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Der Mäusebussard von Norwood

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Autor: Max Schraut
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Titel: Der Mäusebussard von Norwood
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Erscheinungsdatum: 1933
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Wikisource
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Band 2 der Romanreihe Drei von der Feme.
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[1]
Drei von der Feme
Band 2


Der Mäusebussard von Norwood


Von
Max Schraut




Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin 16
Michaelkirchstraße 23a


[2]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16


[3]
1. Kapitel.
Ein neues Opfer des Raubvogels.

Die altertümliche Stutzuhr mit dem schweren Pendel schlug plötzlich mit hellem Glockenton sehr rasch sieben Schläge, obwohl es längst nach neun Uhr abends war.

Ich blickte überrascht von meiner Arbeit auf, die sich mit den bisherigen Feststellungen im Raubvogel-Fall beschäftigte, und nahm den seltsam geformten Pendel aus dem unten offenen Uhrgehäuse heraus, wickelte gleichzeitig eine seidene Doppellitze ab und meldete mich mit dem für heute vereinbarten Kennwort „Walker“.

Klar und doch gedämpft drang Freund Bickforts Stimme an mein Ohr

„Sie hat die fünfzig Pfund erhalten. Nachher sah ich, daß sie an einer Haustür lehnte und weinte …“

„Und da hättest du ihr am liebsten noch eine Fünfzigpfundnote zugesteckt, so wie ich dich kenne“, erlaubte ich mir an Bickfort Tomsens weiches Herz zu erinnern.

„Spare dir diese Art Kritik“, erklang es etwas gereizt aus dem Hörer zurück. „Du tätest besser, einmal zum Küchenfenster hinauszuschauen. Ich hoffe, daß Jack Rauters Interesse für Albemarle-Street 17 lediglich der hübschen Marie Ann gilt. – Das wäre alles.“

Der Name Jack Rauter genügte, mich schleunigst in [4] meine Küche zu treiben. Als ich die Tür geöffnet hatte und dem Fenster zuschritt, ohne das Licht einzuschalten, fiel mir sofort ein recht starker Gasgeruch auf, der mich um so mehr beunruhigte, als wir drei noch heute abend von zwei Selbstmorden durch Gas gesprochen hatten und der Haupthahn meiner Gasleitung geschlossen war.

Trotzdem spähte ich erst eine Weile in den mondhellen Hof hinab und gewahrte auch drüben auf der Grenzmauer des anstoßenden Grundstückes eine Männergestalt, die mit größter Behaglichkeit eine kurze Pfeife rauchte, dann jedoch blitzschnell verschwand.

Zweifellos war es Rauter gewesen. Aber daß er, der doch dort in einen fremden Hofraum eingedrungen war, so keck sich dem Mondlicht ausgesetzt und noch unverfrorener seine Pfeife hatte Funken sprühen lassen, beruhigte mich auch wieder.

Seine Anwesenheit hier konnte nicht uns dreien gegolten haben, die wir in der Albemarle-Street 16, 17, 18 in Norwood nur als harmlose Hausbesitzer unter anderem Namen bekannt waren.

Meine Aufmerksamkeit galt lediglich noch dem verdächtigen Gasgeruch.

Ich wußte ja, daß der Getreidehändler M. Walker, der die Ergeschoßräume meines Hauses gemietet hatte, jetzt vollkommen ruiniert war, daß er in West-Norwood zwei Dachkammern gemietet hatte und übermorgen ausziehen würde, daß ferner sein einziges Kind Marie Ann selbstlos und opferfreudig sogar abends als Hausiererin die Lokale besuchte und etwas Geld zu verdienen sich bemühte.

Ich eilte die Treppe hinab, läutete an der Flurtür der Privatwohnung Walkers und war dann gerade im Begriff, die Flurtür einzudrücken, als Marie Ann mit ihrem Hausiererköfferchen von der Straße her erschien und mich arglos und herzlich begrüßte.

[5] „Guten Abend, Mr. Elsen … Wollten Sie meinen Vater sprechen?“

Sie wurde totenblaß, als ich meine Befürchtungen andeutete, die leider nur zu berechtigt waren.

Ich drang allein in die gasgefüllte Küche ein, deren Tür ich mit der Schulter aufsprengte. Sie war versperrt gewesen.

Zum Glück fand ich auch im Dunkeln den Bewußtlosen sofort neben dem Herde auf, dessen sämtliche Hähne geöffnet waren. Ich durfte kein Licht machen und nicht einmal die elektrische Beleuchtung einschalten. Marie Ann und ich trugen Walker ins Schlafzimmer, legten ihn auf sein Bett, und nach einiger Zeit kam er wieder zur Besinnung.

Seine Tochter blieb bei ihm, ich lüftete die vergaste Küche und schaute mich in Erinnerung an die uns bekannt gewordenen mysteriösen Selbstmorde nach einer letzten Aufzeichnung Walkers um und fand sie auch auf dem Küchentisch.

Es war ein mit zitternder Hand geschriebener Zettel:

Mein liebes, armes Kind,

wenn du diese Zeilen findest, bin ich hoffentlich bereits erlöst. Auch mich hat der Raubvogel auf dem Gewissen. Ich bin zu müde und mutlos, den Daseinskampf noch weiterzuführen. Verzeihe mir. Gute Menschen, so hoffe ich, werden für dich sorgen.

Dein dich liebender Vater
James Walker.     

Von den sechs Selbstmorden, die in letzter Zeit von Freund Bick näher untersucht worden waren, hatte nur ein einziger einen Hinweis auf den heimtückischen Zerstörer des Wohlstandes dieser nun vernichteten Existenzen enthalten. Und auch dort war nur von einem „Raubvogel“ ohne jegliche nähere Angaben die Rede gewesen.

[6] Ich steckte den Zettel zu mir.

Die Küche der Walkers war nun völlig gasfrei, ich machte Licht und stieß so nochmals auf einen recht eigentümlichen Umstand, für den ich zunächst keine Erklärung finden konnte.

Wenn ich „Umstand“ als Bezeichnung für meine Entdeckung wähle, so tue ich es absichtlich. – Mein erster Gedanke beim Anblick des langen dünnen Gummischlauches war der, daß ein Fremder versucht hatte, von draußen noch irgendwie Walkers Tod zu beschleunigen. Ich warf den Gummischlauch in eine Ecke, und als ich das Schlafzimmer wieder betrat, konnte ich zu meiner Freude feststellen, daß Marie Ann sich bereits völlig gefaßt zeigte und daß Walker selbst halb schluchzend seinen voreiligen Schritt bitter bereute.

„Lieber Mr. Elsen“, sagte er zu mir und drückte mir dankbar beide Hände, „Marie Ann hat mir soeben erzählt, daß ihr ein Herr heute abend dicht vor unserer Haustür für ein Päckchen Konfitüren eine Fünfzigpfundnote zugesteckt hat und dann schnell davongeeilt ist. Es gibt wirklich noch stille Wohltäter.“

Ich kannte diesen Wohltäter. Die Fünfzigpfundnote entstammte der Kasse der Feme der Drei und war auf gemeinsamen Beschluß durch Bickfort Tomsen gespendet worden.

Ich konnte mich nunmehr von den Walkers verabschieden und versprach Marie Ann noch, mit dem Möbeltransportgeschäft, das ihren Umzug übermorgen bewerkstelligen sollte, alles Nötige zu vereinbaren. Die rückständige Miete für die Laderäume und die Privatwohnung erließ ich ihnen, und ich hätte ihnen auch die Privaträume noch weiterhin zur Verfügung gestellt, wenn dies mit unseren Plänen in Einklang zu bringen gewesen wäre.

[7] In den nächsten Tagen gab es für uns reichlich viel zu tun.

Freund Roger interessierte sich stark für Großlautsprecher und Wachsaufnahmeplatten, Bickfort Tomsen setzte seine Bemühungen um die Aufklärung der merkwürdigen Selbstmordserie ohne rechtes Ergebnis fort, und ich selbst weilte häufig in West-Norwood in der Western-Road, wo wir die große Falle für den „Raubvogel“ aufzustellen gedachten.


2. Kapitel.
Die zweite Wachsplatte.

Die Eröffnung der großen Funkausstellung hatte Tausende in den Riesensaal des Londoner Viktoria-Parkes gelockt.

Die buntgemischte Menge brachte den Eröffnungsansprachen der Vertreter der Behörden nur geringes Interesse entgegen, denn jedermann war darauf gespannt, den ersten wirklich klangreinen Großlautsprecher zu vernehmen, der droben auf der Galerie, zu der eine breite Treppe emporführte, aufgestellt war und um den noch eine Anzahl Mechaniker eilfertig sich bemühten, damit die Wachsplatte mit der Rede des Premierminister zu Gehör käme.

Die üblichen Ansprachen waren nun vorüber.

Es trat eine Pause ein, und das Publikum blickte erwartungsvoll zur Galerie empor, beobachtete die Mechaniker und reckte plötzlich erstaunt die Hälse, als hinter dem Riesenapparat zwei Herren auftauchten, denen von einem der Saaldiener höflich der richtige Weg gewiesen [8] wurde, – sie hatten sich offenbar in den ausgedehnten Räumlichkeiten verlaufen.

Der eine der Herren war blind, trug eine blaue Brille und wurde von dem anderen, der ebenso elegant gekleidet war, behutsam und langsam die Treppe hinabgeführt.

Beide nahmen dann auf zwei freien Stühlen unweit des einen Seitenausganges Platz.

Ihr Erscheinen hatte nur für kurze Zeit einige Sensation hervorgerufen, lediglich ein junges Mädchen, das an dem Seitenausgang stand und Reklamezettel verteilte, musterte das immerhin ungewöhnliche Paar mit seltsam fragenden, ungewissen Blicken.

Marie Ann Walker, dieses hübsche blonde Mädchen mit großen traurigen Augen, war froh gewesen, als sie diesen geringen Verdienst als Zettelverteilerin gefunden hatte. Der kränkliche, seelisch völlig gebrochene Vater bedurfte der Pflege, und Marie Ann scheute keine Arbeit, obwohl gerade in der letzten Woche auf ganz geheimnisvolle Art ihr ärmliches Dasein eine Wendung zum Besseren genommen hatte.

Sie sagte sich im stillen, daß sie sich doch geirrt haben müßte. Sie hatte sich, was den einen der beiden Herren betraf, durch eine flüchtige Ähnlichkeit täuschen lassen.

Der moderne Riesenapparat neuester Konstruktion bewies nun seine Klangfülle und Klangreinheit in überzeugendster Art, – schon die ersten Sätze jedoch ließen sowohl die Mechaniker als auch alle die, denen die sonore, etwas schleppende Stimme des Premierministers bekannt war, erstaunt aufhorchen.

„Meine Damen und Herren! Wir haben leider selten Gelegenheit, vor einem großen Publikum unsere von den Behörden nicht gebilligten Arbeitsmethoden zu verteidigen. Heute bietet sich uns diese Gelegenheit.“

[9] … Kurze Pause …

Dann sprach die etwas scharfe, klare Stimme, in der deutlich Tatkraft und Zielbewußtsein mitschwangen, bereits weiter …

„Wir, die Feme der Drei, erklären hiermit vor aller Öffentlichkeit, daß die Andeutungen in den Zeitungen, wir hätten die Alleinschuldige im Millionenprozeß Gorrison beiseite geschafft, also getötet, nicht der Wahrheit entsprechen … Im Gegenteil, wir haben nur dafür gesorgt, daß dieses Schlangenhaupt der Medusa (vergleiche den vorigen Band), niemandem mehr schaden kann und daß …“

Urplötzlich brach die Stimme ab. Einer der Mechaniker hatte schnell den Lautsprecher ausgeschaltet, und der bleich gewordene, vollkommen verwirrte Vertreter der Firma rief heiser und mit erregten Gesten dem zunächst nur sehr unruhig gewordenem Publikum zu:

„Die Wachsplatte ist ausgetauscht worden … Die Firma ist an diesem unerhört frechen Streich der Feme der Drei schuldlos … Der Austausch kann nur hier und vor kurzer Zeit erfolgt sein … Die andere Wachsplatte ist leider verschwunden …“

All die Tausende, die bisher die weitere Entwicklung der Dinge mit äußerster Spannung abgewartet hatten, ergriffen nun zum weitaus größten Teil für die berühmten „Drei“ so eindeutig und so lärmend Partei, daß der weite Saal minutenlang von einem hier noch nie gehörten aufreizenden Lärm erfüllt war …

„Wir wollen alles hören …!! – Weitersprechen lassen!!“, – diese und ähnliche Zurufe steigerten sich förmlich zu einem Orkan, alles drängte nach vorn, vielfach ertönte auch herzliches Gelächter, denn dieser Streich der berüchtigten, nie zu fassenden Feme war so unverfroren und genial ausgeklügelt, daß die erregte Menge auch den Humor der Sachlage erkannte und daher um so [10] weniger zu beruhigen war. Die Zurufe, die Platte vollends ablaufen zu lassen, wurden noch stürmischer, der Tumult im Saale wuchs, und erst als der Vertreter der Firma durch den alles übertönenden Lautsprecher ansagte, die Platte sei bereits vernichtet, legte sich der mehr spaßhafte Aufruhr nach einiger Zeit und die Türen zu den eigentlichen Ausstellungsräumen wurden geöffnet.

Still und unauffällig verließen als erste die beiden eleganten Herren die riesige Halle und bestiegen draußen eine dunkle Limousine, die sofort mit voller Geschwindigkeit davonsauste.

Am Steuer saß unser Freund Roger in tadelloser Schofförlivree, und als wir den Park hinter uns hatten und in ein Gewirr alter Gassen einlenkten, sagte Bickfort Tomsen, der sich als „Warner“ einen Namen gemacht hatte, mit vergnügtem Schmunzeln zu mir:

„Du kannst nun deine blaue Brille abnehmen, Freund Olaf … Du bist nicht mit Blindheit geschlagen, aber die anwesende Polizei war blind, die hätte doch sofort sich sagen müssen, daß wir beide die Platte vertauscht haben könnten. – Schade nur, daß der nette Streich nur halb gelang … Die Hauptsache fehlte. Nun, wir werden trotzdem dem Raubvogel die Flügel gründlich beschneiden!“

Ich hatte soeben durch das Fensterchen in der Rückwand die Straße hinter uns überschaut.

„Es ist jemand hinter uns her, den wir mehr zu fürchten haben als sämtliche Detektive von Scotland Yard. Der Kriminalreporter des „Volksblattes“ ist ein Mensch von ungewöhnlicher Energie, und dieser Jack Rauter wird schwer abzuschütteln sein.“

Es unterlag keinem Zweifel, daß Rauter es auf uns abgesehen hatte. Gewiß, all die Zeitungsreporter waren nach dem sensationellen Abschluß der offiziellen Ansprachen wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm davongerast, [11] um noch rechtzeitig für die Abendausgaben ihre Berichte in die Redaktionstuben zu bringen Aber gerade Jack Rauters Weg zum „Volksblatt“ lag in genau entgegengesetzter Richtung, und da ich Rauter heute nun bereits zum vierten Male binnen einer Woche in unserer Nähe bemerkte, waren mir seine Absichten durchaus klar. Er hatte Verdacht geschöpft, und das „Erscheinen“ des „blinden Herrn“ auf der Galerietreppe war von ihm richtig gedeutet worden.

Baronett Sheffield, der in den Steckbriefen bekanntlich als „Henker“ der „Drei“ bezeichnet wurde, hatte auf seinem Führersitz meine Äußerungen über Rauter mit angehört und drehte nun halb den Kopf zurück.

„Rauter fährt wieder seinen kleinen gelben Wagen?“, fragte er gleichmütig.

„Ja, und soeben hat er seinen Begleiter und Kollegen abgesetzt und steigert nun das Tempo …“

Freund Rogers eckiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Olaf, ich biege jetzt in die schmale Hollgreen-Gasse ein. Du weißt, was du zu tun hast.“

„Allerdings …“

Ich paßte scharf auf.

Plötzlich gewahrte ich dicht hinter Rauter eine gleichfalls offene Autotaxe, und auch Bick hatte deren Insassin erkannt. „Hallo, das ist ja Marie Ann Walker“, rief er erstaunt. „Schneidiges Mädel!!“

Das stimmte.

Marie Ann hatte den Taxenschofför veranlaßt, Rauters Sportzweisitzer an der Einmündung der Hollgreen-Gasse zu überholen, und die Taxe versperrte plötzlich scheinbar durch das Ungeschick des Fahrers den Weg, und der übereifrige Reporter mußte notgedrungen stoppen.

Rauters „Spezialität“ war seine Fertigkeit, Gemütsbewegungen zu heucheln, die er garnicht empfand.

[12] Hier allerdings, als er nun in Marie Anns traurige Augen blickte, milderte er doch den empörten Ton zu einem sehr sanften Vorwurf und sagte zu dem jungen Mädchen mit höflichem Gruß:

„Sie sind die Zettelverteilerin vom Ausgang III, und Sie sind ohne Hut und Mantel davongelaufen. Was sollte das, Miß?“

Da die Hollgreen-Gasse verschiedene noch engere und noch gewundenere Nebengäßchen hatte und da ich inzwischen meinen Karton mit den großen Teppichnägeln, die jedes verfolgende Auto als höchst unangenehm für die Pneumatiks sehr bald lahmlegen mußten, wieder verstaut hatte, war es bei unserer ganzen Arbeitsweise nicht weiter wunderbar, daß nun aus der Richtung, wohin wir verschwunden, ein älterer, gebückt gehender Herr mit Hornbrille und einem Stoß Bücher unter dem Arm hastig der Taxe sich näherte und ausgerechnet in dem Augenblick seinen Bücherstapel verlor, als Jack Rauter dem jungen Mädchen halblaut zuflüsterte:

„Versuchen Sie doch nicht, mich zu täuschen, Miß Walker … Ich kenne Sie von Ansehen sehr gut, das beklagenswerte Mißgeschick Ihres Vaters hat längst mein Mitgefühl geweckt, und nur das eine begreife ich nicht, weshalb Sie zweifellos absichtlich die dunkle Limousine, die stets eine andere Nummer trägt, zu schützen suchen.“

Der ältere Herr hob derweil seine Bücher vom Straßenpflaster auf.

Kein Wort entging ihm.

Marie Anns kurze, ablehnende Antwort beruhigte mich.

„Mr. Rauter vom „Volksblatt?!“, meinte sie scheinbar gleichgültig. „Sie wollten meinen Vater mehrmals besuchen und ausfragen … Ich besinne mich … Im übrigen bin ich nur deshalb der Limousine des blinden [13] Herrn gefolgt, weil er beim Verlassen des Saales eine Fünfpfundnote verlor … Da ist sie …“

Jack lächelte etwas.

„Oh, Sie sind sehr klug, Miß Marie Ann Walker! Fast so klug wie die drei Gentlemen von der Feme. Ich habe genau beobachtet, daß der Blinde Ihnen die Fünfpfundnote reichte, als Sie ihm den Zettel, wie es Ihre Pflicht, in die Hand drückten …“

Marie Ann, der dieser flotte, schlanke Reporter im übrigen ganz gut gefiel, erwiderte sehr erstaunt tuend:

„Wie kommen Sie auf die Feme der Drei?! Ich kenne diese Männer nicht. Der blinde Herr hat die Fünfpfundnote verloren, das werde ich wohl am besten wissen, und hiermit ist für mich die Sache abgetan. Leben Sie wohl, Mr. Rauter, und belästigen Sie mich nicht weiter.“

„Danke!!“ Jack verneigte sich belustigt. „Wieviel Trinkgeld gaben Sie Ihrem Taxenschofför, damit er mir den Weg versperrte, Miß Marie Ann?!“

Sie errötete bis unter die Stirnlöckchen. Aber Jack war Gentleman, kehrte zu seinem Zweisitzer zurück, und auch Marie Ann beeilte sich, ihre Tätigkeit in der Ausstellungshalle wieder aufzunehmen. Sie freute sich herzlich, dem blinden Herrn und dessen Begleiter vielleicht einen wertvollen Dienst geleistet zu haben, denn sie war jetzt doch wieder anderer Ansicht geworden und hielt es keineswegs für ausgeschlossen, daß diese ihre diskreten Wohltäter mit zu der Feme gehörten. Das veränderte Aussehen des Jüngeren, des Blindenbegleiters, wollte ja gar nichts besagen. Die Feme der Drei war dafür bekannt, daß jeder von ihnen in wenigen Minuten sich verwandeln konnte.


[14]
3. Kapitel.
Der Mäusebussard.

Während in den Zeitungspalästen bereits die Setzmaschinen die Vorkommnisse bei der Eröffnungsfeier der Funkschau druckreif vorbereiteten, brachte eine Autotaxe den alten gebeugten Bücherwurm mit seiner Last von dicken Bänden nach West-Norwood, dem neueren Teile des Vorortes, hinaus und hielt vor einem Laden in einem der wenigen bejahrten Häuser, die zwischen den modernen Wohngebäuden und Einzelvillen etwas greisenhaft-verfallen wirkten.

Über dem Laden war ein frisch gestrichenes Holzschild:

Juwelen und Goldwaren.
Ankauf von Schmuck zu höchsten Preisen.
Inhaber Thomas Henson.

befestigt. Das Geschäft war erst vor einer Woche eröffnet, und der elegante Besitzer und sein Gehilfe waren häufig stundenlang abwesend, wahrscheinlich um den Warenvorrat zu ergänzen. Dann hing stets ein Pappschild an der stark vergitterten Tür, das besagte, wann der Inhaber zurückkehren würde.

Auch Hensons Gehilfe, ein buckliger, stämmiger Mensch mit brandrotem Bart und eckigem, kurz geschorenem Schädel, war keineswegs alltäglich. Wenn er einen Burschen, der hier etwa Hehlergut absetzen wollte, durch seine scharfe Hornbrille anstarrte, machte der Gauner schleunigst kehrt.

Als ich mit meinem Bücherstoß unter dem Arm das Geschäft betrat, saß mein Gehilfe Daniel Forbing, der soeben erst heimgekehrt sein konnte, auf einem der feinen, [15] für die Kundschaft bestimmten Ledersessel (Kunstleder) und hatte die Füße auf den Ecktisch gelegt und rauchte eine Zigarre, deren Duft den Preis deutlich verriet. –

Der Baronett Sheffield rauchte nur Importen.

Ich nickte ihm zu, verschwand im Privatkontor, und aus dem Bücherwurm wurde der bartlose, überelegante, monokelbewaffnete Mr. Henson, – eine Rolle, die so allerhand Anforderungen an meine mehr urwüchsige Natur stellte.

Als ich dann als Henson in den Verkaufsraum zurückkehrte, sagte Daniel Forbing-Sheffield, dessen Spezialität Mundharmonika, Bajazzolied und auch furchtbare Boxhiebe waren, in seiner gewohnt brummigen Art: „Bick ist hinter Jack Rauter her. Ich werde mal zusehen, was er ausgerichtet hat.“ – Er nahm seinen Filz und schlufte von dannen. Ich setzte mich hinter den Ladentisch an das Schaufenster und beobachtete die Straße und den Hauseingang.

Das Juweliergeschäft hier war die große Falle, die wir für den unheimlichen „Raubvogel“ aufgestellt hatten. Alle „Edelsteine“ und so weiter waren Imitationen. An echtem Schmuck enthielt der Laden nur die Familienkleinodien des sehr reichen Baronetts, der auf den Steckbriefen „Der Henker“ hieß.

Ich überlegte mir nochmals die Vorfälle heute mittag bei der feierlichen Eröffnung der Funkschau und manches andere noch.

Der Zweck unseres heutigen Austausches der Wachsplatte war in der Hauptsache der gewesen, die Öffentlichkeit auf diese unheimliche Serie von Selbstmorden hinzuweisen und das Publikum zur stillen Mitarbeit aufzufordern, selbst auf die Gefahr hin, daß die Polizei dann auch ihrerseits etwas rühriger würde.

Die Ladentür öffnete sich. Es war der bleiche, zitterige [16] James Walker, eine klägliche Ruine von Mensch, der mit seinem farblosen, ungesund gedunsenen Gesicht und den stets tränenden Augen wahrlich nicht vermuten ließ, daß er eine so graziöse, reizvolle und hübsche Tochter besaß. Er trug wie immer in letzter Zeit einen Schlafrock, große Filzschuhe und auf dem Kopfe mit den grauen wirren Haarsträhnen ein schwarzes Käppchen. Seit der Gasvergiftung war er kaum mehr wiederzuerkennen. Ich hatte ihn ja noch als flotten, emsigen Getreidekaufmann aus der Albermarle-Street gut im Gedächtnis.

Walker rieb sich fröstelnd die Hände und bat um ein neues Buch. Er vertrieb sich die Zeit mit Lesen, fror dauernd und bevorzugte Kriminalromane. Nur seinetwegen hatte ich meine Bibliothek mit Literatur dieser Art gründlich aufgefüllt.

Er war im übrigen ein, wie verständlich, sehr verbitterter, verschlossener und mißtrauischer Mann und ließ sich niemals auf längere Gespräche ein. Ich bedauerte ihn aufrichtig, fertigte ihn recht schnell ab, und kaum war er wieder droben in dem alten, verbauten Hause verschwunden, als ihn nach etwa zehn Minuten ein ähnlich klägliches Original ablöste: Mr. Maurice Pennerton, Bewohner der Kellerbehausung von Nr. 31 und nebenbei Produktenhändler, also Aufkäufer von Lumpen, Altpapier, Alteisen und sonstigem Abfall.

Pennerton war Geizhals mit künstlerischen Neigungen, trug eine Künstlermähne, einen schmutzigen, fleckigen Patriarchenbart, Nickelbrille und litt an einer Kehlkopfkrankheit und an Schwerhörigkeit. Er las nur modernste, schwerste Bücher, und seine Geschwätzigkeit brachte mich oft geradezu zur Verzweiflung. Er und Marie Ann’s Vater hatten sich mit mir auf ihre Art angefreundet und benutzten nun meines Bücherschrankes reichen Inhalt mit größtem Eifer.

Ich hätte mich mit Pennerton auch niemals auf [17] einen so vertrauten Umgangston eingelassen, wenn mir nicht seine weit jüngere und geradezu bildschöne Frau namens Viktoria so unendlich leid getan hätte. Mit einem so schmierigen Scheusal, wie dieser Maurice es war, verheiratet zu sein, mußte die Hölle auf Erden bedeuten. Vicky machte dann auch ganz den Eindruck einer leidenden Madonna. Wie dieses Mädchen es fertiggebracht, sich soweit zu überwinden, Pennertons Frau zu werden, war und blieb mir ein großes Rätsel.

Ich war also froh, als die Ladentür wieder ins Schloß fiel und Mr. Maurice Pennerton die unter meinem Schaufenster gelegene Kellertreppe hinabstampfte. – Er trug stets Stiefel mit genagelten Sohlen, um das Leder zu schonen, und seine schweren Schritte störten mich genau so wie sein Harmoniumspiel.

Ich war allein, steckte mir eine Zigarre an, brachte den Bücherschrank in Ordnung und bemerkte vor dem Ladentisch einen kleinen zerknitterten roten Zettel, den ich sofort glättete und mit einem ganz ähnlichen verglich, der in meinem Mantel gesteckt hatte.

Beides waren Eintrittskarten für die heutige Eröffnungsfeier der Funkausstellung.

Die von mir gefundene zerknitterte Karte konnte nur Maurice Pennerton hier verloren haben, als er seinen Tabaksbeutel aus der Tasche gezogen hatte.

Wie kam ein Geizhals von dem Ausmaß dieses Maurice in den Festsaal des Viktoria-Parkes?!

Ausgerechnet Maurice Pennerton, der fast nie seine Kellerbehausung verließ und sich vor Geiz kaum sattaß und seiner Frau jeder kleinen Anschaffung wegen eine scheußliche Szene machte[1], deren Lärm bis zu mir empordrang?!

Ich hielt die beiden roten Eintrittskarten noch in der Hand, als mein Gehilfe Daniel sehr hastig von der Straße hereinstürzte und mir zuraunte:

[18] „Olaf, wir müssen sofort von hier verschwinden. Ich habe Bickfort gesprochen. Er ist Jack Rauter gefolgt. Dieser pfiffige Reporter hat vor vier Tagen in der Parallelstraße der Western-Road das kleine Eigenheim gemietet, dessen Garten hier an unseren Hof stößt. Rauter befindet sich zur Zeit in der Villa drüben in der Wellington Road, und daß er es jetzt nicht mehr auf Marie Ann Walker abgesehen hat, wirst du dir selbst sagen.“

Bevor ich Freund Roger noch die Herkunft der zweiten Eintrittskarte erklären konnte, die doch genau so verfänglich war wie Rauters häufiges Auftauchen und wie sein jetziger Wohnsitz hier in Norwood, vernahmen wir unten im Keller einen gellenden Schrei und sahen durch das Schaufenster Frau Vicky auf die Straße taumeln und auf dem Fahrdamm zusammenbrechen.

Wir waren im Nu neben ihr.

Ihre ärmliche Bluse war mit frischem Blut befleckt, ihr schönes Antlitz war leichenblaß, und in ihren Augen las ich ein so wildes Entsetzen, daß ich mich sofort über sie beugte und gerade noch ein paar Worte auffing, die ihr mühsam über die blassen, feingeschwungenen Lippen kamen, bevor sie das Bewußtsein verlor.

Ein paar Schutzleute waren rasch zur Stelle, ebenso ein Arzt. Vicky Pennerton hatte zwei Messerstiche erhalten und mußte sofort operiert werden.

Maurice aber war spurlos verschwunden. Die Kellerwohnung wurde versiegelt, und bereits abends klebten Steckbriefe an den Anschlagssäulen. Die Kriminalpolizei hatte in Pennertons Behausung weder Papiere noch Geld gefunden.

Daß ich Vicky Pennertons letzte verständliche Worte nur meinen beiden Freunden mitteilte, war den Umständen nach begreiflich.

Die Unglückliche hatte mir zugeflüstert:

[19] „Er ist der Mäusebussard, der Raubvogel …! Und ich bin die Tochter des Getreidehändlers Smitson, der sein zweites Opfer wurde … Hüten Sie sich vor dem Weizen, vor dem …“, – dann hatte ihre Stimme versagt.


4. Kapitel.
Ein Zwischenfall im Waterloo-Theater.

Am Abend desselben Tages saßen drei elegante Herren in einer der kleinen Logen des Waterloo-Theaters, wo als Erstaufführung das Kriminalstück „Drei von der Feme“ gegeben wurde, dessen Autor unbekannt war. Nicht einmal der Theaterdirektor wußte, wer ihm diese sicherlich äußerst zugkräftige Detektivkomödie eingeschickt haben könnte.

In unserer Loge hatten außer uns noch vier Damen und ein alter Herr Platz genommen. Wir kannten sie nicht. Es waren Angehörige aus Regierungskreisen, wie wir aus ihren Gesprächen entnahmen.

Die Nebenloge war für Journalisten reserviert, wir bemerkten dort auch Jack Rauter sowie zwei höhere Beamte von Scotland Yard, darunter den Kommissar Captain Sir Hemmerfolk, einen unserer grimmigsten Gegner, der gerade deshalb so gefährlich war, weil er unter der Maske des vollendeten, allzeit sehr liebenswürdigen Gentleman eine außerordentliche Gedankenschärfe und auch rascheste Entschlußfähigkeit verbarg. Er war übrigens mit Jack Rauter eng befreundet, und da der ebenso kluge, frische Jack recht vermögend war und seinen Beruf mehr aus sportlicher Neigung betrieb, ergänzten [20] die beiden einander in einer für uns recht gefährlichen Art.

Nun, trotzdem hatten wir nichts zu fürchten, wir saßen getrennt, schienen einander nicht zu kennen, und mein Platz an der Scheidewand zur offenen Nebenloge sowie meine guten Ohren ließen mich verschiedenes von einem Gespräch zwischen Hemmerfolk und Rauter auffangen, was sehr von Wichtigkeit war.

„Jack, du bist der Autor!“, meinte der Kommissar soeben etwas ärgerlich. „Weshalb leugnest du dies ab?!“

„Nun gut, ich leugne nicht mehr“, lachte Jack achselzuckend und zeigte seine tadellosen Zähne. „Der Stoff zu meinem Stück, den mir die „Drei“ lieferten, war zu verheißungsvoll. Außerdem hatte ich dir versprochen, lieber William, die Feme an einen bestimmten Ort zu locken. Sie sind zweifellos hier, und ich glaube sie …“ – das Weitere entging mir, aber auch das bisher Erlauschte genügte, meine Gedanken zu regster Arbeit anzuspornen.

Jack Rauter also war der Verfasser! – Wir hatten es vermutet, und wir hatten sogar nebenher noch mehr erfahren: Das Stück war dem Theaterdirektor, dem es an einem zugkräftigen Reißer für die beginnende stillere Sommersaison fehlte, erst vor fünf Tagen eingereicht worden, die Proben hatten daher mit aller Beschleunigung stattgefunden, und in den Zeitungen war bereits angedeutet worden, der unbekannte Autor habe noch in letzter Minute Kleinigkeiten abgeändert.

Weshalb, fragte ich mich, mochte Rauter diese Änderungen vorgenommen haben? Etwa weil er die letzten Ereignisse bei der Eröffnung der Funkschau hatte mit hineinbringen wollen?! Oder gar noch den Überfall Maurice Pennertons auf seine junge schöne Gattin?

Der erste Akt begann. Die Handlung setzte sofort mit größter Lebendigkeit ein, und bereits nach dem [21] ersten Akt gab es reichen Beifall, der sich nach dem zweiten noch steigerte. Nun folgte die große Pause, alles flutete ins Foyer, und auch ich schlenderte durch die Wandelhalle, behielt jedoch Jack und den Kommissar, einen großen sehr schlanken Menschen, dauernd im Auge. Mir fielen verschiedene Leute in Zivil auf, die mit Hemmerfolk heimliche Blicke austauschten, – all das störte mich nicht, ich wartete hier im Foyer auf ein ganz bestimmtes Ereignis.

Und es kam …

Jack Rauter hatte soeben Marie Ann bemerkt, die mit ihrem Vater an einem der Büfetts stand. Irgend jemand hatte den Walkers anonym zwei Parkettsitze zugeschickt. Es war Bickfort Tomsen gewesen.

Ich beobachtete jetzt, wie Jack seinen Freund William Hemmerfolk auf die beiden aufmerksam machte. In der Nähe lehnten zwei sehr elegante Nichtstuer in tadellosen Frackanzügen an der Messingstange des Verkaufstisches, und als nun Jack mit liebenswürdigstem Lächeln auf Marie Ann zuschritt, sich vor ihr verbeugte, sie harmlos begrüßte und auch ihrem Vater die Hand schüttelte, hatte ich mich gleichfalls dem Büfett genähert und verlangte dort einen Whiskysoda, ließ aber kein Auge von der kleinen Gruppe neben mir und bemühte mich, jede Silbe des Gespräches der drei aufzufangen.

Das Erwartete trat ein. – Ich hatte ja niemals daran geglaubt, daß die von mir besprochene Wachsplatte von dem Vertreter der Lautsprecherfabrik wirklich vernichtet worden war.

Marie Ann Walker, in ihrem schlichten Kleide vielleicht noch liebreizender als sonst, machte ein etwas bestürztes Gesicht, als Jack ihr nun erklärte, der im Lautsprecher nicht zu Gehör gebrachte Teil der vertauschten Wachsplatte habe die Aufforderung enthalten, [22] das Publikum möge der Feme der Drei bei der Aufklärung der Serie von Selbstmorden behilflich sein und zweckdienliche Nachrichten an Miß Marie Ann Walker, West-Norwood, Western Road 31, senden, wobei betont würde, daß Miß Walker mit der Feme nichts zu tun habe und keinen der „Drei“ kenne. Die eingehenden Briefe würde die Feme sich schon zu verschaffen wissen.

„… Hier ist nun ein Brief, Miß Walker“, fügte Rauter noch leiser hinzu. „Bitte, nehmen Sie ihn in Empfang. Mir ist zwar unklar, wie die Feme das Schreiben an sich bringen wird, aber das ist schließlich nicht meine Sorge …“

Marie Ann zögerte. „Ich begreife das alles nicht“, meinte sie scheinbar verwirrt. „Aber wenn Sie glauben, Mr. Rauter, ich täte damit der Öffentlichkeit einen guten Dienst, so will ich …“

Der bleiche, gebeugte Mr. James Walker hatte bisher völlig gleichgültig dabeigestanden. „Geben Sie das Schreiben nur her, Mr. Rauter“, sagte er nun mit seiner müden Stimme. „Marie Ann könnte den Brief nur in ihr Handtäschchen stecken, und …“

Aber jetzt war das junge Mädchen überraschend flink bei der Hand, öffnete ihr Perlentäschchen und schob den Brief schnell hinein. Mit einer fast rührend klingenden Gläubigkeit erklärte sie: „Die Drei müssen gute Menschen sein, und deshalb soll ihr Wunsch auch wörtlich erfüllt werden.“

Der alte Walker lächelte nachsichtig. „Ja, so ist meine Marie Ann, Mr. Rauter! Wenn’s um die Feme geht, setzt sie sich womöglich allerhand Gefahren aus.“

Leider schob sich jetzt ein kleinerer Herr im tadellosen Frackanzug zwischen uns, und ich war gezwungen, dem Gentleman Feuer für seine Zigarette zu reichen. [23] Er bedankte sich, blickte mich augenzwinkernd an und murmelte ein einziges Wort, eine Zahl: „Acht!“

Als Marie Ann mit ihrem Vater kurz darauf die Treppe zum Parkett hinabstieg, entglitt ihr das Perlentäschchen, und ich konnte es trotz des Gedränges der in den Zuschauerraum Zurückflutenden blitzschnell aufheben und ihr mit höflicher Verbeugung überreichen.

Ein langer Blick traf mich, – Marie Ann schien sich alle Mühe zu geben, sich meine Züge einzuprägen, aber ich machte kurz kehrt und wendete mich den Logen des ersten Ranges zu, betrat diesmal Loge 8 und nahm im Hintergrunde Platz, schüttelte aus dem Ärmel ein eng zusammengelegtes Perlentäschchen hervor und öffnete unauffällig den Brief Jack Rauters, der die Aufschrift trug: An die Drei von der Feme, – durch Miß Marie Ann Walker.“

Loge 8 war mit sämtlichen Plätzen vorbestellt worden und bis jetzt leer geblieben.

Nun erschienen auch Bickfort und Roger, und der Baronett fragte kurz:

„Inhalt …?! – Wichtig?“

Ich las leise vor: „Meine Herren, ein Kriminalreporter, der noch dazu einen Kommissar zum Freunde hat, ist verpflichtet, für seine Zeitung um jeden Preis sensationelle Nachrichten zu verschaffen. Betrachten Sie mich als Ihren Gegner, – – aber ehrliches Spiel, ehrlicher Kampf! Geben Sie scharf auf den letzten Akt der Detektivkomödie acht. – Jack Rauter. “

„Was soll das?!“, meinte Bickfort, der Warner, erstaunt.

Da ertönte auch schon das Klingelzeichen, der Vorhang rauschte auseinander, der Saal wurde dunkel, und die Bühne zeigte das geschickt aufgebaute Bild eines dunklen Hofes und eines Teiles eines Hauses: Eine Küche!

Auf der Mauer des Hofraumes saß im matten [24] Mondlicht ein Mann, der eine Pfeife rauchte.

Es sollte zweifellos Rauter selbst sein …

Unter dem Küchenfenster kauerte ein zweiter Mann, und in der Küche brannte auf dem Herde eine Gasflamme mit sechs Zungen.

Beide Männergestalten waren kaum zu erkennen, und der bisherigen Handlung des Stückes nach konnte niemand erraten, welche der Hauptpersonen hier gemeint waren.

Und dann ereignete sich das vollkommen Unerwartete, zunächst völlig Rätselhafte und eine gewaltige Panik Hervorrufende: Von der Galerie wurde ein ausgestopfter Mäusebussard mit ausgebreiteten Schwingen, der zum Teil mit Leuchtfarbe bestrichen war, herabgeworfen und schwebte in gut ausbalanciertem Gleitflug bis auf die Bühne, wo er gegen eine der Kulissen stieß und mit dumpfem Knall explodierte und ungeheure Mengen grauen, beizenden Qualmes ausspie, so daß die Bühne im Nu eingenebelt war.

Die Vorstellung mußte abgebrochen werden. Das Publikum drängte in wilder Hast zu den Garderoben, und Kommissar Hemmerfolk und seine Beamten hatten alle Mühe, die Hinausströmenden wenigstens an den Ausgängen zurückzuhalten und einigermaßen gründlich zu mustern.

Die Drei von der Feme fand man nicht, selbst als der Zuschauerraum und das Bühnenhaus durchsucht wurden. Man entdeckte nur in Loge acht ein Kleiderbündel, bestehend aus drei Frackanzügen und Lackschuhen, und die Vernehmung des Personals ergab schließlich, daß heute drei neue Logenschließer aufgetaucht waren. Die Kriminalbeamten hatten die in Livree steckenden „Drei“ ungehindert passieren lassen.

Immerhin kostete uns der kleine Scherz drei Frackanzüge, drei Paar Lackschuhe und das Eintrittsgeld für [25] Loge 8. – Die blauen Livreen ließen sich vielleicht noch ein andermal verwenden, meinte Freund Bick anderthalb Stunden nach unserer geglückten Flucht, als wir in meinem Arbeitszimmer Albemarle-Street 17 wie üblich die Ereignisse noch erörterten und der „Warner“ dann einen langen Brief tippte, – einen der berühmten Warner-Briefe …

Sir William Hemmerfolk war nicht sehr erfreut, als er ihn am Morgen las. Er rief sofort Jack Rauter an, und der flotte, hübsche Reporter sauste mit seinem Zweisitzer eilends zum Polizeipalast.


5. Kapitel.
Joe Skrup verrät einiges.

„Sehr geehrter Sir Hemmerfolk, wir bedauern es stets außerordentlich, wenn wir gezwungen sind, der Polizei Ungelegenheiten zu bereiten. Im Waterloo-Theater ließ sich dies nicht vermeiden. Wir drei spüren wenig Neigung, zur Überfüllung der englischen Zuchthäuser beizutragen. Wie wir entkommen sind, wissen Sie. Aber Sie wissen nicht, daß wir in Loge 4 neben der Journalistenloge anfänglich unsere Plätze hatten, und daß unser Freund Olaf, auf den Steckbriefen und auch von uns als „Der Richter“ bezeichnet, Sie und Mr. Rauter zum Teil belauscht hat.

Sie wissen ferner nicht, daß in Loge 4 ein höherer Staatsbeamter mit drei Damen seinen Platz hatte und dort mit seiner Frau einige Bemerkungen über ein großes Geschäft in Weizen austauschte, die uns die Gewißheit [26] gaben, daß die Regierung auf dem Weizenmarkt zumindest sehr eigentümliche Geschäfte vorgenommen hat.

Ihnen ist genau so wenig bekannt, daß hinter der Person des „Raubvogels“, der übrigens all die letzten sechs Selbstmorde von Getreidekaufleuten auf dem Gewissen hat, noch ein Strohmann steckt, der die ungeheuren Weizenvorräte von der Regierung übernahm. Dieser Strohmann sowie der „Raubvogel“ sind uns bisher unbekannt. Wir werden sie aber zu finden und zu strafen wissen. Der Umstand, daß die Selbstmörder alles Getreidehändler waren, hätte Ihnen längst aufgefallen sein müssen.

Wahrscheinlich werden Sie nun von höchster Stelle insgeheim die Anweisung erhalten, den beiden Schurken, die den verdorbenen Weizen in den Handel brachten, nicht allzu eifrig nachzuspüren.

Die Regierung könnte einen derartigen öffentlichen Skandal wie die Aufdeckung dieser Schwindelmanöver eines höheren Beamten zur Zeit kaum erträglich finden.

Wir drei vertreten einen anderen Standpunkt. Das wissen Sie. Wir wollen Englands Ansehen nicht herabsetzen, deshalb werden wir nach unserer Methode eingreifen.

Wir haben den Mäusebussard nicht auf die Bühne schweben lassen und die Panik nicht verursacht. Wenn der Mann, der auf der Galerie seinen Platz hatte und der den Vogel hinabwarf, etwa behauptet, er sei von einen von uns gedungen worden, ist das eine grobe Lüge. Uns kam der Zwischenfall ganz überraschend. Weniger überraschend war es, daß unser Freund Olaf ein zweites Perlentäschchen bereit hatte und daß wir Miß Walker durch einen Warner-Brief gebeten hatten, ihr Täschchen auf der Treppe fallen zu lassen.

Wir werden uns gestatten, Ihnen rechtzeitig zu melden, [27] wann die Bestrafung der Schuldigen stattfinden wird. – Ergebenst … Drei von der Feme.“

Kommissar Hemmerfolk las den Brief, der auf dickes, rauhes, gelbliches Papier getippt war, dreimal. Dann läutete er und ließ den Arrestanten Mr. Skrup vorführen. – Joe Skrup war der Mann gewesen, der den ausgestopften Bussard von der Galerie hinabgeschleudert hatte.

„Skrup“, sagte der Kommissar wohlwollend, „Ihr Vorstrafenregister ist beinahe so lang wie der Äquator, und der grobe Unfug gestern im Theater kostet wieder ein paar Monate, falls Sie nicht die Wahrheit sagen. Setzen Sie sich, hier haben Sie eine Zigarre. – Wer also bestach Sie zu dem Streich und übergab Ihnen das mit einer Nebelbombe gefüllte Vieh?“

Joe Skrup, ein kleiner, fetter Kahlkopf mit allzu bierehrlichem Gesicht, seufzte schmerzlich: „Sir Hemmerfolk, wenn Sie die Wahl zwischen etwa einem Jahr Gefängnis oder einer Pistolenkugel hätten, was würden Sie vorziehen?! Ich jedenfalls sitze lieber meine Strafe ab, als daß ich die Wahrheit eingestehe. Ich bleibe also dabei: Es war einer von der Feme, der mir für den Spaß hundert Pfund gab. Punktum.“

Wenn Skrup „Punktum“ sagte, war mit ihm nichts mehr zu machen. Das wußte Hemmerfolk.

Außerdem hätte er auch gar nicht mehr Zeit gehabt, noch weiter auf den alten Gauner einzureden, denn die Tür wurde aufgerissen, Jack Rauter stürmte mit wutrotem Gesicht herein und warf seinem Freunde wortlos einen gleichfalls getippten Brief hin, – aber gewöhnliches Papier.

Der Kommissar reichte Jack den Warner-Brief.

„Da, lies schnell, das Papier verfärbt sich schon … In kurzem ist nur noch grauweiße Asche übrig.“

Joe Skrup rauchte gemächlich und beobachtete die [28] beiden und sah auch, wie schnell der Warner-Brief zu Flocken zerfiel. Hemmerfolk überflog das andere kurze Schreiben.

„Mr. Jack Rauter, Reporter, Volksblatt, Oxford-Street. – Sollte Ihre Schmierenkomödie nochmals zur Aufführung gelangen, so wird Joe Skrup Ihnen im voraus sagen können, wie tadellos ich schieße. – Das genügt wohl. – Der Raubvogel.“

Jack war heute wirklich mehr gereizter Stier als beherrschter Journalist. „Zum Teufel, Skrup“, schrie er den kleinen fetten Gauner an, „Ihr Auftraggeber muß doch eine Heidenangst davor haben, daß der dritte Akt der Feme der Drei über bestimmte Einzelheiten die Augen öffnet! Der Schurke fürchtet wohl, daß auch noch bekannt wird, wie er Mr. Walker in den Tod gehetzt hat! Oder in den Tod hetzen wollte! – Starre mich nicht so an, Hemmerfolk, – es stimmt schon …! Der Getreidekaufmann Walker wäre beinahe das siebente Opfer geworden. Ich habe dir mancherlei verschwiegen. Ich wußte, daß auch Walker nur allzu viel von dem billigen Weizen eingekauft hatte, ich beobachtete seine Wohnung, ich sah vor etwa einer Woche abends einen Kerl unter Walkers Küchenfenster … Der Bursche schob durch das Luftloch für das Fensterspind einen langen Gummischlauch in die Küche, und als ich ihn verjagte, fand ich unter dem Fenster noch eine Stahlflasche mit Giftgas. Nachher wurde ich Zeuge, wie Walkers damaliger Hauswirt Mr. Elsen und Marie Ann den bereits bewußtlosen Walker ins Schlafzimmer trugen, der sich mit Gas in der Küche hatte töten wollen.“

„Dann muß dieser Mr. Elsen vorgeladen werden, ebenso Mr. Walker und seine Tochter“, meinte Hemmerfolk energisch.

„So?! Vorladen?!“, lachte Jack bitter. „Walker und Tochter werden dir gar nichts verraten, und Mr. [29] Elsen ist heute früh zur Kur in ein deutsches Trinkbad gereist, ich war schon um acht bei ihm, aber ich traf nur noch seine Aufwärterin an … – Glaubst du denn, Walker wird es wagen, den Halunken zu verraten?! – Wie denken Sie darüber, Skrup?“

„Ich?! – Eher beißt er sich die Zunge ab!“

Jack warf sich finster in einen Sessel. Hemmerfolk sog nachdenklich an seiner Zigarre.

„Also Mäusebussard!!“, murmelte Jack ingrimmig. „Und mein Theaterstück soll nicht mehr aufgeführt werden?! – Zum Teufel, William, – – so rede doch!!“

Der Kommissar hatte soeben von einem Beamten ein versiegeltes Schreiben erhalten.

Er las es, – – dann rieb er ein Zündholz an, verbrannte es und sagte sehr höflich zu Joe Skrup: „Sie können gehen … Ich kann den Haftbefehl gegen Sie nicht aufrecht erhalten, da es sich nur um groben Unfug handelt. Und dir, lieber Jack, muß ich leider mitteilen, daß die Zensurbehörde deine Detektivkomödie nachträglich wegen Verherrlichung der Feme der Drei verboten hat.“

Man merkte es Hemmerfolk an, wie schwer ihm all das über die Zunge kam.

Er mußte an den Brief der Feme der Drei denken: Es war genau das eingetreten, was die Feme vorausgesagt hatte: Die Weizengeschichte sollte totgeschwiegen werden, aber die Verfolgung der drei sollte noch energischer als bisher betrieben werden![2]

Jack Rauter pfiff plötzlich das Bajazzolied und lachte seinen Freund William sehr vergnügt an.

„Aha – – Wink von oben!! Ich weiß Bescheid!! Nun gut, – du mußt gehorchen! Aber ich weiß jetzt, was ich zu tun habe! – Auf Wiedersehen, William …“

Eine halbe Stunde später verließ auch Joe Skrup fidel pfeifend die ungastlichen Mauern von Scotland [30] Yard. Nur das Bajazzolied pfiff er nicht. Nein, die Melodie war ihm doch zu unangenehm.

Als er dann im Sonnenschein durch die Uferanlagen der Themse dahinschlenderte, kam ihm ein vornehmer älterer Herr entgegen, der von einem Diener in Livree gestützt wurde und noch einen Stock benutzte. Im Knopfloch trug er verschiedene Ordensbänder, der linke Fuß war steif, und auch das eine Auge war von einer Klappe verdeckt.

Der Diener war mittelgroß, stämmig und hatte einen graumelierten Backenbart.

Gerade als Skrup vorüberging, entglitt dem alten Militär der Stock, und Joe beeilte sich zuzuspringen und ihn aufzuheben. Trotzdem war der lahme Invalide bereits halb zusammengeknickt, und der Diener bat Skrup höflichst, seinen Herrn von der andern Seite zu stützen und bis zum Auto zu geleiten.

„Wenn Sie noch fünfzig Pfund verdienen wollen“, flüsterte der Diener hastig, „steigen Sie schnell mit ein!“

Dabei gab er Skrup einen freundschaftlichen Stoß in die Rippen, und Joes „Einsteigen“ geschah etwas übereilt.

Kaum hatte er Platz genommen, als der Wagen auch schon davonglitt und der vornehme alte Herr dem armen Joe eine Pistole zeigte.

„Wenn Sie um Hilfe rufen, sind Sie geliefert!!“

Joe wurde bleich und schnappte nach Luft. Er war ja nicht mit Blindheit geschlagen, neben sich hatte er den vornehmen Kriegsinvaliden, dessen Stimme soeben unheimlich messerscharf geklungen hatte, und vorn saßen der Diener und der Schofför. Joe wußte, daß die „Drei“ ihn geschnappt hatten, und in Gedanken an all das, was er bereits für den Mäusebussard hatte erledigen [31] müssen, verfärbte sich sein Gesicht ins Grünliche, und mühsam stotterte er hervor:

„Ich … bin … ganz … still, – wirklich, ganz …: still!“

„Sehr vernünftig von Ihnen, Joe Skrup“, sagte ich etwas weniger drohend. „Zweifellos ist es ratsamer, hier im Auto den Mund zu halten, als für immer still zu werden, – – Sie verstehen mich!“

Auch Jack Rauter hatte vor dem Hauptausgang von Scotland Yard auf Skrups Erscheinen gewartet. Leider hatte er nachher seinen Zweisitzer an den Themseanlagen auf einen allzu weit entfernten Parkplatz gestellt, und als er dann die Verfolgung der Limousine aufnahm, entwischte sie ihm sehr bald in dem lebhaften Verkehr der City.

Genau dasselbe Pech hatte ein zweites, geschlossenes Auto, das ich gleichfalls hinter uns gewahrte. Es war nur von einem einzelnen Manne besetzt, es mußte der „Raubvogel“ sein, und die Tollkühnheit, Verschlagenheit und die zielsicheren Schlußfolgerungen dieses Menschen, der gleichfalls vor dem Polizeipräsidium gewartet haben mußte, waren mir die eindringlichste Mahnung, fortan noch vorsichtiger als sonst zu sein.

Nach einstündiger Fahrt bei geschlossenen Vorhängen wurde Joe Skrup, dem ich schon vorher die Augen verbunden hatte, von unserer Garage aus auf etwas ungewöhnliche Art, als Kistenreisender, in ein Hinterzimmer des Juweliergeschäfts Henson, Western Road 31 geschafft und hier zu längerer Bettruhe hinter einem Wandschirm gezwungen.


[32]
6. Kapitel.
Jack Rauter gerät in Verdacht.

James Walker kehrte an demselben Vormittag gegen elf Uhr überglücklich heim. Er war von morgens an auf den Beinen gewesen, um irgendwo eine Anstellung zu finden, und freudestrahlend erzählte er nun Marie Ann, der er vor der Haustür begegnete, daß die Maklerfirma Bellert ihn mit fünf Pfund Wochenlohn als Aushilfe engagiert habe.

Meine Ladentür stand offen, der heutige Tag war ungewöhnlich warm, und der Frühling nahte nun mit all den frohen Anzeichen seines belebenden Einzuges. In den Baumkronen und auf den Dächern pfiffen die Stare, und das internationale Völkchen der Sperlinge lärmte am allertollsten.

Marie Ann erblickte mich, winkte mir freudig zu, und ich bat Vater und Tochter in meinen Laden.

Walker erzählte mir nochmals, welches Glück er gehabt habe, und mein Händedruck, mit dem ich ihm gratulierte, fiel besonders kräftig aus. Ich hatte ja auch allen Grund mich zu freuen, obwohl andrerseits mancherlei Bedenken in mir aufstiegen, die sich auf die unheimliche Rührigkeit des Mäusebussards bezogen.

James Walker war ja noch am Leben und bildete für den großen Gauner eine stete Gefahr. Das Geständnis, das Joe Skrup vorhin im Hinterzimmer freiwillig abgelegt hatte, war bedeutungsvoll und überaus aufschlußreich gewesen, auch hinsichtlich der Person Jack Rauters. Skrup hatte mit nichts hinter dem Berge gehalten, mir war also auch bekannt, daß das Detektivstück [33] nie mehr aufgeführt werden würde und daß der Bussard ein vorzüglicher Pistolenschütze war.

Marie Ann war jetzt wie ausgewechselt, ihre strahlenden Augen taten mir fast weh, das arme hübsche Kind ahnte ja nicht, in welcher Gefahr ihr Vater schwebte.

Dann verabschiedeten sich Vater und Tochter, und mein Gehilfe Daniel Forbing trug das Mittagessen auf, das er stets selbst zuzubereiten pflegte und an dem nie etwas auszusetzen war. Während wir noch bei Tisch saßen, (auch Joe Skrup war reichlich versorgt worden) erschien im Laden ein gut gekleideter Herr, der eine Krawattennadel reparieren lassen wollte. Nachdem ich das Geschäftliche mit ihm erledigt hatte, senkte er etwas die Stimme und teilte mir mit, daß Frau Vicky Pennerton heute nachmittag gegen zwei Uhr aus der Klinik entlassen würde. „Es dürfte sich empfehlen, Olaf, zu dieser Zeit in der Oxford-Street zu sein, wo Vickys Mutter im Seitenflügel von Nr. 211 wohnt“, fügte er hinzu. „Der Bussard könnte immerhin den Versuch machen, sein Attentat irgendwie zu wiederholen.“

Auch Daniel-Sheffield war jetzt nähergetreten und nickte genau so ernst wie ich.

Freund Bickfort schien noch etwas auf dem Herzen zu haben.

In einem Punkte waren wir drei nämlich alle gleich: Keiner mochte zugeben, daß in seiner Brust ein sehr warmes Herz für die Armen und Bedrängten schlug, und als der junge Warner nun erklärte, nicht nur die Familien der sechs Selbstmörder seien in tiefstes Elend geraten, sondern auch sämtliche Angestellten der ruinierten Firmen, meinte der Baronett in seiner rauhen Art:

„Du hast wahrscheinlich eine Liste dieser Leute zusammengestellt und willst aus unserer Kasse Geld verteilen? Wieviel?“

[34] Bickfort bejahte. „Fünftausend Pfund dürften fürs erste genügen. Ich gedenke eine Rundfahrt zu machen und die Beträge in die Briefschlitze zu werfen. Inzwischen werden wir ja dem Bussard seine Beute abgejagt haben. Ich wette, Maurice Pennerton führt ein Doppelleben oder gar ein dreifaches.“

Bickfort Tomsen verließ sehr eilig unseren Simili-Laden, und nach Tisch unternahm ich meinen gewohnten Spaziergang nach dem recht verwilderten kleinen Wellington-Park, wobei ich mir gleichzeitig Rauters neues Heim ansehen wollte.

Mit einem Buch unter dem Arm und einem weniger harmlosen Gegenstand in der Hüfttasche schlenderte der elegante Mr. Henson dem wenig besuchten Parke zu, in dessen nächster Nähe ein Steinbruch lag, dessen Maschinen einen oft unerträglichen Lärm verursachten.

Von Jack Rauter war nichts zu bemerken, nur hinter einem Fenster der kleinen Villa bewegte sich ein Vorhang, und so geringfügig dies als Anlaß zum Mißtrauen auch sein mochte, nachher im Park mit den uralten Bäumen und dichten Büschen war ich doch vorsichtig und wählte eine der morschen Bänke als Ruheplatz, die mir möglichst freien Ausblick gewährte. Das Getöse der Maschinen im Steinbruch war heute ärger denn je und störte mich sogar beim flüchtigen Durchblättern des Buches.

Es war der diesjährige Londoner Theaterkalender.

Plötzlich stutzte ich …

„Waterloo-Theater-Aktiengesellschaft“ stand da …

Und weiter las ich:

„Direktor des Aufsichtsrates und Hauptaktionär …“, – und dann folgte ein Name, den ich erst vor einer Stunde gehört hatte …!

Sollte das ein Zufall sein?! War nicht anzunehmen, [35] daß dieser Herr Vorsitzende des Aufsichtsrates Jack Rauters Detektivkomödie vorher gelesen hatte?!

Hatte ich hier die Erklärung dafür gefunden, daß der Mäusebussard die Möglichkeit gehabt hatte, den dritten Akt so gründlich zu zerstören, daß dieser für ihn irgendwie gefährliche Akt niemals dem Publikum bekannt würde?!

Die seltsamsten Schlußfolgerungen reihte ich an diese Entdeckung.

Ich vergaß alles um mich her …

Ich versetzte mich vollkommen in Maurice Pennertons Lage und wurde gleichsam er selbst.

Was bedeutete in dem Riesenameisenhaufen London eine einzelne Person?!

Was bedeutete hier ein Mensch, der unter drei Namen und mit drei verschiedenen Masken an verschiedenen Stellen hauste?! Waren wir, die Feme, nicht der beste Beweis dafür, daß sogar drei Leute ungestört, unerkannt ihren besonderen Neigungen leben konnten, obwohl wir alle drei steckbrieflich verfolgt wurden?! Weshalb sollte es nicht auch außer uns hier in London einen Verwandlungskünstler geben, der uns vielleicht in der Kunst, seine Persönlichkeit umzuformen, noch übertraf?!

Allzu sehr hatte ich mich in diese Gedanken eingesponnen, und als nun wirklich wie ein Blitz aus heiterem Himmel urplötzlich mit bösartigem Zischen dicht an meinem linken Ohr eine Kugel vorüberpfiff, der ich nur durch eine zufällige Kopfbewegung entging, brauchte ich immerhin einen Bruchteil einer Sekunde, um mein Hirn auf die gegenwärtige Gefahr einzustellen und mich zur Seite zu werfen und hinter dem Steinpostament einer grünbemoosten Statue Deckung zu suchen.

So verfehlten mich auch die zweite und die dritte Kugel, die ebenso gut gezielt waren.

[36] Von den Schüssen selbst war bei dem Getöse der Steinbruch-Maschinen nichts zu hören.

Kein Mensch war in der Nähe …

In den mit dicken Blattknospen bedeckten Ästen der Bäume und Büsche flatterten trotzdem erschrocken Vögel empor, und ich, der Mann, der doch noch vor einem Jahr die Wildnis als meine Heimat betrachtet hatte, fühlte all die Instinkte der Abseitspfade wieder erwachen und umkrallte ganz fest den Kolben der eigenen Pistole und wußte auch ganz genau, daß es hier um Sein oder Nichtsein ging und daß Maurice Pennerton mich, nur mich als seinen Feind erkannt haben mußte und mich austilgen wollte um jeden Preis!

Mit einem Schlage vergaß ich, daß ich der elegante Juwelier Thomas Henson war.

Mit einem Schlage war ich der Abenteurer von einst, und es würde sich nun ja zeigen, wer der bessere Schütze war, Pennerton oder ich.

Mein Feind steckte irgendwo da drüben in den Büschen hinter den[3] dicken Kastanien und hinter den künstlichen Steinhügeln …

Oh, – – kein zu verachtender Gegner! Das merkte ich jetzt, als er mit niederträchtiger Sicherheit, da er mir anders nicht beikommen konnte, gegen einen flachen Stein links neben mir feuerte, so daß das abprallende Geschoß mit seinen Bleispritzern mir den Hut durchlöcherte.

In der Tat: Pennerton war ein Kunstschütze!

Die zweite dieser abprallenden Billardkugeln – es war ja wie ein Billardspiel mit Pulver und Blei! – fegte ins Leere, da ich mich ganz eng zusammengekauert und schnell meinen Taschenspiegel neben den Sockel in die Erde gedrückt hatte.

Und – – da sah ich ihn, – – wenigstens seine Hand mit der Pistole …

[37] Trotzdem zweifelte ich nicht daran, daß Pennerton in der nächsten Minute seine Verbrecherlaufbahn beendet haben würde.

Den Trick, eine Kugel abprallen zu lassen und ein gedecktes Ziel zu treffen, kannte ich etwas besser als er.

Ich hätte es tun können, – ich brauchte nur seinen nächsten Schuß abzuwarten und dann, mich aufrichtend, durch die Beine der Statue zu feuern.

Trotzdem zögerte ich …

Gewiß, – die neue Kugel galt meinem Spiegel, ging jedoch daneben …

Was hielt mich davon ab, dieses bisher einseitige Duell nicht schleunigst und endgültig abzukürzen?

… Ein paar braune, traurige Augen schienen mich flehend anzublicken …

Mit einem Male war dann auch drüben die Hand mit der Pistole mit dem dicken Schalldämpfer verschwunden.

Kein Schuß folgte mehr.

Die aufgescheuchten Vögel, die das Brutgeschäft bereits begonnen hatten, kehrten zu ihren Nestern zurück.

Nach Minuten gewahrte ich rechts von mir die schlanke Gestalt Jack Rauters, der pfeifend den Weg entlanggeschlendert kam.

Er pfiff – ich horchte erstaunt auf! – Das Bajazzolied.

Schnell erhob ich mich, säuberte meine Beinkleider und holte das auf der Bank zurückgelassene Buch.

Rauter blieb stehen.

„Verzeihung, sind Sie nicht der Juwelier Henson aus der Western Road?“

Ich sah, daß sein Mantel Erdspuren zeigte, daß seine Hand beschmutzt war.

„Allerdings, – Thomas Henson“, – ich verneigte mich leicht.

[38] Der Reporter lächelte zwanglos. „Ich wollte Sie nachher aufsuchen, Mr. Henson, – eines Brillantringes wegen, dessen Stein sich gelockert hat …“ – Ich fühlte, wie scharf er mich musterte.

„Steine lockern sich oft“, meinte ich harmlos und stieß mit dem Fuß gegen den Feldstein am Wegrande, den „Pennerton“ als Billardbande benutzt hatte.

Rauter hüstelte. „Hm, – ich glaube, ich hörte hier Schüsse, Mr. Henson …“

„Das glaube ich auch … – Haben Sie den Ring bei sich? Ich könnte ihn ja sofort mitnehmen …“

„Zu liebenswürdig, – hier ist er … Sie sehen, der Stein ist sehr lose …“

„Gewiß … – Und Ihr Name und Ihre Adresse?“

„Jack Rauter, Wellington-Road 12 … – Mit der Quittung über den Ring hat es ja Zeit, Mr. Henson …“

„Nicht doch, Mr. Rauter, – – Ordnung muß sein – Bitte sehr … Der Ring ist sehr wertvoll. Übermorgen ist er fertig. Sie entschuldigen mich jetzt, Mr. Rauter, ich will mich bei dem Oberaufseher des Parkes beschweren, daß hier Kaninchenjäger leichtfertig Spaziergänger gefährden … Auf Wiedersehen, Mr. Rauter“, – ich war nur noch der tadellose Geschäftsmann, der einen Kunden höflichst bedient.

Wir trennten uns, und nachdem ich meine Beschwerde bei dem Oberaufseher vorgebracht hatte, kehrte ich sehr nachdenklich in meinen Simili-Laden zurück und erzählte meinem Freunde Roger mein eigentümliches Duell-Erlebnis.

Der Baronett sagte nichts, blinzelte mich nur an und zuckte die Achseln.

Das war alles, und das konnte allerhand bedeuten. –

Bevor ich dann in anderer Gestalt in die City nach der Oxford-Street fuhr, öffnete ich noch den großen Tresor, [39] der einige Eigentümlichkeiten aufwies, und stellte behutsam eine Schale mit Milch auf den Boden des Panzerschrankes.

Dabei mußte ich immer wieder an Jack Rauter und an ein Paar traurige braune Augen denken, die heute allerdings sehr fröhlich gelächelt hatten …

Als ich den Tresor wieder versperrte, war Maurice Pennertons Urteil bereits gesprochen. Er sollte sterben, aber nicht durch die Hand eines Menschen … Die Feme der Drei verfügte auch über andere Mittel, die Welt von einem Schurken zu befreien und ihn gleichsam in Nichts sich auflösen zu lassen. Die Witwe Anna Smitson, deren Mann das zweite Opfer Pennertons geworden, wohnte jetzt Oxford-Street 211 in zwei Stübchen als einfache Reinemachefrau des großen Bürohauses, in dem der Makler Edward Bellert seine Geschäftsräume gemietet hatte. Und Vicky Smitson, verehelichte Pennerton, hatte gleichfalls Anspruch darauf, daß dieser vielgestaltige Pennerton für immer und restlos verschwände.


7. Kapitel.
Die Häuser 210 und 211.

Ich kam gerade noch zur rechten Zeit in der Oxford-Street an, wo jetzt um die Mittagsstunde ein überaus lebhafter Verkehr herrschte. Kaum hatte ich meine Taxe abgelohnt, als ich einen Herrn bemerkte, der sowohl die Fassade des Bürohauses 211 als auch die des benachbarten Zeitungspalastes des „Volksblatts“ sehr eingehend [40] musterte. Ich trat auf den eleganten Fremden zu und bat um Feuer für meine Zigarette. Der Herr stutzte etwas, zog dann sein Feuerzeug hervor und ließ das Flämmchen aufpuffen.

„Bitte … – Was willst du hier, Olaf?“

„Ähnliches wie du, lieber Bick“, erwiderte ich genau so gedämpft und ohne die Lippen merklich zu bewegen. „In 211 wohnt Frau Smitson, deren Tochter, verehelichte Pennerton, heute aus der Klinik entlassen wird. Außerdem hat hier in 211 der Makler Bellert sein Büro, bei dem Mr. Walker heute als Aushilfe eine Anstellung fand. Und drittens hat Jack Rauter nebenan in 210 ebenfalls ein Arbeitszimmer mit anstoßendem Schlafgemach. – Genügt dir das?“

„Nein“, flüsterte der Warner unauffällig zurück. „Deine Schlußfolgerungen glaube ich zu kennen. Sie dürften nur dann eine gewisse Berechtigung haben, wenn Jacks beide Zimmer mit den Büroräumen Bellerts Wand an Wand liegen. Stelle du dies fest, ich besuche Frau Smitson, die allerdings nicht zu Hause ist. Sie holt ihre Tochter Vicky aus der Klinik ab. Ich sah sie einen Autobus besteigen.“

„Also dann nach einer Stunde im Kaffee Royal …“ – hiermit trennten wir uns. –

In dem fürstlich eingerichteten Kaffeehaus saßen an einem Fenstertisch zwei mit diskreter Vornehmheit gekleidete Herren, die einander fremd zu sein schienen und erst allmählich eine Unterhaltung über Tagesfragen begannen.

Der eine, offenbar ein Architekt, sprach über moderne Bürogebäude, der andere, der Ältere, über die Londoner Zeitungen. Nach einer Weile senkten sie ihre Stimmen, und der Jüngere mit den vergnügten Augen zeichnete folgende Skizze auf ein Blatt Papier von eigentümlich gelblicher Farbe:

[41]

Unter diese übersichtliche Skizze schrieb er: „Frau Anna Smitsons kleine Wohnung im Hofgebäude hatte früher Maurice Pennerton inne. Der Makler Edward Bellert, Nr. 211, ist heute in Geschäften nach Schottland gereist, wie auch dir der Pförtner mitgeteilt haben dürfte. Von der A. S.-Wohnung führt tatsächlich eine versteckte Tür zu Jack Rauter hinüber. Wir wollen uns jetzt wieder trennen. Ich habe noch andere Spenden abzuliefern. Frau Smitson warf ich fünfzig Pfund durch den Briefschlitz.“

Ich betrachtete die Zeichnung eine Weile und sagte leise: „Sie ist richtig … Wir müssen nachts wiederkommen. Auch Bellerts Büro muß mit A. S. und J. R. in Verbindung stehen.“

Gleich darauf wurde das gelbliche Papier merkwürdig bräunlich, ich knüllte es schnell zusammen, und als ich es in die Aschenschale legte, löste es sich in grauweiße Flocken auf.

[42] Bickfort Tomsen zahlte seine Zeche, verneigte sich steif und schritt davon. Nach fünf Minuten betrat auch ich die Straße, blieb stehen und beobachtete, wie Frau Smitson mit der bleichen, schönen Vicky aus einem Auto stieg, in dem noch zwei Herren saßen, während ein zweites Auto mit vier Detektiven dicht hinter dem ersten hielt. Die Beamten begleiteten die beiden Frauen in das Bürohaus, eine Vorsichtsmaßregel, die ich von Kommissar Hemmerfolk sehr lobenswert fand, die mir aber doch nicht ganz genügend erschien. Vielleicht hegte Jack Rauter, der von der Bordschwelle aus all dies genau wie ich beobachtete, ebenfalls dieselbe Ansicht, denn auch er folgte dem unauffälligen Zuge, der Frau Vicky vor einem erneuten Anschlag ihres flüchtigen Gatten schützen sollte, und verschwand in dem Nebeneingang zu den Hofgebäuden. Jetzt erst bemerkte ich auch den großen, überschlanken Kommissar mit dem eingefrorenen liebenswürdigen Lächeln. Ich hätte mich gewundert, wenn er nicht zur Stelle gewesen wäre.

Meine Absichten waren andere als die Jack Rauters. Ich fuhr im Lift in Nr. 211 bis zum 2. Stock empor und öffnete die Tür zum Vorraum des Büros des Maklers Bellert.

Es war jetzt drei Uhr nachmittags, und um zwei hatte der glückliche James Walker hier seinen Dienst antreten sollen. – In dem Vorraum, der ein großes Fenster nach dem Hof zu hatte, befand sich zur Zeit nur Walker selbst.

Marie Anns Vater hatte das Fenster emporgeschoben und sich hinausgelehnt und freute sich der Sonnenstrahlen, die noch in den düsteren Hof hinabfielen. Er hatte mich nicht gehört, und da ich meinen Plan nunmehr anders auszuführen gedachte, trat ich wieder zurück, schlug die Tür krachend zu und erwischte gerade noch den Fahrstuhl, bevor Walker feststellen konnte, wer [43] der eilige Besucher gewesen. Unten stellte ich mich auf die andere Straßenseite, ich sah vor dem Haupteingang vor Nr. 211 Hemmerfolk und Rauter nebeneinanderstehen und miteinander sprechen, ich sah, wie einer der Detektive aus dem Nebeneingang hervorschoß und dem Kommissar sehr aufgeregt einen Brief von gelblichem Papier zeigte, – plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter, und eine etwas rauhe Stimme, die einem graubärtigen Dienstmann gehörte, sagte halblaut:

„Sir, hier ist das Schreiben … Ich bekomme zehn Schilling Botenlohn.“

Wir traten halb hinter eine Anschlagssäule, und Freund Roger flüsterte in seiner bissigen Art: „Du und Bick, ihr dachtet wohl, ich würde die Similibrillanten hüten?! Den Mr. Joe Skrup habe ich an das Bett gefesselt und ihm überreichlich Whisky hingestellt … – Weißt du, weshalb Hemmerfolk und Rauter den Warner-Brief so anstieren?“

„Allerdings, ich kann’s mir zusammenreimen, obwohl Bickfort nur von fünfzig Pfund sprach, die er durch den Türschlitz warf. Frau Smitson und Vicky sollten ausziehen und zwar sofort, – das dürfte in dem Brief gestanden haben.“

Der Baronett Sheffield seufzte etwas. „Schade, daß man dich nie mit irgend etwas überraschen kann, Olaf! Sehr schade!!“

„Ich werde euch überraschen, verlasse dich darauf!“ lautete meine Antwort, und Freund Roger entfernte sich nach einem langen fragenden Blick.

Dem Baronett schon jetzt zu erklären, daß ich Frau Vicky das Leben gerettet hatte, dazu lag kein Anlaß vor.

Der Mäusebussard würde vorläufig kein neues Attentat vorbereiten, – der Schreck war ihm sicherlich böse in die Glieder gefahren.

[44] Jack Rauter zerkaute drüben nervös seine Zigarette, und Sir Hemmerfolk musterte ihn still von der Seite und erteilte dem Detektiv, der den Brief gebracht hatte, offenbar einige sehr eilige Befehle.

Ich wartete geduldig die weitere Entwicklung der Dinge ab.

Schon nach zwanzig Minuten erschienen Frau Anna Smitson und Vicky in Begleitung der Detektive, die mehrere Koffer trugen, abermals auf der Straße, bestiegen das Auto und fuhren davon.

Der Kommissar folgte in einer Taxe, und in einer zweiten Taxe saß ein älterer Herr mit Hornbrille und fast weißem Spitzbart und stellte sehr bald fest, daß Mutter und Tochter im Hause Sir William Hemmerfolks am Hyde-Park verschwanden.

Als ich nachmittags gegen sechs Uhr wieder in der Western-Road in meinem Talmi-Juwelen-Geschäft anlangte, saß mein Gehilfe Daniel hinter dem Ladentisch und las Zeitung und rauchte eine sehr gute Zigarre. Im Privatbüro auf dem Diwan aber lag Bickfort Tomsen und starrte tiefsinnig die Zimmerdecke an.

„Was macht Skrup?“, fragte ich, bevor ich im Schlafzimmer verschwand.

„Er ist total betrunken und schläft wie ein Murmeltier, der beneidenswerte Kerl!“, erwiderte Bick unfreundlich. „Der hat nicht unsere Sorgen, Olaf, – – der Glückliche …!“

„Und die wären?“

Da schaute er mich groß an.

„Willst du etwa behaupten, daß du aus dieser verflixten Geschichte klug wirst?! Sir Hemmerfolk hat nun Frau Smitson und Vicky bei sich aufgenommen, obwohl er doch von oben her einen Wink bekam, die Weizen-Sache ruhen zu lassen, und nur uns drei energischer als [45] bisher zu verfolgen. Er wird sich schön in die Nesseln setzen, der Herr Kommissar!“

„Hm, – glaubst du wirklich?! Ich halte Hemmerfolk für sehr, sehr schlau … – Warte ab …!!“


8. Kapitel.
Der Schacht zwischen den Häusern.

Sir William Hemmerfolk, der einem alten schottischen Adelsgeschlecht entstammte, war von Hause aus sehr vermögend. Seine Villa am Hyde-Park, in der nun die schwergeprüfte Frau Smitson und Vicky eine sichere Zufluchtstätte gefunden hatten, war ein älteres Gebäude und lag in einem größeren, von Baumgruppen bestandenen Garten.

Am Abend dieses ereignisreichen, aber für Hemmerfolks Pläne wenig ergebnisvollen Tages saß der pflichtbewußte, liebenswürdige Kommissar mit seinen beiden Gästen beim Abendessen, stellte hierbei erneut fest, daß Frau Smitson und Vicky auch durchaus in diesen vornehmen Rahmen seiner Häuslichkeit hineinpaßten und erreichte schließlich ohne erneutes Bitten, daß Frau Smitson und Viktoria ihm nachher im Salon ihr ganzes Leid offenbarten.

Die Familientragödie der Smitsons war einzig und allein auf Maurice Pennerton zurückzuführen. Dieser seltsame, musikbesessene Produktenhändler hatte sich als Vermittler an Mr. Smitson herangemacht und ihm große Mengen Weizen äußerst vorteilhaft angeboten. Smitson, der ein gutes Geschäft witterte, griff wie so viele andere wirklich zu, lieh sich das nötige Geld von [46] Bekannten, trotzdem fehlten ihm immer noch dreitausend Pfund Sterling, die ihm Pennerton schließlich zur Verfügung stellte, freilich unter einer Bedingung: Er hatte sich ganz offenkundig um Viktoria beworben, hatte sich im Hause Smitson auch stets von der besten Seite gezeigt, ging elegant gekleidet und glich damals in nichts dem armseligen vernachlässigten Produktenhändler, wie ihn die Western-Road in West-Norwood seit Jahren kannte.

Viktoria, die als einziges Kind ihre Eltern bis zur Selbstaufopferung liebte und deren Herz noch nie einem Manne wärmer entgegengeschlagen hatte, gab den Bitten ihres Vaters schließlich nach und willigte in eine rasche Heirat ein, ohne sich recht über die Tragweite dieses Entschlusses klar zu werden.

So heiratete sie denn Maurice Pennerton vor einem halben Jahre, bezog die im übrigen gut eingerichtete Kellerbehausung in der Western Road, und acht Tage später vergiftete sich ihr verzweifelter Vater mit Leuchtgas, nachdem er festgestellt hatte, daß der ganze Weizen verdorben und kaum als Viehfutter brauchbar war.

Pennerton aber ließ jetzt die Maske fallen. Als Viktoria zu ihrer Mutter zurückkehren wollte, drohte er ihr rücksichtslos mit einer Anzeige gegen ihre Mutter wegen Beihilfe zum Betrug: Frau Anna Smitson hatte tatsächlich für das gewährte Darlehn Bürgschaft geleistet und angeblich erklärt, sie hätte demnächst eine größere Erbschaft zu erwarten.

„Ich habe dies nie behauptet, Sir Hemmerfolk“, versicherte die weinende Frau Smitson immer wieder. „Nein, Pennerton tat damals so, als handelte es sich bei der Bürgschaft um eine reine Formalität. Erst nachher sah ich ein, mit welch einem Manne wir es zu tun hatten. Er hätte ohne Scheu seine Lügen beschworen, und [47] mein bemitleidenswertes Kind mußte mich schonen und blieb bei ihm …“

Hemmerfolk tat alles, die Ärmste zu trösten und diese qualvolle Szene abzukürzen. „Nur eins möchte ich nun endlich noch wissen“, wandte er sich mit aller Zartheit, an die blasse, sehr matte Frau Vicky, deren Schicksal ihm ehrlich naheging. „Weshalb versuchte Pennerton Sie zu ermorden?! Er war doch noch kurz vorher droben bei dem Juwelier Henson. Wodurch kam es zu dem Streit zwischen Ihnen beiden? Es muß doch ein bestimmter plötzlicher Anlaß dazu vorgelegen haben.“

Vicky zögerte noch etwas. Dann aber raffte sie sich auf und erklärte festen Tones: „Der Anlaß war die Gewölbedecke in meines Mannes kleinem Privatkontor … Neuerdings hatte er sie eigenhändig mit Stoff bespannt. Als er oben bei Mr. Henson war, bemerkte ich zufällig, daß der Stoff sich an einer Stelle nach unten zu bauschte, als läge dort ein schwerer Gegenstand. Da mir nun bereits aufgefallen war, daß Pennerton nachts regelmäßig das elektrische Harmonium dauernd spielen ließ und ich auch Kalkstaub und zerbrochene Mauersteine im Müllkasten gesehen hatte, lockerte ich den Stoff und sah unter[4] der Bespannung ein Loch in der Gewölbedecke. Ein Steinstück, das sich von selbst gelöst und die Bespannung nach unten gedrückt hatte, polterte zu Boden. In demselben Augenblick trat Pennerton ein, – ich stand noch auf dem Tische, sein Gesicht wurde zu einer unheimlichen Fratze wildester Wut, er riß mich herab, stieß mit einem Messer zu, und nur wie durch ein Wunder entkam ich ihm …“

Mit Vickys Selbstbeherrschung war es jetzt vorbei, sie preßte die Hände vor das Gesicht, und Hemmerfolk mußte eilends zuspringen, damit sie nicht aus dem Sessel auf den Teppich glitte. –

Der Mann, der bisher regungslos hinter den schweren [48] Fenstervorhängen gestanden hatte, hielt seine Aufgabe hiermit für erledigt.

Gewiß, es war ein großes Wagnis gewesen, in die Villa des Kommissars einzudringen, aber da auf den frühlingswarmen Apriltag ein sehr nebeliger Abend gefolgt war und da mir unendlich viel daran gelegen gewesen, Hemmerfolk und seine Gäste zu beobachten, hatte ich auch dieses Risiko auf mich genommen, und der Erfolg entsprach vollkommen meinen Erwartungen.

Ich kehrte auf demselben Wege in den nebelerfüllten Garten zurück, – durch das Fenster, das nur angelehnt gewesen, und ebenso unangefochten erreichte ich die Straße, wo in einiger Entfernung eine dunkle Limousine hielt, an deren Steuer ein sehr würdiger, fein livrierter Schofför saß.

„Gott sei Dank, daß du wieder da bist, Olaf“, flüsterte Freund Bick erleichtert aufatmend. „Nun, wie war’s denn? Erfolg gehabt?“

Ich stieg ein, und das Auto rollte der Oxford-Street zu. – Bickfort lauschte begierig. „Also doch“, meinte er. „Pennerton hatte es auf unseren Tresor abgesehen. Der Bursche ist weit schlimmer als ein Bussard, man müßte ihn Aasgeier nennen. Trotzdem, Olaf, – die Hauptfrage bleibt ungeklärt: Wie gedenkt Hemmerfolk durch die Smitsons auf unsere Spur zu kommen?! Er führt doch zweifellos etwas gegen uns im Schilde, einen ganz fein ausgeklügelten Schlag, – – ehrlich gesagt, ich fühle mich beunruhigt, ich habe das unbehagliche Empfinden, als ob wir blindlings in eine Schlinge tappen! Wollen wir das Bürohaus 211 und Rauters Räume im Zeitungspalast nicht doch besser von unserem nächtlichen Programm streichen?“

„Bick“, fragte ich daher geradezu, „weißt du, wer Pennerton in Wahrheit ist?“

Seine Antwort war so recht kennzeichnend für ihn. [49] „An Pennerton liegt mir weit weniger als an seiner Beute, – genau wie dir! Glaubst du, daß wir in 211 etwas ausrichten werden?“

„Ich hoffe …!“

„Dann allerdings bleibt es bei unserem Vorhaben“, erwiderte er nur. –

Gegen elf Uhr, als der Nebel noch dichter geworden, blinkte in der dunklen Hofwohnung Frau Smitsons ein schmaler Lichtstreifen auf und erlosch sofort wieder.

Von dem kleinen Flur gelangte man zuerst in ein Wohnzimmer und dann in die Schlafstube mit einer schrägen Außenwand. Zwei lautlose, schattenhafte Gestalten machten sich in dem Winkel dieser Außenwand nach dem Nachbargebäude zu allerhand zu schaffen. Hier war früher einmal ein kleiner Lastenaufzug eingebaut gewesen, der nachher an anderer Stelle den gesteigerten Ansprüchen entsprechend durch einen umfangreicheren ersetzt worden war. Den alten, einst offenen Schacht in dem Winkel zwischen Vorderhaus und Seitenflügel hatte man durch eine einfache Steinschicht zugemauert, und die eiserne kleine Tür, die in Frau Smitsons Schlafzimmer geführt hatte, war mit Holz verkleidet und übertapeziert worden. Die Wohnung war ja ehemals Pennertons Büro und Lagerraum gewesen.

Die beiden Eindringlinge rückten jetzt ebenso lautlos ein Schränkchen zur Seite. Dann blitzte die Taschenlampe von neuem auf, die der eine vor die Brust gehakt hatte. In der Tapete zeigten sich kaum merkliche Schnitte, – mit einem Male schwang ein Teil der Wand nach innen, und der Schacht wurde sichtbar, in dem aus rohen, verstaubten Brettern in gleicher Höhe mit dem Fußboden eine Plattform festgekeilt worden war.

„Vorsicht!“, mahnte Freund Bick hastig, als ich durch die Tür schlüpfen wollte. „Die Plattform ist von unkundiger Hand errichtet worden, und sie kann auch eine [50] ganz niederträchtige Falltür sein, die uns abstürzen läßt.“

Bicks gutgemeinte Warnung erübrigte sich. Da wir es hier mit Mr. Pennertons zweifelhaften Künsten zu tun hatten, prüfte ich die Plattform erst sehr genau, bevor ich mich auf die Bretter hinauswagte. Trotzdem seilte ich mich für alle Fälle an, und Bickfort behielt die Leine in den Händen.

In dem verräucherten Schacht hatte man noch die Eisenschienen, in denen sich einst der Aufzug bewegt hatte, belassen. Sie waren voller Rost. Spinngewebe bedeckten den Mörtel, fettige Flecken zeigten sich überall, und der dumpfe, muffige Geruch bewies, daß der Schacht auch oben geschlossen war.

Auf der Schachtwand neben der nun geöffneten Eisentür zeichnete sich undeutlich ein Viereck ab: Die bereits von Bick entdeckte zweite Tür, die durch die Brandmauer in Jack Rauters provisorisches Schlafgemach im Bürohaus Nr. 210 mündete. Daß dieser Mauerdurchbruch und diese mit Mörtel bedeckte Holztür ebenfalls Laienarbeit waren, konnte man unschwer erkennen. Trotzdem mußte man staunen, daß der Reporter diese Arbeit überhaupt fertiggebracht hatte, noch mehr darüber, wie geschickt er das ganze nachher durch Spinngewebe, Schmutz und Ofenruß maskiert hatte. Als ich die schmale Holztür nach innen aufdrückte, machte ich noch eine wichtige Feststellung: Dieser ganze Durchschlupf war offenbar jüngsten Datums, jedenfalls erst nach Errichtung der Plattform hergestellt. – Drüben bei Jack Rauter, also bereits in der Wand von Nr. 210, gab es eine ähnliche Holztür, die sich nach außen öffnete. Ich überzeugte mich schnell, daß der Reporter nicht anwesend war, und kehrte auf die Plattform zurück, die mir weit wichtiger als alles andere schien.

Ich hob die Laterne hoch und beleuchtete die Schachtwände [51] weiter oben mit aller Gründlichkeit. Wenn meine so sehr naheliegenden Mutmaßungen stimmten, gab es ja für die Beute des Mäusebussards kein besseres Versteck als diesen Schacht. Dieser Gedanke war mir schon vorher gekommen, und als ich nun herausfand, daß die Eisenschienen des Aufzugs fingerdicke Löcher aufwiesen, die nach oben zu verliefen, und ich auch sah, daß die Löcher fast sämtlich staub- und rostfrei waren, brauchte ich nicht lange nach den Eisenstäben zu suchen, die wie Leitersprossen in diese Löcher hineinpaßten. Eines der Bretter der Plattform ließ sich herausheben, und unter dem Brett hingen vier Stäbe.

Wenige Minuten später hatte ich vier Meter über der Plattform ein äußerst sorgfältig angelegtes Versteck in der Mauer gefunden und warf Freund Bick acht sauber eingewickelte Banknotenbündel zu, die wir dann, jeder vier, unter die Weste knöpften.

Mit Hilfe dieser praktischen Eisenstableiter war es auch leicht, die dritte Tür im Schacht, die in Mr. Edward[5] Bellerts Räume führte, zu entdecken, obwohl sie genau so tadellos wie der Geheimtresor droben angelegt war. Sie existierte zweifellos schon jahrelang.

Bick folgte mir nun, geräuschlos öffnete sich auch die innere Tür, die ein Teil der bis zur Zimmerdecke reichenden Holzverkleidung war, und ich leuchtete in Bellerts Privatbüro hinab. Gerade unter mir stand ein Aktenschrank, der nicht allzu hoch war, und ein ungefährlicher Sprung brachte mich von diesem Schrank auf den dicken Teppich des Zimmers des „nach Schottland“ verreisten Maklers.

Kaum war dann Bickfort neben mir, als sich hinter dem großen Schreibtisch blitzschnell eine Gestalt aufrichtete und uns gleichzeitig die grelle Lichtflut einer Karbidlaterne traf …


[52]
9. Kapitel.
Rauter und der Bussard.

Die Gestalt ließ sich in den Schreibsessel fallen, stützte die Ellbogen auf den Tisch, und die unförmig dicken Mündungen zweier Pistolen glotzten uns heimtückisch entgegen.

Die Karbidlaterne gab soviel Licht, daß wir den Mann sofort erkannten, obwohl er im Schatten saß.

Es war der Bussard, es war Maurice Pennerton[6].

Es war seine heisere, schleimige Stimme, – es war seine Künstlermähne runter dem zerknitterten Schlapphut, seine stets schiefsitzende altmodische, billige Nickelbrille und sein fleckiger Patriarchenbart …

Er war’s – – und so bitter ernst die augenblickliche Lage für uns auch sein mochte, ich mußte doch zu allererst an die unglückliche Vicky Smitson denken, die ihre blühende Jugend und Schönheit diesem Scheusal geopfert hatte.

Es erschien geradezu unvorstellbar, daß Maurice Pennerton jemals irgendwie den für ein Mädchenherz erträglichen Bewerber hatte spielen können. Und doch war es so gewesen. Frau Smitson hatte ja Sir Hemmerfolk gegenüber betont, daß Pennerton vor einem halben Jahr vor der Heirat und vor dem großen Weizen-Schwindel sich in der besten Gesellschaft hätte sehen lassen können und scheinbar ein gebildeter, gediegener Mann von guten Umgangsformen gewesen sei.

„Freut mich, daß Sie so brav gehorchen“, krächzte Pennerton nun, als wir auf seine Aufforderung die Arme hochgestreckt hatten. „Endlich also habe ich zwei von den berühmten „Drei“ erwischt… – Wir wollen [53] die Sache ganz kurz erledigen. Ich gebe zu, daß Ihre Masken wieder so vorzüglich sind, daß ich nicht weiß, wer von Ihnen der „Richter“ und der „Warner“ ist. Der „Henker“ ist nicht dabei, er ist bedeutend kleiner an Gestalt. Trotzdem genügt es mir, wenn Sie beide zugleich für Ihren Freund Sheffield versprechen, mich fernerhin ungeschoren zu lassen. Ihre Belästigungen werden mir unangenehm.“

Ich hatte ganz scharf aufgehorcht, und da die grelle Karbidlampe besonders die Hände Pennertons sehr deutlich erkennen ließ, erwiderte ich mit wohlbegründetem leichten Spott:

„Mr. Rauter, Ihre Fähigkeiten in Ehren, – – aber auch die Nachahmung der Stimme läßt etwas zu wünschen übrig.“

Ich ließ die Arme gemächlich sinken, setzte mich auf den nächsten Stuhl und forderte Freund Bick durch einen Wink auf, gleichfalls Platz zu nehmen.

Jack Rauter hüstelte ärgerlich. Das war alles.

„Mr. Rauter“, fuhr ich weit ernster fort, denn die ganze Sachlage erforderte viel Diplomatie und kaltes Blut, „wir wollen zunächst die eine Frage klären: Ist etwa das Bürogebände hier von Polizei besetzt?“

Der Reporter hatte sich bereits damit abgefunden, daß sein ursprünglicher Plan endgültig gescheitert war. „Meines Wissens nicht, und auf meine Veranlassung erst recht nicht“, entgegnete er ohne Zögern.

„Nun gut, Mr. Rauter, dann kämen wir zum Hauptpunkt … Sie haben ein persönliches Interesse daran, Maurice Pennerton zu schützen. Nicht etwa, daß Sie mit ihm im Bunde stehen. Nein, dieser Verdacht mag wohl flüchtig aufgetaucht sein, aber lediglich als eine notwendige Folgeerscheinung der recht verworrenen Umstände. – Ich möchte diese Dinge nur ganz kurz streifen. Pennerton und der Makler Edward Bellert sind [54] ein und dieselbe Person. Hauptaktionär und einflußreichster Mann am Waterloo-Theater ist Bellert. Bei meinen Ermittlungen stieß ich so zum ersten Male in Verbindung mit dem Waterloo-Theater auf den Namen Bellert. Ihre Detektivkomödie mit den Abänderungen im letzten Akt erschien Bellert des langen Gummischlauches und der Gasflasche wegen gefährlich, – auch noch aus einem anderen Grunde, den Sie sehr gut kennen, Mr. Rauter …“

„Leider!“, nickte der Reporter widerwillig. „Der Gedanke ist mir entsetzlich, daß ein armes, schuldloses und ahnungsloses Wesen mit in all dies Widerwärtige hineingezogen werden soll. Nur deshalb wollte ich Sie, meine Herren, zwingen, Pennertons Verfolgung einzustellen.“

„Das ist unmöglich“, erklärte ich bedauernd, denn ich besaß vollstes Verständnis für Rauters Gemütszustand. „Sie wissen ja, wen Sie vor sich haben: Zwei von der Feme! Und diese Feme ist gerecht und unerbittlich. Pennerton hat unzählige Existenzen vernichtet, hat sechs Leute zum Selbstmord getrieben und nur immer dem häßlichsten Triebe rücksichtslos gehorcht: Der Geldgier! Trotzdem verspreche ich Ihnen, ich, der Richter der Feme der Drei, daß Pennerton so ausgelöscht werden soll, daß niemand jene Schuldlosen, an die Sie denken, als seine Angehörigen scheel ansehen kann. Mit dieser Lösung ist allen Teilen gedient. Wenn Sie dann schweigen, Mr. Rauter, wird die Wahrheit nie an den Tag kommen. – Sind Sie nun zufrieden?“

„Ja, gewiß“, sagte der junge Reporter schnell. „Ich begreife nur nicht, wie Sie …“

„Oh, das lassen Sie nur unsere Sorge sein … Hat Ihnen die Geheimtür aus dem Schacht zu Ihren Zimmer eigentlich viel Mühe gemacht?“, lenkte ich schleunigst auf ein anderes Thema über. „Die Tür ist [55] doch erst nach dem gewissen Abend, bei dem der Gummischlauch eine Rolle spielte, angelegt worden. Sie müssen sehr flink gearbeitet haben, Mr. Rauter, da Ihnen nur die Nachtstunden zur Verfügung standen, wenn das Bürohaus leer war und die Rotationsmaschinen in Nr. 210 den nötigen Lärm erzeugten, Ihre Maurerarbeit zu übertönen und …“

Ich brach mitten im Satze ab. Wir drei horchten erstaunt auf …

Leise und gedämpft erklang vor einem der vergitterten, dicht verhüllten Fenster der weiche Ton einer Ziehharmonika, – nur ein paar Takte: Das Bajazzolied!!

„Rogers Todessang und Alarmsignal!“, flüsterte Bickfort Tomsen. „Die Polizei ist draußen … Man hat uns trotz des Nebels bemerkt, Olaf …! Verschwinden wir in den Schacht, das dürfte am sichersten sein. Mr. Rauter, kommen Sie mit …! – Da – – hören Sie, das sind Polizeipfeifen … Freund Roger hat hoffentlich nicht zu viel gewagt, als er noch seine Operntakte vernehmen ließ …“

Das Privatbüro Mr. Edward Bellerts versank in Finsternis … Ein leises Schnappen noch, – – und dann wurde die Tür bereits aufgerissen, und auf der Schwelle stand Kommissar Hemmerfolk, hinter ihm drei Beamte …

Das Licht flammte auf …

„Leer!“, rief Hemmerfolk bitter enttäuscht. „Und doch war die Feme hier, Inspektor Black! Riechen Sie es, es riecht nach erhitztem Metall einer Laterne und nach Karbid …! Durchsuchen Sie das Zimmer, Black! Die drei können sich doch nicht in Luft ausgelöst haben. Es waren drei … Der dritte schlich soeben erst in den Hof, als wir die Einkreisung bereits vollendet hatten … Vorwärts, – – klopft auch die Holzverkleidung ab …! [56] Sie ist höchst verdächtig … Genau so verdächtig wie dieser Makler Bellert, von dem seine Angestellten so gut wie gar nichts wissen. Ich sagte Ihnen ja gleich, Black, daß die Feme zweifellos der Wohnung Frau Smitsons einen Besuch abstatten würde! – Nur schnell! Vergeßt die Holzverkleidung nicht! Klopft sie bis unter die Decke ab! Wer läßt ein Privatbüro mit so hohem Holzpaneel ohne bestimmte Absicht verkleiden?!“

Und all das hörte ich Wort für Wort durch dasselbe Holz hindurch, während Bick und Rauter bereits auf den Eisenstangen zur Plattform hinabgestiegen waren.

Ich folgte ihnen ohne Übereilung, entfernte die Eisenstangen und sagte zu dem Reporter: „Mr. Rauter, wir müssen uns nun trennen. Es ist für Sie besser, daß Sie unseren Fluchtweg nicht kennen. Sicherlich hat Hemmerfolk auch Nr. 210 besetzt, und etwa durch den Zeitungspalast entrinnen zu wollen wäre zu riskant für uns beide. Leben Sie also wohl, – – und verlassen Sie sich auf mein Versprechen: Der Mäusebussard wird still verschwinden!“

Jack drückte uns fest die Hand. „Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, meine Herren … – Gute Nacht!“

Die Mauertür fiel hinter ihm zu, – wir hörten über uns bereits das laute Pochen und Hämmern der suchenden Beamten, dann hob ich das lose Brett der Plattform heraus, knotete unsere Leine in eine der Lederschlaufen, in denen die Eisenstangen gehangen hatten, und probierte ob die Schlaufe meine Last tragen würde. Sie hielt, und ich rutschte hinab, Bick folgte dann, nachdem er das lose Brett wieder eingefügt hatte, und wir standen nun unten im Schacht in einer Höhe mit dem Pflaster des Hofes, während über uns bereits die Bretter der Plattform unter Schritten dröhnten und [57] Hemmerfolks Stimme frohlockend auf das nicht festgenagelte Brett aufmerksam machte.

„Bick, die Eisenstangen …!!“, flüsterte ich. „Wir müssen die Mauer einstoßen … Sie ist nur einen Stein stark, und …“

Ein nur zu wohlbekanntes galliges Lachen folgte, und zu unseren Füßen erschien ein Kopf mit einer Schofförmütze, und Roger Sheffield sagte gedämpft: „Ich habe vorgesorgt, wie ihr seht! Ich dachte mir schon, daß ihr den Schacht benutzen würdet. Mitunter habe ich gar keine so üblen Gedanken … Bückt euch nur und kriecht ins Freie … Der Nebel ist dick wie Brei, und Hemmerfolks Garde klettert jetzt, verlockt durch mein Bajazzolied, auf dem Dache umher … Diese Detektive begehen doch stets denselben Fehler: Blinder Eifer schadet nur!“ –

Sir Hemmerfolk gab nach einer Stunde die Razzia als aussichtslos auf.

Gegen ein Uhr morgens bewegten sich plötzlich aus dem Hofe von 211 die Deckel dreier mit Holzwolle gefüllter Packkisten, die zu einem großen Stapel gehörten, und Freund Bick, der stets auf[7] Sauberkeit hielt, holte seine flache Taschenbürste hervor und meinte in seiner heiteren, humorvollen Art: „In meiner Kiste muß ein Wanzenmittel verpackt gewesen sein, die Holzwolle stank fürchterlich!“

„Genau wie der verdorbene Weizen“, ergänzte der Henker bissig. „Jener Weizen, den die Regierung aus Kalifornien in Unmengen aufkaufte, um den Brotpreis herabsetzen zu können.“

Wir gelangten dann glücklich auf die Straße, fanden unsere Limousine und kehrten nach Norwood zurück.

Unser unfreiwilliger Gast Mr. Joe Skrup nahm es gewaltig übel, als er so mitten im schönsten Schlaf gestört und mit verbundenen Augen fortgeschafft wurde. [58] Bick setzte ihn irgendwo in der Nähe der Docks ab und drückte ihm noch eine Fünfzigpfundnote in die Hand … „Bleiben Sie fernerhin ehrlich, Skrup, sonst kommen Sie vor die Feme!“

„Gemacht, Punktum!“, meinte Joe lachend. „Ich werde jetzt Journalist! Sie werden staunen!!“

Er fuhr sofort in einer Taxe zum „Volksblatt“, fand Jack Rauter dort in etwas hitzigem Gespräch mit Sir Hemmerfolk vor und meinte großartig: „Mr. Rauter, ich bringe Ihnen Stoff für einen famosen Artikel:

„In der Gewalt der Drei von der Feme
bei allerbester Verpflegung und Behandlung.“

Was zahlen Sie, Mr. Rauter?“

Hemmerfolk packte Joe bei den Schultern. „Hundert Pfund, – wo wurden Sie gefangengehalten, Skrup?“

„Keinen Schimmer, – – ich schwöre es Ihnen, – keinen Schimmer!! Aber einen Whisky und eine Zigarrensorte gab es da, – – zum Fingerlecken!“

Gleich darauf tippte Jack noch für die Morgenausgabe im Galopptempo einen Artikel herunter, der dem fetten Joe weitere zehn Pfund einbrachte.

Hemmerfolk war in übelster Laune heimgefahren, denn Jack Rauter behauptete frech und gottesfürchtig, von der Geheimtür zu seinen Räumen keine Ahnung gehabt zu haben.

Jack konnte nicht nur aufrichtig lieben, sondern auch sehr unaufrichtig lügen.

Und er liebte wirklich. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und dazu war er noch eine geradezu glänzende Partie, denn beim vorjährigen Sommerurlaub hatte er, der sonst nie spielte, die Bank von Monte Carlo ganz gehörig geschröpft.


[59]
10. Kapitel.
Wie der Bussard verschwand.

Im Privatbüro von Mr. Henson, Juwelier, saßen gegen vier Uhr morgens drei Herren in gedämpften Gespräch beieinander, tranken Mokka, rauchten und machten sehr ernste Gesichter.

Unsere Beratung drehte sich um die Bestrafung Maurice Pennertons. Mein Vorschlag fand allgemeine Billigung, und nachdem Bick sich entfernt hatte, gingen mein Gehilfe Daniel und ich zu Bett. Nur etwas vergaß ich nicht: Ich goß noch Milch in eine Schale, öffnete vorsichtig den Tresor und schob die Schale mit Milch schnell hinein und drückte die Panzertür mit dem Kombinationsschloß wieder zu. Die acht Päckchen Banknoten, die Bick und ich aus dem Schacht mitgebracht hatten, waren bereits nach einer langen Liste verteilt und in Umschläge getan worden. Bickfort würde diese Briefe morgen befördern, und abends würde es dann in London zahllose Glückliche geben, die vielleicht ahnen würden, woher dieser Banknotensegen käme – – vielleicht.

Abends nach Geschäftsschluß und nach der letzten Postbestellung fanden sich bei Mr. Henson im Laden die strahlende Marie Ann und ihr Vater ein, und Marie Ann konnte mir gar nicht schnell genug von dem soeben eingetroffenen Wertbrief erzählen … „Denken Sie, Mr. Henson, – – dreitausend Pfund!! Ein Vermögen! Nun sind Vater und ich alle Sorgen los!“

Ich bat meine Besucher in mein Privatbüro, Daniel mußte uns ein reichhaltiges kaltes Abendessen servieren und selbst mit am Tische Platz nehmen, und dann [60] rückte ich mit meinem Anliegen an den etwas schweigsamen Walker heraus.

„Mr. Walker, mir sind heute von einem Landedelmann Juwelen zum Kauf schriftlich angeboten worden, und Forbing und ich müssen den Neun-Uhr-Abendzug nach Margate benutzen. Im Vertrauen teile ich Ihnen mit, daß der flüchtige Pennerton von unten her meinen Tresor hat anbohren wollen. Die Polizei hat mich gewarnt. Ich möchte Sie nun bitten, diese Nacht hier auf dem Sofa zu schlafen und den Tresor zu bewachen. Ich hätte ja auch einen Detektiv engagieren können, aber die Leute sind mir nicht zuverlässig genug. Ich lasse Ihnen meine Pistole hier, und ich will Sie für Ihre Mühe gern bezahlen. Daniel und ich werden auch am frühen Morgen wieder zurück sein, und irgend eine Gefahr ist kaum mit Ihrer Wache verknüpft, – das sage ich zu Ihrer Beruhigung, Miß Marie Ann …

Nur noch etwas, Mr. Walker … Es wäre ja immerhin möglich, daß der vielseitige und rührige Pennerton den Versuch unternähme, den Tresor von unten zu sprengen. Sollten Sie etwas Verdächtiges bemerken, so rufen Sie sofort die nahe Polizeiwache an. Im strengsten Vertrauen teile ich Ihnen auch mit, daß das Buchstabenschloß des Tresors auf Ihren Namen eingestellt ist, also W A L K E R, und den Schlüssel übergebe ich Ihnen hiermit zu treuen Händen …“

Um halb neun fuhren Daniel und ich in einer Taxe mit zwei Koffern davon. Wir wußten, daß wir den Laden nie mehr betreten würden. Alles Wertvolle hatten wir mitgenommen. Auf Umwegen landeten wir schließlich in anderer Gestalt einzeln in unserer Albermarle-Street.

James Walker trat seinen Wachtdienst um neun Uhr an. Marie Ann blieb oben in der Mansarde.

Walker machte es sich bequem, zündete eine Zigarre [61] an und saß wohl zwei Stunden fast regungslos im Sessel und starrte den Tresor an.

Mancherlei Gedanken gingen dem einsamen Manne durch den Kopf. Wenn er sein Leben überdachte, stieß er auf seinem Daseinpfade auf viele, viele dunkle Stellen. Aber das Gefühl der Reue war ihm fremd. Seine selbstsüchtigen Gedanken kreisten nur immer um den einen Punkt, um das Erlebnis des heutigen Vormittags, um diese grausame Enttäuschung, als er Makler Bellerts Büro von der Polizei besetzt gefunden und dann in aller Heimlichkeit eine Entdeckung gemacht hatte, auf die er halb und halb vorbereitet gewesen war.

Seine Zigarre war längst erloschen. Als irgendwo eine Turmuhr elf schlug, schreckte er hoch, stellte die mitgebrachte große Reisetasche offen auf den Tisch und schritt auf den Tresor zu, fingerte an dem Schloß herum, und die Panzertür schwang auf. Die oberen Fächer standen offen und waren leer, unten lagen Geschäftsbücher und eine Zinkkassette, und davor stand eine Schale mit einem Rest Milch. Als er die Hand nach der Kassette ausstreckte, schnellte etwas wie eine stählerne Feder mit zwei blinkenden Punkten an der stumpfen Spitze vorwärts, und Walker taumelte mit einem schrillen Schrei zurück. Fast gleichzeitig ertönte vor dem Fenster leise und doch klar in jedem Akkord Harmonikaspiel: Die ersten Takte des Bajazzoliedes!

Walker, von Grauen und Todesfurcht gepackt, wollte hinausstürmen. Die Kräfte versagten ihm … –

Fünf Minuten später erschien im Privatbüro eine eilige Gestalt, nahm Walkers Tasche an sich und entfernte sich ebenso schnell.

Etwa um dieselbe Zeit erhielten Hemmerfolk und Rauter je einen der bekannten gelblichen Briefe zugestellt.

Rauters Benachrichtigung lautete:

[62] „Kümmern Sie sich sofort um Marie Ann Walker, die einen treuen Freund dringend braucht. Der Warner.“

Der Brief an den Kommissar war länger.

„Sir Hemmerfolk, wir müssen Ihnen mitteilen, daß sich soeben in dem von uns eingerichteten Juweliergeschäft von Henson, Western-Road 31, ein bedauerlicher Unglücksfall ereignet hat. Wir hatten Mr. Walker gebeten, die Nacht über den Tresor zu bewachen. Offenbar hatte nun der flüchtige Pennerton-Bellert irgendwie in den Tresor eine indische Peitschenschlange eingeschmuggelt, durch deren Biß Mr. Walker gestorben ist. Wir haben Pennerton inzwischen bestraft und er wird nie wieder auftauchen. – Die Drei von der Feme.“

Hemmerfolks Dienstauto jagte mit fünf Beamten gen West-Norwood. Sie fanden die Tür des Juweliergeschäftes nur eingeklinkt und im Privatbüro neben dem offenen Tresor die Leiche Walkers, auf dessen Brust sich die Peitschenschlage eng zusammengeringelt hatte. –

Zu derselben Stunde saßen in meinem Arbeitszimmer Albemarle-Street 17 wir drei wieder einmal in der sogenannten Beratungsecke, und vor uns lag der Inhalt der Reisetasche Walkers ausgebreitet auf dem Tische: Ein Paß und Papiere auf einen anderen Namen, 3000 Pfund in Banknoten, ein Anzug, Wäsche, Perücken, Bärte, Schminken und anderes.

„Meine Freunde“, sagte ich ernst, „Walker war zweifellos einer der ärgsten Verbrecher, die es je fertigbrachten, gleichzeitig mehrere Rollen zu spielen. Der erste Verdacht gegen ihn tauchte in mir auf, als er zum Schein Selbstmord verüben wollte. Der lange Gummischlauch, den er von außen in die Küche schob, wobei ihn Rauter beobachtete, diente ihm dazu, durch den Schlauch zu atmen. Die Stahlflasche mit dem Giftgas hatte er ebenfalls nur zum Schein unter das Fenster gestellt. Rauter hat das alles durchschaut und Walker [63] durch die Detektivkomödie warnen wollen. – Ich bin überzeugt, daß Walker mich als einen der drei erkannt hatte und daß er den Selbstmord nur vortäuschte, um jeden Verdacht von sich abzuwenden. – Er hat den Tod verdient, er wollte den Tresor plündern und fliehen und auch die 3000 Pfund mitnehmen, die Bick ihm zugesandt hatte. Nachdem er sein Geldversteck im Schacht leer gefunden hatte, gab er alles verloren. Daß er Vicky, seine zweite Frau, die ihn nur als Pennerton kannte, vom Fenster des Bürogebäudes aus mit einer Luftpistole mit zweifellos vergifteten Bolzen bei ihrer Rückkehr erschießen wollte, verhinderte ich durch das laute Zuschlagen der Tür. Niemand wird erfahren, daß Walker, Pennerton, Bellert und sicherlich noch andere Gestalten mit anderen Namen ein und dieselbe Person waren. Außer uns kennt nur noch Rauter die volle Wahrheit, und er liebt Marie Ann und wird schweigen. Ich denke, wir gehen nun zu Bett, die letzten Tage waren recht anstrengend.“

Die Abendzeitungen des nächsten Tages brachten ganz eingehende Artikel über Walkers Tod und über „Pennertons“ endgültiges Verschwinden und die Mitarbeit der Feme der Drei. Besonders im Volksblatt hatte Jack Rauter sich wärmstens für die Feme eingesetzt und darauf hingewiesen, daß die zahllosen Geldbriefe, die anonym so und so vielen in Not geratener Familien zugegangen seien, zweifellos die Beute Pennertons darstellten, die von der Feme gerecht verteilt worden.

Als bald darauf in aller Stille in der Kirche von Norwood Marie Ann und Jack getraut wurden, saßen zwischen den zahlreichen Neugierigen drei unauffällige Herren und verschwanden nachher genau so unbemerkt, wie sie gekommen waren.

Unter den Hochzeitsgästen befanden sich auch Sir William, Vicky und Frau Smitson, und es freute uns [64] herzlich, daß auch Vicky inzwischen wieder zu früherer jugendfrischer Schönheit aufgeblüht war und das Hemmerfolk nicht von ihrer Seite wich.

Auf der kleinen Hochzeitstafel des jungen Paares stand unter anderem ein wundervoller Rosenstrauß, an dem mit Golddraht eine kunstvoll geschmiedete Brosche in Form einer 3, mit Brillanten besetzt, hing.

Eine Woche vorher war übrigens ein höherer Regierungsbeamter beim Säubern seiner Pistole tödlich durch einen Schuß verunglückt, niemand machte davon viel Aufhebens. Wir drei ahnten, daß Hemmerfolk doch wahrscheinlich auch seinerseits die tieferen Zusammenhänge durchschaut hatte und dem hohen Herrn einen Wink gegeben hatte, rechtzeitig seine Verfehlungen zu sühnen. –

Das eigenartige Leben, das wir drei führten, und unser geheimnisvolles Wirken fand seine Fortsetzung in einem ganz anders gearteten Fall.

Die Zeitungen betitelten ihn:



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