Das Schlangenhaupt der Medusa

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Autor: Max Schraut
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Titel: Das Schlangenhaupt der Medusa
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Erscheinungsdatum: 1933
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Band 1 der Romanreihe Drei von der Feme.
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[1]
Drei von der Feme
Band 1


Das Schlangenhaupt der Medusa


Von
Max Schraut




Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin 16
Michaelkirchstraße 23a


[2]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16


[3]
1. Kapitel.
Der Millionenprozeß Gorrison.

Der Zuhörerraum des Gerichtssaales war überfüllt. Eine stickige, verdorbene Luft lagerte über der gespannt lauschenden Menge, die von den juristischen Ausführungen des Kronanwalts nur so viel verstand, daß die Klägerin keineswegs einwandfrei habe nachweisen können, daß sie mit dem ohne testamentarische Erben Verstorbenen trotz des gleichlautenden Namens Gorrison entfernt verwandt gewesen sei.

Frau Mary Gorrison saß mit ihrer Tochter Bessie neben ihrem Rechtsanwalt, und mit totenblassem, verhärmtem Gesicht und mit scheu zu Boden geschlagenen Augen vernahm sie die harten, unerbittlichen Worte, die ihr ganz offen den Vorwurf machten, sie habe sich das Armenrecht und die amtliche Zuweisung eines Verteidigers nur durch die Behauptung erschlichen, daß sie Urkunden besäße, die ihre Blutsverwandtschaft mit Thomas Gorrison bestätigen würden.

„Hinterher hat die Klägerin dem Gericht das Märchen aufgetischt“, fuhr der Kronanwalt als Vertreter des Staates, der mangels anderer Erben den Nachlaß für sich beanspruchte, noch eisiger fort, „daß ihr diese Urkunden gestohlen worden seien. Ich beantrage daher [4] auch jetzt im Berufungsverfahren Abweisung der Klage und stelle der Staatsanwaltschaft anheim, gegen die Klägerin wegen Betrugsversuches ihrerseits vorzugehen.“

Frau Gorrison begann nach diesen letzten Sätzen, die noch eine Bestrafung androhten, leise zu schluchzen, preßte die Hände vor das Gesicht und lehnte sich matt und kraftlos an ihre Tochter, die mit seltsam starrem Antlitz immer nur zur Seite in den Zuhörerraum blickte, wo in der vordersten Bank ein unauffällig-elegant gekleideter Herr mit einer dunklen Hornbrille saß, während hinter ihm zwei andere Männer, die sich nicht zu kennen schienen, mit genau derselben Aufmerksamkeit dem Gange der Verhandlung folgten.

Bessie Gorrison wußte nicht genau, ob sie sich nicht doch täuschte, sie hatte ja den freundlichen Herrn nur ein einziges Mal spät abends bei ungenügender Beleuchtung gesprochen, und doch hatte sie diese Unterredung nicht vergessen können, zumal am nächsten Morgen ein ganz seltsamer Brief im Kasten an der Zaunpforte des Häuschens ihrer Mutter gelegen hatte, der leider nicht mehr vorhanden war.

Der Richter erhob sich jetzt, und Bessie fühlte, wie ihre bedauernswerte Mutter immer stärker zitterte und immer kraftloser in sich zusammensank.

„Der Anwalt der Klägerin hat das Wort“, sagte der Richter mit vollkommener Gleichgültigkeit. „Fassen[1] Sie sich aber bitte kurz, Mr. Baaker, und halten Sie den Gerichtshof nicht unnötig lange auf.“ – Der Vorsitzende nahm wieder Platz, und der wohlbeleibte und redegewandte Mr. Harry Baaker, dessen, feistes bartloses Gesicht durch eine rote dicke Nase und einen schief sitzenden Klemmer und durch rötliches, gelocktes Haar, das an den Ohren ganze Büschel bildete, mehr komisch als würdevoll sich ausnahm, begann für seine Mandantin [5] anscheinend mit geringer Überzeugung immerhin recht geschickt eine Lanze zu brechen.

Frau Gorrison schöpfte wieder Hoffnung, zuckte jedoch um so schmerzlicher zusammen, da im Publikum sich ein rohes Gelächter erhob, als Mr. Baaker betonte, er selbst habe die später gestohlenen Urkunden gesehen und sei bereit, dies als Zeuge zu beeiden, und auch dem inzwischen verstorbenen Richter Armstrong seien sie vorgelegt worden.

Der Vorsitzende erklärte sofort, diese Art Beweisführung lehne er ab, und der dadurch empörte Mr. Baaker rief seinerseits schwer gereizt: „Dann verzichte ich auf weitere Ausführungen“, – und er setzte sich wieder und wühlte grimmig mit den Fingern in seinem rötlichen, von grauen Strähnen durchzogenen Lockenwald.

„Die Klage wird endgültig abgewiesen“, verkündete der Richter mit kalter Sachlichkeit. „Es bleibt der Staatsanwaltschaft überlassen, die Klägerin noch ihrerseits zur Rechenschaft zu ziehen … – Die Verhandlung ist geschlossen.“

Frau Gorrison stieß einen heiseren Schrei aus, wankte mit flehend vorgestreckten Armen auf den Richtertisch zu, brach plötzlich zusammen und schlug mit einem dumpfen Poltern, das im Zuhörerraum bei dem weiblichen Teile schrille Schreckensrufe hervorrief, auf die zum Richterpodium führenden Stufen nieder und rollte dann wie leblos zur Seite und rührte sich nicht mehr.

Rechtsanwalt Baaker, der mit erstaunlicher Gelenkigkeit seine Klientin hatte auffangen wollen, wurde nur am Kopfe von der im Todeskampf sich zusammenballenden Hand der Stürzenden gestreift, und als sich nun ein zufällig anwesender Arzt über die scheinbar Bewußtlose beugte und leider feststellen mußte, daß hier [6] zweifellos Tod durch Herzschlag infolge übergroßer Erregung vorliege, bemerkte er in der rechten Hand der so jäh Verstorbenen ein Büschelchen von Haaren, das sich wie ein rötliches, graumeliertes Schlänglein um den Zeigefinger gewunden hatte.

Bessie Gorrison, ein blondes, schlankes Mädchen von zartem Liebreiz und mit ernsten, klugen, grauen Augen, vermochte vor Schmerz und unendlichem Leid zunächst kein Glied zu rühren und starrte nur unverwandt in das immer mehr sich entfärbende Antlitz ihrer toten Mutter, bis Rechtsanwalt Baakers tröstende Worte ihre unnatürliche Lähmung urplötzlich in eine an dieser Stätte wohl noch nie erlebte erschütternde Szene überleiteten.

Bessie sprang auf, reckte den Arm anklagend zum Tische der verstörten Richter empor und rief mit bebender, tränenerstickter Stimme, der jeder Unvoreingenommene die Wahrheit und Ehrlichkeit anmerkte:

„Ihr habt meine Mutter gemordet, denn die Urkunden waren vorhanden, und wir sind Verwandte Thomas Gorrisons und haben ein Recht auf sein Erbe! Wenn ich hier keine Gerechtigkeit finde, werde ich sie mir anderswo suchen! Denkt an die drei Männer, die ihr steckbrieflich verfolgt, weil ihr rächender Arm selbst die erreicht, die sich hinter euren ungenügenden Gesetzesparagraphen zu verstecken hofften!! Ich weiß, – hier glaubt mir niemand, aber die drei werden mir Glauben schenken.“

Totenstille herrschte im Saale nach diesen drohenden, leidenschaftlichen Vorwürfen, die schon deshalb ihre Wirkung nicht verfehlten, weil in aller Erinnerung noch allzu frisch die Erinnerung an jene Vorfälle lebte, die mit dem Tode einer brutalen Verbrecherin und mit der berüchtigten Feme der Drei so eng verknüpft waren.

[7] Einem der drei Herren aus dem Zuschauerraum und zwar dem, der seinen Platz hinter dem unauffälligen Gentleman mit der dunklen Brille gehabt hatte, war es genau so wenig wie Baaker entgangen, daß Bessie Gorrison gerade diesem einzelnen Manne aus dem Publikum eine besondere Beachtung geschenkt hatte.

Oberinspektor John Goldy von Scotland Yard, seit Wochen insgeheim mit der Aufklärung des als Unfall bezeichneten Todes des Richters Armstrong beschäftigt, hatte eine feine Witterung für einen glücklichen Fang, und Bessies leidenschaftliche Berufung auf die Hilfe der Feme der Drei veranlaßte ihn nun zu einem Schritt, der mir nur für Sekunden etwas stärkeres Herzklopfen bereitete. Goldy vertrat mir im Flur den Weg und fragte scharf, indem er mein Gesicht forschend musterte:

„Wer sind Sie? Können Sie sich legitimieren? Mein[2] Name ist Oberinspektor Goldy.“

„Gewiß, – bitte, hier ist mein Paß: Ich bin der französische Reporter Jaques Curry“, entgegnete ich höflich und in sehr mäßigem Englisch. – Der Paß war genau so falsch wie mein dunkles Haar und der dunkle Schnurrbart. – „Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Goldy?“

Er besichtigte den Paß sehr genau, zu genau. „Nun, wenn Sie wirklich Mr. Curry sind“, erklärte er etwas triumphierend, „dann wird es Ihnen ja nichts ausmachen, auf der nächsten Polizeiwache mir noch eingehender Rede und Antwort zu stehen.“

In der Nähe lehnte am Flurfenster ein junger Polizist in Uniform mit einem frischen, roten, bartlosen Gesicht. Er trat heran, grüßte stramm und meldete: „Schutzmann Loug, zur Zeit dienstfrei und nur aus Interesse an dem Prozeß hier anwesend. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Mr. Goldy? Vielleicht besinnen [8] Sie sich auf mich, ich war mit dabei, als Richter Armstrong aus der Themse gezogen wurde.“

„Besorgen Sie eine Taxe“, befahl der Oberinspektor freundlich. „Vielleicht haben wir hier einen Vogel im Netz, der schon einige Mühe verlohnt. Sein Schnurrbart hat eine sehr eigentümliche Farbe, und das Paßbild erregt ebenfalls Bedenken. – Folgen Sie mir unauffällig“, raunte der magere, ehrgeizige Goldy mir zu, und mit sehr gemischten Gefühlen gehorchte ich bereitwilligst, zumal die kleine Szene bei dem hinausdrängenden Publikum bereits Aufmerksamkeit zu erregen begann.

Unten auf der Straße hatte der Schutzmann eine Taxe herbeigewinkt und hielt die Tür geöffnet. Als erster mußte ich einsteigen, dann wollte der Oberinspektor sofort hinterdrein, aber ein älterer, weißbärtiger Herr, der auf der Treppe des Gerichtsgebäudes stand, rief mitten in das Stimmengewirr der Herausflutenden hinein:

„Hallo, Rechtsanwalt Baaker sucht einen Oberinspektor John Goldy …! Ist Mr. Goldy vielleicht noch anwesend?!“

„Hier bin ich!“, meldete sich Goldy übereifrig, denn auch er brachte der Person des dicken Rechtsanwalts eine für diesen wenig schmeichelhafte Teilnahme entgegen. „Schutzmann Loug“, ordnete er hastig an, „Sie transportieren diesen Mr. Curry zur Wache. Sie sind mir für ihn verantwortlich!“

„Keine Sorge, Mr. Goldy, in derlei ernsten Scherzen besitze ich Erfahrung“, versicherte Loug mit einem breiten Grinsen.

Goldy verschwand wieder im Gerichtsgebäude, mußte hier jedoch feststellen, daß Baaker nirgends zu finden war.

Eine sehr böse Ahnung stieg da in ihm auf, und [9] als er eiligst zur Polizeiwache fuhr, war dort weder von Curry noch von Schutzmann Loug etwas zu sehen. – Loug hatte dem Schofför der Taxe befohlen, in einer Seitenstraße zu halten, hatte den Schofför bezahlt und war mit „Curry“ zu Fuß weitergegangen. Wohin, ließ sich vorläufig nicht ermitteln.

Die Maßnahmen, die die Feme der Drei für ihre Sicherheit zu treffen pflegten, waren stets gründlich durchdacht und vorbereitet.


2. Kapitel.
Mr. Nomarks Verwandlungen.

Bereits eine halbe Stunde später saßen drei Herren, in denen niemand mehr den Reporter Jaques Curry, den Schutzmann Loug und den alten weißbärtigen Herrn wiedererkannt hätte, wie Fremde, die nun zufällig miteinander ins Gespräch geraten, am Ecktisch eines kleinen Restaurants.

„Ich werde dem armen Mädel die dreihundert Pfund zukommen lassen, einen Briefumschlag habe ich bei mir. Dann beabsichtige ich Baaker aufzusuchen, und nachher finde ich Roger wohl in unserm Büro. Deine Aufgabe, Freund Bick“, und dies galt unserem Jüngsten, dessen heitere frische Züge jetzt durch einen blonden Spitzbart weit älter erschienen, „bleibt dieselbe. Es mag ja langweilig sein, das Haus Baakers in Park Lane zu beobachten, aber da dort nun einmal auch Jim Tobalt, Bessies abgeblitzter Verehrer, wohnt und da Freund Roger dem Anwalt bereits sein Bajazzo-Lied vorgetragen hat, müssen wir diese Fährten jetzt nach diesem traurigen [10] Todesfall im Gerichtssaal noch eifriger verfolgen als bisher und für die Nacht das Gorrison–Häuschen noch sorgfältiger beschützen, denn Bessie ist nun die Nächste, die man aus dem Wege räumen will.“

Gleich darauf erhob ich mich, grüßte meine Tischnachbarn mit gemessener Höflichkeit und verließ das Restaurant. Wer uns drei hier auch nach so scharf beobachtet hätte, würde ebensowenig wie im Gerichtsgebäude geahnt haben, daß wir uns irgendwie näher kannten, und selbst in der Albermarle Street, London-Norwood, wo wir die liebenswürdigen Junggesellen, Sonderlinge und freundlichen Hauswirte von Nr. 16, 17, 18 spielten, vermutete niemand, daß wir die wegen einiger eigenmächtigen Unternehmungen so vielgesuchten „Drei“ sein könnten.

Ich bestieg eine Taxe und fuhr ins Hafenviertel zu dem kleinen Häuschen an der Themse, warf unbemerkt den Brief in den an der Zaunpforte angebrachten Kasten und begegnete bei der Rückfahrt der einsamen Bessie, die von der Autobushaltestelle langsam und tief in Gedanken heimwärts wanderte. Sie hatte Baakers Begleitung höflich, aber entschieden abgelehnt, und ich beobachtete auch noch, wie sie jetzt den äußerlich sehr hübschen und kräftigen Jim Tobalt, der ihr wohl sein Beileid unter vier Augen aussprechen wollte, recht kühl und kurz verabschiedete.

Gerade diese Entfremdung zwischen den Jugendgespielen so kurz nach dem Diebstahl der Urkunden und nach dem etwas rätselhaften Tode des Richters Armstrong, der als einzige Amtsperson die Papiere im Original gesehen haben mußte, hatte uns dreien sehr viel zu denken gegeben.

Heute war nun ein zweites Menschenleben in engstem Zusammenhang mit dem Millionenprozeß Gorrison jäh dahingewelkt, und wenn irgend etwas unseren Eifer, [11] Bessies zweifellos ernsthaft bedrohtes Leben zu schützen, noch hätte steigern können, dann war’s die belastende Tatsache, daß heute zum zweiten Male ein rötliches Schlänglein aus Haaren am Finger einer urplötzlich vom Tode Ereilten wie eine stumme Anklage gegen das Medusenhaupt bemerkt worden war. – –

Rechtsanwalt Harry Baaker war nach der traurig und erfolglos verlaufenen Schlußverhandlung sofort in sein Büro in Park Lane zurückgekehrt, über dem seine vornehme Privatwohnung lag.

Zunächst beruhigte er seine in letzter Zeit stark überreizten Nerven durch ein paar Gläschen Whisky und eine starke Zigarre, und während er nun in seinem luxuriösen Sprechzimmer grübelnd auf und ab schritt, überlegte er sich nochmals, daß im Grunde doch nur Frau Mary Gorrisons allzu großes Mißtrauen an diesem Prozeßausgang schuld sei, denn seine äußerst verschwiegene und argwöhnische Mandantin hatte die Originalurkunden nur ein einziges Mal aus der Hand gegeben und dem Richter Armstrong vorgelegt, der über die Bewilligung des Armenrechtes für den Millionenprozeß zu entscheiden gehabt und auch sofort eingesehen hatte, daß diese Familienpapiere durchaus genügend waren, die Anrechte Frau Gorrisons auf den Nachlaß zu beweisen. Hätte sich Frau Gorrison weniger mißtrauisch gezeigt, wäre es nie zu der Beschlagnahme der Erbschaft durch den Staat gekommen.

Aber – und bei diesem Gedanken wischte sich Baaker den kalten Schweiß von der Stirn – schon am Abend nach Durchsicht der Urkunden war Richter Armstrong tot aus der Themse gezogen worden, und die Polizei nahm einen Unfall an, zumal der alte Herr Armstrong sehr kurzsichtig und bei nebligen Wetter fast blind gewesen war.

Kurz darauf war der Einbruchsdiebstahl bei Frau [12] Gorrison erfolgt, und auch an diese Nacht dachte Baaker nur sehr ungern zurück. Seit dieser Nacht hatte Bessie, die den Dieb verscheucht hatte, sowohl Baaker als auch Jim Tobalt mit kühler Förmlichkeit behandelt, worüber der Anwalt sich jedoch weit weniger Kopfschmerzen gemacht hatte als über das berüchtigte Bajazzolied, das unlängst nachts durch eine Ziehharmonika vor seinem Schlafzimmerfenster unheimlich deutlich erklungen war.

Der Büroboy meldete ihm einen neuen Mandanten, einen Mr. Rolf Nomark, Grundstücksagent, und als der unauffällig elegante Herr neben dem großen Schreibtisch Platz genommen hatte, mußte Baaker all seine Selbstbeherrschung aufbieten, um sich nicht zu verraten.

Baaker besaß ein außerordentlich gutes Gedächtnis für Gesichtszüge, und dieser blondbärtige Nomark hatte entschieden einige Ähnlichkeit mit dem Herrn mit der dunklen Brille aus dem Gerichtssaal, den Bessie so unverwandt gemustert und auch flüchtig angesehen hatte, als sie ihre merkwürdigen Drohungen gegen das Richterkollegium ausstieß und dabei ganz so tat, als sei sie der Hilfe der Feme der Drei bereits sicher.

Mr. Nomark trug sein Anliegen wegen des Ankaufs der stillgelegten Werft, auf der auch das Gorrison-Häuschen stand, vollkommen geschäftsmäßig vor, bot Baaker als dem Grundstücksverwalter 8000 Pfund für den Uferstreifen und Miß Gorrison 500 Pfund, falls sie das kleine Gebäude baldigst räume.

In seiner ruhigen, sicheren Art erwähnte er auch, er habe der Schlußverhandlung heute beigewohnt und sei Beauftragter eines Wohltätigkeitsvereins, der auf dem Gelände ein Bootshaus für unbemittelte Angestellte und Arbeiter errichten lassen solle.

Harry Baaker war ein flinker Denker. Sein Verdacht gegen diesen höflichen Herrn war abgeschwächt, jedoch nicht ganz geschwunden. Er bestellte ihn für morgen [13] nochmals in sein Büro, da er erst mit Bessie Gorrison sprechen müsse, schickte jedoch seinen äußerst gerissenen Büroboy Billy Knox als Spion hinter ihm drein.

Billy hatte diesmal Pech, denn als Mr. Nomark in eine Taxe sprang, und als Billy eine zweite leere Taxe besteigen wollte, schob ihn ein jüngerer, sehr eleganter Herr einfach beiseite und ließ sich nach dem Waterloo-Bahnhof fahren.

Billy hatte das Nachsehen, denn eine dritte Taxe war nicht zur Stelle. Als er Baaker sein Mißgeschick schilderte, pfiff dieser leise durch die Zähne. Die Sache erschien ihm höchst verdächtig. Und als er sich dann noch besann, daß Nomark noch erklärt habe, er kenne Bessie flüchtig, da er sie einmal bei einem plötzlichen Regenguß unter seinem Schirme zum Autobus geleitet habe, und als schließlich wenige Minuten später Oberinspektor Goldy anläutete und ganz seltsame Fragen stellte, ob Baaker ihn etwa ins Gerichtsgebäude zurückgerufen habe, zerkaute er nachher finster seine Zigarre und dachte noch schärfer als gewöhnlich nach und kam zu dem Entschluß, sich sofort Gewißheit zu verschaffen. –

Bessie hatte nach ihrer einsamen Heimkehr im Briefkasten den frisch zugeklebten Umschlag mit den dreihundert[3] Pfund vorgefunden und ahnte sofort, woher diese hochherzige Spende käme, denn diese dicken, gelblichen rauhen Briefumschläge kannte sie bereits von dem Warnerbrief her, der ihr vorgestern so dringend nahegelegt hatte, auf die Sicherheit ihrer Mutter und auf ihre eigene äußerst bedacht zu sein.

Sie saß nun, in schmerzliche Gedanken versunken und doch über das diskrete Geschenk freudig bewegt, am Fenster des kleinen Eßzimmers und blickte auf den in Regennebel gehüllten Strom hinaus, der in nächster [14] Nähe seine trüben Fluten an dem morschen Pfahlwerk der alten Werft vorüberwälzte.

Gewiß, die Beziehungen zwischen Mutter und Kind waren herzlich und zwanglos gewesen, aber Bessies durch nichts zu erschütternde Weigerung, Jim Tobalt zu heiraten, war in den letzten Wochen ein unangenehmer Anlaß zweckloser Erörterungen und zuweilen erregter Szenen gewesen.

Bessie seufzte schwer.

In vielen Dingen hatte sie ihre so überaus verschlossene Mutter nie begriffen. Und auch ihre eigenen Geheimnisse, die sie in ihrem Herzen fest verschließen mußte, bedrückten sie bis zur Mutlosigkeit.

Trotzdem wollte sie nun rücksichtslos und zielbewußt auch ohne fremde Hilfe die dunklen Dinge klären, die mit dem Diebstahl der alten Brieftasche zusammenhingen.

Ihre Aufmerksamkeit wurde plötzlich[4] auf einen einfachen Arbeiter gelenkt, der draußen auf der Themse in einem Bretterkahn mit nur einem Ruder gegen den Wind und die Strömung ankämpfte und schließlich doch dicht vor den Pfählen der Werft Schiffbruch erlitt und aus dem vollgelaufenen Nachen in den Schlamm sprang und mühsam sein Fahrzeug festband und naß bis zur Brust das Ufer erkletterte.

Bessie wußte, daß viele Arbeiter von den Fabriken drüben sich den Weg nach Hause auf diese Weise abzukürzen suchten.

Ihr Mitleid regte sich, der durchnäßte Mann konnte sich bei dem kalten Winde den Tod holen, schnell lief sie zur Hintertür und winkte den Fremden herein, der, ein älterer, bärtiger Mann von bescheidenem Wesen, ihr herzlich dankte, als sie ihn nun in der warmen Küche auch mit trockenen Kleidungsstücken versah, die noch von ihrem Vater stammten. „Ziehen Sie sich nur [15] um“, sagte sie arglos, „nachher bekommen Sie noch einen Topf heißen Tee und ein Ersatzruder für ihren Kahn. – Entschuldigen Sie mich jetzt, ich muß öffnen gehen, es läutet an der Vordertür …“

Als sie dann Mr. Harry Baaker einließ, hatte ich bereits die Stiefel abgestreift und die Küchentür wieder etwas geöffnet.

Die Feme der Drei war hinter dem Schlangenhaupt der Medusa her, und uns drei als Verfolger abzuschütteln war bei unseren reichen Erfahrungen auf diesem ebenso abenteuerlichen wie dankbaren Gebiet eine Unmöglichkeit. Im Gegenteil: Wir konnten unsere Gegner stets dadurch schlagen, daß wir all ihren Schritten vorauskamen und daß unsere Arbeitseinteilung so tadellos klappte, wie dies nur bei Leuten unseres Schlages geschehen konnte.


3. Kapitel.
John Goldy hat abermals Pech.

„Meine liebe Miß Gorrison“, erklärte der Rechtsanwalt im Eßzimmer vertraulich, „ich bringe Ihnen eine gute Nachricht. Denken Sie, vorhin war ein Herr bei mir, der die Werft sofort kaufen und Ihnen fünfhundert Pfund Abstand zahlen will, wenn Sie das Häuschen baldigst räumen … – Fünfhundert Pfund, ein kleines Vermögen!“, betonte er, sich die rötlichen Locken nervös zerraufend, denn Bessies Gesichtsausdruck deutete nicht darauf hin, daß sie über das Angebot erfreut sei.

„Ich bin in diesem Hause geboren und bleibe hier“, erwiderte sie auch wirklich sehr kühl. „Der Pachtvertrag läuft noch drei Jahre, und bis dahin kann sich viel ereignen, Mr. Baaker.“ Das Letzte sagte sie in so [16] eigentümlichem Tone, daß der Anwalt unter ihrem Blick noch verlegener wurde. Er sah ein, daß er hier äußerst vorsichtig operieren mußte, wenn er das erfahren wollte, woran ihm so sehr viel gelegen war.

„Hm, natürlich, – wie Sie wollen“, nickte er zerstreut und ließ seine Augen wiederum über die bescheidenen Möbel schweifen. „Allerdings war der Herr ein Bekannter von Ihnen“, fügte er absichtlich hinzu. „Ein Mr. Nomark, der anscheinend Beauftragter eines Wohltätigkeitvereins ist und der heute ebenfalls im Gerichtssaal anwesend war.“

Bessie errötete unwillkürlich. Zu ihrem Schreck hatte sie außerdem noch bemerkt, daß der Umschlag mit dem Gelde drüben auf dem Eßtisch lag und daß die Briefklappe soweit offenstand, daß der Inhalt, die Banknoten, zu sehen waren.

„Ich kenne keinen Mr. Nomark“, entgegnete sie hastig. „Wenigstens nicht dem Namen nach …“

Harry Baaker, den seine Kollegen heimlich seiner etwas komischen Locken wegen „Das Medusenhaupt“ nannten, da die unheilstiftende Göttin Medusa stets mit sich ringelnden Schlangen statt Haaren dargestellt wird, hatte bereits den Brief samt Inhalt erspäht und merkte auch, wie sehr Bessie sich bemühte, seine Aufmerksamkeit davon abzulenken. – Wie kam sie zu den Banknoten?! Es war eine große Summe, das sah er, und sein Verdacht, daß die Feme der Drei, die doch mit den ungewöhnlichsten Methoden arbeitete, hier insgeheim mit tätig sei, trieb ihm wieder die kalten Schweißperlen auf die Stirn. Der Briefumschlag hatte auch eine so eigentümlich gelbliche Farbe und bestand aus so dickem, rauhem Papier, daß sein Argwohn sich nur noch steigerte, besonders, da deutlich zu erkennen war, daß die Banknoten in Stanniol eingeschlagen waren. – Baaker wußte über alle Eigentümlichkeiten der Feme der Drei [17] sehr gut Bescheid, er kannte die Besonderheit der Warner-Briefe, die stets nach Stunden in Flocken sich auflösten, und sein ganzes Bestreben war nun darauf gerichtet, sich den Briefumschlag anzueignen.

Er bat Bessie um ein Zündholz für seine Zigarre, und das junge Mädchen betrat das Nebenzimmer, brachte eine Schachtel Streichhölzer und warf einen prüfenden Blick auf den verräterischen Umschlag: Er war noch da, und Baaker schien seinen Stuhl nicht verlassen zu haben. – Er war trotzdem erfolgreich gewesen, in seiner Brieftasche lag ein abgerissenes Eckchen der Briefklappe, und diese Lösung war jedenfalls richtiger und praktischer, als den ganzen Umschlag verschwinden zu lassen.

Nachdem er mit Bessie noch über allerlei andere Dinge, so über das Begräbnis, über Jim Tobalt und dessen Mutter gesprochen hatte, entfernte er sich und fuhr nach der City zurück, ließ in der Oxford-Street vor einem Bürogebäude halten und begab sich im Lift in das dritte Stockwerk, wo an einer der vielen Türen ein Schild hing:

Fr. Rolf Nomark.
Immobilien.

Daß Mr. Nomark das kleine Büro erst vor einer Woche samt Einrichtung gemietet hatte, konnte auch der schlaue Baaker nicht ahnen. Im ersten Zimmer fand er einen mittelgroßen, weißbärtigen Schreiber mit mächtiger Hornbrille vor, der ihm brummig erklärte, Mr. Nomark würde wohl erst in einer Stunde zurückkehren, er sei im Hafenviertel und wolle dort einen Uferstreifen kaufen.

Baaker dankte und versprach wiederzukommen, musterte aber den alten Weißbart durch seinen Klemmer so eigentümlich, daß der greisenhafte Schreiber nachher mit bewundernswerter Schnelligkeit einen sehr sonderbaren [18] Verjüngungsprozeß an sich vornahm und dem Rechtsanwalt dicht auf den Fersen blieb.

Der Baronett Roger Sheffield war eben kein Dummkopf, und nach der heutigen Unterredung mit seinen Freunden Olaf und Bick in dem kleinen Restaurant hatte er alle Veranlassung, diesem Baaker selbst das Schlechteste zuzutrauen.

Frau Mary Gorrison war ja nicht die erste Erbin, die auf sehr seltsame Art um einen reichen Nachlaß betrogen worden war.

Der Baronett wunderte sich auch gar nicht weiter, daß Baaker im Polizeipalast von Scotland Yard verschwand. Er fuhr mit einer Taxe schleunigst zur Oxford-Street zurück und hatte hier auch das Glück, mich, der soeben nach der feuchten Kahnpartie in Mr. Gorrisons Kleidern und nach recht erfolgreicher Lauschertätigkeit zurückgekehrt und beim Umziehen begriffen war, rechtzeitig warnen zu können.

Eine halbe Stunde darauf beobachteten wir von einem Kaffeehausfenster aus mit einiger Schadenfreude, wie Oberinspektor John Goldy, unser eifrigster Jäger, mit zehn Detektiven das Haus besetzte und sehr bald mit langem Gesicht wieder auf der Straße erschien, denn an der Bürotür von Mr. Rolf Nomark, Immobilien, hatte ein Zettel geklebt: „Die Firma ist aufgelöst worden wegen allzu lebhaftem Interesses der Gerichtsvollzieher.“

Oberinspektor Goldy packte den ebenso enttäuschten Harry Baaker beim Mantelknopf und sagte grob: „Sie hätten telefonieren sollen!! Was nützt es mir jetzt, daß Sie mir durch das in Flocken zerfallene Stückchen Papier des Briefumschlages bewiesen haben, daß dieser Nomark einer der Drei war!! Ich wünschte, auch Sie zerfielen zu Flocken!! Verstehen Sie mich!!“ Und dann marschierte er grimmig mit seiner Garde davon.

[19] Freund Roger, der zumeist sehr mürrisch und wenig humorvoll ist, sagte ganz leise zu mir und kicherte dabei höchst amüsiert: „Da schleicht auch er heim, der Mann mit dem Medusenhaupt!!“

„Unterschätze ihn nicht!“, meinte ich ernst. „Es ist ein schlauer Bursche. Aber ob er der wahre Schuldige ist, bezweifle ich.“

„Weshalb?! Hast du deine Ansicht so plötzlich geändert?!“

„Wenn nicht geändert“, sagte ich eindringlich, „so doch wenigstens strengstens nachgeprüft. Ich hörte das ganze Gespräch zwischen Bessie und Baaker, und ich sah auch durch das Schlüsselloch vom Flur aus, daß Baaker von der Briefklappe ein Stückchen abriß, ich war also schon gewarnt und hätte ohnedies schleunigst das Büro aufgegeben, aber ich hörte auch, und darauf kommt es an, daß Baaker beim Abschied Bessie ernstlich bat, nicht allein in dem Häuschen zu bleiben. Er erklärte wörtlich: „Vergessen Sie nie, Miß Gorrison, daß es hier um Millionen geht und daß der Dieb der Familienurkunden diese Millionen irgendwie erbeuten will. Und bei diesem Bestreben sind Sie ihm als die Erbin Ihrer armen Mutter im Wege! Seien Sie vorsichtig! Ziehen Sie sofort in ein Pensionat!“ – So sprach er zu ihr, und sie erwiderte kalt und förmlich: „Ich schütze mich schon selbst, Mr. Baaker … Ich danke Ihnen für Ihre Ratschläge.“ – Ja, Freund Roger, und diese Warnung hat mich stutzig werden lassen. Vielleicht sind wir doch auf der falschen Fährte.“

Der Baronett überlegte. „Aber Baakers Verhalten uns gegenüber, Olaf?!“, meinte er kopfschüttelnd. „Nein, – ich bleibe dabei: Er ist der Schuldige!“

Ich schwieg, ich hatte auch weitere Gründe, die Dinge jetzt in ganz anderem Lichte zu sehen.

Zwei schlicht-elegante Herren verließen gleich darauf [20] das Kaffeehaus und wanderten Park Lane zu, wo Baakers Büro und vornehme Wohnung in einem neuen Prachtbau lagen.

„Was willst du gerade jetzt in Park Lane?“ fragte mich der Baronett erst nach einer geraumen Weile, denn für gewöhnlich pflegten wir einander nicht mit vorzeitigen Fragen zu behelligen.

„Ich möchte dort bei einer älteren sehr reichen Witwe Diener werden, und dabei kannst du mir helfen, lieber Roger.“

„Hat sie schon einen Diener?“

„Ja. Und der muß verschwinden.“

Die beiden schlicht-eleganten Herren trafen dann einen dritten, der sich in Park Lane die Schaufenster ansah und durchaus einem reichen Nichtstuer glich. Sie wechselten einige scheinbar belanglos Redensarten, trennten sich, und der Baronett betrat das Haus, in dem Mr. Baaker wohnte und fragte den Pförtner, ob hier eine Wohnung leer sei, der Diener Frau Harriet Tobalts habe hiervon gesprochen, – ja, der Diener, wie heiße er doch gleich …

„James Burton“, half der Portier aus, nahm die zehn Schillinge dankend entgegen und bedauerte, daß leider im Hause alles vermietet sei.

Nachmittags sechs Uhr erhielt James Burton durch einen Eilboten einen gelblichen, rauhen Brief, den er zunächst etwas erschrocken, dann aber mit freudigem Lächeln nochmals überflog und schleunigst die beigefügte Hundertpfundnote verschwinden ließ.

Der Brief lautete: „James Burton, Sie sind uns als ein ehrlicher, braver Mensch geschildert worden. Sie haben in Pimlico eine kränkliche Mutter wohnen, die Ihrer Pflege bedarf. Empfehlen Sie Ihrer Herrin als Ersatz einen Kollegen namens Fred Lafton, der gerade ohne Stellung ist und dem wir helfen möchten. Erklären [21] Sie Frau Tobalt, Ihre Mutter sei schwerkrank und Sie müßten morgen früh nach Pimlico, für Fred Lafton könnten Sie bürgen. – Befolgen Sie diesen Befehl wörtlich. Sie dienen nur einer guten Sache. Sollten Sie etwas verraten, kennen Sie die Folgen! – Sie erhalten später noch hundert Pfund. – – Der Warner.“


4. Kapitel.
Die seltsame Höllenmaschine.

Bessie Gorrison hatte nach Baakers Besuch und nachdem der dankbare Arbeiter mit seinem Kahn sich entfernt hatte, noch[5] allerlei in der Stadt zu besorgen gehabt, und all diese Gänge waren recht ernster Art und galten nur der Beerdigung ihrer Mutter. Das Gefühl der Vereinsamung, dann auch die Überführung der Toten in die Leichenhalle des Friedhofs und ein letzter Blick in das starre wächserne Gesicht der armen, stets so überaus verschwiegenen Mutter bedrückten das tatkräftige junge Mädchen immer mehr, und als sie abends gegen acht Uhr wieder in der Nähe ihres Häuschens anlangte und hier abermals Jim Tobalt ihrer wartend vorfand, seine weiche, herzliche Stimme hörte und auch aus seinem ganzen Verhalten entnahm, wie innig er sie zu bedauern schien, kostete es sie wirklich einen schweren Kampf, so hart zu bleiben wie bisher.

Aber das, was er ihr angetan, konnte sie ihm nie vergessen oder verzeihen.

Ihre Mutter[6] würde noch heute leben, wenn er nicht ein so unbegreiflicher Heuchler und arbeitsscheuer Nichtstuer gewesen wäre.

„Jim, ich bitte dich, gib den Gedanken auf, daß jemals [22] die alten Beziehungen zwischen uns sich erneuern könnten“, sagte sie trotz allem etwas weniger unfreundlich als sonst. „Gönne mir meine Ruhe, die du mir geraubt hast, das weißt du. – Gute Nacht.“ Sie nickte ihm leicht zu und verschwand hinter der Pforte.

Jim Tobalt war ein kräftig gebauter schlanker Mann von vielleicht dreißig Jahren, hatte angenehme, nur etwas verschlossene Züge und war stets nach der letzten Mode gekleidet, ohne je die haarscharfe Grenze zum Geckentum hierin zu überschreiten. Er gehörte einem vornehmen Klub an, besaß Reitpferde, ein Auto, eine kleine Motorjacht und galt allgemein als höflicher, wenn auch als sehr zugeknöpfter Mensch.

Sein verstorbener Vater war einst als Werkmeister auf derselben Werft beschäftigt gewesen, deren Aufseherhäuschen Bessie Gorrison nun ganz allein bewohnte. Erst durch eine Erbschaft war Frau Harriet Tobalt, eine Duzfreundin Frau Gorrisons, so vermögend geworden, daß sie ihre Daseinsführung völlig umstellen konnte und nun seit Jahren eine prächtige Zehnzimmerwohnung in Park Lane inne hatte.

Als Jims erneuter Versuch, eine Versöhnung mit Bessie zu erreichen, abermals fehlgeschlagen war, blieb er noch eine Weile unter der Laterne, die die Zaunpforte beleuchtete, auf der regennassen Straße mit finster verkniffenen Lippen und gänzlich verändertem Gesichtsausdruck stehen und schritt dann erst mit einer halblauten Verwünschung seinem Auto zu. Über dem Rande des Bretterzaunes der Werft tauchte nun abermals ein halb vermummter Kopf auf, und Rechtsanwalt Baaker blickte dem jungen Manne derart verblüfft und verwirrt nach, daß er völlig übersah, daß neben ihm auf dem Dache eines niedrigen Schuppens noch eine Gestalt kauerte, die zumindest mit dem gleichen Interesse Jim Tobalts kräftigen Fluch vernommen hatte, der irgend [23] einer Person galt, die Jim am liebsten wie eine räudige Katze ersäufen wollte.

Harry Baaker entfernte sich dann gleichfalls, und nur Oberinspektor John Goldy blieb trotz des strömenden Regens auf seinem Posten, da er nach den heutigen Ereignissen die Feme der Drei hier zu erwischen hoffte.

Gleich darauf, gegen neun Uhr, sprach ein gut gekleideter Herr in einer nahen Gasse einen aus einer Kellerkneipe hervortorkelnden Bettler an und redete sehr ernst auf ihn ein, übergab ihm Geld und verschwand dann in der nächsten, noch dunkleren Hafengasse.

Goldy war lehr unangenehm überrascht, als der Bettler vor dem Zaune stehenblieb und ganz laut brüllte: „Hallo, Mr. Goldy …!! Ich soll Ihnen von Mr. Rolf Nomark bestellen, Sie möchten sich hier nicht zwecklos einen Schnupfen holen!! Er kommt doch nicht!“

Goldy platzte förmlich vor Wut. Er sprang auf die Straße hinab, packte den Bettler und wollte ihn mit zur Wache nehmen. Aber er sah wohl ein, daß er gegen den Mann nicht vorgehen könnte, der hoch und heilig versicherte, er habe von Mr. Nomark nur die Nasenspitze gesehen.

Jedenfalls erkannte der ehrgeizige John Goldy, daß auf diese Art an die Feme der Drei nicht heranzukommen sei. Dafür wollte er nun aber sowohl diesen Rechtsanwalt Baaker als auch den eleganten Jim Tobalt dauernd überwachen lassen. – Goldy war zweifellos eine der besten Spürnasen von Scotland Yard, und dabei besaß er eine Zähigkeit und Ausdauer, die ihm in Verbrecherkreisen mit einigem Recht den Ehrentitel „Kaugummi“ eingetragen hatten. – Er rief seine sorgfältig versteckten Mannschaften eiligst zusammen und erteilte ihnen andere Befehle. Dies nahm immerhin einige Zeit in Anspruch, und als die hierfür vorgesehenen Detektive jetzt nach Baaker und Jim Tobalt suchten, mußten sie [24] nach stundenlangem Bemühen feststellen, daß beide Männer weder daheim noch anderswo aufzutreiben waren.

Um Mitternacht ließ der Regen etwas nach. Bessie Gorrison, die die Warnungen der Feme der Drei keineswegs in den Wind geschlagen und sich daher ein Lager auf dem Diwan eines sonst nie benutzten Mansardenstübchens hergerichtet hatte, von dessen Fenster aus sie sowohl die Flußseite wie auch die Uferstraße im Auge behalten konnte, hatte nicht nur den überlauten Zuruf des angeheiterten Bettlers gehört, sondern auch die zwölf Detektive verschwinden sehen.

Bessie war nicht ängstlich, und obwohl die Werft keinen Wächter hielt, wußte sie doch, daß sie schlimmsten Falles drüben in dem einen Schuppen, wo eine obdachslose Familie von vier Köpfen sich heimlich eingenistet hatte, jeder Zeit Hilfe finden würde, da sie diesen harmlosen Bettlern und Hausierern jede nur mögliche Unterstützung hatte zukommen lassen.

Die Familie Bottler, Vater, Mutter und zwei kränkliche halberwachsene Töchter, waren froh gewesen, daß die Detektive sie nicht bemerkt hatten, kochten sich nun ihr Abendessen auf einem eisernen Ofen und hockten auf Kisten um den warmen Ofen herum, besprachen ihre Tageserlebnisse, und dabei erwähnte das eine Mädchen freudestrahlend, daß ihr heute ein vornehmer Herr in Park Lane für eine Zeitung ganze zehn Schillinge gegeben habe. – „Es war vor dem Hause des Rechtsanwalts Baaker“, ergänzte sie glücklich. „Der Stand dort ist sehr günstig, Mr. Baaker spendet mir auch jeden Tag einen Schilling. Aber der elegante Herr heute war besonders freundlich und schlenderte dort stundenlang auf und ab.

In der durch ein altes Segel verhüllten Tür erschienen plötzlich zwei jüngere, zerlumpte und halb betrunkene [25] Kerle, Vertreter jener Flußpiratengilde, die selbst den Bedürftigsten mitleidslos ausplündern.

Vater Bottler wollte seine Börse schnell verbergen, aber es war zu spät.

„Her damit rief der eine der Gauner roh. „Und wenn ihr schreit, geht es euch schlecht! Ich bin mit der Pistole flink bei der Hand, die Polizei ist abgezogen, und bei dem Wind und Regen hört kein Mensch einen Schuß!“

Hinter ihnen hatte sich das zerfetzte Segel abermals gehoben.

Der Mann, der dort stand, hatte einen löcherigen langen Gummimantel an und eine speckige Mütze tief ins Gesicht gezogen. Von seinem Gesicht war wenig zu sehen.

„Laßt die Leute in Ruhe und schert euch zum Teufel“, sagte er sehr laut und befehlend. „Ihr solltet euch schämen, derart schmutzige Geschichten zu machen! Wenn schon ein Armer den anderen bestiehlt, dann beweist er nur, daß …“

„Halt’s Maul, du …!“, zischte der mit der Pistole. „Willst wohl selbst eine Kugel zu schmecken bekommen, du …!!“

„Wirf deine Waffe weg, sofort!!“, befahl der dritte mit eiserner Ruhe.

Der Flußdieb, der den Namen „Blitzkugel“ nicht zu Unrecht trug, grinste tückisch und wollte auf den Fremden zielen.

Aber bevor er den Arm noch halb erhoben hatte, schnellte die Hand des Fremden aus der Tasche, ein dünner Knall ertönte, Blitzkugel schrie auf, die Waffe entfiel ihm, und sein Gegner sprang zu und hatte genau so schnell ihm und seinem Freunde Bill ein paar Boxhiebe versetzt, daß sie ächzend zusammensanken.

[26] „Tragt sie in ihren Kahn und nehmt ihnen die Ruder weg“, sagte der Fremde etwas lauter.

Sofort erschienen zwei ähnlich gekleidete Leute und schleppten die wehrlosen Diebe davon.

Der schlanke, hochgewachsene Fremde wandte sich an die verschüchterte Familie Bottler. „Liebe Leute“, meinte er sehr herzlich, „wir können euch hier nicht brauchen, wir müssen Miß Gorrison bewachen. Hier sind hundert Pfund in kleinen Banknoten, verlaßt die Werft sofort und mietet euch eine anständige kleine möblierte Wohnung. – Keinen Dank! Ihr müßt sofort verschwinden!“

„Herr“, stammelte Vater Bottler halb weinend, „hundert Pfund, – das ist ja ein Vermögen! – Gewiß, wir entfernen uns augenblicklich. Viel zu packen haben wir ja nicht … Gott lohne Ihnen Ihre Güte, Herr … Nennen Sie mir Ihren Namen, damit wir wenigstens wissen, wem wir ewigen Dank schulden …“

„Mein Name?“ Der Fremde lachte leise. „Früher hieß ich El Gento, Mr. Abseits, jetzt heiße ich Richter.“

So schnell wie ich erschienen, war ich auch wieder verschwunden. – –

Ich stand am scheibenlosen Fenster eines anderen Raumes desselben Schuppens, Windstöße und Regen trafen mich, und als ich nun auf dem Flusse einen dunklen langen Schatten gewahrte, zweifellos ein größeres Boot, schickte ich Roger und Bick schleunigst auf die vereinbarten Postenplätze und schlich auch selbst ins Freie.

Das Boot landete. Es war mit grauschwarzen Decken belegt, die im Wasser nachschleiften, und der leise surrende Motor verstummte nun gleichfalls. Ein einzelner Mann schlang eine Leine um einen Pfahl und kroch das Ufer hinan. Obwohl er dicht an dem Haufen verrosteten Alteisens vorüberkam, der mich deckte, konnte ich den Menschen nicht erkennen. Baaker war es nicht, auch Jim konnte es nicht sein, da der Kerl einen mächtigen [27] fuchsigen Bart und eine dicke Nase hatte, dazu einen Buckel und sehr lange Arme.

Ich folgte ihm. Er wand sich durch das Loch des Staketenzaunes des Gorrison-Häuschens hindurch und blieb unweit der Hintertür nach dem Flusse zu in einem verdorrten Blumenbeet liegen.

Dann vernahm ich von Süden her, wo Sheffield aufpaßte, dreimaligen Möwenschrei, – das Alarmsignal. Wenig später ertönte von Westen derselbe Schrei, der hier, wo die Möwen auf allen Uferpfählen saßen, niemandem auffallen konnte.

Meine an die Dunkelheit gewöhnten Augen gewahrten jetzt eine zweite Gestalt, die von der südlichen Seite der Werft herbeischlich. Als der Mann sich aufrichtete, sah ich, daß er in der Hand einen Kasten trug, nicht viel größer als eine Zigarrenkiste. Die Bewegungen des Menschen waren äußerst flink und geschmeidig, im Nu war er an dem Kellerfenster neben der Hintertür, drückte mit einem Seifenlappen geräuschlos eine Scheibe ein, hob den Kasten auf, der wahrscheinlich ein Höllenmaschine war, und dann …

Ja, was dann passierte, spielte sich in Sekunden während eines plötzlich einsetzenden Platzregens ab und blieb, was einige Mitspieler betraf, zunächst vollkommen unverständlich.

Ich jedenfalls war aufgesprungen, riß den Mann mit der Höllenmaschine zurück, erhielt einen kräftigen Boxhieb, taumelte zurück, sah zwei enteilende Gestalten[7] und packte eine dritte: Den rotbärtigen dicknasigen Kerl, während Roger und Bickfort den Flüchtlingen nachsetzten, die jedoch über den Fluß entwischten, der eine in dem bedeckten Motorboot, der andere schwimmend, und Roger schwor nachher, es sei noch ein vierter dagewesen, der über den Bretterzaun entrann.

Jedenfalls: Einen hatten wir fest! Wir schleppten [28] ihn in den Schuppen, und Bick schaltete seine Lampe ein, lächelte verbindlichst und sagte sichtlich betroffen: „Miß Crow, Ihre Verkleidung mag ja vorzüglich sein … – Sie gestatten!“

Er nahm ihr Bart und Perücke sowie die wächserne Knollennase ab, und im Lichtkegel der Laterne stand ein blasses Mädchen mit verkniffenem Mund, trotzigen Augen und noch trotziger zurückgeworfenem Kopf.

Bick, der ja den ganzen Fall Gorrison erst ins Rollen gebracht und alle ersten Ermittlungen insgeheim erledigt hatte, fügte genau so erstaunt hinzu:

„Was tun Sie denn hier, Miß Crow?! Als Gesellschaftsdame Ihrer lahmen Herrin sollten Sie besser friedlich im Bett liegen.“

„Ja, und nicht dabei mithelfen, eine Höllenmaschine in einen Keller hineinzuwerfen“, sagte ich etwas drohend. „Ich werde den Kasten jetzt holen, der irgendwo ins Gesträuch vor der Hintertür fiel …!“ Ich hätte noch ergänzen können, daß ich sehr wohl wußte, daß nicht Miß Crow der Attentäter gewesen, sondern daß ich Jim Tobalt erkannt und seine Faust zu spüren bekommen hatte, aber es war zweckmäßiger, dies zu verschweigen.

Das Allerseltsamste ereignete sich jetzt: Miß Geraldine Crow, übrigens eine sehr pikante Schönheit, griff nach meinem Arm und flehte halb schluchzend: „Rühren Sie den Kasten nicht an!! Es ist vielleicht etwas weit Schlimmeres als eine Höllenmaschine!“

Ich schob sie beiseite. „Selbst das Schlimmste will ich sehen! – Haltet sie fest, Bick, ich bin sofort zurück.“

Miß Crow weinte und suchte sich aus Bicks und Rogers Händen zu befreien. Der Baronett preßte ihr ein Tuch vor den Mund, damit ihre heiseren, angstgefolterten Rufe nicht gehört würden, und ich eilte zur Hintertür …

Als ich den leichten Kasten emporhob, erlebte ich [29] eine neue Überraschung. Urplötzlich dämmerte mir die Wahrheit auf … Ich schleuderte die merkwürdige Kiste durch das zerbrochene Fenster in den Keller und säuberte mir in einer Regentonne gründlich die Hände, läutete an der Hintertür, hörte Bessies Schritte, rief ihr den Namen Rolf Nomark zu und wurde sofort eingelassen.


5. Kapitel.
Die weißen Mäuse.

„Miß Bessie“, sagte ich mit unverstellter Stimme, „Sie kennen mich, obwohl ich jetzt einem Strolch gleiche. Sie wissen, daß wir es mit Ihnen nur gut meinen. Sie dürfen nichts fragen … Packen Sie schleunigst Ihre wertvollste Habe in einen Koffer und nehmen Sie auch die Ihnen liebsten Andenken mit. Sie dürfen niemals hierher zurückkehren und werden unverzüglich eine Pension oder ein Hotel aufsuchen. Lassen Sie alles hier, was für Sie nicht Pietätswert hat … Es geht um Ihr Leben … Beeilen Sie sich … Nur keine Fragen …!!“

Mit herzlicher Bewegung streckte sie mir die Hand hin und flüsterte dankbar: „Ich weiß, Sie sind einer der Drei von der Feme. Ich vertraue Ihnen. Ich werde gehorchen und mich beeilen … Viel habe ich nicht mitzunehmen, – die Bilder der Eltern, ein paar Kindheitsandenken, – in wenigen Minuten ist der Koffer gepackt …“

Jetzt kamen ihr doch die Tränen, und weinend wollte sie die kleine Treppe emporeilen, als ich sie doch noch zurückhielt. „Miß Bessie, ich sehe, Sie benutzen aus Sparsamkeit Petroleumlampen … Haben Sie größere Vorräte von Petroleum im Hause?“

Sie stutzte. Ein langer ängstlich fragender Blick traf mich.

[30] „Antworten Sie!“ drängte ich energisch. „Alles hat seinen Grund …!“

„Ja. – Ein Freund meines verstorbenen Vater besorgt uns immer ein Faß Petroleum ganz billig … Es steht unter der Treppe … – Weshalb … weshalb erkundigen Sie sich gerade danach?“ fügte sie noch scheuer und wie in banger Ahnung des Unvermeidlichen hinzu.

Ich drückte ihre Hand ganz fest und raunte ihr ein paar Sätze zu, die sie erbleichend gegen die Wand taumeln ließen.

Ich durfte ihr die entsetzliche Wahrheit nicht verheimlichen, sie hätte uns zu leicht in irriger Einschätzung der Umstände schwerste Ungelegenheiten bereiten können.

„Mein Gott!“ hauchte sie vollkommen verstört. „Welch’ ungeheuerliche Niedertracht!! Und – – wer tat’s, wer?! Ich will alles erfahren …“

Jetzt hatte sie mich böse in die Enge getrieben. Durfte ich diesem so schwergeprüften, von heimtückischen Widersachern gehetzten Mädchen auch noch das Allerärgste zufügen und ihr den Glauben an das Gute im Menschen vollends nehmen?! Nein, das wäre roh und brutal gewesen. Außerdem beherrschten mich noch immer gewisse Zweifel.

Hastig flüsterte ich zurück: „Miß Bessie, den Täter kenne ich nicht … Ich vermute, daß es nicht der Mann war, den Sie heute gegenüber Rechtsanwalt Baakers vorsichtigen Verdächtigungen so eifrig verteidigten, – – ich war nämlich der durchnäßte Arbeiter, und ich habe gehorcht und alles gehört … – Jetzt aber raffen Sie sich auf, Sie müssen in kurzem das Haus verlassen haben … Wir werden uns wiedersehen, begeben Sie sich in die Pension Tommasen, die Baaker Ihnen empfahl, dann weiß ich, wo ich Sie finden kann. Und [31] schweigen Sie!! Mag da kommen, was will: Schweigen Sie!“

Unsicheren Schrittes tappte sie die Treppe empor.

Ich drehte mich um, und vor mir stand Freund Roger.

„Olaf, ich habe das letzte mit angehört … Was hast du vor?“

„Und wo ist Geraldine Crow?“, fragte ich genau so überstürzt.

„Verdammtes Weib, – die reine Komödiantin, Olaf!! Sie täuschte eine Ohnmacht vor, sank zu Boden, und dann war sie wie ein Blitz auf und davon … Bei dem Regen sieht man ja nicht einmal die Hand vor Augen. Sie ist entwischt …“

„Gut, daß wir sie los sind … – Schnell, hilf mir, – hier unter der Treppe steht ein Petroleumfaß … Schlagen wir den Deckel ein, hole ein Schöpfgefäß aus der Küche … – Wo ist Bick? Ich rufe ihn … Er soll aus den verfallenen Gebäuden alles an Brettern herbeischleppen, was aufzutreiben ist … – Hallo, Bick, – – her mit dir … Was gibt’s?!“

Regentriefend tauchte der junge Warner vor uns auf.

„Das Mädel ist nicht ganz bei Sinnen, diese Geraldine Crow!! Die hat den Teufel im Leibe und Stroh im Gehirn! Im Boot ist sie entflohen … Und wißt ihr, was sie mir noch zurief?! – „Geht nicht in den Keller und brennt das Haus nieder, wenn ihr Tausenden das Leben retten wollt!“ – Ja, das rief sie, Olaf, und …“

„… und sie hat recht“, sagte ich mit allem Nachdruck. „Sie hat wirklich recht … – Fragt nicht viel, Bessie verläßt das Haus, und die Hauptsache ist, daß wir den Keller und hier das Erdgeschoß im Nu aufflammen lassen …! An die Arbeit!“

[32] Als Bessie Minuten später völlig angekleidet mit einem mittelgroßen Koffer schluchzend ins Freie trat, war sie bereits über petroleumnasse Läufer dahingeschritten.

Nachmals wandte Bessie sich zurück, als sie bereits die erste Seitengasse erreicht hatte.

Mit starren Augen beobachtete sie das helle Lodern der Riesenfackel, die einst ihr Vaterhaus gewesen. Nur mit Aufbietung aller Energie vermochte sie sich von diesem trostlosen Bilde loszureißen. Aber der Gedanke, daß nun endlich all die Geheimnisse der letzten Wochen durch die Feme der Drei restlos geklärt werden würden, verliehen ihr doch die Kraft, an der nächsten Haltestelle eine Taxe zu besteigen und dem Schofför völlig gefaßt das Pensionat Tommasen als Fahrtziel anzugeben. –

Oberinspektor Goldy, der in seinem Büro in Scotland Yard bisher nur vollkommen nichtssagende Meldungen von seinen Detektiven empfangen hatte, hörte nun abermals das Telefon anschlagen und hob mißmutig den Hörer ab. Mit einem Male war er jedoch wie verwandelt.

Die Polizeiwache des Hafenviertels berichtete über den Brand des Gorrison-Häuschens. „Zweifellos liegt Brandstiftung vor, Mr. Goldy“, erklärte ihm der Reviervorstand. „Die Feuerwehr konnte noch mit Rauchhelmen in das eine Vorderzimmer eindringen, dort schwamm alles von Petroleum, man könnte beinahe annehmen, Miß Gorrison wäre die Schuldige, sie wurde noch vor zehn Minuten mit einem Koffer von einem Polizisten an der Taxenhaltestelle gesehen …“

John Goldy rief fiebernd vor Eifer zurück: „Ich bin sofort bei Ihnen …! Lassen Sie feststellen, ob Miß Gorrison eine Taxe benutzt hat und welche …“

Er griff nach seinem Mantel und Hut, warf noch [33] einen flüchtigen Blicke in den Spiegel, der ihm sein mageres, aber trotzdem recht angenehmes Gesicht zeigte, lächelte seinem Spiegelbild etwas selbstbewußt zu und sprach halblaut vor sich hin: „John Goldy, seit langem bist du nun auf der Fährte des Medusenhauptes! Als man Richter Armstrong damals tot aus der Themse zog, der Frau Gorrisons Urkunden gesehen hatte, fandest du in seiner verkrampften Hand ein paar rötlich-graumelierte geringelte Haarbüschel wie rote Schlänglein um den Finger gedreht, und heute im Gerichtssaal hat die arme Frau Gorrison dieselben Schlängelein jemandem ausgerissen …!! John Goldy, wenn du das wahre Medusenhaupt und nebenher noch die Feme der Drei erwischst, ist dir die Beförderung zum Kommissar sicher!“

Es war eine alte Gewohnheit John Goldys, derartige Selbstgespräche zu führen, die lediglich den Zweck hatten, seine Nerven zu beruhigen und seinen Übereifer zu dämpfen.

Um dieselbe Zeit, als John Goldy mit dem Hafenrevier das Telefongespräch geführt hatte, saß dort auf der Wachtstube ein einfacher Arbeiter, der den Verlust seines Rucksackes mit Handwerkzeug anmeldete, das er auf der Dockfähre liegen gelassen habe. Er hörte alles mit an, was der Reviervorstand dem Oberinspektor über den Brand und über Miß Bessie mitteilte, entfernte sich nachher und betrat den nächsten Fernsprechautomaten.

Bessie, die soeben erst im Pensionat Tommasen ein Zimmer zugewiesen erhalten hatte, wurde vom Nachtportier an den Apparat gerufen. „Ein Mr. Rolf Nomark wünscht Sie ganz dringend zu sprechen, Miß“, erklärte der Mann gleichgültig, denn in dem großen Pensionat waren nächtliche Anrufe nichts Besonderes.

Bessie vernahm eine klare, etwas scharfe und ihr wohlbekannte Stimme.

„Kommen Sie sofort in die nahe Marybone-Street. [34] Lassen Sie alles stehen und liegen … Sofort ohne Koffer!“

Bessie hätte diesem Befehl niemals Folge geleistet, wenn er nicht gerade von dem einen Mann erteilt worden wäre, dem sie so blindlings vertraute.

Als Oberinspektor Goldy zehn Minuten später in der Pension Tommasen erschien, machte der Nachtportier ein äußerst bestürztes Gesicht. „Miß Gorrison wollte nur noch einen eiligen Brief in den nächsten Kasten werfen. Bisher ist sie nicht zurückgekehrt, Herr Oberinspektor.“

Goldy tauschte mit seinem Kollegen vom Hafenrevier einen vielsagenden Blick aus, und als er in Bessies Zimmer ein Paar beschmutzte Schuhe fand, die noch merklich nach Petroleum rochen, sagte er ärgerlich: „Also entwischt!! Sie ist entflohen, jemand hat sie uns weggeschnappt, und das war wieder dieser verteufelte Rolf Nomark, der sie ans Telefon bitten ließ. – War jemand auf der Polizeiwache, als Sie mit mir über den Brand und über diese Bessie sprachen?“

„Nur ein schlichter Arbeiter, der den Verlust seines Rucksackes meldete, Mr. Goldy …“

„Nur?! Nur ?!“, rief Goldy wütend. „Wissen Sie, wer das war?! Das war einer von der Feme der Drei. Diese verwünschten Kerle denken leider Gottes an alles!! Nun können wir Bessie suchen, – – wo aber?!“

Bessie saß in der Ecke einer Taxe, die gemächlich durch die endlosen Straßenzüge Londons fuhr und die dann in der Nähe der Waterloo-Brücke vor dem Gittertor des Sromwell-Palastes hielt. Der Unbekannte hatte Bessie vorgeschlagen, Lady Sromwells Gastfreundlichkeit getrost in Anspruch zu nehmen und sich dabei auf „Den Herrn aus dem Palazzo Albergo in Venedig“ zu berufen.

Ich wußte genau, daß unser Schützling bei Lady [35] Doris vorläufig am besten und sichersten aufgehoben sei, und ich hatte mich auch darin nicht getäuscht, denn „Die erstarrten Tränen“ (vergleiche den vorigen Band[WS 1]) hatten um Mylady und uns ein so festes, heimliches Band geschlungen, daß wir auf diese vielgeprüfte und wieder von jedem Verdacht befreite Frau in allem uns verlassen konnten.

Während Mylady noch für den späten Gast aufs beste sorgte, saßen in London-Norwood, Albemarle Street 17, drei Männer in einem behaglich warmen Zimmer bei einer Tasse Mokka und Zigarren in der gemütlichen Klubecke beieinander, und nachdem Freund Bick die Tassen gefüllt hatte, erklärte ich ohne weitere Aufforderung:

„Der Kasten, der eine Höllenmaschine zu sein schien, hatte vorn eine Klapptür und war ganz leicht und leer, als ich ihn aus dem Gebüsch aufhob. Er roch jedoch innen stark nach Mäusen, und mir war sofort klar, daß der Mann, der den Kasten brachte, durch das eingedrückte Kellerfenster eine Anzahl Mäuse in den Keller geschüttelt hatte …“

Bick und Roger schauten mich groß an.

Der Baronett kam nicht sofort auf den richtigen Gedanken, aber Bickfort Tomsen, der junge Warner, meinte ungewöhnlich erregt und empört:

„Ich verstehe …! Die Mäuse waren geimpft worden, wahrscheinlich mit Pestbazillen … Auf die Weise sollte die Krankheit auf Bessie übertragen werden. – Ja, das Haus mußte verbrannt werden …!“

Baronett Roger Sheffield, der Mann mit dem kantigen Gesicht und der stämmigen Figur, schüttelte langsam wie ungläubig den Kopf …

„Welch’ eine Ruchlosigkeit!! Die Seuche hätte sich zweifellos noch weiter verbreitet! Und wer war der Schurke mir den Mäusen?“

[36] „Ich glaube, Jim Tobalt … Zumindest war die Ähnlichkeit sehr groß“, erwiderte ich zaudernd, denn trotz dieser Ähnlichkeit hegte ich einige Zweifel.

Sheffield rief in seiner schroffen Art: „Und in das Mörderhaus willst du dich als Diener hineinwagen, Olaf?! Das gibt es nicht, das dulden wir nicht, – nicht wahr, Bick?! Eine Wohnung, in der mit Pestbazillen operiert wird, – nein, das wäre eine Verrücktheit …!“

Bickfort zuckte die Achseln.

„Lieber Roger, bedenke das eine: Jim Tobalt kann die Mäuse auch von Harry Baaker erhalten und gar nicht gewußt haben, daß sie Mordwaffen darstellten.“

„Allerdings“, nickte ich etwas zerstreut. „Baaker hält sich weiße Mäuse in einem großen Käfig in seinem Schlafzimmer, das hast du doch selbst erwähnt, lieber Roger, als du ihm dein Bajazzolied vorgespielt hattest, erinnere dich nur …“

„Ich besinne mich …“, sagte der Baronett genau so zerstreut.

Dann trat Schweigen ein, und die Feme der Drei versank in noch tieferes Nachsinnen.


6. Kapitel.
Ein Medusenhaupt wird verbrannt.

Fred Lafton war lange Jahre herrschaftlicher Diener gewesen, hatte dann infolge Krankheit seine letzte Stellung aufgeben müssen und vor kurzem die sehr billige Mansardenwohnung bei Mr. Hamilton Seym, London-Norwood, Albemarle Street 18, bezogen, wo ihn zuweilen seine einzige Enkelin Geraldine Crow besuchte, die ihn auch durch Geld unterstützte, soweit sie hierzu imstande war.

[37] Dieser Lafton hatte nun am vorigen Abend einen Brief erhalten, dem zweihundert Pfund beilagen, und da der Brief bereits um zehn Uhr vor Laftons ungläubigen Augen sich allmählich in grauweiße Flocken aufgelöst hatte, zögerte er keinen Augenblick mehr, die Anweisungen des Briefes genauestens zu befolgen. Er packte seinen Koffer, legte seine Papiere und Zeugnisse sowie ein kurzes Schreiben an seine Nichte auf den Tisch und verließ das Haus, um sich in einem Badeort an der Südküste einige Zeit zu erholen. Unten auf der Straße begegnete er noch einem ihm bekannten Schutzmann des Norwood-Reviers und erzählte ihm, daß er endlich wieder eine neue Anstellung bei der reichen Frau Harriet Tobalt in Park Lane gefunden habe.

Morgens um neun Uhr saß Frau Tobalt, eine grauhaarige Dame mit diskret gepuderten Wangen und einem überaus gütigen, gutmütigen Gesichtsausdruck, zusammen mit ihrem Sohne Jim und Miß Crow im Wintergarten am Frühstückstisch und erklärte soeben ihrem treu bewährten Diener James Burton, daß sie ihn ja sehr ungern beurlaube, aber natürlich sei es seine Pflicht, seine schwerkranke Mutter persönlich zu pflegen.

James, der etwas erregt und verlegen war, meldete zögernd, sein Vertreter Fred Lafton sei soeben eingetroffen, und dies hier seien dessen Papiere und Zeugnisse, außerdem dürfte Miß Crow wohl ebenfalls für Fred Lafton bürgen können.

Geraldine Crow nahm den Brief, den James ihr überreichte, mit deutlichem Erstaunen entgegen. Sie überflog ihn, errötete tief und sagte ein wenig verwirrt:

„Frau Tobalt, es ist mein Großvater …“

„Ich erinnere mich, liebe Geraldine“, nickte die alte Dame gleichgültig. „Sie besuchen ihn ja mitunter. Seine Zeugnisse sind wirklich vorzüglich. Also gut, James, Sie können dann gehen …“

[38] Als Burton das Haus verlassen und seinen Koffer in eine Taxe verstaut hatte, trat ein Herr mit einem sehr mageren Gesicht an ihn heran und nannte seinen Namen und Amtstitel: Oberinspektor Goldy.

Wenn nun auch James zunächst vor Schreck den Beamten recht verängstigt anstarrte, so wurde er doch durch dessen Fragen, die lediglich Mr. Jim Tobalt galten, schnell wieder beruhigt, und er erwiderte der Wahrheit gemäß, er wüßte wirklich nicht, wann Mr. Jim in der verflossenen Nacht heimgekehrt sei. – Goldy stellte noch einige andere Fragen, die James einiges Herzklopfen bereiteten, und entließ ihn dann.

Inzwischen hatte Miß Crow droben bei Tobalts ihren Großvater im Dienerzimmer begrüßt, und auch ihre anfängliche Angst, daß die seltsame Komödie schlecht enden könnte, verflog sehr rasch, da Fred Lafton mit seinem grauen Scheitel und den grauen Bartkoteletten und der etwas dicken Nase einigermaßen dem echten alten Lafton ähnlich sah.

Ich hatte mich Frau Tobalt bereits vorgestellt, und da sie jetzt mit ihrem Sohne ihre Korrespondenz erledigte, waren Miß Crow und ich ganz ungestört.

Das blasse, überschlanke Mädchen erklärte mit scheuem Blick und nach einigen Ausflüchten: „Ich bin jetzt hier ein halbes Jahr in Stellung. Frau Tobalt ist eine sehr gütige Herrin, aber ihr Sohn bereitet ihr insgeheim viel Sorgen und Kummer, die sie vor mir verbergen möchte. Jim ist ein Lebemann, ohne jegliche ernsthafteren Interessen, er kehrt zumeist erst morgens heim und zwischen ihm und seiner Mutter kommt es oft genug hinter verschlossenen Türen zu den erregtesten Auftritten. Außerdem treibt Jim auch noch allerlei merkwürdige Dinge. Mr. Baaker, der unter uns wohnt, ist doch der Anwalt seiner Mutter, und Jim pflegt nachts an der Feuerleiter häufig in Mr. Baakers Zimmer hinabzuklettern, [39] wie ich beobachtet habe, und bleibt dort stundenlang und ist sogar auch schon in Baakers Büroräume eingedrungen.“

All dies war mir weit wichtiger, als Miß Crow ahnte, und nachdem ich sie noch ermahnt hatte, mich in Gegenwart anderer stets als Großvater mit du anzureden, nahm ich meine Dienertätigkeit im Hause Tobalt mit einem Eifer auf, der nur durch die Gedanken an die arme Bessie, die diesen Jim zweifellos geliebt hatte, stark beeinträchtigt wurde. Wenn ich jedoch andrerseits an das scheußliche Bazillenattentat zurückdachte, wenn ich weiterhin mich an die Millionen erinnerte, die hier mit auf dem Spiele standen, wies ich jede weichere Regung von mir und steuerte mit aller Energie auf mein schwer zu erreichendes Ziel los: Ich wollte die Brieftasche mit den Urkunden, die Jim oder Baaker gestohlen haben mußten, unbedingt finden!

Der bejahrte Diener Fred Lafton wischte nun also im Salon Staub und schlängelte sich vorsichtig an die durch schwere Portieren verdeckte Tür zur Bibliothek heran, in der Frau Tobalt, die sich nur mit Hilfe zweier Stöcke vorwärtsbewegen konnte, mit Jim gerade wieder eine sehr ernste Aussprache zu haben schien. Ich vernahm von Frau Tobalts milder Stimme nur weniges, desto lauter erklang Jims kräftiges Organ, und ich merkte sehr bald, daß der Streit sich um einen recht ungewöhnlichen Gegenstand drehte.

Plötzlich horchte ich noch schärfer hin und drückte das Ohr an die Spalte der geschlossenen Schiebetür. Jim rief in blinder Wut, die seine Stimme zum förmlichen Kreischen steigerte:

„Also du verweigerst mir die Auskunft, Mutter! Du gebrauchst wieder nur Ausflüchte! Ich sage dir, ich pfeife auf dein Geld! Ich verlasse deine Wohnung, ich werde mich schon irgendwie durchschlagen!“

[40] Er verstummte plötzlich. Weshalb konnte ich nicht wissen. Ich hörte dann nur noch Frau Tobalts traurige Stimme, die klagend und mahnend und fast beschwörend klang:

„Jim, willst du wirklich ins Zuchthaus wandern?! Bedenke, daß Baaker dich vernichten kann, denn er hat dich damals gesehen, du törichter Mensch! Jim, mein Junge, niemals werde ich es dulden, daß du dich unglücklich machst! Ich liebe dich, obwohl du ein kaltherziger Lügner und Heuchler bist, denn die Perücke, die ich dort soeben in den Kamin geworfen habe, trägst du bei deinen nächtlichen Abenteuern, die mich geradezu an deinem klaren Verstande zweifeln lassen.“

Einen Augenblick blieb es still.

Dann entgegnete Jim heiser und offenbar von tiefstem Widerwillen geschüttelt:

„Oh, mich ekelt’s vor alledem! Abermals drohst du mir mit Baaker! Wer ein Heuchler und Lügner ist, mag dahingestellt bleiben. Ich – – ich bedaure mich selbst, denn ich bin schuldlos in einen Verdacht geraten, den du mit einem Wort zerstreuen könntest! Mutter, – ich ahne die Wahrheit, – – und das ist das Entsetzlichste bei alledem, denn ich muß ja schweigen – – ich muß! Trotzdem werde ich nicht nachlassen, diesen dunklen Dingen weiter nachzuspüren!“

Ein leises, trauriges Lachen folgte, und die milde Stimme Frau Tobalts sagte halb schluchzend:

„Gott sei Dank, daß ich das unselige Schlangenhaupt der Medusa ins Feuer warf! Lasse mich allein, Jim, – noch mehr Aufregungen ertrage ich nicht! Aber an das eine denke stets: Baaker wird dich ins Zuchthaus bringen! Du hast die Brieftasche der armen Mary Gorrison gestohlen! Und wenn es zum Äußersten kommt, Jim, werde ich meine Drohung wahrmachen: Du bist geistig nicht normal, du gehörst in eine Anstalt, [41] und lieber sehe ich dich in einer Irrenzelle als in einer Zuchthauszelle!“

… Eine Tür wurde mit lautem Krachen ins Schloß geschmettert, und ich, der heimliche Lauscher, fühlte vor stillem Grauen über diese entsetzliche Szene ein Frösteln, als ob ich selbst Jim Tobalt, der Wahnsinnige, der schlaue Lügner und Heuchler wäre.


7. Kapitel.
Baaker Nr. 2.

Inzwischen hatte mir ein Dienstmann noch einen zweiten Koffer gebracht, und zugleich mit diesem an sich höchst überflüssigen Koffer gelangte ein Zettel in meine Hand, der in des Baronetts derber Handschrift die Zeilen trug: „Unser rühriger Verfolger John Goldy hat sich bei mir als dem Hauswirt Laftons erkundigt, ob Fred Lafton wirklich eine neue Stellung angenommen habe. Ich bestätigte dies, und dasselbe tat einer der Schutzleute unseres Reviers. Trotzdem: Vorsicht!!“

Der untersetzte, stämmige Dienstmann blinzelte mir in der Vorhalle noch vielsagend zu, und ich konnte ihm unauffällig ins Ohr raunen: „Hier ist sogar dreifache Vorsicht geboten, lieber Roger, denn als ich vorhin Miß Crows Schreibtisch etwas sehr indiskret revidierte, fand ich im Futter ihres Handtäschchens einen Ausweis, der mir stärkstes Unbehagen bereitete.“ Dann gab ich dem „Dienstmann“ ein Trinkgeld, und er entfernte sich eiligst und hinterließ einen sehr echten, spürbaren Geruch nach Brandy.

Frau Harriet Tobalt begab sich bereits gegen acht Uhr zur Ruhe, und die Dienerschaft war nunmehr frei, ebenso Miß Crow, die sehr bald das Haus verließ, angeblich [42] um ein[8] Kino zu besuchen. Auch ich war bereits zum Ausgehen fertig, und was ich vorausgesehen, traf auch ein: Schon an der nächsten Ecke erwartete unser gefährlichster Jäger John Goldy das junge Mädchen und begrüßte es bei dem rauhen, unfreundlichen Aprilwetter so herzlich, daß meine Besorgnis, Geraldine könnte mich verraten, sich noch mehr steigerte. Gewiß, sie hatte Rücksicht auf ihren wahren Großvater zu nehmen, der sich zu diesem Personenwechsel hergegeben hatte, aber sobald zwischen einer Polizeivigilantin und einem Oberinspektor, wie hier noch offensichtlich zärtlichere Gefühle mitsprachen, gewann die Sache doch ein äußerst bedenkliches Aussehen. Ich folgte dem Paare in sehr respektvoller[9] Entfernung, und als ich noch beobachten mußte, wie Goldy vertraulich seinen Arm in den des Mädchens schob, war ich nahe daran umzukehren und samt meinen Koffern schleunigst aus dem Hause Tobalt zu verschwinden.

Das war jedoch nur eine augenblickliche Anwandlung von kleinmütigem Verzicht auf meine erfolgverheißende Dienertätigkeit, und schon die nächsten Minuten belehrten mich, daß zwischen Goldy und Geraldine die vertrauliche Einmütigkeit durch irgend etwas arg zerstört worden war. Das Paar blieb unter einer Laterne stehen, und da ich jetzt nicht mehr Fred Tobalt oder etwa Mr. Rolf Nomark irgendwie ähnlich sah, wagte ich mich näher heran und merkte schon aus Goldys erregten Gesten, daß Geraldine ihm zweifellos irgendeine Auskunft oder dergleichen verweigerte, was ihn schließlich so sehr empörte, daß er jede Rücksicht vergaß und ganz derb ihren Arm packte und sie wütend schüttelte, worauf sie mit genau so starker Entrüstung sich losriß, kehrt machte und stolz und verletzt davonschritt, während Goldy in entgegengesetzter Richtung von dannen eilte.

[43] Ich hatte, um nicht aufzufallen, unter der nächsten Laterne eine Zigarre angezündet und dann eine Abendzeitung hervorgezogen, in der übrigens Bessie Gorrisons Brandstiftung und Flucht und Verschwinden sehr ausführlich behandelt waren. Geraldine stürmte[10], ohne mich zu beachten, an mir vorüber, sie hatte Tränen in den Augen und ihre erste Entrüstung war bereits in Trauer über die Entzweiung mit Goldy übergegangen.

Ich blickte ihr nach, und jetzt erst machte ich eine Entdeckung, die all meine Sinne auf das Äußerste anspannte und die auch diese Nacht verheißungsvoll einleitete.

Wir befanden uns in Park Lane mit den hübschen Villen, Vorgärten und vornehmen Mietshäusern.

Drüben auf der anderen Straßenseite stand im Schatten überhängender Büsche an einem Gartengitter ein Mann, der jetzt plötzlich in den Lichtschein der Bogenlampen hinaustrat und den ich sofort als Harry Baaker erkannte, obwohl er den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gedrückt hatte. Sein Benehmen bewies, daß er mich für harmlos hielt, und schon allein der Umstand, daß er Schuhe mit Gummisohlen trug und nun dicht und lautlos hinter Miß Crow herschlich, zwang mich, die weitere Entwicklung der Dinge sorgfältig zu überwachen, obwohl meine jetzige, neueste Beurteilung der Persönlichkeit des Anwalts grundverschieden von der meiner gütigen Dienstherrin Frau Tobalt war.

Da es immerhin auffällt, zwei Personen in zu kurzem Abstand zu verfolgen, bestieg ich eine leere Taxe, sagte dem Schofför mit einem reichlich bemessenen Händedruck Bescheid und hielt mich im übrigen bereit, sofort zuzuspringen, falls wider Erwarten der Anwalt allzu verfängliche Mittel wählen sollte, Miß Crow irgendwie als ihm lästig lahm zu legen.

[44] Die Ereignisse, die sich dann in Sekunden abspielten, erinnerten sehr stark an die vorige Nacht, als außer uns dreien noch vier Leute es auf das Gorrison-Häuschen abgesehen hatten. Ich wußte bestimmt, es waren vier gewesen, Roger hatte sich nicht geirrt, der Vierte war über den Zaun entkommen.

Park Lane war an dieser Stelle menschenleer, es goß auch gerade wieder in Strömen, Geraldine spannte ihren Schirm auf, und urplötzlich schoß Baaker, dem man diese Gelenkigkeit kaum zugetraut hätte, mit langen Sätzen vorwärts, ich sah im Laternenschein eine Messerklinge blinken, ich beugte mich schnell zum Fenster hinaus, mir wäre es hier auf einen Schuß aus der mit Schalldämpfer versehenen Pistole nicht angekommen, ich zielte, wollte abdrücken, im selben Moment taumelte Baaker zur Seite, sein Hut glitt ihm vom Kopfe, und eine kurze Holzkeule, wie sie zu Freiübungen benutzt wird, polterte auf den Bürgersteig.

Baaker ließ seinen Hut liegen, sprang über das nächste Vorgartengitter, und eine dunkle Limousine glitt an meiner Taxe vorüber, ein Mann packte das Mädchen, hielt ihr den Mund zu, zerrte sie in das Auto, das sofort davonschoß, jedoch sehr bald seine Geschwindigkeit mäßigte, so daß ich eiligst Hut und Keule an mich nahm und meinem Schofför die Weisung geben konnte, der Limousine zu folgen. Als meine Taxe nun nach dem kurzen Aufenthalt anruckte – sprang jemand vom Fahrdamm her auf das Trittbrett, und etwas verblüfft starrte ich Mr. Harry Baaker ins Gesicht, der wieder einen Hut aufhatte – ebenfalls einen dunkelgrauen mit schwarzem Band – und atemlos flüsterte:

„Nehmen Sie mich mit …! Sie werden es nicht bereuen!!“

Leider kam mir der Rechtsanwalt in keinem Augenblick ungelegener als jetzt. Vielleicht hätte ich unter anderen [45] Umständen ihm Vertrauen geschenkt, zur Zeit war er mir aus bestimmten Gründen nur lästig, und meine kurze ablehnende Antwort lautete: „Um zwei Uhr nachts bin ich bei Ihnen, – – verschwinden Sie!!“

Mit einem Seufzer, der recht enttäuscht klang, sprang er dann wieder ab, und zehn Minuten später verließ ich am Eingang einer dunklen Gasse meine Taxe, schickte sie weg und schritt nach vorsichtigem Umherspähen auf die dunkle Limousine zu, die weit vor mir vor einem älteren Geschäftshause gestoppt hatte.

Am Steuer saß ein hochherrschaftlicher Schofför im Livreemantel, im Innern aber hatte sich Miß Crow trotz des Baronetts freundlichem Zuspruch noch immer nicht von dem tödlichen Schreck erholen können, den ihr der Mörder mit dem blinkenden Messer eingejagt hatte. Ich öffnete die Tür, gleichzeitig schob Bick die Innenscheibe zur Seite und sagte in seiner frischen, liebenswürdigen Art: „Miß Crow, Sie haben das seltene Vergnügen, die Feme der Drei vor sich zu sehen, worum Sie Ihr Verehrer und Vorgesetzter John Goldy unbedingt beneiden dürfte … – Bitte, erschrecken Sie nicht. Wir wissen seit heute nachmittag, daß Sie insgeheim von der Kriminalpolizei in das Haus Park Lane Nr. 102 als Gesellschafterin Frau Tobalts eingeschmuggelt worden sind, und die Sicherheit unseres Freundes, der jetzt Ihren Großvater spielt, erforderte eine gründliche Aussprache mit Ihnen. Daß wir Sie gleichzeitig vor einem Messerattentat würden schützen können, ahnten wir nicht. Mr. Harry Baaker kennt unseren Freund allerdings sehr schlecht, er kann froh sein, daß er mit einer Beule am Kopf weggekommen ist und daß er nicht eine Pistolenkugel in den Arm erhielt. – Wollen Sie nicht eine Zigarette rauchen, Miß Crow? Nikotin beruhigt.“

Geraldine besaß Sinn für Humor. Sie lachte leise …

[46] „Weiß Gott, meine Herren, die Feme der Drei sind vollkommene Gentlemen, und ich bin daher desto froher, daß ich Mr. Goldy gegenüber verschwiegen blieb, – – was mir recht schwer wurde.“

Ich setzte mich auf den einen Klappsitz, Roger reichte Miß Crow Feuer, und dann begann sie ohne jede Aufforderung zu berichten, weshalb sie mit John Goldy so böse aneinandergeraten sei.


8. Kapitel.
Goldy verhaftet zwei von der Feme.

Zwei Stunden später betraten zwei Herren in tadellosen Abendanzügen eine der Nischen im überfüllten Hauptsaal des Restaurants Albion, wo eine Dame in Trauer mit dichtem schwarzen Schleier bisher einsam bei einem Glase Rotwein gesessen hatte. Die Herren verneigten sich, murmelten irgend welche Namen und bestellten beim Kellner ein erlesenes Menü, der eine schob dann die Speisekarte der Dame zu, und Bessie Gorrison öffnete heimlich den gelblichen Brief, den sie geschickt mit der Speisekarte entgegengenommen hatte und den sie nun begierig überflog. Sie war für elf Uhr abends von Mr. Rolf Nomark hierher bestellt worden, und sie hatte diesem halben Befehl genau so entsprochen wie allen bisherigen Anordnungen ihres Beschützers.

„Miß Gorrison“, lautete der überaus merkwürdige Brief, „verlassen Sie noch heute den Sromwell-Palast und kehren Sie in das Pensionat Tommasen zurück. Oberinspektor Goldy hat Ihre Fährte entdeckt, da die Pförtnerfrau des Palastes den nächtlichen Besuch einigen Bekannten erzählt hat. Die Polizei kann Ihnen nichts anhaben, dafür ist gesorgt. Die Einladung Frau [47] Harriet Tobalts, zu ihr überzusiedeln, nehmen Sie trotz Ihrer Abneigung gegen Jim unbedingt an, denn bei der liebenswürdigen alten Dame sind Sie am sichersten und für uns am leichtesten erreichbar. Wir bedauern, daß wir nicht persönlich …“

Als Bessie soweit gelesen hatte, begannen das Briefpapier und der Umschlag sich zu verfärben, wurden erst braungrau, dann fast weiß und seltsam kraus und weich.

Eine Stunde vorher hatte der übelgelaunte John Goldy, der nach dem erregten Auftritt mit Geraldine in sein Büro zurückgekehrt war, von einem seiner vor dem Sromwell-Palast postiert gewesenen Leute die Meldung erhalten, daß Miß Bessie sich in das Restaurant Albion begeben habe.

Goldy, der Geraldine Crow aufrichtig liebte und der ihr auch den Nebenverdienst bei der Polizei verschafft hatte, damit sie ihren kränklichen Großvater unterstützen könnte, litt weit schwerer unter der Entzweiung mit Geraldine, als er sich dies selbst eingestehen wollte. Er hatte sie seinerzeit gebeten, Baaker zu beobachten, und heute hatte er als guter Menschenkenner gespürt, daß sie mit der Wahrheit irgendwie zurückhielt. Jedenfalls befand er sich in recht gereizter Stimmung, als er jetzt mit einigen Beamten den Saal im Albion betrat und plötzlich in der Nische erschien, wo er sowohl den beiden Herren als auch Bessie Gorrison, die gerade die Briefasche vom Tische stäubte, leise zuraunte, daß sie alle drei verhaftet seien.

Goldy triumphierte. Endlich hatte er zwei von der Feme erwischt! Das entschädigte ihn wenigstens etwas für seine Enttäuschung über Geraldine.

Die beiden Herren in der Nische protestierten erregt, während Bessie sehr gefaßt dieses Mißgeschick hinnahm.

Und dann kam für den ehrgeizigen, aber sonst sehr anständig gesinnten Goldy die bittere Enttäuschung. [48] Seine beiden männlichen Häftlinge, die er in seinem Büro sofort verhörte, erklärten, sie seien nur Eintänzer einer Bar und von einem Fremden durch je fünf Pfund für den Auftrag im Albion gewonnen worden.

Goldy lachte sie aus. „Erzählen Sie mir keine Märchen!! Sie sind der Baronett Sheffield, und der Jüngere da ist der berüchtigte Warner Bickfort Tomsen …“

Im Albion-Saale hatten unweit der Nische allerdings zwei Herren gesessen, die mit leichtem Schmunzeln die Verhaftung beobachteten. Der eine begab sich nachher in die Telefonzelle.

Im Büro Goldys schnurrte der Tischapparat. Goldy meldete sich, und er vernahm meine Stimme. „Mr. Goldy, hier Ihr Freund Rolf Nomark … Lassen Sie die beiden Eintänzer wieder laufen und belästigen Sie auch Miß Bessie nicht weiter. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß wir drei das Gorrison-Häuschen aus Gründen, die Sie später erfahren, angezündet haben.“ – Dann hängte ich ab.

John Goldys Zustand erschien hiernach einige Minuten äußerst bedrohlich.

„Dieser Nomark bringt mich noch ins Grab!!“ brüllte er die beiden Eintänzer an. – Aber sein anfänglicher Grimm verrauchte schnell, die Leute waren Eintänzer einer Bar, und selbst als er durch Bessies Verhör gar nichts ausrichtete, blieb er völlig Herr seiner Nerven und entließ das junge Mädchen mit aller Höflichkeit.

Insgeheim hoffte er doch, sie würde ihm die Feme der Drei unbewußt irgendwie in die Arme liefern.

Er war eben ein großer Optimist, der kluge John Goldy, und nach den letzten Vorgängen war er nun fest entschlossen, sich einmal persönlich bei Harry Baaker gründlichst umzusehen, der auch seiner Meinung [49] nach mit diesem Nichtstuer Jim Tobalt zusammenarbeitete und den Richter Armstrong auf dem Gewissen hatte. –

Kurz vor zwei Uhr morgens erwartete Baaker, in der geöffneten Haustür im Dunkeln stehend, das Erscheinen des Mannes, der ihm einen nächtlichen Besuch versprochen hatte und den er für einen der Feme der Drei hielt, vor der seine Furcht nun so ziemlich geschwunden war.

Nach einer geraumen Weile zuckte er erschrocken zusammen und fuhr blitzschnell herum, da jemand hinter ihm seine Schulter berührte und flüsterte: „Ich bin bereits zur Stelle, Mr. Baaker, wir benutzen sehr ungern Vordereingänge, wenn in den Gärten gegenüber Oberinspektor Goldy auf der Lauer liegt. Ich weiß“, fügte er mit derselben freundlichen Vertraulichkeit hinzu, „daß Sie Goldy nicht herbeigerufen haben. Bitte zeigen Sie sich jetzt vor der Haustür, schlendern Sie etwas hin und her und kommen Sie nachher in Ihr Arbeitszimmer.“

Harry Baaker war als Anwalt doch an so allerlei gewöhnt, als er nun aber sein Arbeitszimmer betrat, nur die Rauchtischlampe brennend fand und im Schatten drei Leute saßen, die ihm völlig fremd erschienen, kamen ihm diese so gefürchteten Gäste doch etwas unheimlich vor.

„Nehmen Sie gleichfalls Platz, Mr. Baaker“, sagte dieselbe Stimme von vorhin. „Wir haben Sie bisher unrichtig beurteilt. Das Messerattentat Ihres Doppelgängers auf Miß Crow haben Sie ja beobachtet. Sie sollte sterben, weil dieser Doppelgänger das junge Mädchen als Beauftragte Goldys erkannt hat und für seine Sicherheit fürchtet.“

„Also Jim Tobalt!“ meinte Baaker bedrückt.

Ich ließ diese Frage zunächst offen. „Vermissen Sie einige Ihrer weißen Mäuse?“

[50] „Leider, ein ganzes Dutzend, gerade die zahmsten,“

„Danke, Mr. Baaker. Erörtern wir den Diebstahl der Brieftasche. Den Hergang glaube ich zu kennen. Sie fürchteten einen Einbruch bei Frau Gorrison, nachdem man den Richter Armstrong ertränkt hatte. Es war Mord, und Sie ahnten dies. Damals nachts bei dem Diebstahl schien Jim Tobalt der Einbrecher zu sein, er entwischte mit seiner Beute, und Sie beobachteten weiter, daß Jim nochmals zurückkehrte und im Eßzimmer von Bessie überrascht wurde, die ihn fortan mit Verachtung strafte. Bessie hält Sie und Jim für Verbündete, wie ich merkte.“

Harry Baaker sagte traurig: „Es ist so, mein Herr. Ich bin ein ehrlicher Mann, Jim ist der Dieb, aber ich habe trotz all meiner Bemühungen die Brieftasche nicht finden können und durfte auch nicht gegen Jim vorgehen, da er geistig nicht normal ist und die Urkunden womöglich verbrannt hätte. Außerdem bedauerte ich Frau Harriet Tobalt, diese herzensgute Frau, die ihres mißratenen und kranken Sohnes wegen innerlich leidet.“

„Das ist allerdings sehr bedauerlich“, lenkte ich ab. „Die Dame ist eine stille Wohltäterin, das wissen Sie als ihr Anwalt am besten. Ich habe heute in Frau Tobalts Schreibtisch zufällig eine Liste der von ihr dauernd unterstützten Personen gefunden, darunter war auch eine Frau Martha Risson, eine Strafgefangene.“

Baaker war verblüfft. „Vor Ihnen ist weiß Gott nichts sicher, meine Herren! Frau Tobalt hält diese Liste stets tadellos verwahrt. Ja, – Martha Risson, das stimmt, sie wurde vor drei Monaten wegen Ausgabe falscher Banknoten zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt trotz hartnäckigen Leugnens, aber sie war bereits vorbestraft. Frau Tobalt hat sie wiederholt in der Strafanstalt besucht und ihr allerlei Erleichterungen verschafft, da sie krank und pflegebedürftig ist. Es ist [51] eine moralisch tief gesunkene Witwe ohne jeden Anhang.“

Er verstummte plötzlich. An der Flurtür wurde heftig geläutet, gleichzeitig ertönte draußen der dreimalige Schrei einer Möwe, und mit einem raschen Griff zog ich die Pistole. „Hände hoch, Baaker!! Lassen Sie sich fesseln, oder – ich drücke ab!“

Ich hätte nicht abgedrückt. Aber Baaker, der totenbleich geworden war, ließ sich ruhig die Handschellen anlegen, und gerade da klopfte es auch an das Fenster.

„Aufmachen!! Hier ist Oberinspektor Goldy!!“

Die Vorhänge waren nur halb zugezogen, ich schaltete die Lampe aus, und während die Scheiben zersplitterten und Goldy sich ins Zimmer schwang, huschte ich in ein Hinterzimmer, fand die hier von oben herabhängende Strickleiter und war gleich darauf in meiner Dienerstube und als ehrwürdiger, alter Fred Lafton im Bett.

Mit stillem Lächeln dachte ich an Goldys neue Enttäuschung.

Und – wie bitter enttäuscht war Goldy!! Als er Licht machte, saßen auf den Stühlen neben dem Sessel, den ich benutzt hatte, zwei mit Zeitungspapier ausgestopfte Puppen, deren Gesichter nur billige Faschingspapplarven waren. – Der kleine Trick, daß Goldy durch das Fenster auch die Puppen erblicken sollte, war nötig gewesen, damit Roger und Bick die Detektive beobachten könnten.

Ich hatte durch die Unterredung mit Baaker viel mehr erreicht, als dieser ahnte.

Goldy hatte immerhin auch etwas erreicht: Baaker erzählte ihm von dem „Doppelgänger“, der Miß Crow hatte erstechen wollen, und der kluge Oberinspektor glaubte ihm jetzt aufs Wort, drückte ihm beim Abschied fest die Hand und meinte nur, „Kondolieren wir uns [52] gegenseitig, – auch ich weiß überhaupt nicht mehr, wen ich verdächtigen soll! Jim Tobalt?! Mir scheint, diese fürchterliche Feme der Drei ist jetzt auf einer ganz anderen Fährte! Aber auf welcher?! Gute Nacht, lieber Baaker … Das Medusenhaupt wird mir noch die ersten grauen Haare verschaffen!!“


9. Kapitel.
Der Mann mit der weißen Hand.

Am Morgen rutschte Frau Tobalt mit ihren Stöcken beim Aufstehen aus und schlug mit der Schläfe so hart auf die Bettkante auf, daß sie sich nachher die dicke Beule stark überpudern ließ, als man sie halb bewußtlos auffand. Trotzdem erschien sie am Frühstückstisch, und kaum hatte sie in der Zeitung gelesen, daß Bessie im Pensionat Tommasen wohne und von der Polizei außer Verfolgung gesetzt sei, als sie Geraldine und dem stummen, finsteren Jim erklärte, sie würde Bessie sofort einladen, ihr Gast zu sein, in Miß Crows Zimmer stünde ja ohnedies noch ein zweites Bett.

Jim warf seiner Mutter nur einen seltsamen Blick zu und ging dann hinaus. – Ich hatte beim Frühstück wieder serviert, und dasselbe tat ich um drei Uhr nachmittags beim Mittagessen, an dem Bessie bereits teilnahm. Jim war nicht anwesend.

Frau Tobalt zeigte sich äußerst gesprächig und heiter, war überaus herzlich zu Bessie, die als Tochter ihrer liebsten Freundin nunmehr ihr eigenes Kind sei, wie sie betonte.

Mich hatte Bessie zunächst kaum beobachtet, aber nachher, als Frau Tobalt wieder einmal allein in ihrem Auto eine Spazierfahrt machte, die insgeheim nach der [53] bewußten Strafanstalt ging, wie Bick mir telefonisch mitteilte, erhielt ich doch den Beweis, daß Bessie Gorrison recht scharfe Augen hatte. In der Bibliothek stellte sie sich dicht vor mich hin und flüsterte angstvoll:

„Geraldine ist mir eine treue Freundin … Ich habe es Geraldine soeben auf den Kopf zugesagt, daß Sie nicht ihr Großvater Fred Lafton sind! Sie sind mein unbekannter gütiger Beschützer! In welche Gefahr haben Sie sich hier begeben!“ Sie hatte Tränen in den Augen. „Oh – – weshalb sind Sie so leichtsinnig, Mr. Nomark! Weshalb?! Wenn Jim Sie erkennt, ist alles …“

„Jim und Baaker haben Doppelgänger“, raunte ich zurück. „Sagen Sie das auch Geraldine, aber – – schweigen Sie und gehorchen Sie!!“

Bessie drückte meine Hände. „Weder Geraldine noch ich verraten etwas … – Sind Sie der berühmte Warner?“

„Nein, ich bin der Führer der Drei, die man den Warner, den Richter und den Henker nennt, – also … der Richter, und ich suche die Brieftasche mit den Urkunden, liebe Miß Bessie! – So, nun gehen Sie … Und – – gehorchen Sie wie bisher blindlings, die schwerste Aufgabe steht uns noch bevor.“ –

Daß Oberinspektor Goldy am Tage nur telefonisch nach Geraldines Befinden sich erkundigt hatte, wollte mir nicht recht gefallen, und auch anderes veranlaßte mich, gewisse Geheimbefehle auszugeben, die ich einfach als Papierkugel in die Büsche des Nachbargartens warf. Wie richtig meine Vorahnungen gewesen, sollte sich allerdings erst gegen zwei Uhr morgens herausstellen. –

Um sechs Uhr kehrte Frau Tobalt zurück und erzählte im Wintergarten in tiefster Betrübnis von dem nahen Ableben einer Unglücklichen, die im Zuchthaus [54] für ihren Leichtsinn schwer büßen müßte. Ich servierte den drei Frauen gerade den Tee, und ich sah genau, wie Bessie Gorrison sich verfärbte und starr zu Boden blickte.

„Es ist eine Frau Martha Risson“ fügte Frau Tobalt traurig hinzu. „Seltsamerweise hat sie noch nach einem Notar verlangt und will morgen früh ihr Testament machen …“

Bessie lehnte bleich und regungslos in ihrem Korbsessel, und ihre beängstigende Blässe und ihr scheues Schweigen bestätigten bei mir nur eine Vermutung, die auch mit Richter Armstrongs Tod in allerengster Verbindung stand.

Später nach dem Abendessen begaben sich die drei Frauen in Miß Crows Zimmer, wo sie plaudernd beieinandersaßen.

Meine Wachsamkeit war nun aufs äußerste gesteigert, denn so, wie ich die Sachlage überschaute, drohten[11] hier Gefahren, denen man nur bei allergrößter Aufmerksamkeit entgehen konnte. Ich blieb daher hartnäckig und geduldig im Flur vor Miß Geraldines Zimmertür stehen, in die ich schon vorhin zwei unauffällige Löcher gebohrt hatte. Ich konnte Frau Tobalt und die beiden Mädchen genau beobachten, sie saßen vor dem kunstvoll verzierten, aber nur selten benutzten Gasofen. Das Gebäude hatte Zentralheizung, und die kostbaren Gasöfen dienten nur für die Übergangszeit. Heute an diesem kalten, regnerischen und windigen Aprilabend hatte Geraldine den Ofen zuerst angezündet, dann aber wieder abgestellt, und Frau Tobalt, die eifrigst erzählte und dabei mit ihrem einen Stock spielend umherfuchtelte, weckte in mir den eigentümlichen Eindruck, als ob sie nur so lebhaft spräche, um andere Gedanken zu verbergen.

Nur meinem guten Gehör hatte ich’s zu verdanken, [55] daß ich noch rechtzeitig vom Hauptflur her Schritte vernahm, die sich leise und vorsichtig näherten.

Ich schlüpfte in mein Zimmer, das nur zwei Türen weiter lag, und erkannte Jim Tobalt, der in dunklem Mantel und Hut herbeischlich und nun gleichfalls die drei Frauen belauschte. Er entfernte sich sehr bald wieder, und nach einer halben Stunde begab sich auch seine Mutter in ihr Schlafzimmer, befahl mir noch, die Runde durch die Wohnung zu machen und wie üblich den Hauptgashahn zu schließen. „Ich bin mit Ihnen außerordentlich zufrieden, Lafton“, rief sie mir noch nach. „Nehmen Sie sich die halbe Flasche Rotwein, die auf dem Büfett steht, und trinken Sie davon ein Glas, – Rotwein ist für alte Leute wie Sie ein Lebenswecker, besonders bei diesem garstigen Aprilwetter.“

Und wieder eine Stunde darauf öffnete ich im Dunkeln mein Fenster und ließ vorsichtig eine lange Strickleiter hinab. Zwei Gestalten turnten gewandt empor, und als ich die Fensterflügel und Vorhänge geschlossen hatte, wurde nur die Nachttischlampe hinter dem Wandschirm des Bettes eingeschaltet, und die Feme der Drei saß auf dem Bettrand und hielt wohl die denkwürdigste Beratung ab, die je zwischen uns stattgefunden haben dürfte und die ich hier nur in Schlagworten wiedergeben will.

„Martha Risson wird mit dem Leben davonkommen“, sagte der junge Warner ungewöhnlich drohend. „Die Lebensmittelspenden mit den Bazillenkulturen werden ihr niemals mehr schaden. Dein feiner Instinkt, lieber Olaf, hat sich wieder einmal bewährt.“

Das klang alles so überaus geheimnisvoll und war im Grunde doch so sehr einfach.

Die Feme der Drei trennte sich wieder nach kaum einer Viertelstunde, und ich, der auf das Glas Rotwein doch lieber verzichtet hatte, huschte wie ein Hotelgespenst [56] in den Flur, horchte an der Tür der jungen Mädchen, denen ich vorhin noch einen gelben Brief überreicht hatte, und begab mich in den Hinterflur, wo unweit des Gaszählers mit dem Haupthahn der Lieferantenausgang lag.

Es war jetzt kurz vor Mitternacht. Der Hinterflur hätte mir keinerlei Versteck geboten, aber Roger und Bick hatten trefflich auf mein Geheiß vorgesorgt, die eine der unteren Füllungen der Hintertür war sauber herausgesägt worden, hatte unsichtbare Scharniere erhalten und ermöglichte es mir, im Treppenhause zu bleiben und doch auch nötigenfalls im Nu in den Flur zu kriechen.

Ich hatte soeben erst meinen Posten bezogen, als noch jemand von den Hausangestellten des im dritten Stock wohnenden sehr reichen Junggesellen und bekannten Sportsmannes Edgar Palling zurückkehrte und mich zwang, nochmals im Wohnungsflur zu verschwinden, wobei ich doch etwas Rücksicht auf meinen Anzug nehmen mußte.

Etwa um ein Viertel ein Uhr gewahrte ich dann durch die ein wenig geöffnete Türfüllung den Lichtstreifen einer Taschenlampe. Eine dicke, aber sehr flinke Männergestalt näherte sich dem Gasmesser und dem Haupthahn, ich erkannte Baakers schwammige Züge, rote Nase, schief sitzenden Kneifer und das rötliche Lockenhaupt, – – aber die Hand, die nun den Haupthahn wieder öffnete, war schlank, weiß und muskulös, und es konnte sehr gut die Hand eines wohltrainierten, sehr gepflegten Mannes sein, – – etwa vom Typ des feudalen Edgar Palling, der durch seine tollen Streiche eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt hatte und der nach den Bildern in Sportzeitungen einige Ähnlichkeit mit mir besaß.

Es war nicht Baaker.

[57] Es war wieder nur sein Doppelgänger.

Aber selbst mir blühten hier Überraschungen, die ganz unerwartet kamen.

Hinter dem unechten Baaker erschien wie hingezaubert der echte, der also immer noch persönlich auf der Jagd nach den Urkunden war. Anders konnte sein jähes Auftauchen hier nicht erklärt werden.

Als der Doppelgänger nun kehrt machte, wollte der Rechtsanwalt, dessen Gesicht vor lodernder Wut und vor Triumph wild entstellt war, den anderen packen … Aber – – er hatte sich in seinem Gegner verrechnet. Mit der linken Faust schlug dieser zu, ein blitzartiger Hieb, der genau die Schläfe traf und den Anwalt zur Seite taumeln ließ.

Hiermit nicht genug: Baaker hatte so nur einem zweiten Manne den Weg freigeben müssen, einem totenblassen schlanken Menschen, in dessen Zügen sich weder Angriffslust noch Wut, sondern nur tiefster Schmerz ausprägten.

Es war Jim Tobalt …

Er hatte wie beschwörend die Hände erhoben, er wollte irgend etwas sprechen, über seine Lippen kam jedoch nur ein unklarer Ton, dann sauste schon genau so blitzartig die schlanke Hand mit der Taschenlampe gegen seine Stirn, die Lampe zersplitterte[12], erlosch, und im dunklen Flur sanken zwei Körper polternd zu Boden, während irgendwo im Vorderflur ein Fenster klirrend zufiel, vom Winde wieder aufgerissen wurde und aufs neue lärmend gegen den Fensterrahmen schlug.

Ich überlegte … Sollte ich mich hier einmischen?! – Nein, ich hörte bereits, daß Baaker sich aufrichtete, seine Taschenlampe funkte, beleuchtete den blassen Jim, und ich vernahm auch, wie der Anwalt sich abmühte, den jungen Menschen auf die Beine zu bringen. „Wir haben beide nichts ausgerichtet, Jim“, flüsterte Baaker [58] gereizt. „Der Bursche ist Ihnen und mir entschlüpft, – wir hätten besser getan, gemeinsam vorzugehen … Ich helfe Ihnen in Ihr Bett, Jim … Ich kam an der Feuerleiter hoch …“

Der Lichtschein und die beiden Gestalten verschwanden. Auch das nervenpeinigende Geräusch des klappenden Fensters hörte sehr bald auf …

Der Gashahn aber war offen … – Ich schloß ihn.

Offen war auch anderswo ein Gashahn, und das Geräusch des ausströmenden tödlichen Gases wäre schon vorher vom Lärm der stürmischen Aprilnacht übertönt worden, als noch zwei arglose Mädchen von demselben Rotwein etwas in den Tee getan hatten, dessen halbe restliche Flasche mir Frau Tobalts rührende Güte so warm als Abendtrunk empfohlen hatte.


10. Kapitel.
Frau Tobalts letzte Autofahrt.

Wiederum glitt ich durch die Flure der großen eleganten Wohnung, und mein ganzes Sinnen und Trachten galt jetzt allein unserer zweiten Hauptaufgabe: Die alte Brieftasche der Frau Gorrison zu finden! – In völliger Finsternis bewegte ich mich tastend vorwärts, die feste Überzeugung, daß der Dieb sie hier irgendwo verborgen hätte und nun, eingeschüchtert durch Baakers und Jims Einmischung, zu flüchten suchen würde, gab mir die eiserne Geduld, über eine Stunde lang durch die Zimmer zu schleichen, immer wieder zu horchen und meine Sinne bis aufs äußerste anzustrengen.

Endlich dann … – endlich gewahrte ich im Wintergarten ein kurzes Aufblitzen, einen schwachen Lichtschimmer und vor dem einen Palmenkübel eine kauernde [59] Männergestalt …: Diesmal – welch’ teuflische Schlauheit lag in alledem! – war es Jims Doppelgänger.

Verblüfft wurde ich Zeuge, wie ein Teil der Wandung des Kübels nach unten klappte, wie die schmale Hand in die Höhlung hineingriff und eine große Brieftasche hervorholte. In der Höhlung blinkten außerdem noch versiegelte Fläschchen, – – ein Frösteln überlief mich, ich dachte an die mit Pestbazillen geimpften Mäuse, – – dann sprang ich lautlos zu, riß die Brieftasche an mich und verschwand im Eßzimmer, wo ich hinter den Türvorhängen klopfenden Herzens wartete.

Der Dieb schien sekundenlang wie gelähmt. Dann schnellte er vorwärts, schob das eine Fenster auf und holte unter dem Mantel einen Strick hervor.

Als er in diese Tiefe hinabgerutscht war, stellte ich mich im Dunkeln an das Fenster und gab mit der kleinen Laterne mit grüner Vorderscheibe das vereinbarte Signal: Drei langsame Kreisbewegungen. Als Antwort ertönten unten aus dem Garten ein paar leise wehmütige Takte, auf einer Ziehharmonika gespielt.

Es war das Lied des Bajazzo, das Henkerlied meines treuen Freundes Sheffield, in dessen Brust allzeit ein so warmes Herz für die Unglücklichen und Unterdrückten schlägt.

Ich schloß das Fenster, ich drückte auch die Klappe des Palmenkübels mit leisem Schaudern zu, und hiermit war meine Rolle als Fred Lafton ausgespielt, dem ich äußerlich ohnedies nicht mehr glich. Geräuschlos, ohne jede Eile begab ich mich zur Hintertür, schlüpfte in das Treppenhaus und zog die Türfüllung zu, horchte und glaubte auch leise Geräusche zu vernehmen.

Ich täuschte mich nicht, – sowohl von unten wie von oben näherten sich Schritte und schwacher Lichtschein. Mit ein paar Sprüngen war ich ein Stockwerk höher.

[60] Diesmal hatte John Goldy, nachdem ihm ein Unbekannter nachmittags telefonisch mitgeteilt hatte, der Diener Fred Lafton bei Frau Tobalt sei bestimmt der Führer der Feme der Drei, seine Maßnahmen ganz großzügig und in aller Stille getroffen und das ganze Haus Park Lane 102 soeben mit dreißig Detektiven besetzt. Er selbst kam gerade mit drei Leuten die Hintertreppe empor, als ein scharfer Anruf ihn in Eile noch höher lockte. Vor Mr. Edgar Pallings Hintertür standen drei andere seiner Beamten vor einem schlanken Herrn im Zylinder, Frackmantel und glitzerndem Monokel, der gerade die Tür aufschließen wollte und gelangweilt mit dem Schlüsselbund klapperte.

„Wohl Polizei?!“ meinte der Herr gleichgültig. „Ah – sehr angenehm, Sie kennenzulernen, Mr. Goldy … Ich komme soeben aus dem Klub und habe mein Auto selbst in die Garage gebracht …“ Er gähnte herzhaft. „Deshalb benutze ich die Hintertreppe … Auf wen haben Sie es denn abgesehen, Mr. Goldy?“

„Darf ich leider nicht verraten … Gute Nacht, Mr. Palling …“

„Gute Nacht … Viel Vergnügen …“, – und Palling schob den Schlüssel ins Schloß, während die Beamten nach unten verschwanden. Aber er öffnete die Tür nicht … Er lauschte nur. Er hörte Goldy unten flüstern: „Schneidet die Füllung heraus! – Donnerwetter, die läßt sich ja öffnen, – – was bedeutet das denn?! Hinein mit uns!!“

Armer John Goldy: Als er die Tür des Dienerzimmers aufriß, stand vor dem Bett der ihm wohlbekannte James Burton und wollte gerade schlafen gehen.

„Burton, Sie wieder hier?! Wo ist Fred Lafton?“

„Ja, ich bin wieder hier – auf Befehl der Feme der Drei … Und Fred Lafton erholt sich im Seebad Parkham an der Südküste.“

[61] Der Herr im Frackmantel saß derweil längst in unserer Limousine, in deren einer Ecke halb bewußtlos Jims Doppelgänger lehnte, den Roger und Bick rechtzeitig aufgegriffen hatten. – Unser Programm klappte zumeist tadellos.

„Hast du die Brieftasche?“, fragte Bickfort leise, indem er den Kopf zurückwandte. – Er saß am Steuer. – Ich nickte nur … Es wurde eine endlose Fahrt, schließlich hielten wir vor einem einsamen Gebäude, über dessen Portal eine sehr ernste Inschrift stand. Als unser Gefangener von zwei strammen Leuten in blaugestreiften Kitteln ins Haus geführt wurde, vernahmen wir noch lange sein entsetzliches Heulen und Kreischen, das etwas unglaublich Tierisches an sich hatte. –

Oberinspektor John Goldy hatte den Rest der Nacht tief bedrückt und schwer enttäuscht auf dem Sofa in seinem Büro zugebracht. Morgens halb acht überreichte ihm der Sergeant vom Dienst ein Päckchen, in dem eine alte Lederbrieftasche voller Familienurkunden und ein auf gewöhnliches Papier getipptes Schreiben lagen.

„Mr. Goldy, wir erkennen die Geschicklichkeit, mit der Sie uns nachstellen, vollkommen an, daher übergeben wir auch Ihnen die Gorrison-Urkunden und sind bereit, Ihnen und Ihren Vorgesetzten den ganzen Fall Gorrison persönlich zu erläutern, falls uns freies Geleit zugesichert wird. Sollte das Ministerium hiermit einverstanden sein, so hängen Sie aus einem Fenster des Ostflügels von Scotland Yard die englische Flagge heraus, und wir werden uns pünktlich neun Uhr abends im Polizeipalast einfinden. – Bestellen Sie freundliche Grüße an Miß Bessie, an Geraldine, Jim und Baaker. Mit größter Hochachtung … Die Feme der Drei“

Abends neun Uhr saßen im Zimmer des Polizeipräsidenten ein Dutzend sehr hoher Herren um den Tisch und blickten erwartungsvoll auf die Tür.

[62] John Goldy stieß die Tür auf, und die drei Männer, die sich so unbeliebt und doch so beliebt gemacht hatten, traten in tadellosen Abendmänteln und Frackanzügen und gleichmäßig hellblonden Spitzbärten und Scheiteln gelassen über die Schwelle, nahmen Platz, und der eine von ihnen begann sofort zu sprechen.

„Ich will mich ganz kurz fassen … – Bereits zweimal vor dem Fall Gorrison waren ähnliche Dinge aus Anlaß großer Erbschaften geschehen. Die Schuldige war in allen Fällen Frau Harriet Tobalt, eine allzu intelligente, kräftige Frau, die ihr Beinleiden nur vortäuschte. Frau Tobalt verdankt dem ersten raffinierten Erbschaftsschwindel ihren plötzlichen Reichtum. Jetzt hatte sie es auf die Gorrison-Millionen abgesehen, spielte abwechselnd Harry Baaker und ihren Sohn Jim, stahl die Brieftasche, deren Versteck sie kannte, ermordete Richter Armstrong und wollte auch Miß Crow beseitigen, wobei sie eine Stirnbeule davontrug. Sie wußte, daß Frau Mary Gorrison eine Schwester namens Martha hatte, sie schickte dieser falsche Banknoten, und Martha kam ins Zuchthaus, wo Frau Tobalt sie durch Bakterien zu vergiften suchte, genau wie sie Bessie Gorrison durch Pestbazillen umbringen wollte. Deshalb brannten wir das Häuschen nieder …“

Ein allgemeiner Schrei des Schreckens erhob sich, denn diese hohen Beamten erkannten sofort, welche entsetzlichen Folgen die Pestbazillen für ganz London hätten haben können.

Ich sprach unbeirrt weiter. „Frau Tobalt hatte die kränkliche Frau Martha Gorrison, die sich Risson nannte, veranlaßt, durch ein Testament ihr alles zu vermachen, was sie besäße. Deshalb sollten in der verflossenen Nacht Miß Crow und Bessie durch Leuchtgas getötet werden, nachdem sie ihnen in Rotwein ein Schlafmittel gegeben hatte. – Jim ahnte, daß seine Mutter die [63] Brieftasche gestohlen hatte und suchte danach, ebenso tat’s Harry Baaker. – So, – ich hätte nichts mehr hinzuzufügen.

„Halt!“, rief der Präsident aufspringend. „Halt, – wo ist Frau Tobalt geblieben, sie ist spurlos verschwunden. Haben Sie sie etwa getötet?“

Da erhob sich Freund Sheffield und erwiderte empört …:

„Ich, den man den Henker nennt, weise darauf hin, daß wir keine Geisteskranke richten! Denn Frau Tobalt war geisteskrank und ist es noch!“

„Und wo befindet sie sich?“, fragte der Präsident sehr höflich.

„In einer Privatheilanstalt, deren Besitzer und Personal nichts verraten werden, Herr Präsident, denn die Feme der Drei wünscht nicht, daß diese gefährliche Frau je wieder Schaden anrichtet. – Guten Abend, meine Herren, wir müssen uns verabschieden, unsere Zeit ist kostbar …“ –

Anderthalb Stunden später saßen drei Herren in einer reservierten Loge des Alhambra-Theaters, und Freund Bick sagte, mit einem Bleistift und einem Zettel spielend: „Martha Gorrison ist nun doch heute mittag unerwartet gestorben, und Bessie erbt alles … Ich bin gerade dabei, für Bessie eine Liste von Bedürftigen aufzustellen, die eine reichliche Unterstützung verdienen. Da wäre zum Beispiel der alte Fred Lafton, dann James Burtons Mutter, ferner die Familie Bottler …“

… Es wurde eine sehr lange Liste.

Bereits eine Woche später konnten Bessie und Jim die Beträge per Post absenden, und auch das zweite Brautpaar, Kommissar Goldy und Geraldine, waren mit dabei. Nachher begaben sich die vier glücklichen Menschen in eine der Nischen des Albion-Restaurants, ohne zu ahnen, daß fünf Tische weiter drei ernste, unauffällig-elegante [64] Herren sie mit heimlichen Schmunzeln beobachteten und sich aufrichtig über die strahlenden Augen der Verliebten und Verlobten freuten.

Feme der Drei zu sein, hat auch seine erhebenden Momente.

Leider begann dann Bickfort Tomsen, unser Jüngster, mit allerlei Andeutungen, die uns neue Arbeit in Aussicht stellten. Er sprach von einem alten Sonderling, der bei uns in der Nähe in West-Norwood wohnen sollte …

„Den Mann muß ich mir ansehen!“, meinte Baronett Sheffield, der vielverleumdete Henker, und schnitt sehr energisch einer Zigarre die Spitze ab … „Das muß ja ein ganz seltsamer Kauz sein!“

So war es auch.


Nächster Band:



Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: Fassie
  2. Vorlage: mein
  3. Vorlage: dreihunder
  4. Vorlage: plötzich
  5. Vorlage: und
  6. Vorlage: Mutterr
  7. Vorlage: Gestal- (Wort ergänzt)
  8. Vorlage: ern
  9. Vorlage: respekvoller
  10. Vorlage: stümte
  11. Vorlage: droten
  12. Vorlage: zerspitterte

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist anscheinend Band 50 Erstarrte Tränen der Romanreihe Olaf K. Abelsen. Abenteuer abseits vom Alltagswege.