Vorkommnisse im menschlichen Leben, die auch unter die göttliche Vorsehung gestellt sind, aber doch ganz in des Menschen Willkür und Belieben stehen, in welchen die bloße Neigung oder ein zufälliger Umstand, ein kleines, aber wohl zu beseitigendes Hindernis, fremdes Zureden etc. den Ausschlag gibt, z. B. einen Spaziergang da und dorthin zu unternehmen, wo das Wetter, das Zureden eines Freundes und andre kleine Umstände maßgebend sind, ob er auch ausgeführt wird oder nicht. Hier hat man sich solcher außerordentlichen Mittel ganz zu enthalten.
| Man sieht also, an Normen und Weisungen auf dem Gebiet der individuellen Freiheit fehlt es durchaus nicht. Bei aller Freiheit der Bewegung kann der Christ seinen Weg getrost und sicher gehen. Er braucht nicht in peinlicher Ängstlichkeit wie auf Eiern zu gehen (dazu treibt nur gesetzliches Wesen), wenn er nur sein Ziel fest im Auge hat und seine Richtung im Ganzen einhält, womit aber der Unlauterkeit, die es im einzelnen mit ihrem Thun nicht genau nimmt (Eph. 5, 15: ἀκριβῶς), nicht das Wort geredet werden soll. Einfalt und Lauterkeit soll auch hier den Christen regieren. Jeder Christ ist für den Gebrauch seiner Freiheit dem HErrn verantwortlich. – Normen zweiten Ranges sind die von Menschen gemachten Lebensordnungen. Vgl. § 66.
Für die oberflächliche Betrachtung sieht es aus, als ob für das Handeln auf dem Gebiet des Erlaubten die Willkür und das wechselnde Belieben maßgebend wäre. Es gibt auch Menschen, die soviel als möglich nach ihrem augenblicklichen Gefallen leben und thun, was sie eben gelüstet, und lassen, was ihnen nicht gefällt, so daß augenblickliche Lust oder Unlust das Hauptmotiv ihres Handelns ist. Solche Menschen der Willkür und Laune sind Zerrbilder der wahren Freiheit eines Christen, sind selbst unglücklich und machen auch andere unglücklich, sind auch unfähig, etwas Tüchtiges zu leisten. Sie sind der Spielball des Augenblicks, Knechte ihres selbstischen Gelüstens. Das Sichgehenlassen, Sichhingeben an den unmittelbaren natürlichen Trieb ist etwas Unsittliches (Wuttke).
Alles gesunde Leben verlangt Regeln und Ordnungen. Auf dem Gebiet der individuellen Freiheit, das nicht durch göttliche und menschliche Gesetze geregelt ist, muß sich der Mensch selbst Gesetz und Regel geben. Und es thut dies der einzelne, wie die freie Gemeinschaft, aus einem inneren Lebenstrieb mit innerer Notwendigkeit. Es gibt sich der einzelne Christ, wie die christliche Gemeinschaft, eine Lebensregel und handelt nach gewissen Maximen oder Grundsätzen, welche dem Sittengesetz gemäß sich aus der Erfahrung als etwas Feststehendes für besondere Verhältnisse und Personen ergeben und abheben, nach denen man sich als nach allgemeinen Normen in zweifelhaften Fällen richtet. Eine solche Lebensregel rücksichtlich des Ehelichwerdens| gibt St. Paulus im 1. Korintherbrief. Das Leben gibt eine Summe solcher Lebensregeln für jeden einzelnen und für jede Gemeinschaft, von allgemeinen Grundsätzen an bis auf die spezielle Ordnung, wodurch z. B. der Tageslauf geregelt wird. Es muß jeder Mensch eine gewisse Haus- und Lebensordnung haben, wie die Gemeinschaft. Diese ruht auf der individuellen Einsicht in die Zweckmäßigkeit solcher Bestimmungen und auf der individuellen Lebensanschauung und Erfahrung. Es sind selbstgemachte Regeln und Ordnungen, die mehr oder weniger zweckmäßig sind und auf einer inneren Notwendigkeit beruhen. Was für den einzelnen und für die, welche ein gemeinsames Leben führen, die Haus- und Lebensordnung ist, das sind für Vereine und Gesellschaften die Satzungen (Statuten), welche ihr Gemeinschaftsleben normieren, in der Kirche die Kirchen- und Gottesdienstordnungen, welche eine Stetigkeit in das bewegliche Leben bringen. Solchen Gesetzen verbindet sich der Mensch zu freiwilligem Gehorsam und hält sich gewissenhaft daran, doch mit dem Bewußtsein, daß es menschliche Satzungen sind, die Gott gefallen und sittlichen Wert haben.Sich ausnahmslos an solche Grundsätze und Ordnungen binden, ist Pedanterie. Unter Umständen, welche die Ausnahme rechtfertigen, muß der Christ auch zeigen, daß er Herr seiner Ordnung ist, und daß er nicht um der Ordnungen und Regeln willen da ist, sondern daß sie um seinetwillen da sind (Marc. 2, 27–28). Aus solchen Lebensregeln und ihrer Übung werden die Gewohnheiten, stehende Formen des individuellen Lebens, die, wenn sie dem höchsten Lebenszweck angemessen sind, mächtige Förderungsmittel des Guten sind. Doch soll der Christ auch Herr seiner Gewohnheiten bleiben, so daß er nicht unbedingt ihnen unterthan sein muß. In Staat und Kirche werden daraus Institutionen, Einrichtungen, Sitten und Gebräuche. Es gibt Menschen der Grundsätze, die nicht anders handeln können als nach Grundsätzen, und zwar so, daß sie dieselben ohne Prüfung der einzelnen Fälle auf alle Verhältnisse anwenden. Das gibt steife Moralisten und Rigoristen. Das Leben ist durch und durch kasuell und fordert eine freie, vernünftige Handhabung der Lebensregeln (St. Paulus, 2. Kor. 1.) Das Maßgebende ist in solchen Fällen das Sittengesetz, und die Aufgabe ist, die besonderen Fälle mit seinem Geist zu durchdringen und dem Sittengesetz gemäß zu gestalten, so daß das Besondere im Leben, vom christlichen Geist durchdrungen, ein Spiegel des allgemein Christlichen ist.
Wie auf allen Gebieten der Sittlichkeit die angeborne und großgezogene Sünde ihren mächtigen und störenden Einfluß übt, so auch auf dem Gebiet der individuellen Freiheit. Der alte Mensch sucht die von Gott gewährte Freiheit zu seinen Zwecken zu mißbrauchen und die oft schwer zu unterscheidenden Grenzen des Erlaubten zu überschreiten. Die böse Lust und die Trägheit zum Guten suchen oft ihren Vorteil unter dem Schein des Erlaubten. Die böse Lust mischt sich oft in die erlaubte Lust, und die Trägheit verbirgt sich hinter dem Mangel eines bestimmten Gebotes. Das Fleisch mißbraucht seine Freiheit zu seinen Zwecken, 1. Petr. 2, 16; Gal. 5, 13. 17. Es sucht die Gelegenheit zur Sünde überall, auch in erlaubten Dingen, und macht sie zur Sünde, wie bei erlaubten Vergnügungen und Erholungen geschieht. Es verkehrt die Ordnung des Lebens und macht den Genuß zum Lebenszweck und die Arbeit und Thätigkeit zur Nebensache, während der Genuß nur Mittel zum Zweck, Stärkung zu neuer Thätigkeit und Arbeit sein soll (Eudämonismus, feiner, grober), und während man auch in der Thätigkeit und Arbeit Lust und Genuß finden soll. Gerade auf diesem Gebiet findet das Fleisch viele Schlupfwinkel und bewirkt häufig Unlauterkeit der Gesinnung und des Handelns, da man meint, dem Geiste zu dienen, während man dem Fleische dient. Auch die ganze Eigentümlichkeit nimmt eine Mißgestalt an und wird zum Zerrbild, wenn man seinen verkehrten und einseitigen Neigungen nachgibt und sich gehen läßt, statt dieselben in Zucht zu nehmen und sie auf die rechte Bahn zu bringen.
Daß der Mensch freien Spielraum hat nach Gottes Willen für seine Bewegung auf einem bestimmten, wohlbegrenzten Gebiet und doch von Gott dabei geleitet wird, widerspricht sich nicht. Die Leitung Gottes besteht eben nicht in beständigen Geboten und Verboten, welche die freie Wahl und Selbstbestimmung aufheben, sondern in Formen und Weisen, welche der gelassenen freien Entscheidung entsprechend sind. Wie die Eltern ihren erwachsenen und mündigen Kindern ihren Willen nicht gebietend kundthun, aber doch Wink und Weisung geben, was ihnen lieb und angenehm wäre, so gibt auch Gott seinen Kindern, zumal den mündigen, auf dem Gebiet der individuellen Freiheit nicht bestimmte Befehle und Verbote für die einzelnen Fälle, sondern überläßt ihnen die Anwendung seiner allgemeinen Anordnungen und Gebote, und wo sie unsicher und zweifelhaft sein könnten und einer Weisung und eines Rates bedürfen, da ist er zur Hand und erntet Liebe und Dank dafür. Denn es ist hier nicht von solchen Christen die Rede, die noch mit der Schärfe des Gesetzes müssen regiert werden, sondern von wiedergebornen und erneuerten Christen, in denen der Geist Gottes regiert, Röm. 8, 14, die von Gott mit seinen Augen geleitet werden können, Ps. 32, 8. Die andern sind wie Lasttiere, die man mit starker Hand und mit Gewaltmitteln lenken muß, Ps. 32, 9. – Die göttliche Leitung geschieht auf mancherlei Weise und ist ganz dem individuellen Bedürfnis angepaßt. Die Freien leitet Gott auf freie Weise.
1. Die göttliche Leitung in den inneren und äußeren Lebensführungen.
Gott gibt seinen Willen und seine Absichten, die er mit dem einzelnen hat, zu erkennen durch äußere und innere Lebensführung. Wo der Mensch nicht weiß, was ihm gut und heilsam ist auf dem Wege zum ewigen Leben und er oft aus Mangel an richtiger Erkenntnis seiner selbst und der Verhältnisse einen verkehrten Weg einzuschlagen im Begriff ist, stellt ihm Gott Hindernisse entgegen (Bileam, Num. 22, 24), um sein Nachdenken zu erwecken und ihn zur Prüfung seines Weges aufzufordern. Oft schickt Gott eine Menge günstiger Umstände,| die dem Menschen einen Wink geben, den Augenblick zu benützen, weil er Glück und Gelingen verheißt. Doch geben solche einzelne Erfahrungen selten so deutliche göttliche Winke, daß man sie sicher deuten kann.Sichere Weisung gibt der Zusammenhalt mit der gesamten Lebensführung, zunächst der äußeren. Aus ihr kann sich der Mensch seine äußere, besondere Lebensaufgabe, wenn er Verstand und Sinn dafür hat, schon zusammenbuchstabieren und kann daraus die Bedeutung der einzelnen Erlebnisse ziemlich sicher ermessen.
Ebenso wichtig und bedeutsam, zum Teil noch wichtiger und bedeutsamer ist die innere Führung eines Menschen, sind die inneren und geistlichen Erfahrungen und Erlebnisse, die jedem seine besondere Glaubensstufe und seine gliedliche, mehr oder weniger bedeutsame Stellung in dem Gesamtorganismus der Kirche anweisen.
Bei den inneren und äußeren Lebensführungen kommt immer doch das rechte Licht erst, wenn die Lebenserfahrungen in innigem und brünstigem Gebet verarbeitet werden mit Beziehung auf Gottes besondere Verheißungen, Ps. 32, 8; 73, 24; 31, 4; 27, 11; 139, 24. Dann erweist sich an ihm die Wahrheit von 1. Joh. 2, 20. 27: Ihr habt die Salbung. Wer sich leiten läßt, wird sicher geleitet, ohne daß man des eigenen Besinnens und der Verantwortlichkeit des eigenen Entschlusses überhoben ist. Denn nicht am Gängelband will Er seine mündigen Kinder führen, sonst würden sie keinen Schritt selbständig machen lernen. Aber schließlich dürfen sie nicht auf ihre Weisheit vertrauen, sondern sollen sich der höheren Leitung hingeben, die ihren Entschluß entweder bestätigt und befördert, oder aber hindert, wenn es nötig erscheint. Denn nicht immer greift Gott selber ein; er läßt auch manchmal einen Fehlgriff und Fehltritt, etwas Verkehrtes und Thörichtes, ja eine Sünde (wenn man sich nicht will sagen lassen Luk. 22, 31 etc.) zu, damit man, durch Erfahrung gewitzigt, ein andermal vorsichtiger ist. Das Leben des einzelnen Christen ist ein Produkt der menschlichen Freiheit und der göttlichen Leitung. Oft prüft Gott den Menschen und stellt sich, als ob er ganz wider ihn wäre und ihn ganz verlassen hätte. Da gilt es, ihn im Glauben an seine barmherzige Hilfe zu fassen und durch ihn zu ihm hindurchzudringen.
2. Die göttliche Leitung durch die heilige Schrift (cf. § 65).
Die göttliche Leitung auf dem Gebiet der individuellen Freiheit geschieht auch durch göttliche Beratung. Ein Rat ist die Empfehlung| einer Handlungsweise als gut und förderlich, welche dem andern frei läßt, ob er davon Gebrauch machen will. Diese Beratung geschieht durch die heilige Schrift, Akt. 20, 32; 2. Tim. 3, 16–17. Diese beleuchtet insbesondere einzelne schwierige Gebiete und Lebensfragen, die für jeden Menschen von besondrer Wichtigkeit sind.So ist für jeden Menschen, der in die dazu erforderliche äußere Lage gesetzt ist, eine wichtige Frage: Soll ich heiraten oder nicht? Bei den meisten ist diese Frage schon von vornherein entschieden, ohne daß sie eine Überlegung anstellen. Dem gegenüber steht 1. Kor. 7, v. 26–27; 35–38; 39–41, das auch erwogen sein will, und wenn es auch für die meisten nicht anwendbar erscheint, so gibt es doch eine Anzahl von Menschen, für die das Wort geschrieben ist, und grade von gereiften und geförderten Christen verlangt es Überlegung. Hier rät der Apostel Ehelosigkeit als das Bessere, v. 38 u. 40, ohne die Freiheit im mindesten zu beeinträchtigen, v. 35, und gibt auch seine Gründe an. Einmal: die damalige Not und vermehrte Sorge, auch größere Gefahr, dem Herrn untreu zu werden, v. 26. Das ist indes bloß ein temporärer Grund; er gibt aber zum andern auch einen allgemeinen an: der ehelose Stand ist weniger durch Verwicklung mit der Welt gehindert, für das zu sorgen, was dem HErrn angehört, für seine eigne Heiligung und – kann man wohl im Sinne des Apostels und der Geschichte hinzusetzen – für das, was der Förderung des Reiches Gottes dient (Vorbild Pauli, 1. Kor. 9, 5. 12). Bei diesem Rat ist die Gabe der Ehelosigkeit vorausgesetzt, 1. Kor. 7, 7. Darum hat sich jeder, der dem Reiche Gottes in besondrer Weise dienen will, zu prüfen, ob er nach seiner Natur die Kraft habe, unverehelicht zu bleiben, ohne in Sünden wider das 6. Gebot zu fallen, denn ein unreines Cölibat wäre etwas Verwerfliches. Es gibt viele leuchtende Vorbilder eines heiligen jungfräulichen Lebens von St. Paulo an; Christus selbst ist das vollendetste Vorbild der Jungfräulichkeit. Was St. Paulus lehrt, hat Christus geradeso gelehrt, Matth. 19, 12: „Es sind etliche Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen.“ Dies ist nichts anderes als die erwählte Jungfräulichkeit. „Wer es fassen kann, der fasse es.“ Daraus sieht man, daß der Rat nicht für die Masse ist, sondern für die Geförderten.
Ein zweiter Rat dieser Art begegnet uns Matth. 19, 21.
Dem reichen Jüngling, der sich seiner Ehrbarkeit und der Erfüllung aller Gebote rühmt, rät der HErr das eine, was ihm noch fehlt:| „Willst du vollkommen sein etc.“ Damit rät der HErr dem Jüngling die freiwillige, völlige Armut an, aber mit besonderer Rücksicht auf dessen Anhänglichkeit an Geld und Gut, die ihm das vorzüglichste Hindernis zum Himmelreich war. Es war ein seelsorgerlicher Rat für den reichen Jüngling, der aber auch anderweitig seine Anwendung fand und findet, Luk. 12, 33. Man denke an die erste Gemeinde in Jerusalem, wo die Wohlhabenden ihre Güter und Habe verkauften, um die Armen zu unterstützen, Akt. 2, 45; 4, 36–37; 5, 2. – In etwas anderer Weise erwählte Paulus die freiwillige Armut, da er keinen Sold von der Gemeinde nimmt, sich aufs äußerste beschränkt, und dies Äußerste, was er braucht, sich mit der Hände Arbeit verdient, Akt. 18, 3; 1. Kor. 4, 12; 2. Kor. 11, 27; 2. Kor. 6, 5; 1. Kor. 9, 15. 18.In der letzten Stelle verteidigt er sich und seine Freiheit gegenüber denen, die ihn darüber tadeln, 1. Kor. 9, 18. Die Idee ist die, daß der Mensch innerlich und äußerlich frei sein soll vom Besitz, wo er ihn an seiner Seligkeit oder am Dienst am Reiche Gottes hindert. Der letztere Rat wird seltener anzuwenden sein als der erstere, wiewohl beide in der Geschichte der christlichen Kirche eine große Rolle spielen.
Diese Räte heißen evangelische. Von den älteren und neueren Theologen verwerfen sie viele; es gibt aber auch ältere und neuere Theologen, die sie als schriftgemäß anerkennen, z. B. Löhe. Der Rat ist im Neuen Testament mit γνώμη ausgedrückt, 2. Kor. 8, 10 (wo der Apostel die Wohlthätigkeit anrät); 1. Kor. 7, 25. 40. Die Fassung der evangelischen Ratschläge, wie sie die Katholiken als überverdienstlich ansehen, weil die Erfüllung derselben eine größere Vollkommenheit gewähre als die der zehn Gebote, ist widersinnig und schriftwidrig. Auf den evangelischen Räten der freien Armut, Ehelosigkeit (und des unbedingten Gehorsams gegen die Oberen) beruht das Mönchswesen. Gegen die Annahme von Überverdienstlichkeit ist Luk. 17, 10.
Was will man aber geltend machen gegen eine Empfehlung des ehelosen Standes von seiten eines Apostels, der den Segen derselben in so außerordentlichem Maße erfahren hat, 1. Kor. 7, 7? Er empfiehlt ihn aber nicht allgemein, sondern unter gewissen Voraussetzungen und Umständen. Wer davon Gebrauch machen will und kann, der empfängt hier Licht und Stärkung des Gewissens. Er empfiehlt auch den ehelichen Stand, wenn außerhalb desselben für das sittliche Leben Gefahr droht, 1. Kor. 7, 2. Der eheliche Stand| braucht aber keine so starke Empfehlung als der ehelose, da ja jener im Zug der leiblichen Natur begründet ist, dieser aber eine Stärke des Geistes fordert, um die Natur zu überwinden. Ist es richtig, daß das, was der Apostel sagt, eine Lobrede auf den ehelosen Stand ist, eine Empfehlung desselben, so ist es hinwiederum in dem einzelnen Fall auch keine Verletzung einer Pflicht, keine Sünde, wenn ein Mensch das, was ihm am besten ist, nicht thut. Wohl kann es ein Fehler sein, eine Verkehrtheit, eine Thorheit, durch Umstände auch zur Sünde werden wie alles Erlaubte, aber an sich ist es keine Sünde, es müßten denn besondere Umstände eine Sünde daraus machen.War es des Apostels Pflicht, daß er das Evangelium umsonst verkündigte, wie Wuttke (I, 396) meint? Nein. Es war keine Pflicht, die ihm der HErr auferlegte, vgl. 1. Kor. 9, 6. Er hatte das Recht, es anders zu machen. Es ist eine Verbindlichkeit, eine Pflicht, ein Gesetz, das er sich aus freiester Wahl selbst auferlegt, und das ist sein Ruhm, sein Lohn, sein Voraus, nicht als wenn der Gebrauch seines Rechtes ein Mißbrauch seiner Freiheit gewesen wäre. Ihm für sich kam es so vor, da er nach seiner Individualität und unter seinen Umständen als Heidenapostel einen besseren Weg und besseren Gebrauch seiner Freiheit gefunden hat. Es erscheint ihm als eine innere Nötigung, so zu handeln, und doch ist er sich bewußt, daß er damit nur von seiner Freiheit, nach der anderen Seite, der des Verzichtes hin, Gebrauch macht und daß er dazu das volle Recht hat, wie zum Gebrauch nach der anderen Seite hin. Er würde nicht gesündigt haben, wenn er Gaben zu seinem Unterhalt angenommen hätte, er thut es ja auch nach Phil. 4, 10 ausnahmsweise und macht also nach Umständen von seinem Recht nach der entgegengesetzten Seite hin Gebrauch. Hat er da seine Freiheit mißbraucht, seine Pflicht verletzt? Nein, er wahrt sie nach beiden Seiten hin und bleibt doch seinem Vorsatz treu und sich selbst, er muß nicht so thun, er soll nicht so thun; er will so thun, weil er Herr seiner selbst ist. Und für solche Leute, die das zu fassen vermögen, gilt sein Rat. Es ist eine seelsorgerliche Belehrung und Aussprache.
Die Empfehlung des ehelosen Standes muß vor allen aus pädagogischen Grundsätzen geschehen. Man muß die Jugend nicht für die Ehe, sondern für den ehelosen Stand erziehen; macht man es umgekehrt, so ist sie für den ehelosen Stand verdorben; ist sie nach paulinischen Grundsätzen erzogen, so paßt sie für beides, für den ehelosen| und den ehelichen Stand, für den ehelichen desto besser, wenn ihre Zeit kommt.Die gänzliche freiwillige Armut hat in unserer Kirche und in unseren Zeitverhältnissen kaum noch eine Anwendung, außer in den neu erstandenen Diakonissenanstalten, wo Beispiele gänzlicher Verzichtleistung auf eigenen Besitz heute noch vorkommen. Aber diese Lehre mit ihren Beispielen in der heiligen Schrift und im christlichen Altertum leistet doch einen trefflichen Dienst, die Liebe zu einem armen Leben zu erwecken, welches vieler Menschen, namentlich vieler Diener Christi, unvermeidliches Los ist. Der Zug der Welt geht nach der entgegengesetzten Seite hin, nach einem behaglichen, genußreichen, komfortablen Leben, da man alles, was man braucht, im Überfluß hat. Wie wichtig ist es hier, den Sinn für Bedürfnislosigkeit zu wecken und durch eine Lobrede auf den Vorzug der Armut die Seelen in die Verfassung zu bringen, daß sie nicht mit Seufzen, sondern mit fröhlichem Mut Christo und seinen Aposteln nach entbehren können und ein Gott geheiligtes, armes Leben führen!
Wie schön und lieblich ist es, in so wichtigen Angelegenheiten des Lebens väterlich von Gott beraten zu sein in seinem Wort. So sehen es auch die symbolischen Bücher an: „Die Jungfrauschaft lobt Paulus, und als einen guten Rat predigt er sie denjenigen, welche dieselbe Gabe haben,“ Apol. Conf. Aug. p. 276. Demnach gibt es im Sinne der heiligen Schrift und nach den Symbolen evangelische Räte, doch im römischen Sinn sind sie zu verwerfen.
3. Andre Anstalten Gottes zur Beratung der Seinen in wichtigen Angelegenheiten.
Im Alten Testament war der Hohepriester mit dem Brustschildlein das Orakel, wodurch man den HErrn fragen konnte, resp. der Prophet, Deut. 18, 15; 2. Chron. 18, 6. Dies hat im Neuen Testament aufgehört. An die Stelle ist das Hirtenamt getreten, an welches der einzelne in wichtigen Lebensfragen, um Rat zu erholen, gewiesen ist, namentlich in solchen Sachen, die das geistliche Leben betreffen, Mal. 2, 7; Luk. 12, 42; Joh. 21, 17.
Das unfehlbare Licht in allen schwierigen Lebensverhältnissen für alle, die Rat suchen, ist die heilige Schrift. Und wo sich keine passende Anweisung und kein passendes analoges Beispiel in der Schrift findet, da bietet sie den leitenden Grundsatz. Sie reicht also für alle Fälle aus. Nur gehört Sinn und Verstand und ein gewisser Grad der| Erleuchtung und Übung dazu, den einzelnen Kasus unter den richtigen allgemeinen Satz zu stellen, das treffende Wort und analoge Beispiel zu finden, das Licht verbreitet über den fraglichen Gegenstand. Dies wird im allgemeinen beim Hirtenamt sich finden.Jedoch kommt es hiefür im einzelnen Fall sehr auf die Persönlichkeit an, auf die größere oder geringere Gabe des Hirten für die seelsorgerliche Behandlung und Beratung. Doch ist das Gemeindeglied nicht gerade an seinen Hirten gebunden; es kann jeden andern, zu dem es Vertrauen hat, aufsuchen, und ein rechter Hirte weist seine Schafe selbst zu den Besserberatenden ohne Neid. Aber auch bei dem Befragen der erleuchtetsten Männer ist die eigne Prüfung und Beratung nicht zu erlassen und sie ist auch möglich, denn 1. Joh. 2, 27 gilt von allen Christen und der Fortgeschrittenere soll nur Handreichung thun dem Geringeren. Auch andre begabte Glieder der Gemeinschaft können in ihrem Maße dienen. Es liegt ein göttlicher Segen auf den gemeinsamen Beratungen wichtiger Fälle. – Von der Anwendung des Loses siehe oben.
Die Kirche hat einen außerordentlichen Schatz der Erfahrung und der seelsorgerlichen Weisheit in den gesammelten Bedenken und Entscheidungen hocherleuchteter Männer, die sie in schwierigen Fällen gaben. Wenn auch bei weitem nicht alle Entscheidungen genügen, so dienen sie doch, das Urteil zu klären. Es ist jedem Seelsorger unentbehrlich, wenigstens einzelne derartige Schriften zu besitzen, um sie zu gebrauchen. Am erwünschtesten wäre freilich eine Bearbeitung der einzelnen Fälle. Die Wissenschaft, die sich damit abgibt, heißt Kasuistik (theologia conscientiaria). (Löhe: Der evangelische Geistliche, II.) Die größten und erleuchtetsten Beichtväter und Kasuisten der römischen Kirche sind Philipp von Neri und Carlo Borromeo, Franz von Sales. Die Jesuiten haben die Kasuistik in Verruf gebracht, und die jesuitische Kasuistik verdient es auch. Die lutherische Kasuistik und die Sammlungen von Bedenken bieten einen großen Reichtum und sind von großem Wert für alle Zeiten. Von besonderem Wert sind auch die Konzilbeschlüsse und die constitutiones apostolicae, wie das Kirchenrecht. Alle diese Studien sollen dazu dienen, namentlich bei einem praktischen Geistlichen, das ethische Urteil zu schärfen, und ihn zu befähigen, ein guter Seelenberater zu sein. Die Gemeindeglieder aber sollen auch angeleitet werden, solchen Rat zu suchen. Wenn gut beraten wird, dann finden sich die Leute schon selbst herzu. Begabte, treue und erleuchtete Seelsorger, deren es aber nicht viele gibt, sind| jederzeit angelaufen, und der Segen einer göttlichen Leitung durch die Hand des Seelsorgers gibt sich deutlich kund. Wer die ihm gebotenen Mittel der Leitung nicht benützt, der entbehrt zu seinem großen Schaden dieses Segens. Er wird desto öfter fehl gehen und statt in hellem Licht in einer Art Dämmerung sein Leben dahinbringen.
Die individuelle Freiheit des Christen ist nicht bloß die Erlaubnis und Berechtigung zum Genuß und Gebrauch des Erlaubten, sondern auch das Recht zur Enthaltung vom Genuß, zum Verzicht auf den Gebrauch, zur freiwilligen Enthaltung von irdischen Gütern und Dingen. Die individuelle Freiheit hat gewissermaßen zwei Provinzen: das Gebiet des Gebrauchs und das Gebiet der Verzichtleistung auf den Gebrauch. Von der Freiheit des Gebrauchs irdischer Dinge ist bereits im Vorigen gesprochen worden. Die Lehre von den evangelischen Ratschlägen bildet den Übergang von dem einen Lehrstück zum andern.
a. Unter Askese versteht man die freiwillige Enthaltung von an und für sich erlaubten Genüssen und Gütern, zu dem Zweck, um sich in der Enthaltsamkeit und Unabhängigkeit von sinnlichen Genüssen und in der Gottseligkeit zu üben.
Das Wort ἄσκησις selbst steht nicht in der Schrift. 1. Tim. 4, 7–8, wo man es erwarten könnte, heißt es γυμνασία.
Nach der Conf. Aug. Art. XXVI hat die Askese den Zweck:
1. Den Leib in Zucht und Zaum zu halten, daß das Fleisch nicht üppig und dadurch eine Reizung zur Sünde werde. Das ist Kasteiung im engern Sinne (castigatio, 1. Kor. 9, 27; castigo corpus meum). Daher gehört Fasten, Nachtwachen etc. etc.
2. Die Herrschaft der Seele über den Leib, die Unabhängigkeit der Seele vom Leib und leiblichen Bedürfnissen zu erringen, so daß der Leib ein gefügiges Werkzeug der Seele wird (ut corpus habeat obnoxium, Aug. Conf. Art. XXVI, 38).
3. Leib und Seele geschickt zu machen zu geistlichen Dingen (ad res spirituales), d. i. zur Andacht, Meditation, Gewissenserforschung, Gebet, Fürbitte, 1. Kor. 7, 5.
In dem Wort selbst liegt schon die Regelmäßigkeit und Stetigkeit, die fleißige Wiederholung und methodische Betreibung einer und derselben Handlungsweise angedeutet; denn selbstverständlich gewinnt| man eine Fertigkeit nur durch Übung und Übung ist oftmalige methodische Betreibung einer und derselben Handlung. Nach 1. Tim. 4, 8 unterscheidet man leibliche Übung (σωματικὴ γυμνασία) und Übung der Gottseligkeit (εὐσεβείας γυμνασία), die sogenannte praxis pietatis. Die erste ist Mittel für die letztere.b. Falsche Grundsätze, wodurch sich das an sich erlaubte Gute in das Gegenteil verkehrt.
Ein solcher falscher Grundsatz, der uns häufig in der Geschichte begegnet, ist die Ertötung des Leibes und seiner Glieder. Der gröbste Mißverstand der Ertötung des Fleisches (mortificatio carnis, Röm. 8, 13; Kol. 3, 5; Gal. 5, 24; Matth. 18, 8. 9) ist, daß der Leib für gleichbedeutend gehalten wird mit „Fleisch“, während doch der Leib ein Geschöpf Gottes ist, das Fleisch aber das sündliche Verderben, das am Menschen haftet, besonders die Lust und Liebe zur Sünde, die zu töten die Aufgabe des Christen ist. Aus diesem gröblichen Mißverstand sind solche Verirrungen im christlichen Altertum (die von großem Ernst zeugen, aber doch zu beklagen sind) hervorgegangen, wie die Entmannung (castratio) des Origenes. Im allgemeinen ist die Ansicht, daß der Leib ertötet, wenn auch nicht bis zum Sterben, so doch aufs äußerste gequält und mißhandelt werden müßte, weil er der Sitz der Sünde sei. Der Leib ist zwar vorzugsweise Organ der Sünde in dem erneuerten Menschen, weil die Sünde aus dem Mittelpunkt, der Seele, in die Peripherie zurückgedrängt ist; aber ohne die Seele vermöchte die Sünde im Leibe nichts, Röm. 7, 23. Diese Ansicht vom Leiblichen, Sinnlichen als dem Sündlichen findet sich im Heidentum, das auch seine Asketen hat – man denke an den indischen Fakir –, war aber auch viel verbreitet im christlichen Altertum, im Mittelalter und besteht in der römischen Kirche noch heute. Was Wahres an der Sache ist, davon nachher. Hier nur so viel: der Leib ist nicht nur ein Geschöpf Gottes, sondern auch durch Christi Blut erlöst und durch den heiligen Geist geheiligt, ein Tempel des heiligen Geistes, dazu bestimmt, mit der Seele an der ewigen Herrlichkeit teilzunehmen; daher muß derselbe geachtet werden und bedarf der liebenden Pflege wie der vernünftigen Zucht, Röm. 13, 14; 1. Kor. 9, 27; Kol. 2, 23.
Ein weiterer verwerflicher Grundsatz, der besonders in der römischen Kirche herrschend ist, ist die Verdienstlichkeit von dergleichen selbsterwähltem Gottesdienst, als könnte man dadurch Gottes| Gnade, Vergebung der Sünden und ewiges Leben verdienen. Solchen verderblichen Wahnglauben zerstört zu haben, ist das Hauptverdienst der Reformation, cf. Aug. Art. XXVII M. S. 60, 36 mit Berufung auf Matth. 15, 9; Apol. Conf. N. pag. 208; Form. Conc. II M.. pag. 644, 20.Es ist zu beachten, daß nicht der selbsterwählte Gottesdienst verworfen ist, sondern der, der in der Meinung geschieht, daß man damit Gottes Gnade und Vergebung der Sünden verdienen wolle, zur Schmach des Leidens Christi. Es ist zwar der selbsterwählte Gottesdienst mit der falschen Askese verworfen, Kol. 2, 18. 23; es ist aber der Wahn gemeint, daß man durch selbsterwählte Übungen eine Stufe der Heiligkeit ersteige wie die Engel und dann unter der Maske der Demut in den abscheulichsten geistlichen Stolz verfällt. Damit ist der Mißbrauch derjenigen Askese gestraft, welche meint, dadurch Gottes Gnade zu verdienen und eine Stufe der Heiligkeit zu ersteigen, während man von dem Grund des Heils in Christo abkommt. Damit sind aber die in der Freiheit des Christenmenschen stehenden asketischen Übungen, die Mittel zum Zweck sind und die ja nicht geboten, sondern frei erwählt sind, nicht verworfen. Der Mißbrauch liegt nahe und Gefahr hat der Weg der Askese; aber damit ist die Sache selbst nicht verwerflich noch undienlich.
1. Das Fasten. Fasten ist die teilweise oder gänzliche Enthaltung von Speise und Trank oder von besonders nahrhaften und üppigen Speisen auf bestimmte Zeit.
а. Das Fasten erscheint in der heiligen Schrift oft als der natürliche, unwillkürliche Ausdruck trauriger Gemütsstimmung. Große Niedergeschlagenheit, schmerzliche Gemütsbewegung bringen naturgemäß einen Verzicht auf den Genuß leiblicher Nahrung mit sich. In diesem Sinn ist das Fasten ein halb freies, aber doch im Grunde mehr unwillkürliches Thun, keine Folge eines freien Entschlusses. In diesem Sinn spricht z. B. der HErr vom Fasten, Mark. 2, 19; Matth. 9, 14. Dieselbe Bedeutung, nur in vertiefter Weise, hat das Fasten, wenn es unwillkürliche Wirkung und Äußerung der Bußtrauer ist, Dan. 9, 3; 2. Sam. 12, 16.
b. Hievon ist zu unterscheiden die freiwillige Übung des Fastens, z. B. in Verbindung mit der Buße; denn in diesem| Fall ist es ein vom Menschen sich selbst auferlegtes und von ihm gewolltes Mittel, die Seele zu bereiten und geschickter ad res spirituales zu machen, die Intensität des Gebets, den Ernst der Buße und der Reue über die Sünde zu steigern, eventuell: Gewalt der sündlichen Natur zu bekämpfen, Jon. 3, 6; Joel 2, 12. Hierher gehört auch das Fasten als Vorbereitung für wichtige und bedeutungsvolle Momente und Handlungen des Lebens, z. B. beim Empfang geistlicher Ämter, des heiligen Abendmahles, in schwierigen seelsorgerlichen Fällen, Akt. 13, 2. 3; 14, 23; Matth. 17, 21. Hierher gehört auch das Fasten beim Antritt eines wichtigen Amtes, z. B. beim HErrn Matth. ; Moses und Elias, 2. Mos. 24, 18; 1. Kön. 19, 8, und vor großen Entscheidungen im Leben, Esth. 3, 1. 2; 4, 16. – Wie hier in Verbindung mit Buße und Gebet, so erscheint das Fasten anderwärts in Verbindung mit der Wohlthätigkeit, Jes. 58, 3–7. Auf diese Weise ist das Fasten bewahrt, in den Dienst des Geizes und der Habsucht zu treten. – Aus alledem ist ersichtlich, daß dem Fasten an und für sich keine religiöse Bedeutung zukommt. Es erhält nur einen religiösen Wert, sei es als Äußerung geistlicher Seelenzustände im Gebiet des leiblichen Lebens, also nur bei dem Vorhandensein einer Harmonie des inneren und äußeren Lebens, und andernteils als Mittel zur geistlichen Einwirkung auf die Seele und in Verbindung mit der Barmherzigkeit. Wenn man nun bedenkt, daß der HErr das Fasten zwar nicht befiehlt, aber es doch neben dem Gebet und Almosengeben als Äußerung christlicher Frömmigkeit (δικαιοσύνη) und damit doch wohl empfiehlt, es regelt, ihm einen Lohn verheißt, Matth. 6, 18, daß es ferner auch in der Apostelkirche in Übung war, Akt. 14, 23; 1. Kor. 7, 5, so wird man es nicht billigen können, daß das Fasten in den protestantischen Kirchen im allgemeinen so ganz dahingefallen ist und für die meisten eine fremde Sache ist und bleibt. Wenigstens die geförderten und gereiften Christen sollte man zur Askese anleiten, daß sie aber nicht eine Werkerei daraus machen und in falsche Geistlichkeit verfallen. – Aug. XXVI, 30.c. Auf gleicher Stufe mit dem Fasten steht das freiwillige Wachen zum Zweck der Arbeit, wie es St. Paulus geübt hat, um sich durch Arbeit den nötigen Unterhalt zu verdienen, damit das Evangelium besseren Eingang fände, 1. Kor. 9, 18; 2. Kor. 11, 28; 6, 5. In Verbindung mit Gebet und zu dem Zweck desselben erscheint es Ps. 134; Luk. 2, 37; 6, 12. Hanna. Der HErr. Auch des Schlafes Herr zu werden ist eine Macht, die der Mensch über seine Natur gewinnt. Eine Übung darin ist nützlich, aber sie ist nicht Askese, wenn sie nicht um Gottes willen geschieht. Manchen Menschen ist Wachen eine Sache des Berufs, wie bei den Diakonissen, und wiewohl dies Wachen kein freiwillig erwähltes ist, sondern Berufspflicht, so dienen doch Beispiele wie St. Pauli zur Stärkung und Ermutigung. Man kann sehen, was die schwache Kraft durch Gottes Beistand zu leisten im stande ist.
Eine andere Art Wachen, die in keiner Weise frei übernommen, sondern erzwungen ist, ist das von Gott auferlegte Wachen in Krankheit, Not und Anfechtung, eigner und fremder Art, Ps. 130, 6; 77, – auch eine Übung, die ins Kapitel vom Kreuz gehört. Man kann aber auch aus dem obigen Beispiel für diesen Fall Kraft und Licht nehmen.
d. Hier muß auch noch erwähnt werden die zeitweilige Enthaltung vom ehelichen Umgang zum Zwecke der Askese, 1. Kor. 7, 5.
2. Die freiwillige Enthaltung vom selbstsüchtigen Besitz zeitlicher Güter durch stete Übung im barmherzigen Geben.
Eine der größten Gefahren für die Seligkeit des Menschen ist der Besitz von Reichtum und die Anhänglichkeit daran, Matth. 19, 23. 24; Luk. 12, 15–21. Es hängt aber auch der wenig Begüterte oft krampfhaft an seiner Habe und trachtet nach Reichtum, 1. Tim. 6, 9. Diese beharrlich sich geltend machende Sinnesrichtung ist entsprechend zu bekämpfen. Darum ist nicht genug, daß man den Armen, die sich an uns wenden, hie und da etwas gibt, sondern es muß regelmäßig geschehen, und das nicht kärglich, sondern reichlich, nach Umständen und Verhältnissen, 1. Tim. 6, 18; Luk. 6, 36. 38. Man muß sich im Geben üben, nicht bloß zufällig, sondern beständig, methodisch geben, eine Ordnung daraus machen. Etwas derartiges ist| die Gewohnheit des Pharisäers Luk. 18, 12 gewesen, den Zehnten von allem, was er hatte zu geben, und es ist nicht dieses, sondern die pharisäische Gesinnung verwerflich. Auch der Apostel leitet zum methodischen Geben an, 1. Kor. 16, 2; die von ihm gesammelten Kollekten gehören ebenfalls hieher, Röm. 15, 26; 1. Kor. 16, 1. 2. Auch der HErr gibt den Armen, obwohl er selbst ein Gottesarmer ist, der von Wohlthaten lebt, Joh. 12, 5. 6; Tabea ist voller Almosen, Akt. 9, 36; Kornelius gibt reichlich, so daß es Gott bemerkte, Akt. 10, 2; die Gläubigen in Jerusalem, Akt. 4, 32 etc.; Tob. 2, 22; 4, 11; 12, 18; Sirach 3, 33, Stellen, die man sich erst zurecht legen muß wegen des übertriebenen Preisens und Lobens der Barmherzigkeit; Jes. 58, 6; Dan. 4, 24; Almosengeben erscheint verbunden mit der Erwählung der freiwilligen Armut durch Hingabe des Vermögens zu diesem Zweck. Empfohlen: Matth. 19, 21; Luk. 12, 33: „Verkauft, was ihr habt und gebt Almosen.“ Es ist dem Geben an die Armen ein großer Lohn verheißen, Luk. 16, 9 und andre Stellen; Luk. 19, 8 etc. ist es ein Beweis der Buße und zugleich Erstattung Unrechten Gutes. Auch ein zeitlicher Segen ist verheißen, Luk. 6, 38. Ein Sprichwort sagt: „Almosengeben armet nicht!“ Das Bemerkenswerte ist aber, daß die Almosen ein Kapital sind, das im Himmel angelegt ist und dort beständig Zinsen trägt. Übung ist nötig. Übung bringt auch hier selige Erfahrung.3. Hingabe an Gott durch fleißige freie Übung im Gebet.
„Betet ohne Unterlaß“ sagt der Apostel 1. Thess. 5, 17; Eph. 6, 18; Luk. 18, 1 etc. Der Christ soll immer in betender Stimmung zu bleiben bemüht sein, auch unter den irdischen Berufsgeschäften. Aber das Gebet verlangt auch einen eigentlichen Ausdruck, geregelte Gebetszeiten, Gebetsstunden, Akt. 3, 1; 16, 25; Ps. 119, 164 u. 42, 9, und Bettage, Joel 1, 14; Jon. 3, 8; Dan. 6, 10, auch stehende Gebetsformeln, wie das Vaterunser, die Litanei, Psalter etc., neben freien Gebeten. Wer eine Formel nicht anerkennen will, wird selber unwillkürlich auf eine solche kommen. Das Gebet verlangt auch eine besondere Örtlichkeit, Matth. 6, 6. Mit einem Wort: es muß Methode in diese Bethätigung der Frömmigkeit kommen. Das Ziel ist, daß man mit Andacht beten lernt. Dazu ist Vorbereitung und Übung nötig; cf. Löhe, Sabbath und Vorsabbath. Das verlangt, daß man Zeit und Kraft darauf verwendet. Jesus betete die Nächte hindurch auf den Bergen, Luk. 6, 12; 9, 28; 11, 1; Hanna, Luk. 2, 37; Kornelius,| Akt. 10, 30. Die Asketen, Anachoreten, Mönche machten einen Lebensberuf daraus (St. Antonius) zu beten für sich und andere. Zulässig unter Umständen; cf. Hanna. (Die Prophetenschulen).5. Die Betrachtung, meditatio, contemplatio, Luk. 2, 19 (Maria bewegte alle diese Worte in ihrem Herzen); Ps. 1, 2 (Er sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht). Gegenstände der Betrachtung sind: „Gott und göttliche Dinge, die Heilsgeschichte und die Heilsthatsachen, namentlich aber Gottes Wort, in das man sinnend sich vertieft, um die göttliche Kraft, die in ihm ist, zu schmecken. Viele Psalmen sind meditationes et contemplationes. Die meditatio ist die nachsinnende Betrachtung des Geistes, der die Dinge von allen Seiten betrachtet, um in ihr Wesen einzudringen. Die contemplatio ist mehr die in einen Gegenstand versunkene, ruhige Beschauung, die den Gegenstand in seiner Ganzheit auf sich wirken läßt, weshalb ein Leben, das sich diesen Zweck gesetzt hat, ein beschauliches heißt. Ausgezeichnete Schriften dieser Art sind die meditationes von Augustin und Johann Gerhard. Der Zweck aller Betrachtung ist die Versenkung in Gott, tiefinnerlicher Verkehr mit ihm, was ja das Ziel aller Religion ist. Eine Seele, die das kann, hat eine hohe Stufe religiösen Lebens erreicht und hat den Gewinn, daß ihr geistliches Leben eine Stetigkeit erreicht hat, während auf den niedrigen Stufen das geistliche Leben vielfach unterbrochen wird und der Faden immer von neuem angeknüpft werden muß. Ein stetiges „in und mit Gott leben“ gibt der Seele eine besondere Weihe und Verklärung in sein Bild.
Betrachtung und Gebet sind häufig miteinander verbunden und gehen ineinander über. Das Gebet nimmt häufig seine Nahrung aus der Betrachtung. Zu dieser gehört auch die Einkehr bei sich selbst, um seine eignen Seelenzustände kennen zu lernen und sich darüber Rechenschaft geben zu können. Zur Betrachtung gehört auch| die innere Übung der Buße, des Glaubens, der Liebe gegen Gott, welche in einer inneren Aussprache über die eigene Verderbtheit, über die großen Heilsthaten Gottes, die man immer von neuem sich aneignet und in einer Bewunderung der Größe und Tiefe der göttlichen Liebe besteht; cf. Löhe, Sabbath und Vorsabbath.6. Der möglichst häufige Gebrauch der Gottesdienste, Gnadenmittel, Beichte, Absolution, heiliges Abendmahl (heilige Taufe).
Der regelmäßige Besuch der Gottesdienste an Sonntagen, womöglich auch an einem oder etlichen Wochentagen, die täglichen Hausandachten, Morgen-, Abend- und Tischgebet ist Pflicht eines jeden Christen, sowie auch, wie oben gesagt, das Lesen der heiligen Schrift, soviel es geschehen kann. Unter günstigen Umständen ist es auch möglich, täglich gemeinsamen Gottesdienst herzustellen, wie in Anstalten. Auch dies ist unter das Kapitel der Askese zu stellen. Es hat dies seine Gefahren, denen man möglichst entgegenarbeiten muß, aber auch seinen entschiedenen Segen. Es ist eine heilige Gewohnheit, die, wenn die Seele einigermaßen auf dieselbe eingeht, ihre Macht auf sie ausübt. – Der fleißige Gebrauch der Absolution und des heiligen Abendmahls ist jedes Christen Pflicht, aber es ist in seine Freiheit gestellt, wie oft er’s gebrauchen will. Nicht bei allen ist der oftmalige Gebrauch der Absolution und des heiligen Abendmahls ratsam. Mancher muß um seines Seelenzustandes willen zurückgehalten werden, wenn Mißbrauch vorliegt. Bei gereiften Christen, die im richtigen Seelenzustand sich befinden, ist ein oftmaliger Gebrauch der Beichte und des heiligen Abendmahls, wo man Gelegenheit dazu hat, als das Richtige und Normale anzuraten. Der tägliche Abendmahlsgenuß (wie er z. B. in der alten Kirche in Übung war) setzt eine Höhe des individuellen geistlichen Lebensstandes wie desjenigen der Gemeinschaft voraus, welche in den Gemeinden, wie sie geworden sind, im allgemeinen überhaupt nicht, in einzelnen Fällen selten zu finden ist. Es gibt nicht viele Christen, denen man so regelmäßigen und häufigen Gebrauch raten kann. Alle drei bis vier Wochen aber, den richtigen Stand vorausgesetzt, ist nicht zu viel.
Der Haupteinwand gegen den zu häufigen Gebrauch ist, daß man sich nicht lange und ernst genug vorbereiten könne. Aber es scheint fast, als ob dem Einwand der Irrtum zu Grunde liege, daß auf die Vorbereitung mehr Gewicht zu legen sei als auf den Genuß| selber. Ein anderer Einwand ist der, als ob durch den zu häufigen Genuß des heiligen Abendmahls der Mensch gleichgültig und dafür abgestumpft werde. Wiewohl eine Wachsamkeit über sich nötig ist, so zeigt die Erfahrung einmal, daß eine kürzere Vorbereitung hinreiche und daß man durch Übung die Fähigkeit bekomme, sich schneller in die nötige Verfassung zu setzen, ferner, daß man bei einem gesammelten und asketischen Leben nicht nötig habe, sich mit großen Anstrengungen von der Welt und ihren Umarmungen loszureißen, sondern daß man mehr in steter Bereitschaft bleibt. Die Erfahrung zeigt auch, was man bei der göttlichen Natur des Sakraments voraussetzen muß, daß sich dasselbe nicht abnütze durch häufigen Gebrauch, sondern daß man je länger je mehr die Majestät und Größe dieses göttlichen Geheimnisses anbetend gebrauchen lerne und wahrnehme, wie jedesmal durch die Himmelsspeise eine neue Fülle von Kraft in Leib und Seele einziehe, die der entbehrt, der selten zum Sakramente kommt. Auf diese Weise wird man heimisch im himmlischen Heiligtum, lernt seine Sinne und Kräfte konzentrieren aufs Göttliche und bekommt dadurch Stärke genug für den Kampf mit Sünde, Welt und Teufel. Es ist ja die Natur der Speise, daß sie regelmäßig und oft genommen wird. Die Seele braucht immer neue Nahrung und Stärke zur Förderung des geistlichen Lebens. Außer dem Wort gibt der Seele nichts solche Kraft und Nahrung als das Sakrament des Altars. Der oftmalige Gebrauch ist der rechte und muß als Ziel aller Christen angesehen werden.Was macht man aber mit der oftmaligen Beichte, wenn man so oft zum heiligen Abendmahl geht? Die Hauptsache bei der Beichte ist die Absolution. Diese sich oft gläubig aneignen ist eine geistliche Übung, und es entspricht einem Bedürfnis der Seele. Die Füße werden dem Christen immer staubig vom Wandel über die Erde, und darum bedarf man der beständigen Reinigung und der wachsenden Gewißheit der Vergebung, des Friedens und der Freude im heiligen Geist, die aus dem gereinigten, gestillten, getrösteten und immerdar erneuerten Gewissen entspringt.
Aber auch die Beichte hat ihren großen Segen, wenn sie oft wiederholt wird, und insonderheit die Privatbeichte. Man wird beim häufigen Genuß des heiligen Abendmahls begreiflicherweise mehr die allgemeine Beichte als die Privatbeichte brauchen. Aber durch fleißigen Gebrauch und durch passende Abwechslung beider wird das geistliche Leben sehr gefördert. Nicht nur daß man eine beständige Aufforderung| zur Demütigung hat und zur Selbstprüfung, und nicht leicht, außer bei Leichtsinn, die vorliegenden Steine im Wege liegen läßt, sondern sie zu beseitigen sucht. – Die Privatbeichte bringt die Nötigung, sein inneres und äußeres Leben nach allen Seiten hin zu durchforschen und zu durchsuchen und sich darüber auszusprechen. Man hat nicht immer grobe Sünden zu bekennen; aber die sündige Art hat die mannigfachsten Erscheinungsformen, und je öfter man das Geschäft der Selbstprüfung treibt, je ernster und gründlicher man es vornimmt (und mit der Übung wächst die Fähigkeit und wird zur Fertigkeit), desto weniger fehlt es an Stoff zum Beichten. Auf diesem Wege wird man erst ein rechtes Beichtkind, bekommt Erfahrung und eine Fülle des Segens. – Nirgends kommt die Heilsordnung so handgreiflich zur Erscheinung als in der Beichte und Absolution und im Sakrament des Altars. Da hat Buße und Glaube eine stetige Übung wie nirgends sonst. Auf diesem Wege wächst man und wird stark in beiden. Der Mißbrauch ist freilich auch auf dem Wege nicht allzuselten. Es gibt Menschen, die diese Gnadenmittel fleißig brauchen und bei denen die sittliche Wirkung ausbleibt und bei denen es nie zu einem rechten lauteren Christenwandel kommt, oder die in ihrem sittlichen Leben rückwärts kommen. In solchem Fall ist Aufsehen not, weil sonst Gottes Gericht, namentlich Krankheit und früher Tod eintritt, 1. Kor. 11, 30. Der HErr übt hier unmittelbar seine Zucht, schont nicht den sträflichen Leichtsinn und die Profanation des Allerheiligsten.Es handelt sich nun noch um die Taufe. Kann man diese zu geistlichen Übungen brauchen, da sie ja doch ihrer Natur nach nicht wiederholt werden kann? Ja, eben dadurch entfaltet sie ihre Wirkung, die durch das ganze Leben hindurch geht, bis in den Tod hinein, da der Christ zum ewigen Leben wiedergeboren ist. Die heilige Taufe ist eine Quelle des Trostes und göttlicher Kraft; wenn sie recht gebraucht wird und wenn man durch fleißige Betrachtung sich recht ihres Wesens und ihrer Wirkung bewußt wird.
Die Taufe ist eine Quelle des Trostes wider die Sünde. Sie ist ein Heilbrunnen, durch welchen alle Sünden des ganzen Lebens abgewaschen sind und in dem man sich täglich waschen kann; wenn man, um mit Luther zu reden, immer wieder von neuem in die Taufgnade kriecht. Hebr. 10, 22. Die Taufe ist ein Bund mit Gott, der ewig feststeht, auch wenn der Mensch untreu wird, 1. Petr. 3, 21; Jes. 54, 10, indem die Rückkehr durch Buße und Absolution immer wieder| möglich ist. Die Taufe ist ein Siegel der Erwählung, Eph. 4, 30; 1, 13; 2. Kor. 1, 21. Wer deshalb angefochten ist, findet darin den sichersten Trost.Die Taufe ist auch ein Trost wider den Tod. Der Christ wird im Tode kraft seiner Taufe völlig frei von der Sünde; denn es ist in ihr die Seele, und in Hoffnung auch der Leib, wiedergeboren zu einem himmlischen Leben, wie denn auch der Leib durch die Taufe zu einem Tempel des heiligen Geistes geheiligt ist. Die Taufe ist ein Jungbad für den ganzen Menschen.
Die heilige Taufe ist auch eine Quelle neuer Kraft, ja der täglichen Erneuerung, Röm. 6, 4; Luthers kleiner Katechismus. Was in der Taufe angefangen ist, die Tötung des alten Menschen, wird kraft der Taufe in der täglichen Buße fortgesetzt, so daß der alte Mensch von Tag zu Tag abnimmt, und der neue Mensch von Tag zu Tag erneuert wird, 2. Kor. 4, 16, alles kraft der heiligen Taufe, die unterstützt wird durch die andern Gnadenmittel.
Darin liegt die weitgehende sittliche Verpflichtung der Taufe, dem Teufel und allem seinem Wesen (pompa) und allen seinen Werken zu entsagen und sich dem dreieinigen Gott zuzusagen. Das ist das Tauf- und gleicherweise das Konfirmationsgelübde, das der Christ fleißig, ja womöglich täglich oder wenigstens bei jedem wichtigeren Anlaß im geistlichen Leben, z. B. beim Sakramentsgenuß wiederholen soll (Erneuerung des Taufbundes), daß das Andenken an die heilige Taufe stets frisch im Gedächtnis grüne. So lebt sich der Mensch so recht in die Grundlagen seines geistlichen Lebens hinein und macht sie zur Segensquelle für die Gegenwart und Zukunft.
Aus alledem erhellt, wie wichtig die heilige Übung in göttlichen Dingen ist; ohne sie bleibt man ein Stümper in diesen Dingen, ein Kind, und kommt nie zur Mannheit in Christo. Das Heiligtum ist dem Menschen in die Hände gegeben; wie er es benützt, das ist seine Sache. Aber alles ist nur Mittel zum Zweck. Wehe dem, der die Sache anders ansieht!
7. Das Gelübde. Es gehört auch zur Askese und ist eine gottesdienstliche Handlung, aber verschieden von den vorausgehenden Arten, weil es ausschließlich auf Freiwilligkeit beruht. Es wird das Gelübde von vielen Ethikern (Harleß), außer dem Tauf- und Konfirmationsgelübde, welche eigentlich nur unter den Begriff Bundesschließung gehören und die menschliche Seite derselben bezeichnet, also nicht hieher| gehört, ganz verworfen. Man hat daher zu fragen: Was ist ein Gelübde und ist es von Gott zugelassen, ja ihm wohlgefällig?Ein Gelübde ist ein ganz freiwilliges Versprechen, etwas Gott zuliebe zu thun oder zu lassen, entweder ohne entsprechende Gegenleistung von Gott oder mit einer solchen. Man kann ein Gelübde thun zu einer besonderen Bethätigung der Hingabe an Gott, z. B. nach empfangenen Wohlthaten, oder als Motiv für eine zu erlangende Gebetserhörung. Ps. 66, 13–15; 22, 26; 116, 12–19. Mit dem Gelübde bindet sich der Christ in gesetzlicher Weise. Das Gesetzliche ist aber hier kein Hindernis der evangelischen Freiheit, weil etwas Selbstauferlegtes.
Im Alten Testament haben wir Beispiele genug, daß das Gelübde Gott wohlgefällig ist. Ein alttestamentliches Institut ist das Nasiräat. Es hatte das Nasiräatsgelübde (Enthaltung vom Wein und von allem, was vom Weinstock kommt, und Wachsenlassen des Haupthaares) zur Voraussetzung, Num. 6, 3 etc. Es galt entweder für die ganze Lebensdauer, Richt. 13, 5; 1. Sam. 1, 11, oder für eine bestimmte Zeit, Num. 6, 5.
Andere Gelübde: Ein solches thut Jakob, Gen. 28, 20; 31, 13; Hanna, 1. Sam. 1, 11; Jona 2, 10; die heidnischen Schiffsleute, Jona 1, 16. (Die Rechabiten, Jerem. 35, 6, enthielten sich des Weins im Gehorsam gegen das Gebot ihres Vaters. Verwandt ist Sauls Beschwörung, 1. Sam. 14, 24.) Jephtha thut ein unbesonnenes Gelübde, Richt. 11, 30. Im Neuen Testament thut St. Paulus, der Apostel der evangelischen Freiheit, ein Gelübde und zeigt damit, daß es in der Freiheit eines Christenmenschen stehe, Gelübde zu thun, Akt. 18, 18; 21, 24. Es war kein Nasiräatsgelübde, obwohl ein demselben ähnliches, aber ein Privatgelübde.
Im Alten Testament gibt es Gelübdeopfer, neben den freiwilligen Opfern genannt, aber auf die Zukunft bezüglich, was man erst zu thun gedenkt. Gelübde braucht man nicht zu thun; sie nicht thun ist nicht Sünde; aber die man gethan hat, muß man halten, Lev. 22, 17 etc.; Deut. 23, 21; Num. 30, 3; Ps. 50, 14; 116, 14; Pred. 5, 3.
Gelübde sind erlaubt auch nach den Symbolen der lutherischen Kirche mit der nötigen Vorsicht und Einschränkung. Sie sollen in möglichen Sachen geschehen, d. h. die der Mensch in seiner Hand hat, willig, ungezwungen, wohlbedacht (Conf. Aug. XXVII, pag. 60, 28 etc.). Den Klostergelübden fehlen fast durchweg diese| Erfordernisse, darum sind sie für solche, bei welchen ein solcher Mangel vorhanden ist, unverbindlich, wenn die bessere Erkenntnis kommt. Was Verkehrtheit war zu geloben, bleibt Verkehrtheit, wenn man es hält. Ein sündliches Gelübde darf man nicht halten, so wenig wie einen sündlichen Eid. Damit wäre jedoch in der Reformationszeit keineswegs für alle Klosterleute die Erlaubnis gegeben gewesen, ihr Gelübde zu brechen, wenn nicht der falsche Gottesdienst in den Klöstern diejenigen, die die bessere Erkenntnis aus dem Evangelium gewonnen hatten, herausgetrieben hätte.Die drei Klostergelübde sind: 1. ewige Keuschheit, 2. freiwillige, gänzliche Armut, 3. unbedingter Gehorsam gegen die Oberen des Klosters.
Unter Umständen ist es thunlich, aber mit großer Vorsicht, zu geloben, immer unverehelicht zu bleiben, Matth. 19, 11–12; 1. Kor. 7, 34. 40. Der Mensch muß sich in diesem Falle ganz genau kennen und seiner sicher sein. Ein Gelübde der Ehelosigkeit anderen, z. B. Diakonissen, abzunehmen, scheint zwar fast eine Sache der Notwendigkeit zu sein, wenigstens auf eine gewisse kürzere Zeit, aber es ist doch viel richtiger und evangelischer, dies nicht zu thun und die Gewissen nicht zu binden. Ein Gelübde der Aufrichtigkeit abzunehmen, demgemäß jeder nahende Vorschlag der Heirat den Vorstehern solcher Anstalten anzuzeigen ist, ist durchaus unverfänglich und richtig gehandelt. Das Gelübde der Armut ist da leicht abzunehmen, wo man für Lebenszeit versorgt ist, wie in den Klöstern, und wo man meist alles in Hülle und Fülle hat, was man braucht. Unevangelisch ist solch ein Vornehmen an sich nicht.
Es sind aber noch etliche ganz unevangelische Formen der Askese in Erinnerung zu bringen. Von der Ehelosigkeit, insofern das Gelübde unevangelisch ist, ist schon geredet. Ganz unevangelisch ist der unbedingte Gehorsam gegen den Vorgesetzten des Klosters. Es steht wohl in der Freiheit eines Christen, das Zölibat zu wählen und die freiwillige Armut, wie St. Paulus. Es kann gewiß auch den Christen das Recht nicht genommen werden, zu kirchlichen Zwecken eine Gemeinschaft zu bilden und nach einer gemeinsamen Regel und Ordnung zu leben. Es ist natürlich und selbstverständlich, daß man durch seinen Eintritt in eine freie Gemeinschaft den Gehorsam gegen die bestehenden Ordnungen und die Vorgesetzten der Gemeinschaft verspricht und gewissenhaft zu halten verbunden ist. Aber unbedingten Gehorsam einem Menschen| zu leisten, ist Sünde, weil man damit den unbedingten Gehorsam gegen Gott aufgibt, beide aber nicht nebeneinander bestehen können, und es gibt kein Mittel, dem Konflikt auszuweichen als durch freiwilligen Austritt. Es ist ein knechtisches Joch, welches ein solches Gelübde gegen die evangelische Freiheit auflegt, Gal. 5, 1. Wie verderblich dieser Gehorsam in der römischen Kirche überhaupt ist, ist in bemerkenswerter Weise hervorgetreten in dem Verhalten, welches an den Bischöfen der römischen Kirche gegen das auf dem Vaticanum promulgierte Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit beobachtet wurde, denen dieser Gehorsam gegen den Papst über ihre Gewissensüberzeugung und die Einheit der Kirche, also der Nutzen, über die Wahrheit ging und nach römischen Grundsätzen gehen mußte.Aber nicht allein dies Stück ist verwerflich an den Klostergelübden, sondern sie selbst, indem der Wahn dabei ist, daß die Erfüllung derselben nicht allein gerecht mache, sondern auch eine Vollkommenheit und ein Überverdienst gebe, von dessen Überfluß man den andern mitteilen könne. (Dagegen Luk. 17, 10; 1. Kor. 4, 3–4; 9, 17–23.) Das ist ein ganz ungöttliches Wesen, und es ist eine große Gnade Gottes, daß dieser Wahn durch die Reformation getilgt wurde. So hat sich die vermeintliche größte Frömmigkeit verkehrt in elenden Pharisäismus, der für das Reich Gottes das größte Hindernis ist und zu einer tief innerlichen Feindschaft gegen Christo wird.
Der pädagogische Charakter zeigt sich auch bei gewissen Enthaltungsgelübden. Es kann nämlich beim Christen von seinem früheren natürlichen Zustande her, aus seiner Vergangenheit außer und vor Christo, eine besondere Versuchung hereinragen in seinen gegenwärtigen Christenstand, die ihm immer und immer wieder gefährlich und ein Anlaß zur Sünde werden kann. Aber weil es sich um an und für sich erlaubte Dinge handelt, kann der alte Mensch immer wieder die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit brauchen. Da entschließt sich der Christ, mit jenen Versuchungen zu brechen. Er thut es dadurch, daß er sich entschließt und durch ein Gelübde selbst bindet, auf jene an und für sich erlaubten Genüsse zu verzichten, welche für ihn, nach seiner besonderen Individualität, versuchlich geworden sind. Es ist dies zwar ein gesetzliches Moment, aber doch mit der Freiheit nicht unverträglich, weil es kein an und für sich notwendiger Verzicht ist, den der Christ sich auferlegt. Verwandt damit ist, was Matth. 18, 8–9 vom HErrn empfohlen wird.
Es ist also auch unter diesem Gesichtspunkt der Selbstzucht, die der Christ sich auferlegt zum Zweck seiner sittlichen Förderung, das Gelübde auch innerhalb der christlichen Freiheit möglich. Das hat pädagogischen Wert und ist unverwerflich und zwar das Gelübde nach der doppelten Seite des Versprechens einer Leistung oder einer Enthaltung von einem Genuß, zu der man auch nicht verpflichtet ist. – Man darf nun aber die Kraft des Gelübdes in diesem Sinn auch nicht überschätzen. Es ist eine unter Umständen heilsame Bindung des Willens| und Selbstzucht. Aber vergessen darf nicht werden, daß die Kraft zur Erfüllung nicht das Gesetz gibt, sondern der heilige Geist. Als Stab und Stecken, als heilsames Band, als Barriere auf dem Lebensweg, die vor Abwegen warnt, mag das Gelübde gebraucht werden; aber der täuscht sich selbst, welcher im Gelübde das selbsterwählte Mittel der Selbstüberwindung und Heiligung sieht.Bei der ganzen Frage nach dem Wert der Gelübde ist nicht aus den Augen zu lassen, daß im Alten Testament nie und nirgends das Gelübde befohlen oder auch nur angeraten ist, wogegen allerdings die Haltung des einmal Gelobten als Pflicht stark betont wird. Eine Sache vollkommener Freiheit, auch nach alttestamentlicher Anschauung, ist das Gelübde, solange es sich um die Frage handelt: Soll es abgelegt werden oder nicht? Aber sobald es abgelegt ist, bindet es; Pred. 5, 3–5. Im Neuen Testament erscheint das Gelübde nur ganz vereinzelt und ohne daß ein sonderliches Gewicht darauf gelegt wird, woraus man mit Recht geschlossen hat, daß das Gelübde mehr der alttestamentlichen Frömmigkeit entspreche. In der Apostelgeschichte kommt es ein paar Mal vor. Kap. 21 läßt sich der Apostel Paulus, um dem Vorwurf, von der alten Lehre abfällig zu sein, zu entgehen, zu einem Gelübde gläubiger Juden herbei. Etwas anderer Art ist der Fall Akt. 18, 18, wo er auch ein Gelübde auf sich genommen und durch Scheren seines Hauptes gelöst hat. Außer diesen beiden Fällen begegnet uns kein Gelübde dieser Art im Neuen Testament, was also ein Beweis ist, daß das Gelübde mehr der gesetzlichen Pädagogik als dem Stand des Christen entspricht.
Damit ist dann die Frage gelöst, ob die Gelübde (cf. oben) ein Stand höherer Vollkommenheit sind. Man wird es nach dem eben Bemerkten nicht sagen. Vollkommen wäre der Christ, wenn er kein Gelübde brauchte, sondern der Wille an und für sich ohne ein gesetzliches Band stark und energisch genug wäre, das Gute zu thun. Aber bei der Unvollkommenheit der menschlichen Natur auch beim Christen muß man sagen, es handle der weiser und vollkommener, der, um Versuchungen zur Sünde zu entgehen, gelobt, auf den Genuß zu verzichten.
Auch ein anderer Umstand trägt dazu bei, das Gelübde auf seinen richtigen Wert herabzusetzen, daß nämlich bei demselben gar zu leicht in das Verhältnis des Christen zu Gott ein, wenn man so sagen darf, rechnerisches Element eingetragen wird. Es ist gleichsam eine| Art Handel mit Gott: für eine kleine Gabe des Menschen soll Gott eine große Wohlthat geben.Drittens sind die Gelübde nicht für vollkommener zu achten, weil dadurch vom Christen die Erhörung des Gebets in sehr bestimmter Richtung fixiert wird, während es dem Charakter des christlichen Gebetes entspricht, Zeit, Art und Weise Gott zu überlassen. Doch kann in dieser Fixierung der Erhörung der Bitte andernteils in bestimmten Fällen ein besonders starker Glaube (cf. oben) sich aussprechen. Darum hebt sich vielleicht das eine gegen das andere gegenseitig auf.
8. Die Heiligen.
Das Verlassen dieser Ordnungen ist nicht in allen Fällen Übertretung direkter göttlicher Gebote, aber wohl in den meisten Fällen eine Versündigung an der Kirche oder eine Beeinträchtigung ihres Wohls; denn nicht ohne Schaden können sie verlassen werden. Es ist eine Thorheit und Anmaßung, wenn eine an Gaben und Weisheit ärmere Zeit über die apostolische Autorität sich erhebt, und eine Impietät gegen Gott und seine Apostel und beider Anordnungen und zugleich gegen die Kirche. Der Wesensbestand der Kirche wird indes nicht in allen Fällen verletzt, wenn solche Ordnungen aufgehoben werden.
Bei den apostolischen Ordnungen muß man lokale und temporäre Anordnungen von den allgemeinen, für alle Zeiten und Verhältnisse der Kirche passenden, auf gleichbleibende Bedürfnisse gegründeten Ordnungen unterscheiden. Die ersteren werden hinfällig ihrer Natur nach, wenn die lokalen und temporären Umstände aufhören. Solche sind nach Augustana XXVIII, 65 z. B. die Akt. 15, 20 getroffenen: die Forderung der Enthaltung von Götzenopferfleisch, vom Genuß des Erstickten und des Blutes (was im Alten Testament verboten war); 1. Kor. 11, 10: die Forderung der Kopfbedeckung, die das Weib beim Beten haben soll, nach der damaligen Sitte (vgl. v. Hofmann, Die hl. Schrift N. T.s, II. Teil, pag. 232).
Allgemeine, bleibende apostolische Ordnungen sind:
a) Die Gottesdienstordnung, aber nur in den vier liturgischen Grundsteinen, Akt. 2, 42, welche die Wesensbestandteile des Hauptgottesdienstes enthalten:
- 1. die apostolische Lehre (das gelesene und gepredigte Wort),
- 2. die Gemeinschaft (die Darbringung von Liebesgaben),
- 3. das Brotbrechen, (Sakrament des Altars) und
- 4. das Gebet.
b) Die Sonntagsfeier erscheint als christliche Sitte in der apostolischen Zeit. Der Tag des HErrn wird als bestehende Einrichtung erwähnt (Off. 1, 10). Der Sonntag ist nirgends in der Schrift geboten. Die Anschauung, daß der Sabbath von der Kirche in den Sonntag verwandelt sei, ist eine Erfindung, conf. Aug. XXVII, pag. 65, 33. Der Sabbath ist abgethan; 2. Kol. 17, 18. Die christliche Kirche hat den Sonntag frei geordnet. Anders die römische und reformierte Kirche, die in diesem Punkte nicht das volle Verständnis des Evangeliums haben, sondern etwas Gesetzliches. Nichtsdestoweniger ist der Sonntag aber nicht eine willkürliche menschliche Erfindung, die man nach Gefallen auch wieder beseitigen könnte. Er ist vielmehr eine uralte kirchliche Ordnung, die sich einesteils wieder auf eine allgemeine göttliche Ordnung gründet, einen siebenten Tag nach sechs Werktagen zur Ruhe von der leiblichen Arbeit und zur Beschäftigung mit göttlichen Dingen zu haben (das Allgemeine der Sabbathsidee mit Abstreifung alles speziell Jüdischen), teils auf einen unverkennbaren Wink Gottes, der den Sonntag mit den größten Thatsachen des Heils ausgezeichnet hat und ihm offenbar einen Vorzug vor dem Tag der Schöpfungsfeier gegeben hat. Auch das providentielle Walten Gottes über der Feier dieses Tages durch alle Jahrhunderte zeugt dafür, daß er eine dem Willen Gottes entsprechende Ordnung sei auf dem Gebiet der evangelischen Freiheit, welche die letztere nicht beeinträchtigt, sondern sanft und unvermerkt sich ihr anschmiegt. Doch steht der Christ dieser Ordnung freier gegenüber, sintemal ja die Gemeinde in Jerusalem, wenigstens in der ersten Zeit, alle Tage gleich hielt.
Mit dem richtig verstandenen Sonntag als Gedenktag der größten Heilsthaten Gottes ist auch die Notwendigkeit der christlichen Hauptfeste gegeben: Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten. Ihre Feier ist ein Produkt der christlichen Freiheit, und wenn sich die Feste in ihrer gegenwärtigen Gestalt auch erst in der nachapostolischen Zeit entwickelt haben, so sind sie doch nichts weiter als eine Entfaltung der Sonntagsidee nach ihrer einen Seite und darum wie der Sonntag göttlich gestiftet, wenn auch nicht durch Wort und Befehl| so doch durch die lauter als beide redenden Thatsachen, und darum ihre Feier eine Gott wohlgefällige Ordnung auf dem Gebiet der individuellen Freiheit. Ihre Bedeutung: ein wiederholtes Mitdurchleben der Heilsgeschichte in der Betrachtung zum Zweck der gläubigen Aneignung des Segens der Heilsthatsachen und zum Zweck des Lobes Gottes für seine Heilswohlthaten, Anlehnung an das Alte Testament und etwas dem Menschen Natürliches.Das sind die allgemeinen Grundzüge, welche nicht in die Freiheit des einzelnen gestellt sind. Nur das Maß heiligen Ernstes und die Weisheit in der Ausführung und die Art und Weise, wie man es anfängt, ist der individuellen Freiheit anheimgestellt, und hier hat die Ausübung dieser Zuchtordnung, soweit sie von den einzelnen abhängt (für Gesamtzustände ist der einzelne meistens nur in sehr geringem Maß verantwortlich), einen ziemlich großen, freien Spielraum. Auch in den einzelnen christlichen Kreisen und Gemeinschaften kann und soll in gewissem Maße Zucht geübt werden (cf. Löhe, Vorschlag zur Vereinigung etc.). Auch Beispiele üben eine mächtige Wirkung. Der Geist der Zucht und der öffentlichen Sittlichkeit, gleich dem heiligen Gemeingeist, der das sittliche Wohl des Ganzen im Auge hat, ist der Gradmesser des geistlichen Lebens einer Gemeinde oder einer größeren Gemeinschaft. – Die Zucht durch die Gemeinde bleibt immer Ziel und Maßstab, auch wo sie unerreichbar ist. Die Ausübung des Bannes bei vorkommenden Ärgernissen ist unter allen Umständen notwendig, auch wenn man es nicht zu förmlicher und feierlicher Ausschließung aus der Gemeinde bringen kann, sondern wenn sich der Geistliche mit der Zurückstellung vom heiligen Abendmahl begnügen muß. Ohne den rechten Zeugengeist, der den Haß der Welt nicht scheut, und ohne die rechte Weisheit, welche das richtige Verfahren trifft und wohl zu unterscheiden weiß, wo man nachgeben kann und darf, und wo nicht, wird auf diesem Gebiet nicht viel erzielt. Die Übung der Zucht und Pflege des Sinnes dafür liegt in unsern Verhältnissen in der Hand des Geistlichen, unter Umständen ganz allein.
| d) Das Beichtinstitut ist nicht ein Gebot Gottes, sondern ein Institut, welches die Kirche eingesetzt hat. Die Apologie pag. 166, 65 (vergleiche Augustana XXV. XII) zählt es zu den Menschensatzungen (traditiones) und sagt, sie seien nicht ein Gottesdienst, der nötig zur Seligkeit, doch soll man die Beichte nicht fallen lassen, conf. Aug. XI und XXV und zwar ist hier die Privatbeichte gemeint. Eine andere gab es damals nicht. Die sogenannte „allgemeine Beichte“ ist neueren Ursprungs. Was die Reformation an dem Institut der Beichte beseitigt hat, ist das Römische daran, der Beichtzwang, die Forderung, alle wissentlichen Sünden aufzuzählen und die aufgelegte Genugthuung zu leisten (satisfactio). Das ganze Beichtinstitut, das ältere und das gereinigte in der lutherischen Kirche, ist eine freie Bildung der Kirche, die aber mit einer gewissen inneren Notwendigkeit aus der großen Veränderung hervorgegangen ist, wodurch die Kirche aufhörte, Bruderkirche zu sein (s. u.).e) Die Verfassung der Kirche und deren Leitung. Bei der Verfassung der Kirche hat man zu unterscheiden die Verfassung der Einzelgemeinde und die eines Kirchenkörpers, der entweder durch Abzweigung einzelner Gemeinden von einer Muttergemeinde oder durch Zusammenschluß einzelner selbständigen Gemeinden zu einem Ganzen entstehen kann.
Die Grundlagen der Verfassung der Einzelgemeinde sind göttlich gegeben, nämlich in der Zweiheit von Amt und Gemeinde, Hirt und Herde, Haushalter und Hausgesinde (Matth. 16, 18; Joh. 21, 15 –17; Luk. 12, 42 etc.), welche nicht bloß bei der Diakonenwahl Akt. 6, sondern auch bei der ersten Missionsaussendung Akt. 13, 1–4 u. 14, 26–27, sowie auch bei der ersten Lehrentscheidung auf dem Apostelkonzil hervortritt, Akt. 15, 22.
Die Verfassung der Kirche als einer Gesamtheit von Gemeinden ist hingegen eine Sache der christlichen Freiheit, aber es ist nicht gleichgültig für das Wohl der Kirche, welche Verfassung sie hat. Es ist eine Verfassung wie die andere aus einer inneren Notwendigkeit und Folgerichtigkeit der Umstände hervorgegangen, nicht ohne göttliche Zulassung. Man kann sich auch nicht beliebig eine Verfassung machen oder wählen. Aber wo man in dem Fall ist, oder auch sonst um der richtigen Beurteilung willen, muß man wissen, welche Verfassung der Schrift, dem göttlichen Willen am angemessensten, der Kirche am förderlichsten und der evangelischen Anschauung am gemäßesten sei. Man sieht sich billig außer der Erfahrung, welche die Geschichte| an die Hand gibt, auch nach einem göttlichen Wink und einer göttlichen Ordnung um. Man kann im voraus gewiß sein, daß Gott seine Gemeinde nicht ohne eine bestimmte Weisung werde gelassen haben.Man kann nicht leugnen, daß die erste Verfassung, welche die Kirche unter den Aposteln hatte, eine Art göttlicher Hierarchie war. Christus setzte seine Apostel, diese ihre Legaten und Bevollmächtigten, diese die Wächter und Hirten ein, in der Muttergemeinde zu Jerusalem haben wir einen Mittelpunkt der einzelnen Gemeinden, in dem Apostel-Kollegium eine entscheidende Autorität für die Gesamtheit, Gal. 2. Diese erste Bildung erlischt mit dem Hingang der Apostel. In der nachapostolischen Kirche sind die Verhältnisse teilweise die gleichen geblieben, aber nicht durchaus: für Jerusalem traten andere Mittelpunkte ein und an Stelle der gottgesetzten überwaltenden Autorität der Apostel tritt ein Produkt der freien geschichtlichen Entwicklung, die Autorität der Bischöfe, d. h. der persönlichen Spitzen der Presbyter-Kollegien. Siehe Anhang zu den schmalkaldischen Artikeln. Diese Bildung eines die Kirche regierenden Episkopats hat sich noch unter den Augen des letzten Apostels vollzogen. Die Engel der Gemeinden in der Offenbarung, c. 1, 20; c. 2, u. 3, sind nichts anderes als die sonst Bischöfe genannten Vorsteher derselben. Die Episkopalverfassung ist somit göttlich anerkannt und sanktioniert und ist die eigentliche Verfassung der Kirche geworden. Sie hat sich in der Verfolgungszeit und später auf das Beste bewährt.
Im weiteren Verlauf der Entwicklung trat indes eine Mißbildung ein, die Episkopalverfassung entwickelte sich zu derjenigen Gestalt, welche man tadelnd Hierarchie nennt. Diese entstand dadurch, daß aus den Haushaltern Regenten wurden, aus dem Amt ein bevorzugter Stand in der Kirche. In der Hierarchie wird das Amt einseitig betont, so daß der andere Faktor, die Gemeinde, nur als ein Annexum erscheint. Die Hierarchie hält sich gemäß des historischen Zusammenhangs mit den Aposteln als Rechtsnachfolger derselben in ihren Entscheidungen für unfehlbar. Die Kirche gewinnt unter ihr das Aussehen und die Art eines menschlichen Staates. Das Hauptbestreben der Hierarchie ist das Festhalten und die Erweiterung ihres irdischen Besitzstandes; die Hauptsünde in ihren Augen das Zerreißen der Kircheneinheit; die Haupttugend die Unterwerfung unter die Kirchenautorität. Die wichtigste Form der Hierarchie ist das römische Papsttum. Ging in den Anfängen der Hierarchie der Begriff der Kirche auf in dem der Geistlichkeit, so geht im Papsttum der Begriff des Episkopats auf in dem einen „Nachfolger St. Peters“ in Rom.
| In der Entwicklung der Kirche kommt auch in Betracht das Verhältnis zum Staat. Seit Konstantin ist die Kirche Staatskirche geworden. Die Hierarchie stellt an den Staat die Forderung, daß er ihren Zwecken diene, sei es, daß sie die Unterwerfung des irdischen Gemeinwesens verlangt, wie die römische Kirche thut, sei es, daß sie mit demselben zu einem untrennbaren Ganzen verschmilzt, so daß sie ihre Selbständigkeit dem Staat gegenüber verliert, der Staat aber andrerseits kirchlichen Charakter bekommt.Die Reformation hat, soweit sie durchdrang, der Hierarchie ein Ende gemacht, die Selbständigkeit der beiden Gemeinschaften wenigstens theoretisch sichergestellt. Sie vermochte aber nicht die Episkopalverfassung gereinigt in ihr Leben mit herüberzunehmen, weil die Bischöfe im allgemeinen widerstanden. Auch war sie in Gefahr, der Einseitigkeit der Hierarchie eine andere gegenüberzustellen und in der unterschiedslosen Gemeinschaft der Gläubigen die Kirche zu sehen (Luthers Brief an die Böhmen). Im übrigen sind in der Reformation die Grundlagen der alten Kirchenverfassung wieder hergestellt.
Zum Staat hat die evangelisch-lutherische Kirche verschiedene Beziehung. Die Reformation hat die Staatskirche von der vorreformatorischen Zeit übernommen, ja sie hat bei dem Mangel all einer höheren Autorität den Landesherrn zum summus episcopus gemacht, zu einem Notbischof. Aber seitdem der Staat sich den Übergriff bekenntniswidriger Union verschiedener Kirchen erlaubt hat, gibt es auch vom Staat freie evangelische Kirchen in Deutschland; desgleichen solche durch die Besonderheit der äußeren Verhältnisse in außereuropäischen Ländern, besonders in Nordamerika. Aber auch diese Kirchengemeinschaften haben es nicht zur Wiederherstellung der Episkopalverfassung gebracht, zum Teil schon deswegen nicht, weil in Weiterverfolgung der Gedanken des Briefes an die Böhmen das Schwergewicht bei der Kirchenverfassung in die Gemeinde gelegt wurde (missourische Richtung). Hier wird auch die Beziehung ersichtlich, welche zwischen Gemeindeverfassung und Kirchenverfassung besteht. Alle die freien Kirchenbildungen haben sich für die sogenannte Synodalverfassung entschieden, welche der Episkopalverfassung am nächsten kommt. Das Präsidium derselben, namentlich wenn es eine gewisse Stetigkeit erlangt, nähert sich der bischöflichen Leitung im protestantischen Sinn. Der naturgemäße Zusammenschluß der Gemeinden findet seine Vertreter in ihren Pastoren, welche in ihren Vereinigungen die Synode bilden, die ihr biblisches Vorbild in dem| Apostelkonzil hat, Akt. 15. Es gilt, auf diesem Gebiet die nötige Weitschaft zu behaupten und der Freiheit und der geschichtlichen Entwickelung ihr Recht zu lassen, dabei aber an den göttlich gegebenen Grundlagen der Verfassung unverbrüchlich festzuhalten, sowie die göttlichen Ordnungen und Weisungen, die uns Gott gibt, zu würdigen, und demnach möglichst auf das richtige Ziel hinzusteuern. Gott muß ja freilich das Beste dabei thun und zu einer richtigen und biblisch-evangelischen Form der Verfassung verhelfen.g) Die Armen- und Krankenpflege. Es ist Pflicht jedes Christen, sich der Armen und Kranken anzunehmen, wie er eben kann und wie es ihm durch die Verhältnisse nahegelegt ist, Röm. 12, 13. Es ist das Feld groß, auf dem diese Liebespflicht zu üben ist. Aber auch hier begegnen wir apostolischen und somit göttlich sanktionierten Ordnungen und Einrichtungen, wodurch besser als durch Privatthätigkeit der Zweck erreicht wird.
Die eine Einrichtung ist die Diakonie, deren Entstehung wir Akt. 6 lesen und die sich unter der Leitung der Apostel weiter ausgebildet hat, 1. Thess. 4, 9–12; 2. Thess. 3. Das Eigentümliche dieser Einrichtung besteht darin, daß für diese Liebesthätigkeit ein besonderes Amt, Kirchenamt, geschaffen wurde mit männlichen und weiblichen Gliedern, Röm. 16, 1; 1. Tim. 3, 11; 5, 9, daß also die Liebesthätigkeit organisiert erscheint unter Leitung von Geistlichen. Die Diakonie ist eine Fortsetzung des Amtes des größten Diakonus, der dazu in die Welt gekommen ist, nicht daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene, Matth. 20, 28. Dies ist der Anstoß zu der großen Liebesthätigkeit gewesen, die die Kirche geübt hat, auch noch, nachdem die eigentliche Diakonie hingefallen war, wie sie sich noch in tausenderlei großartigen Wohlthätigkeitsstiftungen erhalten hat. Daß unsre Zeit die Diakonie nach gewissen Seiten wieder erweckt hat, ist ein gutes Zeichen für die Kraft der thätigen Liebe, die sich in ihr findet. Der Geist der barmherzigen Liebe und ihrer Werke ist in der Kirche nie ausgestorben, aber man kann die Mängel derselben leicht bemerken, wo die göttlich sanktionierte Ordnung der Diakonie fehlt. Darin liegt eine ganz andre Macht und eine ganz andre Gewähr und darum auch ein ganz andrer Erfolg. Man sieht, daß sich die Kirche frei, ohne die Form und Einrichtungen auf dem Gebiet der Barmherzigkeit bewegen kann, aber daß nie etwas Ordentliches daraus wird, wenn es nicht in den Bahnen göttlicher Einrichtungen geht.
h) Das Gebet der Ältesten am Krankenbett mit der Ölung. Daß das Gebet am Krankenbett geübt wird, ist eine Sache, die sich für den Christen von selbst versteht, auch wohl, daß der Geistliche den| Kranken besucht, ihm zuspricht und mit ihm betet. Es ist aber eine ganz andre Sache, daß wir eine apostolische Aufforderung haben, eine Anordnung, die Ältesten, Pfarrer, wo mehrere sind, rufen zu lassen und das Amtsgebet über den Kranken sprechen zu lassen mit der Verheißung, daß auf das Gebet des Glaubens dem Kranken geholfen wird, Jak. 5, 14. 15. Das hat die Kirche allezeit mit Erfolg geübt. Es ist diese Anordnung als eine besondere Wohlthat, die der HErr seiner Gemeinde gewährt hat, als eine Art Ersatz für die wunderbaren Krankenheilungen des HErrn und seiner Apostel anzusehen, Mark. 6, 13. Wegen des Mißbrauchs, der in der römischen Kirche mit diesem Akt getrieben wird, glaubte die lutherische Kirche (man könnte fragen, mit welchem Recht?) das Öl als etwas Unwesentliches weglassen zu dürfen. Ein Versuch der Wiedereinführung wurde durch Löhe gemacht. Es blieb wegen des großen Aufsehens, das die Sache machte, bei diesem einen Versuch. Es haben sich aber auch viele beifällige Stimmen vernehmen lassen.
Sie sind wie die Askese ausgeprägte Eigentümlichkeiten des kirchlichen und geistlichen Lebens. Wir haben es hier fast durchaus mit geschichtlichen Erscheinungen zu thun und haben über dieselben unser sittliches Urteil festzustellen.
Diese Gemeinschaften sind freiwillige Zusammenschlüsse zu gemeinsamen Zwecken, die die Förderung des Reiches Gottes im Auge haben und die nur dann segensreich für die Kirche wirken können, wenn sie bei aller freien Bewegung unter kirchlicher Aufsicht und Leitung stehen.
Der Vereinigungstrieb ist, wie der menschlichen Natur, so der Kirche angeboren; daher hat sie zu allen Zeiten solche Gemeinschaften gebildet. Man muß unterscheiden die antiken Formen, die sich in der römischen Kirche herausgebildet haben, und die modernen Formen,| welche sich in der evangelischen Kirche herausgebildet haben, aber auch von der katholischen Kirche adoptiert worden sind.In den protestantischen Kirchen treten in neuerer Zeit namentlich die Gesellschaften und Vereine hervor, die sich die Förderung des Reiches Gottes zum Ziele setzen, die Bibel- und Missionsvereine, die Vereine für Verbreitung von christlichen Schriften, die Armen- und Krankenvereine, die Diakonissenvereine, die Arbeiter- und Jünglingsvereine u. a. Diese Vereinigungen entsprechen den Bedürfnissen der Kirche, gehen aus dem Geist derselben hervor. Sie müssen eine gewisse Freiheit und Selbständigkeit haben und dürfen sich der Aufsicht des geistlichen Amtes nicht entziehen und müssen bekenntnistreu sein. Eine bureaukratische Leitung verträgt sich mit solchen Bildungen nicht. Wenn auch die entstandenen Bildungen selbst noch manche Mängel haben, so kann man doch die bedeutenden Leistungen derselben auf dem Gebiet der äußeren und inneren Mission nicht in Abrede stellen. Die Vereine haben ihre Schattenseiten, können zersetzend wirken, wenn sie bekenntnisuntreu sind und das geistliche Amt nicht respektieren. Aber auch abgesehen von diesen Mängeln, die sich vermeiden lassen, ist die Form der Vereine mit einer gewissen Äußerlichkeit behaftet. Die Zugehörigkeit wird meist nur durch die Teilnahme an dem Zweck und durch einen Geldbeitrag bewerkstelligt, ohne daß auf kirchliche und sittliche Haltung der Mitglieder Rücksicht genommen wird, die Zucht hat keine Stätte. Auch die Art, wie die Leitung der Vereine, die oft aus sehr verschiedenartigen Mitgliedern zusammengesetzt sind, aus der Stimmenmehrheit sich heraussetzt, ist eine äußerliche, auch nicht ohne Gefahr, daß eine falsche Richtung die Oberhand gewinnt.
| Weit sicherer ist es, wenn die Vereine die Gesellschaftsform anstreben, bei welcher von vorneherein der Kern der geeigneten Persönlichkeiten, von denen der Gedanke ausgeht, die Leitung hat, wo es nur gilt, eine genügende Zahl von helfenden Mitgliedern für die Sache zu gewinnen, die sich nicht allein zu dem Zweck, sondern auch zu gleichen Grundsätzen in Lehre und Leben und damit zur Zucht untereinander verbinden. Vgl. die Löhe’schen Gesellschaften und Vereine für innere Mission und Diakonie. Solche Bildungen ahmen in ihrer Bildung und Organisation die Kirche selbst nach. Auf diesem Wege gewinnen die Vereine an Innerlichkeit und Kraft, und „Vorschläge zur Vereinigung für apostolisches Leben,“ wie sie Löhe gemacht hat, dienen, auch wenn sie unter solchen Umständen, wie die unsern sind, nicht ausgeführt werden können, doch als Ideal und Korrektiv des Vereinslebens.Die Formen des geistlichen Gemeinschaftslebens lassen sich in der lutherischen Kirche am ersten und vollständigsten beim Diakonissentum ausbilden. Das Diakonissentum erreicht seinen Zweck nur durch festen inneren Zusammenschluß zu einer geistlichen Körperschaft, einen evangelischen Orden. Wo eine örtliche und stetige Gemeinschaft sich bilden läßt, eine Gemeinschaft, die von einem örtlichen Mittelpunkt ausgeht und ihren Knotenpunkt in demselben hat, da findet sich die Regel von selbst. Die drei alten Ordensgelübde der Ehelosigkeit, Armut, Gehorsam kehren hier wieder, aber in evangelischer Auffassung. Ein für immer bindendes Gelübde nimmt die evangelische Kirche nicht ab. Die Seele des evangelischen Diakonissentums muß die christliche Barmherzigkeit sein, die sich auch die Glieder untereinander erzeigen sollen. Die getroffene Entscheidung für den Diakonissenberuf soll von den Außenstehenden respektiert werden, während andrerseits den Mitgliedern selber der Austritt immer frei stehen muß.
Was die Missionsanstalten anbelangt, so haben auch sie die Form der geistlichen Brüderschaft anzustreben. Ein Leben gemäß den Grundsätzen der Selbstüberwachung und der brüderlichen Zucht nach Matth. 18 ist die angemessenste Form des Gemeinschaftslebens, das in der Haus- und Lebensordnung seine Regel hat. Je größer die Anzahl der Insassen ist, desto weniger wird sich der Gedanke der geistlichen Bruderschaft realisieren lassen.
Der Erziehungszweck ist hier maßgebend für alles und Erziehung zu dem Zweck ist absolut notwendig. Wenn irgendwo, so ist hier Einheit des Unterrichts, Bekenntnisses und einheitliche Richtung nötig. Es müssen aber auch hier die drei großen Erziehungsgrundsätze vor allem zur Anwendung kommen und in den Vordergrund treten:
- 1. die Erziehung für den ehelosen Stand, ohne die freie Wahl für die Zukunft zu beeinträchtigen,|
- 2. die Erziehung für die Bedürfnislosigkeit und
- 3. die Erziehung zu einem strikten, aber freiwilligen Gehorsam, dem Kennzeichen wahrer Männlichkeit.
Was in der römischen Kirche in der Verzerrung erscheint, erscheint hier in seiner evangelischen Wahrheit und Reinheit. Das sind die Wahrheitsmomente im römischen Ordensleben. Ohne daß sie ihre volle Anerkennung und Übung auf dem Gebiet der protestantischen Mission finden, wird nichts wahrhaft Großes in der Mission geleistet werden. Missionare, bei denen der Gedanke an das Weib eher zur Verwirklichung kommt als der des Berufs, bei denen der Komfort des Lebens obenan steht, die keine Leitung als die des eigenen Willens vertragen, sind Zerrbilder von dem, was sie sein sollen. Die Seele aber alles Missionswerkes, ohne die auch nirgends etwas ausgerichtet wird, ist der lebendige Glaube, der am eignen Herzen erfahren worden ist und treibt, auch die desselben teilhaftig zu machen, die ihn noch nicht haben, der Glaube, der die Welt und alle Hindernisse auf dem Wege überwindet. Die Mission braucht Wunderleute, in denen die Kraft Christi mächtig ist. Kenntnisse und wissenschaftliche Bildung sind auch von Wert und unentbehrlich, wenn neue Kirchenbildungen entstehen, aber die Hauptsache ist es nicht.
Man hat außer der Heidenmission, die in unsrer Zeit mit großem Erfolg und Umfang getrieben wird, und außer der Judenmission, die bei allem Eifer nicht recht gedeihen will, auch eine innere Mission, nicht im mißbräuchlichen Sinn des Worts, wo man die Werke der Diakonie, die Werke der Barmherzigkeit damit bezeichnet, die mehr ein Zeugnis für den christlichen Glauben sind und dadurch missionierend wirken, sondern in dem Sinne, daß eine Sendung von freiwilligen und für ihren Beruf vorgebildeten jungen Leuten über Land und Meer bewerkstelligt ist, um die zerstreuten Glaubensgenossen und Landsleute in fernen Ländern und Weltteilen, die der kirchlichen Pflege entbehren, zu Gemeinden im Sinne der heimischen Kirche zu sammeln und sie zu weiden, unter beständiger Mission an den noch nicht gesammelten Gliedern der Nachbarschaft. Die Emigrantenmission gewährt diesem Werk eine Beihilfe. – Zur eigentlichen innern Mission gehört auch die sogenannte Stadtmission. Auch in unsern Großstädten gibt es viele Zerstreute, von der Kirche Abgekommene, die wieder zu sammeln sind. Übrigens greift Diakonie und innere Mission vielfach ineinander.
| Die christlichen Anstalten haben in der Kirche je und je eine große Bedeutung gehabt; sie haben sie in unsrer Zeit auch. Es ist schon oben bemerkt, daß sie Blüten und Pflanzstätten christlichen Lebens sind, Zeugnisse der glaubenskräftigen Liebe. Aber es scheint, als könnten sie in der nahen und fernen Zukunft noch eine besondere Bedeutung bekommen, nämlich daß sie beim Verfall der Landeskirche Krystallisationspunkte für neue Kirchenbildungen unter Gottes Leitung werden.
Wie der einzelne Christ, wie die christliche Kirche und freie Gemeinschaft, so hat auch das christliche Volk, die christliche Menschheit Recht und Macht, auf den ihnen unterstehenden Gebieten ihre individuelle Freiheit geltend zu machen. In welcher Weise? Das zeigt die Geschichte. Was nach dieser Seite geschah, läßt sich auch unter dem Gesichtspunkt des Einflusses des Christentums auf die betreffenden Gebiete darstellen und das soll hier geschehen. (Vergleiche auch den Abschnitt VII b §§ 52–58.)
a) Der Einfluß des Christentums auf den Staat.
Die Gesetze, Einrichtungen, Ordnungen des Staats sind schon im alten römischen Reich bedeutend durch das Christentum beeinflußt, die christliche Religion ist ein Faktor des Staatslebens geworden. Ebenso ist es bei den christianisierten germanischen Völkerschaften gewesen und geblieben bis auf den heutigen Tag. Es wird schwer sein, irgend einen Bereich des öffentlichen und rechtlichen Lebens zu finden, wo die Kirche nicht ihre Anschauungen geltend gemacht hat. Recht und Gerechtigkeit und besonders wahre Menschlichkeit ist das Ziel ihrer Bestrebungen gewesen. Es hat die Kirche auch für ihr eigenes Leben Raum im Staate gefunden. Man denke an die Feier der Sonn- und Festtage, an die geschlossenen Zeiten (Advents- und Passionszeit), an die kirchliche Beaufsichtigung und Erziehung in den höheren und niederen Schulen, an die früheren Sühnversuche und Eidesverwarnungen in den Gerichten von seiten der Geistlichen, an die öffentliche gottesdienstliche Feier bei Eröffnung der Reichs- und Landtage, im Heer (öffentlicher Gottesdienst, Fahnenweihe etc.), den Gebrauch der Glocken. Soviel auch fehlte, daß der Staat je ein christlicher geworden wäre, so bekannte er sich doch zum Christentum, gewährte ihm Anerkennung, Schutz, Pflege.| Es ist das charakteristische Zeichen unserer Zeit, daß Volkstum und Staat sich je länger je mehr vom Christentum und dem Einfluß desselben auf seine Verhältnisse lossagt und daß das Volk und der Staat je länger je mehr entchristlicht wird.b) Der Einfluß des Christentums auf die häusliche und öffentliche Sitte, auf das Kulturleben der Völker, auf Kunst und Wissenschaft.
In Bezug auf die Familie hat das Christentum durch die Lehre von der Gleichheit aller Menschen und beider Geschlechter vor Gott die untergeordnete Stellung des Weibes und die Sklaverei, die zwei großen Schäden der außerchristlichen Welt, erfolgreich bekämpft und das Ideal der christlichen Familie der Welt vor Augen gestellt.
Nachdem so eine Art Grundlage für die christliche Gestaltung der Familie geschaffen war, bildeten sich gute Familiensitten (Hausandachten, Tischgebet, gemeinsames Bibellesen, gemeinsamer Besuch des Gottesdienstes, Gewöhnung der Kinder zum Gebet). Das Christentum hat die rechte Zucht bewirkt, die die Herrschaft über das im weiteren Sinne zur Familie gehörige Gesinde übt; die christliche Herrschaft fühlt sich für das geistliche und leibliche Wohl des Gesindes verantwortlich, was eine humane Behandlung desselben zur Folge hat (Hauptmann zu Kapernaum, Kornelius, Abraham).
Dem Christentum ist ferner zuzuschreiben eine Milderung der rohen, rauhen Sitten der antiken Welt sowie überhaupt eine humanere Denk- und Handlungsweise (Lazarette, das Rote Kreuz etc.).
Das Christentum nahm auch die Kunst in seinen Dienst und gab ihr die erhabensten Motive der Darstellung in die Hand. Die Kunst an und für sich gehört dem Schöpfungsgebiet an, gehört zum natürlichen Guten. Die Kirche kann daher nicht den Anspruch erheben, daß alle Darstellung der Kunst zu ihrer Verherrlichung diene. Doch soll die Kunst eines christlichen Volkes nicht wider das Christentum sein. Im übrigen hat sie Freiheit. Im Mittelalter stellte sich die Kunst freiwillig in den Dienst der Kirche und erklomm in der Verherrlichung des neutestamentlichen Hauses Gottes selber in großartigen Schöpfungen den Gipfel hoher Vollendung. Man denke an die erhabenen Dome der mittelalterlichen Baukunst, an die Meisterwerke der Malerei, welche ihre Stoffe wesentlich aus der Bibel wie aus der Kirchen- und Heiligengeschichte nahm. Die Tonkunst hat gleicherweise mit den andren Künsten gewetteifert, das Lob Gottes im Heiligtum zu erhöhen von Ambrosius| und Gregor dem Großen an, besonders aber in der Zeit der Reformation und hernach, in beiden Kirchen (Palestrina, Vittoria, Lotti, Händel, Bach). Auch die Dichtung hat ihre Inspirationen vielfach aus dem Heiligtum entnommen, entweder die Thatsachen der heiligen Geschichte verherrlicht (Heliand) oder Leben und Lehre der Kirche in dichterischer Erhebung dargestellt (Dante) oder das Innenleben des Christen in der heiligen Lyrik zum Ausdruck gebracht, die gleichsam als eine Fortsetzung der Psalmenlitteratur angesehen werden kann (die Lyriker des Mittelalters und das evangelische Kirchenlied).
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