Die Waffen nieder!/Drittes Buch
[189] Wir blieben noch vierzehn Tage in Wien. Es war aber keine fröhliche Urlaubszeit für mich. Dieses fatale „Krieg in Sicht“, welches nunmehr alle Zeitungen und alle Gespräche ausfüllte, benahm mir jede Lebensfreudigkeit. So oft mir etwas von den Dingen einfiel, aus welchen mein Glück zusammengesetzt war – vor allem der Besitz des[WS 1] mir täglich teurer werdenden Gatten, – so oft mußte ich auch an die Unsicherheit denken, an die unmittelbare Gefahr, welche der in Aussicht stehende Krieg über mein Glück verhängte. Ich konnte desselben, wie man zu sagen pflegt, „nicht froh werden.“ Der Zufälligkeiten von Krankheit und Tod, von Feuersbrunst und Überschwemmungen – kurz, der Natur- und Elementardrohungen giebt es genug; aber man hat sich gewöhnt, nicht mehr daran zu denken, und lebt trotz dieser Gefahren in einem gewissen Stabilitätsbewußtsein. Doch wozu haben die Menschen sich auch noch willkürlich selbst verhängte Gefahren geschaffen, und so den ohnehin vulkanischen Boden, auf den ihr Erdenglück gebaut ist, noch eigenmächtig und mutwillig in künstliches Schwanken versetzt! Zwar haben sich die Leute daran gewöhnt, auch den Krieg als Naturereignis zu betrachten und ihn als vertragsaufhebend in [190] einer Linie mit Erdbeben und Wassernot zu nennen – daher auch so wenig als möglich daran zu denken. Aber ich konnte mich in diese Auffassung nicht mehr finden. Jene Frage: „Muß es denn sein?“ von welcher einst Friedrich gesprochen, die hatte ich mir mit Bezug auf den Krieg oft mit „nein“ beantwortet; und statt Resignation empfand ich dann Schmerz und Groll – ich hätte ihnen allen zurufen wollen: „Thut es nicht! – thut es nicht!“ Dieses Schleswig-Holstein und die dänische Verfassung – was ging denn das uns an? Ob der „Protokoll-Prinz“ die Grundgesetze vom 13. November 1863 aufhob oder bestätigte – was war denn das uns? Aber da waren alle Blätter und Gespräche nur immer voll von Erörterungen über diese Frage, als wäre das das Wichtigste, Entscheidendste, Weltumwälzendste, was sich denken läßt, sodaß die Frage: „Sollen unsere Männer und Söhne totgeschlagen werden oder nicht?“ daneben gar nicht aufkommen durfte. Nur einigermaßen versöhnen, wenn mir nämlich der Begriff „Pflicht“ so recht vor die Seele trat. Nun ja: – wir gehörten zum deutschen Bunde und mit den verbündeten deutschen Brüdern im Verein mußten wir für die Rechte unterdrückter deutscher Brüder kämpfen. Das Nationalitätsprinzip war vielleicht doch etwas, das mit elementarer Kraft Bethätigung erheischte – von diesem Standpunkte aus also mußte es sein … Beim Anklammern an diese Idee ließ der schmerzliche Groll in meiner Seele ein wenig nach. Hätte ich voraussehen können, wie zwei Jahre später diese ganze deutsche Verbrüderung in bitterste Feindschaft sich auflösen sollte; wie dann [191] der Preußenhaß in Österreich noch viel wütender angefacht würde, als jetzt der Dänenhaß – so hätte ich damals schon erkannt, wie ich das seither erkennen gelernt, daß die Motive, die als Rechtfertigung der Feindseligkeiten angeführt werden, nichts als Phrasen sind, Phrasen und Vorwände.
Den Sylvesterabend verbrachten wir wieder im Hause meines Vaters. Mit dem Schlage zwölf erhob dieser sein Punschglas:
„Möge der Feldzug, welcher uns in dem neugeborenen Jahre bevorsteht, ein für unsere Waffen glorreicher werden“ – sprach er feierlich; – ich stellte mein schon erhobenes Glas auf den Tisch zurück – „und mögen unsere Lieben uns erhalten bleiben!“ beschloß er.
Jetzt erst that ich Bescheid.
„Warum hast Du bei der ersten Hälfte meines Toastes nicht angestoßen, Martha?“
„Weil ich von einem Feldzug nichts anderes wünschen kann, als daß er – unterbleibe.“
Als wir ins Hotel und in unser Schlafzimmer zurückgekehrt waren, warf ich mich Friedrich um den Hals.
„Mein Einziger! Friedrich! Friedrich!!“
Er drückte mich sanft an sich:
„Was hast Du, Martha? Du weinst … heute in der Neujahrsnacht? Warum denn das junge 1864 mit Thränen einweihen, mein Liebling? Bist Du denn nicht glücklich? Habe ich Dich irgendwie gekränkt?“
„Du? O nein, nein, – nur zu glücklich machst [192] Du mich, viel zu glücklich – und deshalb ist mir bang.“
„Abergläubisch, meine Martha? Stellst Du Dir auch neidische Götter vor, welche zu schönes Menschenglück zerstören?“
„Nicht die Götter – die unsinnigen Menschen selber beschwören das Unglück auf sich herab.“
„Du spielst auf den möglichen Krieg an? Es ist ja noch nichts entschieden, wozu denn der frühzeitige Kummer? Wer weiß, ob es zum Kampfe kommt, wer weiß, ob ich mitgehen muß? … Komm her, mein Liebling, setzen wir uns“ – er zog mich neben sich auf das Sofa – „verschwende Deine Thränen nicht an eine bloße Möglichkeit.“
„Schon die Möglichkeit ist mir schmerzlich. Wäre es Gewißheit, Friedrich, ich würde nicht sanft und still an Deiner Schulter weinen – ich müßte laut aufschreien und aufjammern … Aber die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit, daß in dem anbrechenden Jahre Du mir durch Armeebefehl aus den Armen gerissen würdest – die genügt schon, mich in Bangen und Trauer zu versetzen.“
„Bedenke, Martha, Du gehst ja auch selber einer Gefahr entgegen – wie mir dies Dein Weihnachtsgeschenk so lieb verkündet hat – und doch denken wir beide nicht an die grause Möglichkeit, die jeder Frau im Wochenbette beinahe ebenso häufig droht, wie jedem Manne auf dem Schlachtfelde … Freuen wir uns des Lebens und denken wir nicht an den über unser aller Häupter schwebenden Tod.“
[193] „Du sprichst ja wie Tante Marie, Liebster – als ob unser Loos nur von der „Bestimmung“ abhinge und nicht von den Unvorsichtigkeiten, Grausamkeiten, Wildheiten und Dummheiten unserer eigenen Mitmenschen. Wo liegt die unabwendbare Notwendigkeit dieses Krieges mit Dänemark?“
„Noch ist derselbe nicht ausgebrochen, noch –“
„Ich weiß, ich weiß: – noch können Zufälligkeiten das Übel verhüten. Aber nicht der Zufall, nicht politische Ränke und Launen sollten über eine solche Schicksalsfrage entscheiden, sondern der feste, aufrichtige Wille der Menschen. Doch was nützt mein „es sollte nicht“ und „es sollte“ – ich kann die Ordnung der Dinge nicht ändern, nur darüber klagen. Aber darin hilf mir, Friedrich – versuche nicht, mit den landläufigen leeren Ausflüchten mich zu trösten! Du glaubst selber nicht daran – Du selbst erbebst vor edlem Widerwillen … Nur darin finde ich Genugthuung, wenn Du mit mir verdammst und beklagst, was mich und unzählige Andere so unglücklich machen soll.“
„Ja, mein Herz, wenn es hereinbricht, das Verhängnis, dann will ich Dir recht geben; dann will ich Dir den Schauder und den Haß nicht verhehlen, den mir der anbefohlene Völkermord einflößt … Aber heute laß uns noch des Lebens froh sein … Wir haben einander ja – nichts trennt uns … nicht die geringste Schranke zwischen unseren Seelen! Laß uns dieses Glück genießen – so lange es unser ist – mit Inbrunst genießen … Denken wir nicht an die angedrohte Zerstörung desselben … Ewig kann ja keine Freude [194] dauern. In hundert Jahren ist’s doch einerlei, ob wir lang oder ob wir kurz gelebt. Auf die Zahl der schönen Tage kommt es schließlich nicht an, sondern auf den Grad ihrer Schönheit. Die Zukunft bringe was sie wolle, mein vielgeliebtes Weib – unsere Gegenwart ist so schön, so schön, daß ich jetzt nichts fühlen mag, als seliges Entzücken.“
Während er so sprach, schlang er seinen Arm um mich und küßte mein an seiner Brust ruhendes Haupt. Da schwand auch mir die drohende Zukunft aus dem Bewußtsein und auch ich versenkte mich in den süßen Frieden des Augenblickes.
Am 10. Januar kehrten wir nach Olmütz zurück.
Niemand zweifelte mehr an dem Ausbruch des Krieges. In Wien hatte ich noch vereinzelte Stimmen vernommen, welche meinten, daß die dänisch-holsteinische Frage vielleicht doch noch auf diplomatischem Wege beigelegt werden könne; aber in den militärischen Kreisen unserer Festungsbesatzung galt die Friedensmöglichkeit für ausgeschlossen. Unter den Offizieren und ihren Frauen herrschte eine aufgeregte, aber zumeist freudig aufgeregte Stimmung: Gelegenheit zu Auszeichnung und Avancement in Sicht – zur Befriedigung des Thatendurstes des einen, des Ehrgeizes des zweiten, des Gage-Erhöhungsbedürfnisses des dritten.
„Das ist ein famoser Krieg, der sich da vorbereitet,“ sagte der Oberst, bei dem wir nebst mehreren [195] anderen Offizieren samt Gemahlinnen zu Tische geladen waren, „ein famoser Krieg, der auch ungeheuer populär sein wird. Keine Gefahr für unser Territorium – auch der Landbevölkerung erwächst kein Schaden, denn der Kriegsschauplatz liegt auf fremdem Gebiet. Unter solchen Umständen ist es wirklich eine doppelte Lust sich zu schlagen.“
„Was mich daran begeistert,“ sagte ein junger Oberlieutenant, „ist das edle Motiv: unterdrückte Rechte unserer Brüder verteidigen. Daß die Preußen mit uns gehen, oder vielmehr wir mit ihnen, das sichert erstens den Sieg und zweitens wird es die nationalen Bande noch enger verknüpfen. Die Nationalitätsidee –“
„Reden Sie lieber nichts von der,“ unterbrach der Regimentschef etwas strenge. „Für einen Österreicher schickt sich dieser Schwindel nicht wohl. Der war’s, der uns den 59er Krieg heraufbeschworen hat, denn auf diesem Steckenpferd, „ein italienisches Italien“, ist ja Louis Napoleon stets herumgeritten. Und überhaupt paßt dieses ganze Prinzip nicht für Österreich; Böhmen, Ungarn, Deutsche, Kroaten – wo ist da das Nationalitätsband? Wir kennen nur ein Prinzip, das uns vereint, das ist die loyale Liebe zu unserer Dynastie. Was uns also begeistern soll, wenn wir zu Felde ziehen, ist nicht der Umstand, daß wir für Deutsche und mit Deutschen kämpfen, sondern daß wir unserem erhabenen und geliebten Kriegsherrn Heeresfolge leisten dürfen. Es lebe der Kaiser!“
Alle erhoben sich und thaten stehend Bescheid. Ein Funken Begeisterung fiel auch mir ins Herz und [196] erfüllte es – einen Augenblick aufflammend – mit wohlthuender Wärme. Eine und dieselbe Sache, eine und dieselbe Person lieben, wenn man Tausend ist, das gibt eine eigentümliche, vertausendfachte Hingebungslust … Das ist’s, was als Loyalität, als Patriotismus, als Korpsgeist die Herzen schwellt. Es ist nichts anderes als Liebe, und die wirkt so mächtig, daß einem das in ihrem Namen gebotene Werk des Hasses – das allerscheußlichste Werk des tödlichsten Hasses, der Krieg – als erfüllte Liebespflicht erscheint.
Aber nur einen Augenblick hatte es in meinem Herzen so geglüht, denn eine stärkere Liebe als die zu allen erdenklichen Vaterländern und Landesvätern ruhte in dessen Grunde – die Liebe zu meinem Mann. Sein Leben war mir doch das höchste aller Güter, und wenn dieses aufs Spiel gesetzt werden sollte, konnte ich die Partie – gelte es nun Schleswig-Holstein oder Japan – nur verwünschen.
Die jetzt folgende Zeit lebte ich in unerhörtem Bangen. Am 16. Januar stellten die Bundesmächte an Dänemark das Ansinnen, ein gewisses Gesetz, gegen welches die holsteinische Ständeversammlung und Ritterschaft den Schutz des Bundes anrief, aufzuheben, und zwar innerhalb vierundzwanzig Stunden. Dänemark verweigerte dies. Wer wird auch so sich befehlen lassen? Diese Weigerung war natürlich vorausgesehen worden, denn schon standen preußische und österreichische Truppen an den Grenzen postiert, und am 1. Februar überschritten sie die Eider.
So waren denn die blutigen Würfel wieder gefallen [197] – die Partie begann. Dies veranlaßte meinen Vater einen Gratulationsbrief an uns zu richten.
„Freut Euch, Kinder,“ schrieb er. „[WS 2]Jetzt haben wir doch Gelegenheit, die erhaltenen Schläge von 59 wieder gut zu machen, indem wir den Dänen Schläge geben. Wenn wir von Norden siegreich heimkehren, so können wir uns auch wieder nach Süden wenden: die Preußen bleiben unsere Alliirten, und dann können uns die schäbigen Italiener samt ihrem intriganten Louis Napoleon nicht mehr aufkommen.“
Friedrichs Regiment, zur großen Enttäuschung des Obersten und des Offizierkorps, war nicht zur Grenze entsendet worden. Dies brachte uns ein väterliches Kondolenzschreiben ein:
„Ich bedaure aufrichtig, daß Tilling das Pech hat, gerade bei einem Regiment zu dienen, welches nicht berufen war, den so glorreich sich anlassenden Feldzug zu eröffnen; übrigens besteht ja immer noch die Möglichkeit, daß es zum Nachrücken bestimmt werde, Martha wird der Sache freilich die gute Seite abgewinnen und sich freuen, daß ihr die Angst um den geliebten Mann erspart bleibt, und auch Friedrich ist eingestandenermaßen selber kein Freund des Krieges; aber ich denke, er ist nur im Prinzip dagegen, das heißt: es wäre ihm aus sogenannten ‚humanitären‘ Gründen lieber, wenn es zu keiner Schlacht käme; ist es aber einmal dazu gekommen, so wollte er wohl auch lieber dabei sein, da regt sich wohl die männliche Kampfeslust. Es sollte wirklich immer die ganze Armee gegen den Feind geschickt werden; in solchen [198] Zeiten zu Hause bleiben zu müssen, ist für den Soldaten doch gar zu hart.“
„Trifft es Dich hart, mein Friedrich, bei mir zu bleiben?“ fragte ich, nachdem ich den Brief gelesen.
Er drückte mich an sein Herz. Diese stumme Antwort genügte mir.
Aber was half’s? Um meine Ruhe war es doch geschehen. Jeden Tag konnte der Marschbefehl kommen. Würde der unselige Krieg nur schnell zu Ende geführt! … Mit größtem Eifer las ich in den Zeitungen die Berichte vom Kriegsschauplatz und wünschte heiß, daß die Verbündeten rasche und entscheidende Siege erföchten. Ich gestehe es, der Wunsch war nicht vor allem ein patriotischer. Lieber war es mir immerhin, wenn der Sieg auf unserer Seite blieb; aber was ich von diesem erhoffte, war die Beendigung des Kampfes, ehe mein Alles in der Welt dahin entsendet werde, in zweiter Linie erst der Triumph meiner Landsleute und in allerletzter Linie die Interessen des „meerumschlungenen“ Stück Landes. Ob nun Schleswig zu Dänemark gehörte, oder nicht, was in aller Welt konnte mich das anfechten? Und schließlich – was focht es die Dänen und die Schleswig-Holsteiner selber an? Sahen denn die beiden Völker nicht ein, daß es nur ihre Lenker waren, welche um Land- und Machtbesitz sich stritten, daß es in diesem Falle zum Beispiel nicht um ihr Wohl und Wehe, sondern um die Gelüste des Protokoll-Prinzen und des Augustenburgers sich handelte? Wenn mehrere Hunde um ein paar Knochen sich raufen, [199] so zerfleischen einander doch nur die Hunde; in der Völkergeschichte sind es aber meist die dummen Knochen selber, welche auf einander losschlagen und sich gegenseitig zertrümmern, um für die Rechte der sie begehrenden Streiter zu kämpfen. „Mich will Azor haben“ – und „Auf mich hat Pluto Anspruch“ – „Ich protestiere gegen Karo’s Fänge“ und „Ich rechne es mir zur Ehre, von Minka gefressen zu werden,“ sagen die Knochen. „Dänemark bis zur Eider,“ riefen die dänischen Patrioten. „Wir wollen Friedrich von Augustenburg zum Herzog,“ riefen die Loyalen von Holstein. Unsere Zeitungsartikel und Gespräche unserer Kannegießer waren natürlich alle von dem Grundsatz durchdrungen, daß die Sache für welche „Wir“ eingetreten, die gerechtere, die einzig „historisch entwickelte“, die einzig für Erhaltung des „europäischen Gleichgewichts“ erforderliche war. Natürlich wurde in den Leitartikeln und den politischen Unterhaltungen in Kopenhagen das gegenteilige Prinzip mit gleichem Nachdruck verfochten. Warum nicht gegenseitig die Rechte abwägen, um sich zu verständigen, und wenn dies nicht gelingt, eine dritte Macht zum Schiedsrichter machen? Warum nur immer beiderseitig schreien. „Ich – ich bin im Rechte.“ So gar gegen die eigene Überzeugung schreien, so lange, bis man sich heiser geschrien, und losschlägt – die Entscheidung der Gewalt überlassend? Ist das nicht Wildheit? Und wenn nun eine dritte Macht sich in den Streit mischt, so thut auch sie es nicht mit Rechtserwägung und Urteilsspruch, sondern gleichfalls mit Dreinschlagen? … Und das nennen die Leute „äußere [200] Politik?“ Äußere und innere Rohheit ist es – staatskluge Schildbürgerei – internationale Barbarei – – –
Mit solcher Bestimmtheit faßte ich wohl damals die Ereignisse noch nicht in diesem Lichte auf. Nur momentan erwachten mir derlei Zweifel, und dann gab ich mir Mühe, dieselben zu verscheuchen. Ich versuchte, mir einzureden, daß das geheimnisvolle Ding „Staatsraison“ genannt, ein über alle Privat- und namentlich über meine kleine Vernunft erhabenes, das Leben der Staaten bedingendes Prinzip sei, und eifrig studierte ich in der Geschichte Schleswig-Holsteins nach, um einen Begriff von dem „historischen Recht“ zu erlangen, zu dessen Wahrung der gegenwärtige Prozeß geführt ward.
Da fand ich denn, daß der fragliche Landstrich schon im Jahre 1027 an Dänemark abgetreten worden war. Also haben eigentlich die Dänen recht; sie sind die legitimen Könige des Landes …
Nun aber, zweihundert Jahre später, wird das Land einer jüngeren Linie des Königshauses zugeteilt und gilt nur noch als ein dänisches Fahnenlehen. 1326 wird Schleswig dem Grafen Gerhard von Holstein überlassen und die „Waldemarsche Konstitution“[WS 3] verbrieft, daß „es nie wieder mit Dänemark so verbunden werden soll, daß ein Herr sei.“ Ah so, dann ist das Recht doch auf Seite der Verbündeten: wir kämpfen für die „Waldemarsche Konstitution“. Das ist wohl [201] in der Ordnung, denn wozu wären denn verbriefte Zusicherungen, wenn man sie nicht aufrecht erhielte?
Im Jahre 1448 wird die Waldemarsche Konstitution nochmals durch König Christian I. bestätigt. Also kein Zweifel; nie soll und darf wieder „Ein Herr sein“. Was wollte da der Protokoll-Prinz?
Zwölf Jahre später stirbt der Herrscher von Schleswig kinderlos und die Landstände versammeln sich zu Ripen (gut, daß man immer so genau weiß, wann und wo sich Landstände versammelten: es war also 1460 zu Ripen) und proklamieren den dänischen König zum Herzog von Schleswig, wogegen er ihnen verspricht, daß die Lande „ewig zusammenbleiben sollen – ungeteilt“. Das macht mich wieder ein wenig konfus. Der einzige Anhaltspunkt ist noch das „ewig zusammenbleiben“.
Aber die Verwirrung nimmt im weiteren Verlauf dieses historischen Studiums fortwährend zu, denn jetzt beginnt, trotz der Formel:[WS 4] „ewig ungeteilt“ (das Wort „ewig“ spielt in politischen Verträgen überhaupt eine niedliche Rolle) ein ewiges Spalten und Teilen des Besitzes zwischen den Söhnen des Königs und Wiedervereinen unter einem nächsten König und Gründen neuer Linien – Holstein-Gottorp und Schleswig-Sonderburg – welche sich unter gegenseitigen Verschiebungen und Abtretungen der Anteile abermals spalteten in die Linien Sonderburg-Augustenburg, Beck-Glücksburg, Sonderburg-Glücksburg, Holstein-Glückstadt, – kurz, ich kenne mich gar nicht mehr aus.
Aber nur weiter. Vielleicht begründet sich das [202] historische Recht, um welches heute unsere Landessöhne bluten müssen, erst später.
Christian IV. mischt sich in den dreißigjährigen Krieg und die Kaiserlichen und Schweden fallen in die Herzogtümer ein. Jetzt wird wieder (zu Kopenhagen, 1658) ein Vertrag gemacht, worin dem Hause Holstein-Gottorp die Oberherrschaft über den schleswigschen Anteil zugesichert wird, und da ist es endlich mit der dänischen Lehenshoheit vorbei.
Auf ewig vorbei. Gott sei Dank. Jetzt finde ich mich doch wieder zurecht.
Was geschieht aber durch Patent vom 22. August 1721? Einfach dies: der gottorpsche Anteil von Schleswig wird der dänischen Monarchie einverleibt. Und am 1. Juni 1773 wird auch Holstein dem dänischen Königshause überlassen – das Ganze gilt nun als dänische Provinz.
Das ändert die Sache: ich sehe schon – die Dänen sind im Recht.
Aber doch nicht so ganz. Denn der wiener Kongreß von 1815 erklärt Holstein für einen Teil des deutschen Bundes. Dies aber wurmt die Dänen. Sie erfinden das Schlagwort: „Dänemark bis zur Eider“ und streben nach der totalen Besitznahme des von ihnen „Südjütland“ benannten Schleswig. Hier hingegen wird das „Erbrecht des Augustenburgers“ als Losung gebraucht und zu deutschnationalen Kundgebungen benutzt. Im Jahre 1846 schreibt der König Christian einen offenen Brief, worin er die Integrität des Gesamtstaates als Ziel hinsetzt, wogegen die „deutschen [203] Lande“ protestieren. Zwei Jahre später wird vom Throne aus die völlige Vereinigung nicht mehr als Ziel, sondern als fait accompli verkündet, worauf in den „deutschen Landen“ der Aufstand ausbricht. Jetzt geht das Raufen los. Bald siegen die Dänen in diesem Gefecht, bald die Schleswig-Holsteiner in einem anderen. Dann mischt sich der deutsche Bund hinein. Die Preußen „nehmen“ die Düppeler Höhen; aber das macht dem Streit kein Ende. Preußen und Dänemark schließen Frieden; Schleswig-Holstein muß nun allein gegen die Dänen kämpfen und wird bei Idstedt geschlagen.
Der Bund verlangt nun von den „Aufständischen“, daß sie den Krieg einstellen. Was sie denn auch thun. Österreichische Truppen besetzen Holstein, und die zwei Herzogtümer werden getrennt. Wo ist nun das verbriefte „ewig zusammenbleiben“ hin?
Aber noch immer ist die Angelegenheit nicht festgesetzt. Da finde ich ein Londoner Protokoll, vom 8. Mai 1852 (gut, daß man das immer so ganz genau weiß, unter welchem Datum die zerbrechlichen Verträge gemacht wurden), welches die Erbfolge Schleswigs dem Prinzen Christian von Glücksburg sichert. („Sichert“ ist gut.) Jetzt weiß ich doch auch, woher die Benennung „Protokoll-Prinz“ stammt.
Im Jahre 1854, nachdem jedes Herzogtum eine eigene Verfassung erhalten, werden sie beide „danisiert“. Aber 1858 muß die Danisierung Holsteins wieder aufgehoben werden. Jetzt ist diese geschichtliche Darstellung [204] der Gegenwart schon ganz nahe gerückt, aber noch immer ist mir nicht klar, wo die zwei „Lande“ rechtmäßig hingehören, und was eigentlich den Ausbruch des gegenwärtigen Krieges veranlaßt hat.
Am 18. November 1858 wird das famose „Grundgesetz für die gemeinschaftlichen Angelegenheiten Dänemarks und Schleswigs“ vom Reichsrat genehmigt. Zwei Tage darauf stirbt der König. Mit ihm erlischt wieder einmal eine Linie – nämlich die Linie Holstein-Glückstadt und als der Nachfolger des Monarchen das zwei Tage alte Gesetz bestätigt, erscheint Friedrich von Augustenburg (diese Linie hätte ich beinahe vergessen) auf dem Plan, erhebt seine Ansprüche und wendet sich samt der Ritterschaft um Beistand an den deutschen Bund.
Dieser läßt sofort durch Sachsen und Hannoveraner Holstein besetzen und proklamiert den Augustenburger zum Herzog. Warum?
Damit sind aber Preußen und Österreich nicht einverstanden. Warum? Das verstehe ich heute noch nicht.
Es heißt, das Londoner Protokoll müsse respektiert werden. Warum? Sind denn Protokolle über Dinge, die einem absolut nichts angehen, gar so respektabel, daß man sie mit dem Blut der eigenen Söhne verteidigen muß? Da steckt wohl wieder irgend eine verborgene „Staatsraison“ dahinter … Als Dogma muß man festhalten: Was die Herren am grünen Diplomatentisch entscheiden, das ist die höchste Weisheit [205] und bezweckt die größtmögliche Förderung der vaterländischen Machtstellung. Das Londoner Protokoll vom 8. Mai 1852 mußte aufrecht erhalten, aber das Kopenhagener Grundgesetz vom 13. Januar 1863 mußte aufgehoben werden, und zwar binnen vierundzwanzig Stunden. Daran hing Österreichs Ehre und Wohl. Das Dogma war ein bischen schwer zu glauben aber in politischen Dingen, beinahe noch williger als religiösen, läßt sich die Masse von dem Prinzip des quia absurdum lenken; auf das Verstehen und Begreifen wird von vornherein verzichtet. Ist das Schwert einmal gezogen, dann bedarf es nichts mehr, als des Rufes „Hurrah“ und des heißen Siegesdranges. Dazu ruft man nur noch den Segen des Himmels auf den Kampf herab. Denn soviel ist gewiß: dem lieben Gott muß daran gelegen sein, daß das Protokoll vom 8. Mai eingehalten und das Gesetz vom 13 Januar zurückgenommen werde; er muß es so lenken, daß genau so viele Menschen verbluten und Dörfer verbrennen als er erforderlich ist, damit die Linie von Glückstadt oder die von Augustenburg über ein gewisses Stück Erde regiere … O du thörichte, grausame gedankenlose, gängelbandgeführte Welt! Das war das Ergebnis meiner Geschichtsstudien.
[206] Vom Kriegsschauplatze her kamen gute Nachrichten. Die Verbündeten siegten Schlag auf Schlag. Nach den ersten Gefechten schon mußten die Dänen das ganze Danewerk räumen; Schleswig und Jütland bis Limfjord wurde von den Unseren besetzt und der Feind behauptete sich nur noch in den Düppeler Schanzen und auf Alsen.
Das wußte ich alles so genau, weil auf den Tischen wieder die stecknadelbespickten Landkarten auflagen, auf welchen die Bewegungen und Stellungen der Truppen, je nach den einlaufenden Berichten, markiert wurden.
„Wenn wir jetzt auch noch die Düppeler Schanzen nehmen, oder wenn wir gar Alsen erobern,“ sagten die Olmützer Bürger (denn niemand spricht so gern von den kriegerischen Thaten per „wir“ als diejenigen, welche niemals dabei waren), „dann sind wir fertig … Jetzt zeigen doch wieder unsere Österreicher, was sie können. Auch die braven Preußen schlagen sich prächtig – die beiden miteinander sind natürlich unüberwindlich. Das Ende wird sein, daß ganz Dänemark erobert und dem deutschen Bunde zugeteilt wird – ein glorreicher, glückbringender Krieg!“
Auch ich wünschte jetzt nichts sehnlicher, als die Erstürmung von Düppel – je früher, je lieber – denn diese Aktion würde doch entscheidend sein und der Schlägerei ein Ende machen. Hoffentlich ein Ende machen, ehe Friedrichs Regiment Marschbefehl erhielt.
O dieses Damoklesschwert … Jeden Tag beim Erwachen fürchtete ich mich, daß die Nachricht gebracht [207] werde: „Wir marschieren ab!“ Friedrich war gefaßt darauf. Er wünschte es nicht, aber er sah es kommen.
„Gewöhne Dich an den Gedanken, Kind,“ sagte er mir. „Gegen die unerbittliche Notwendigkeit hilft kein Sträuben. Ich glaube nicht, selbst wenn Düppel fällt, daß der Krieg darum zu Ende sein wird. Die ausgesandte Doppelarmee ist viel zu klein, um den Dänen eine Entscheidung aufzuzwingen; wir werden noch bedeutenden Nachschub schicken müssen – und da wird auch mein Regiment nicht verschont bleiben.“
Schon dauerte dieser Feldzug über zwei Monate, und noch kein Resultat. Wenn sich die grause Partie doch in einem Kampfe entscheiden wollte, wie bei dem Duell. Aber nein: ist eine Schlacht verloren, so wird eine zweite geliefert; muß eine Position aufgegeben werden, so wird eine andere behauptet, und so fort bis zur Vernichtung des einen oder des anderen Heeres, oder zur Erschöpfung beider …
Am 14. April endlich wurden die Düppeler Schanzen erstürmt.
Die Nachricht ward mit einem Jubel aufgenommen, als wäre hinter diesen Schanzen das nunmehr eroberte Paradies gelegen. Man umarmte sich auf den Straßen: „Sie wissen schon? Düppel! … O unser tapferes Heer … Eine unerhörte Großthat! … Jetzt danket alle Gott.“ Und in sämtlichen Kirchen Absingung des Tedeums; unter den Militärkapellmeistern emsiges Komponieren von „Düppelerschanzenmarsch“, „Sturm von Düppel-Galopp“ und so weiter.
Die Kameraden meines Mannes und deren Frauen [208] hatten zwar einen Tropfen Bitterkeit in ihrem Freudenbecher; nicht dabei gewesen zu sein … bei einem solchen Triumph fehlen zu müssen – solches „Pech“!
Mir verursachte dieser Sieg eine große Freude; denn gleich darauf trat in London eine Friedenskonferenz zusammen und vermittelte einen Waffenstillstand. Welches freie Aufatmen dieses Wort „Waffenstillstand“ doch gewährt! … Wie müßte die Welt erst aufatmen – dachte ich damals zum erstenmal – wenn es allenthalben hieße: die Waffen nieder – auf immer nieder! Ich trug das Wort in die roten Hefte ein. Daneben aber schrieb ich verzagt, zwischen Klammern: „Utopia“.
Daß der Londoner Kongreß dem schleswig-holsteinschen Kriege ein Ende machen würde, daran zweifelte ich gar nicht. Die Verbündeten hatten gesiegt, die Düppeler Schanzen waren genommen – diese Schanzen hatten in letzter Zeit eine so große Rolle gespielt, daß mir deren Einnahme als endgültig entscheidend erschien – wie wollte Dänemark jetzt noch weiter sich behaupten? Die Verhandlungen zogen sich unglaublich lange hin. Dies wäre mir eine Qual gewesen, wenn ich nicht von allem Anfang an die Überzeugung gehabt hätte, daß das Ergebnis ein befriedigendes sein müsse. Wenn die Vertreter mächtiger Staaten, dabei vernünftige wohlmeinende Leute, sich zusammenthun, um ein so wünschenswertes Ziel zu erreichen, wie Friedensschließung, wie könnte das mißlingen? Desto entsetzlicher war meine Enttäuschung, als nach zwei Monate lang geführten [209] Debatten die Nachricht eintraf, daß der Kongreß unverrichteter Dinge wieder auseinandergehe.
Und zwei Tage später kam für Friedrich – der Marschbefehl!
Zur Vorbereitung und zum Abschied hatte er vierundzwanzig Stunden Zeit. Und ich war auf dem Punkte, niederzukommen. In der toddräuenden, schweren Stunde, wo eines Weibes einziger Trost darin besteht, den geliebten Mann neben sich zu haben, würde ich allein bleiben müssen – allein mit dem über alles bangen Bewußtsein, daß der geliebte Mann in den Krieg gegangen – wissend, daß es ihm ebenso schmerzlich sein mußte, in solcher Stunde seine arme Frau zu verlassen, als es mir schmerzlich sein würde, ihn zu missen …
Es war am Morgen des 20. Juni. Alle Einzelheiten dieses denkwürdigen Tages sind mir eingeprägt geblieben.
Draußen herrschte drückende Hitze und um diese auszuschließen, waren die Rollvorhänge in meinem Zimmer herabgelassen. In leichte und lose Gewänder gehüllt, lag ich ermattet auf der Chaiselongue. Ich hatte die Nacht ziemlich schlaflos verbracht, und jetzt hatte mir ein traumhafter Halbschlummer die Augen geschlossen. Neben mir, auf einem Tischchen, stand eine Vase mit stark duftenden Rosen. Durch das offene Fenster drang der Ton entfernter Trompetenübungen herein. Das alles wirkte einschläfernd, dennoch hatte mich das Bewußtsein nicht ganz verlassen. Nur die [210] eine Hälfte davon – die Sorgenhälfte – war mir geschwunden. Die Kriegsgefahr und die mir bevorstehende Gefahr hatte ich vergessen: ich wußte nur, daß ich lebte, daß die Rosen – nach dem Rhythmus des Reveille-Signals – betäubend süße Düfte hauchten; daß mein geliebter Mann jede Minute hereinkommen konnte und, wenn er mich schlafen sähe, nur ganz leise träte, um mich nicht zu wecken. Und richtig: im nächsten Augenblick öffnete sich die mir gegenüberliegende Thüre. Ohne die Lider zu heben – nur durch eine linienbreite Spalte unter den Wimpern – konnte ich sehen, daß es der Erwartete war. Ich machte keinen Versuch, mich aus meinem Halbschlummer herauszureißen – dadurch hätte ich möglicherweise das ganze Bild verscheuchen können, denn vielleicht war die Erscheinung an der Thür nur ein fortgesetzter Traum, und vielleicht träumte ich nur, daß ich die Lider linienbreit geöffnet … Jetzt schloß ich dieselben ganz und gab mir Mühe weiter zu träumen, daß der Teuere näher kommt – sich herabbeugt und mir die Stirne küßt …
So geschah es auch. Dann kniete er neben mein Lager nieder und blieb eine Weile regungslos. Noch immer dufteten die Rosen und trarate das ferne Hornsignal …
„Martha, schläfst Du,“ hörte ich ihn leise fragen.
Da schlug ich die Augen auf.
„Um Gotteswillen, was ist’s?“ rief ich, zu Tode erschreckt – denn das Antlitz des an meiner Seite knienden Gatten war von so tiefer Trauer übergossen, daß ich mit einemmal erriet, es sei ein Unglück hereingebrochen. [211] Statt zu antworten, legte er sein Haupt an meine Brust.
Ich wußte alles: Er muß fort … Ich hatte den Arm um seinen Hals geschlungen und so blieben wir beide eine Zeit lang stumm.
„Wann?“ fragte ich endlich.
„Morgen früh –“
„O mein Gott – mein Gott!!“
„Fasse Dich, meine arme Martha –“
„Nein, nein, laß mich jammern … Mein Unglück ist zu groß – und ich weiß – ich seh’ Dir’s an: das Deine auch. So viel Schmerz, wie ich vorhin in Deinen Zügen gelesen, habe ich noch in keines Menschen Angesicht gesehen.“
„Ja, mein Weib – ich bin unglücklich. Dich jetzt lassen zu müssen, in einer solchen Zeit –“
„Friedrich, Friedrich, wir sehen uns nimmer – ich werde sterben …“
Es war ein herzzerreißender Abschied, der diese letzten vierundzwanzig Stunden füllte … Das war nun das zweite Mal im Leben, daß ich einen teuren Gatten zu Felde ziehen sah. Doch unvergleichlich schwerer war diese zweite Losreißung, als die erste. Damals war meine und besonders Arnos Auffassung eine ganz andere, primitivere gewesen: ich hatte das Ausrücken als eine alle persönlichen Gefühle überwiegende Naturnotwendigkeit – er sogar als eine freudige
[212] Ruhmesexpedition betrachtet. Er ging mit Begeisterung, ich blieb ohne Murren. Noch haftete etwas von der Kriegsbewunderung an mir, die ich in meiner Jugenderziehung eingesogen; noch fühlte ich dem Hinausstürmenden etwas von dem Stolze nach, welchen er Angesichts der großen Unternehmung empfand. Aber jetzt wußte ich, daß der Scheidende eher mit Abscheu, denn mit Jubel an die Mordarbeit ging; ich wußte, daß er das Leben liebte, welches er auf’s Spiel setzen mußte; daß ihm über alles – ja, alles, auch über die Rechtsansprüche des Augustenburgers – sein Weib teuer war, sein Weib, das in wenigen Tagen Mutter werden sollte. Während ich bei Arno die Überzeugung gehabt, daß er mit Gefühlen schied, um die er immerhin zu beneiden war, erkannte ich, daß bei dieser zweiten Trennung wir beide gleiches Mitleid verdienten. Ja, wir litten in gleichem Maße und wir sagten und klagten es einander. Keine Heucheleien, keine leeren Trostphrasen, keine Prahlworte. Wir waren ja eins und keines suchte das andere zu betrügen. Es war noch unser bester Trost, daß jedes seine Trostlosigkeit vom andern voll verstanden wußte. Die Größe des über uns hereingebrochenen Unglückes suchten wir durch keine konventionellen, patriotischen und heroischen Mäntelchen und Lärvchen zu verhüllen. Nein – die Aussicht, auf Dänen schießen und hauen zu dürfen, war ihm keine, gar keine Wettmachung des Leides, mich verlassen zu müssen; im Gegenteile – eher eine Verschärfung: denn Töten und Zerstören widert jeden „Edelmenschen“ an. Und mir war es kein, gar kein Ersatz für mein Leid,
[213] daß der Vielgeliebte etwa um eine Rangstufe vorrücken könnte. Und falls das Unglück der gefährlichen Trennung noch zum Unglück der ewigen Trennung sich steigerte – sollte Friedrich fallen – so war mir die Staatsraison, wegen welcher dieser Krieg geführt werden mußte, nicht im entferntesten erhaben und heilig dünkend genug, um solches Opfer aufzuwiegen. – Vaterlandsverteidiger: das ist der schön klingende Titel, mit welchem der Soldat geschmückt wird. Und in der That: was kann es für die Glieder des Gemeinwesens für eine edlere Pflicht geben, als die, die bedrohte Gemeinschaft zu verteidigen? Warum aber bindet dann den Soldaten sein Fahneneid zu hundert anderen Kriegspflichten, als die der Schutzwehr? Warum muß er angreifen gehen, warum muß er – wo dem Vaterlande nicht der mindeste Einfall droht – wegen der bloßen Besitz- und Ehrgeizstreitigkeiten einzelner fremder Fürsten, dieselben Güter – Leben und Herd – einsetzen, als ob es sich, wie es doch zur Rechtfertigung des Krieges heißt, um die Verteidigung des gefährdeten Lebens und Herdes handelte? Warum mußte hier zum Beispiel das österreichische Heer ausziehen, um den Augustenburger auf das fremde Thrönchen zu setzen? Warum – warum? – das ist ein Fragwort, welches an Kaiser oder Papst zu richten, an sich schon hochverräterisch und lästerlich ist, welches dort als Irreligiosität und hier als Illoyalität gilt und welches nie beantwortet zu werden braucht …
Um zehn Uhr morgens sollte das Regiment ausrücken. Wir waren die ganze Nacht aufgeblieben. Nicht [214] eine Minute des uns noch beschiedenen Zusammenseins hatten wir verlieren wollen.
Es war so viel, was wir uns noch zu sagen hatten, und doch sprachen wir nur wenig. Küsse und Thränen waren es zumeist, welche beredter als alle Worte sagten: Ich hab’ Dich lieb und muß Dich lassen. Dazwischen fiel auch wieder ein hoffnungsvolles Wort: „Wenn Du wiederkommst“ … Es war ja möglich … es kommen ja so viele heim. Doch sonderbar! ich wiederholte: „Wenn Du wiederkommst“ und bemühte mich, mir das Entzückende dieser Eventualität vorzustellen, aber vergebens: meine Einbildungskraft vermochte kein anderes Bild zu schaffen, als des Gatten Leiche auf der Wahlstatt oder mich selber auf der Bahre mit einem toten Kind im Arm …
Friedrich war von ähnlichen trüben Vermutungen erfüllt; denn sein „Wenn ich wiederkomme“ klang nicht aufrichtig, und häufiger sprach er von dem, was geschehen sollte, „wenn ich bleibe“.
„Heirate kein drittes Mal, Martha! Verwische nicht durch neue Liebeseindrücke die Erinnerungen dieses herrlichen Jahres … nicht wahr, es ist eine glückliche Zeit gewesen?“
Wir ließen nun hundert kleine Einzelheiten, welche von unserer ersten Begegnung bis zu dieser Stunde sich uns eingeprägt hatten, an unserem Gedächtnis vorüberziehen.
„Und mein Kleines, mein armes Kleines, das ich wohl nie an mein Herz drücken werde – wie soll es getauft werden?
[215] „Friedrich oder Friederike.“
„Nein – Martha ist schöner. Wenn es ein Mädchen ist, so nenne ich es mit dem Namen, den sein sterbender Vater zuletzt –“
„Friedrich – warum sprichst Du immer vom Sterben? Wenn Du wiederkommst …“
„Wenn …“ wiederholte er.
Als der Tag zu grauen begann, fielen mir die thränenmüden Augen zu. Ein leichter Schlummer senkte sich auf uns beide; mit verschlungenen Armen lagen wir da, ohne das Bewußtsein zu verlieren, daß dies unsere Scheidestunde war.
Plötzlich fuhr ich auf und brach in lautes Stöhnen aus.
Friedrich erhob sich rasch.
„Um Gotteswillen, Martha, was ist Dir? … Doch nicht? … So sprich … Etwa? …“
Ich nickte bejahend.
War es ein Schrei, oder ein Fluch, oder ein Stoßgebet, das sich seinen Lippen entrang? Er riß die Glocke und gab Alarm:
„Augenblicklich zum Arzt, zur Wärterin!“ rief er der herbeigeeilten Dienerin zu. Dann warf er sich an meine Seite knieend nieder und küßte meine herabhängende Hand:
„Mein Weib, mein alles! … Und jetzt – jetzt muß ich fort!“
Ich konnte nicht sprechen. Der heftigste physische [216] Schmerz, den man sich vorstellen kann, wand und krümmte meinen Leib und dabei war das Seelenweh doch noch entsetzlicher, daß er „jetzt, jetzt fort mußte“ und daß er darüber so unglücklich war …
Bald kamen die Gerufenen herbei und machten sich um mich zu schaffen. Zu gleicher Zeit mußte Friedrich die letzte Vorbereitung zum Abmarsch treffen. Nachdem er damit fertig geworden:
„Doktor, Doktor,“ rief er, den Arzt bei beiden Händen fassend, „nicht wahr – Sie versprechen mir – Sie bringen sie durch? Und Sie telegraphieren mir heute noch dort- und dahin? Er nannte die Stationen, welche er auf der Reise berühren sollte. „Und wenn eine Gefahr wäre … Ach, was hilft’s? unterbrach er sich selber – „wenn auch die Gefahr die äußerste wäre, könnte ich denn zurück?“
„Es ist hart, Herr Baron,“ bestätigte der Arzt. „Aber seien Sie unbesorgt – die Patientin ist jung und kräftig … heut’ abend ist alles überstanden und Sie erhalten beruhigende Depeschen.“
„Ja, Sie werden mir auf jeden Fall günstig berichten, da ja das Gegenteil nichts nützen könnte … Ich will aber die Wahrheit! Hören Sie, Doktor, ich verlange Ihren heiligsten Ehreneid darauf: die ganze Wahrheit! Nur unter dieser Voraussetzung kann eine beruhigende Nachricht mich wirklich beruhigen – sonst halte ich alles für Lüge. Also schwören Sie.“
Der Arzt leistete das verlangte Versprechen.
„O, mein armer, armer Mann“ – schnitt es mir [217] durch die Seele. – „Wie, wenn du heute noch die Nachricht erhältst, deine Martha liege im Sterben und darfst nicht umkehren, ihr die Augen zuzudrücken … Du hast wichtigeres zu thun: es gilt des Augustenburgers Thronansprüche. – Friedrich!“ rief ich laut.
Er flog an meine Seite.
Im selben Augenblick schlug die Uhr. Wir hatten nur noch ein paar Minuten Zeit. Aber auch um diese letzte Frist wurden wir betrogen, denn wieder erfaßte mich ein Anfall, und statt der Abschiedsworte konnte ich nur Schmerzenslaute ausstoßen.
„Gehen Sie, Herr Baron, brechen Sie diesen Auftritt ab,“ sagte der Arzt. „Solche Erregung ist für die Kranke gefährlich.“
Noch ein Kuß und er stürzte hinaus … mein Wimmern und des Doktors letztes nachklingendes Wort „gefährlich“ gaben ihm das Geleite.
In welcher Stimmung mag er wohl geschieden sein? Darüber gab das Olmützer Lokalblättchen am nächsten Tage Bescheid:
- Gestern verließ das –te Regiment unter klingendem Spiel und mit flatternden Fahnen unsere Stadt, um sich in den meerumschlungenen Bruderlanden grüne Lorbeeren zu holen. Helle Begeisterung erfüllte die Reihen, man sah den Leuten die Kampfesfreude aus den Augen leuchten u.s.w., u.s.w. …
[218] Friedrich hatte vor seiner Abreise noch an Tante Marie telegraphiert, daß ich ihrer Pflege bedürfe, und sie kam einige Stunden später bei mir an. Sie fand mich bewußtlos und in großer Gefahr.
Mehrere Wochen schwebte ich zwischen Leben und Tod. Mein Kind war am Tage seiner Geburt gestorben. Der moralische Schmerz, den mir der Abschied von dem geliebten Manne verursacht hatte – gerade in dem Zeitpunkt, wo ich aller Kräfte bedurft hätte, um den physischen Schmerz zu bewältigen – durch den war ich widerstandsunfähig geworden, und es fehlte nicht viel, so wäre ich unterlegen.
Meinem armen Manne mußte der Arzt, seinem eidlichen Versprechen gemäß, den traurigen Bericht schicken, daß das Kind gestorben und die Wöchnerin in Todesgefahr sei.
Was die Nachrichten betraf, die von ihm anlangten, so konnten mir dieselben nicht mitgeteilt werden. Ich kannte niemand und delirierte Tag und Nacht. Ein sonderbares Delirium. Ich habe davon eine schwache Erinnerung in das zurückgekehrte Bewußtsein mit hinübergenommen – aber dies mit vernünftigen Worten wiederzugeben, wäre mir unmöglich. In dem anormalen Wirbel des fiebernden Hirns bilden sich eben Begriffe und Vorstellungen, für welche die dem normalen Denken angepaßte Sprache keine Ausdrücke hat. Nur so viel kann ich andeuten – ich habe das phantastische Zeug in die roten Hefte einzuzeichnen versucht –: daß ich die beiden Ereignisse, den Krieg und meine Niederkunft, miteinander verwechselte; mir war, als wären Kanonen [219] und blanke Waffen – ich fühlte deutlich die Bajonettstiche – das Werkzeug der Geburt und als läge ich da, das Streitobjekt zwischen zwei aufeinander losstürmende Armeen … Daß mein Gatte fortgezogen, wußte ich; doch sah ich ihn in Gestalt des toten Arno, während Friedrich an meiner Seite, als Krankenwärterin verkleidet, den silbernen Storch streichelte. Jeden Augenblick erwartete ich die platzende Granate, welche uns alle drei – Arno, Friedrich und mich zersplittern sollte, damit das Kind zur Welt kommen könne, welches bestimmt war, über Dänewig, Schlesstein und Holmark zu regieren … Und das alles that so unsäglich weh und war so überflüssig … Es mußte doch irgendwo jemand geben, der es hätte ändern und aufheben können, der diesen Alp von meiner Brust und von der ganzen Menschheit mittelst eines Machtwortes hätte abwälzen können – und die Sehnsucht verzehrte mich, diesem jemand mich zu Füßen zu werfen und zu flehen: Hilf ab – aus Barmherzigkeit, aus Gerechtigkeit hilf ab! – Die Waffen nieder – nieder!!
Mit diesem Ruf auf den Lippen erwachte ich eines Tages zum Bewußtsein. Mein Vater und Tante Marie standen am Fuße des Bettes, und beschwichtigend sagte mir der erstere:
„Ja, ja, Kind, sei ruhig, – alle Waffen nieder –“
Dieses Wiedererlangen des Ichgefühls nach langer Geistesabwesenheit ist doch ein eigentümlich Ding. Zuerst die frohe erstaunte Wahrnehmung, daß man lebt und dann die gespannte, an sich selber gerichtete Frage: wer man eigentlich sei …
[220] Aber die plötzlich mit vollem Licht hereinbrechende Antwort auf diese Frage verwandelte mir die eben erwachte Daseinslust in heftigen Schmerz. Ich war die kranke Martha Tilling, deren neugeborenes Kind gestorben, deren Mann in den Krieg gezogen war … Seit wann? Das wußt’ ich nicht.
„Lebt er? Sind Briefe da? Depeschen?“ war meine erste Frage.
Ja, es hatte sich ein ganzer kleiner Stoß von Briefen und Telegrammen angesammelt, welche während meiner Krankheit eingelangt. Zumeist waren es nur Anfragen über meinen Zustand, Bitten um tägliche, um möglichst stündliche Benachrichtigung. Dies natürlich nur, solange der Schreiber an Orten sich befand, wo der Telegraph ihn erreichen konnte.
Man wollte mir nicht gleich erlauben, die Briefe Friedrichs zu lesen; – es hätte mich zu sehr aufregen und erschüttern können, meinten sie, und jetzt, da ich kaum aus dem Delirium erwacht, mußte ich vor allem Ruhe haben. So viel konnten sie mir sagen: Friedrich war bis jetzt unversehrt. Er hatte schon mehrere glückliche Gefechte durchgemacht – der Krieg müßte bald zu Ende sein; der Feind behauptete sich nur noch auf Alsen; und war dies einmal genommen, so würden unsere Truppen – ruhmgekrönt – heimkehren.
So sprach mein Vater tröstend auf mich ein. Und Tante Marie erzählte mir meine eigene Krankheitsgeschichte. Es waren nun mehrere Wochen seit dem Tage ihrer Ankunft vergangen, welcher zugleich der Tag war, an welchem Friedrich schied und an welchem [221] mein Kind geboren wurde und starb … Daran war mir die Erinnerung geblieben, aber was dazwischen lag: des Vaters Ankunft, die laufenden Nachrichten von Friedrich, der Verlauf meiner Krankheit – von dem allen wußte ich nichts. Jetzt erst erfuhr ich, mein Zustand sei ein so schlimmer gewesen, daß die Ärzte mich bereits aufgegeben hatten und mein Vater gerufen worden war, um mich „ein letztes Mal“ zu sehen. An Friedrich waren die bösen Nachrichten gewissenhaft geschickt worden, aber auch die besseren Nachrichten – seit einigen Tagen nämlich gaben die Ärzte wieder Hoffnung – mußten zur Stunde schon in seinen Händen sein.
„Wenn er selbst noch am Leben ist“ – warf ich mit einem schweren Seufzer ein.
„Versündige Dich nicht, Martha,“ ermahnte die Tante; „der liebe Gott und seine Heiligen werden Dich nicht auf unser Flehen hin gerettet haben, um Dich dann so heimzusuchen. Auch Dein Mann wird Dir erhalten bleiben, für den ich, Du kannst es mir glauben, ebenso heiß gebetet habe, wie für Dich … sogar ein Skapulier habe ich ihm nachgeschickt … Ja, ja – zucke nur die Achseln – aber schaden können sie doch keinesfalls, nicht wahr? Und wie viele Beispiele hat man, daß sie genützt haben … Du selber bist mir auch wieder ein Beweis, was die Fürsprache der Heiligen vermag – denn Du warst schon am Rande des Grabes, glaube mir – da habe ich mich an Deine Schutzpatronin, die heilige Martha, gewendet –“
„Und ich,“ unterbrach mein Vater, welcher in [222] politischer Hinsicht zwar sehr klerikal gesinnt war, in praktischer Hinsicht jedoch durchaus nicht mit seiner Schwester sympatisierte, „ich habe aus Wien den Doktor Braun verschrieben, und der hat Dich gerettet.“
Am nächsten Tage, auf mein dringendes Bitten, wurde mir gestattet, sämtliche von Friedrich eingelaufenen Sendungen durchzulesen. Zumeist waren es nur zeilenlange Anfragen oder ebenso lakonische Berichte: „Gestern Gefecht – bin unversehrt.“ – „Marschieren heute weiter – Depeschen zu adressieren nach * * *.“ Ein längerer Brief trug auf dem Umschlag den Vermerk: „Nur zu übergeben, wenn jede Gefahr vorüber ist.“ Diesen las ich zuerst:
„Mein Alles! Ob Du dieses jemals lesen wirst? Die letzte Nachricht, die ich von Deinem Arzt erhalten, meldete: Patientin in heftigem Fieber: Zustand bedenklich. „Bedenklich“ – den Ausdruck hat der Mann vielleicht aus Schonung gebraucht, um nicht zu sagen „hoffnungslos“ … Wenn Dir dieses eingehändigt wird, so weißt Du ja, daß Du der Gefahr entronnen bist; aber Du mögest denn nachträglich erfahren, wie mir zu Mute war, während ich – am Vorabend einer Schlacht – mir vorstellte, daß mein angebetetes Weib im Sterben liegt. Daß sie nach mir ruft – die Arme nach mir ausstreckt … Wir hatten uns ja nicht einmal ordentlich Lebewohl gesagt … Und unser Kind, auf das ich mich so gefreut – tot! Und ich selber morgen – ob mich eine Kugel trifft? Wenn ich vorher wüßte, daß Du nicht mehr bist, so wäre mir die tödliche [223] Kugel das liebste – aber wenn Du gerettet werden sollst – nein; dann will ich vom Sterben noch nichts wissen. „Todesfreudigkeit“, dieses widernatürliche von den Feldpredigern uns stets angepriesene Ding, das kann ein glücklicher Mensch nicht empfinden – und wenn Du lebst und ich heimkomme, so habe ich noch unberechenbare Schätze von Glück zu beheben. O, welche Lebensfreudigkeit, mit der wir beide noch die Zukunft genießen wollten, wenn uns eine solche beschieden ist!
Heute trafen wir zum erstenmal mit dem Feind zusammen. Bisher ging unser Weg durch eroberte Länderstriche, aus welchen die Dänen sich zurückgezogen. Rauchende Dorftrümmer, zertretene Saaten, herumliegende Waffen und Tornister, durch Granaten aufgewirbelte Erde, Blutlachen, Pferdeleichen, Massengräber: – das sind die Landschaften und deren Staffage, durch welche wir hinter dem Sieger hergewandelt sind, um womöglich neue Siege daran zu reihen, das heißt neue Dörfer anzuzünden und so weiter … Das haben wir nun heute auch gethan. Die Position ist unser. Hinter uns steht ein Dorf in Flammen. Die Einwohner hatten es zum Glück vorher verlassen. Aber in einem Stall war ein Pferd vergessen worden – ich hörte das verzweifelte Tier stampfen und schreien … Weißt Du, was ich that? das hat mir wahrlich keinen Orden eingetragen – denn statt ein paar Dänen niederzumachen, sprengte ich auf jenen Stall zu, um das arme Roß zu befreien. Unmöglich: schon brannte die Krippe, [224] schon das Stroh unter seinen Hufen, schon seine Mähne … Da schoß ich ihm zwei Revolverkugeln durch den Kopf – es fiel getroffen nieder und war von dem qualvollen Flammentod gerettet. Dann zurück in den Kampf, in den Mordgestank des Pulvers, in den wüsten Lärm knatternder Schüsse, stürzenden Gebälks, wütenden Kriegsgeschreies. Die Meisten um mich her, Freund und Feind, waren wohl vom Kriegstaumel erfaßt – ich aber blieb in unseliger Nüchternheit. Zu Dänenhaß konnte ich mich nicht aufschwingen – was thaten die Braven indem sie über uns herfielen? weiter nichts als ihre Pflicht. – Meine Gedanken waren bei Dir Martha … Ich sah Dich auf dem Paradebette liegen, und was ich mir wünschte, war, daß mich eine Kugel treffe. Dazwischen blitzte doch wieder ein Sehnsuchts- und ein Hoffnungsstrahl: „Wie, wenn sie lebt? Wie, wenn ich heimkehrte?“ …
Das Gemetzel dauerte über zwei Stunden und wir behaupteten, wie gesagt, das Feld. Der geschlagene Feind entfloh. Wir verfolgten ihn nicht. Auf dem Platze blieb uns Arbeit genug zu verrichten. Von dem Dorfe einige hundert Schritte entfernt und vom Brande unversehrt geblieben, steht ein großer Meierhof, mit zahlreichen leeren Wohnräumen und Ställen; hier werden wir die Nacht über ausruhen und hierher haben wir unsere Verwundeten gebracht. Das Begraben der Toten bleibt auf morgen früh. Dabei werden natürlich wieder einige Lebendige verscharrt, denn der Starrkrampf nach Verwundungen [225] ist eine häufige Erscheinung. Manche, die drüben geblieben, ob tot, oder verletzt, oder auch unverletzt, werden wir ganz zurücklassen müssen; diejenigen nämlich, welche unter den Trümmern der eingestürzten Häuser liegen. Die können dann hier, wenn sie tot sind, langsam vermodern; wenn verwundet – langsam verbluten, und wenn unversehrt – langsam verhungern. Und wir – hurrah! – können weiterziehen, in unseren frischen, fröhlichen Krieg …
Der nächste Zusammenstoß wird wohl eine Feldschlacht abgeben. Allem Anschein nach werden sich zwei große Armeekorps gegenüberstehen. Dann kann die Zahl der Toten und Verwundeten leicht in die Zehntausend gehen; denn wenn die Kanonen ihres vernichtungspeienden Amtes walten, so werden beiderseitig die vorderen Reihen schnell weggefegt. Das ist ja eine wunderschöne Einrichtung. Aber noch besser wird es sein, wenn einst die Schießtechnik so weit vorgeschritten ist, daß jede Armee ein Geschoß abfeuern kann, welches die ganze feindliche Armee mit einem Schlag zertrümmert. Vielleicht würde so das Kriegsführen überhaupt unterbleiben. Der Gewalt könnte dann – wenn zwischen zwei Streitenden die Allgewalt eine gleich große wäre – nicht mehr die Rechtsentscheidung überantwortet werden.
Warum schreibe ich Dir dies alles? Warum breche ich nicht, wie es einem Kriegsmann ziemt, in begeisterte Lobeshymnen auf das Kriegshandwerk aus? Warum? Weil ich nach Wahrheit – und nach rückhaltloser Äußerung derselben – dürste; weil [226] ich jederzeit die lügenhafte Phrase hasse, – in diesem Augenblick aber – wo ich dem Tode so nahe bin; und wo ich zu Dir spreche, die Du vielleicht auch im Sterben liegst – es mich doppelt drängt, zu sprechen, wie es mir ums Herz ist. Mögen tausend Andere auch anders denken, oder doch anders zu sprechen sich verpflichtet dünken, ich will, ich muß es noch einmal gesagt haben, eh’ ich dem Krieg zum Opfer falle: ich hasse den Krieg. Würde nur jeder, der das Gleiche fühlt, es laut zu verkünden wagen – welch ein dröhnender Protest schrie da zum Himmel auf! Alles jetzt erschallende Hurrah samt dem begleitenden Kanonendonner würde dann durch den Schlachtruf der nach Menschlichkeit lechzenden Menschheit übertönt, durch das siegesgewisse: „Krieg dem Kriege!“
½ 4 Uhr früh.„Obiges schrieb ich gestern nachts. Dann habe ich mich auf einen Strohsack gelegt und ein paar Stunden geschlafen. In einer halben Stunde wird aufgebrochen, und dies kann ich noch der Feldpost übergeben. Alles ist schon wach und rüstet zum Abmarsch. Die armen Leute: wenig Ruhe haben sie gefunden, nach der gestern vollbrachten – wenig Kräftigung zu der heute zu vollbringenden Blutarbeit … Vorhin habe ich noch einen Rundgang durch unser inprovisiertes Lazareth gemacht, welches hier zurückbleibt. Da sah ich unter den Verwundeten und Sterbenden ein paar, denen ich es gern so gemacht hätte, wie dem brennenden Pferde: ihnen
[227] eine Gnadenkugel durch den Kopf gejagt. Da ist einer, dem der ganze Unterkiefer weggeschossen ist; da ist ein anderer, der – Genug … Ich kann nicht helfen – niemand kann da helfen, als der Tod. Leider ist der oft so langsam … Wer ihn verzweifelt anruft, dem gegenüber stellt er sich taub. Er ist anderweitig viel zu sehr beschäftigt, diejenigen hinzuraffen, die inbrünstig auf Genesung hoffen, die ihn flehentlich anrufen: O verschone mich!
Mein Pferd ist gesattelt – jetzt heißt es, diese Zeilen schließen. Leb wohl! Martha – wenn Du lebst.“
Zum Glück befanden sich in dem Briefpacket noch Nachrichten jüngeren Datums, als das eben angeführte Schreiben … Nach der in letzterem vorhergesagten großen Schlacht hatte Friedrich berichten können:
„Der Tag ist unser. Ich bin unversehrt geblieben. Das sind zwei gute Nachrichten – die erste namentlich für Deinen Vater, die zweite für Dich. Daß für unzählige andere derselbe Tag unzähligen Jammer gebracht hat, vermag ich nicht zu übersehen.“
In einem andern Brief erzählte Friedrich, daß er mit seinem Vetter Gottfried zusammengetroffen:
„Stelle Dir vor, welche Überraschung: Wen sehe ich an der Spitze eines Detachements an mir vorüber reiten? Tante Korneliens einzigen Sohn. Muß die
[228] Arme jetzt doch zittern … Der Junge selber ist ganz begeistert und kampfesfroh. Ich sah es seiner stolzen, leuchtenden Miene und er hat es mir auch bestätigt. Am selben Abend waren wir zusammen im Lager und ich ließ ihn in mein Zelt rufen. „Das ist ja herrlich,“ rief er entzückt, „daß wir für dieselbe Sache kämpfen, Vetter – und nebeneinander! Hab’ ich nicht Glück, daß gleich im ersten Jahre meiner Lieutnantsschaft Krieg ausgebrochen? Ich werde mir ein Verdienstkreuz holen.“ – „Und die Tante – wie hat sie Dein Ausrücken aufgenommen?“ – „Wie das nun schon ’mal der Mütter Brauch: mit Thränen – die sie übrigens zu verbergen suchte, um meine Lust nicht zu dämpfen – mit Segenswünschen, mit Kummer und mit Stolz.“ – „Und wie war’s Dir selber zu Mute, als Du zum erstenmale ins Gemenge kamst?“ – „O wonnig erhebend!“ – „Du brauchst nicht zu lügen, mein Junge. Nicht der Stabsoffizier fragt nach Deinen pflichtschuldigen Lieutenantsgefühlen, sondern der Mensch und Freund.“ – „Ich kann nur wiederholen: wonnig und erhebend. Schauerlich – ja … aber: so großartig! Und das Bewußtsein, daß ich die höchste Mannespflicht erfülle mit Gott für König und Vaterland! Und dann: daß ich den Tod, dieses sonst so gefürchtete und gemiedene Gespenst, hier so nahe um mich herum walten sehen, – seine Sense auch über mir erhoben – das versetzt mich in eine eigene, über die Gewöhnlichkeit so erhabene, epische Stimmung … Die Muse der Geschichte fühle ich uns zu Häupten
[229] schweben und unserem Schwert die Siegeskraft verleihen. Ein edler Zorn durchglüht mich gegen den frechen Feind, der das Recht der deutschen Lande niedertreten wollte, und es ist mir ein Hochgefühl, diesen Haß befriedigen zu dürfen … das ist ein eigen, geheimnisvolles Ding, dieses Umbringendürfen – nein, Umbringen müssen – ohne ein Mörder zu sein und mit unerschrockener Preisgebung des eigenen Lebens“ …
So faselte der Knabe weiter. Ich ließ ihn reden. Habe ich doch Ähnliches empfunden, als mich die erste Schlacht umtoste. „Episch“ ja, da hat er das richtige Wort getroffen. Die Heldengedichte und Heldengeschichten, mittelst deren uns die Schule zu Kriegern aufzieht, die sind es, welche dann durch den Donner der Geschütze, durch das Blitzen der blanken Waffen und durch das Feldgeschrei der Kämpfer in unserem Hirn zum Vibrieren gebracht werden. Und die Außergewöhnlichkeit, die unverständliche Außergesetzlichkeit, in der man plötzlich sich befindet, die macht, als wäre man in eine andere Welt versetzt … es ist wie ein Ausblick von dem banalen Erdendasein mit seiner friedlichen, bürgerlichen Ruhe, in ein titanisches Gewühl von Höllengeistern … Aber mir war dieser Taumel bald verflogen und nur mühsam kann ich mich in die Empfindungen zurückdenken, wie sie mir der junge Tessow geschildert. Ich habe es zu früh erkannt, daß der Schlachteneifer nichts Übermenschliches, sondern – Untermenschliches ist; keine mystische Offenbarung aus [230] dem Reiche Luzifers, sondern eine Reminiscenz aus dem Reiche der Tierheit – ein Wiedererwachen der Bestialität. Nur wer sich bis zur wilden Mord lust berauschen kann, wer – wie ich das bei Manchen unter uns gesehen – mit weit ausgeholtem Hiebe den Schädel eines entwaffneten Feindes spaltet; wer zum Berserker – tiefer noch – zum blutdurstigen Tiger herabgesunken, der hat für Augenblicke „des Kampfes Wollust“ genossen. Ich nie – mein Weib – glaube es mir, ich nie.
Gottfried ist entzückt, daß wir Österreicher für dieselbe „gerechte Sache“ (was weiß denn er? Als ob nicht jede Sache im Armeebefehl als die „gerechte“ hingestellt würde) wie die Preußen eingetreten sind. „Ja, wir Deutsche sind doch alle ein einig Volk von Brüdern.“ – „Das hat sich schon im dreißigjährigen Krieg – und auch im siebenjährigen Krieg gezeigt,“ schaltete ich halblaut ein. Gottfried überhörte mich und fuhr fort: „Füreinander, miteinander besiegen wir jeden Feind.“ – „Wie dann, mein Junge, wenn heute oder morgen die Preußen mit den Österreichern kämpfen und wir zwei als Feinde gegen einander gestellt werden?“ – „Nicht denkbar. Jetzt, nachdem unser beider Blut für eine Sache geflossen, jetzt kann doch nie mehr …“ – „Nie mehr? Ich warne Dich vor den Ausdrücken „nie“ und „ewig“ in politischen Dingen. Was die Eintagsfliegen im Reiche der Lebewesen, das sind die Völkerfeindschaften und Freundschaften im Reiche der geschichtlichen Erscheinungen.“
[231]
Ich schreibe das alles nieder, Martha, nicht weil ich glaube, daß es Dich – arme Kranke – interessieren könne; noch, weil ich Dir gegenüber Betrachtungen anstellen will: aber ich habe eine Idee, daß ich bleiben werde und da will ich nicht, daß meine Gefühle unausgesprochen mit mir ins Grab versinken. Mein Brief kann – auch noch von anderen als Dir – gefunden und gelesen werden. Es soll nicht ewig verschwiegen und vertuscht bleiben, was sich im Geiste unbefangen denkender und menschlich fühlender Soldaten regt. „Ich hab’s gewagt“, war Ulrich von Huttens Wahlspruch. „Ich hab’s gesagt –: mit dieser Gewissensberuhigung will ich aus dem Leben geschieden sein.“
Die jüngste der vorhandenen Nachrichten war vor fünf Tagen abgesendet worden und vor zwei Tagen angekommen. Was kann in fünf Tagen – fünf Kriegstagen – nicht alles geschehen sein? Sorge und Bangen ergriff mich. Warum war gestern, warum heute kein Zeichen angelangt? O diese Sehnsucht nach einem Briefe – lieber noch Telegramme –: ich glaube kein von Fieberdurst Gequälter kann so nach Wasser lechzen, wie ich damals nach einer Nachricht lechzte. Ich war gerettet; ihm sollte die große Freude werden, mich lebend zu finden, wenn – – immer dieses „wenn“ – dieses jede Zukunftshoffnung in der Knospe erstickende „wenn“!
Mein Vater mußte wieder abreisen. Nunmehr konnte er mich beruhigt verlassen – die Gefahr war vorüber und er hatte schon dringend in Grumitz zu [232] thun. Ich sollte, sobald ich hierzu die nötigen Kräfte zurückerlangt, ihm dorthin mit meinem kleinen Rudolf folgen. Der Aufenthalt in der frischen Landluft würde mich erst vollständig herstellen können, und auch dem Kleinen förderlich sein. Tante Marie blieb zurück; sie wollte mich weiter pflegen und dann mit mir zugleich nach Grumitz fahren, wohin uns Rosa und Lilli schon vorangegangen waren. Ich ließ sie reden und für mich Pläne machen. Im Stillen nahm ich mir vor – sobald ich nur halbwegs dazu fähig ein würde – nach Schleswig-Holstein abzureisen.
Wo Friedrichs Regiment in diesem Augenblicke sich befand, wußten wir nicht. Es war unmöglich, ihm eine Depesche zukommen zu lassen, und am liebsten hätte ich jede Stunde telegraphiert, um zu fragen: „Lebst Du?“
„Du mußt Dich nicht so aufregen,“ predigte mein Vater, als er von mir Abschied nahm, „sonst bekommst Du gar noch einen Rückfall. Zwei Tage ohne Nachricht: was ist das? Doch wahrlich kein Grund zur Besorgnis. Im Felde findet man nicht überall Briefkasten und Telegraphenstationen – abgesehen davon, daß man während des Marsches und des Schlagens gar nicht im stande ist, zu schreiben. Die Feldpost funktioniert nicht immer regelmäßig; da kann man leicht vierzehn Tage nachrichtslos bleiben, ohne daß dies Schlimmes bedeutet. Zu meiner Zeit habe ich oft noch länger nicht nach Hause geschrieben und man war darum nicht besorgt um mich.“
[233] „Wie weißt Du das, Papa? Ich bin überzeugt, die Deinen haben für Dich ebenso gezittert, wie ich für Friedrich zittere. Nicht wahr, Tante?“
„Wir waren gottvertrauender als Du,“ antwortete diese; „wir wußten, daß, wenn die gütige Vorsehung es so lenken wollte, daß – ob wir nun Nachrichten erhielten oder keine – Dein Vater zu uns zurückkehren würde.“
„Und wäre ich nicht zurückgekehrt, alle Kuckuck, so waret ihr auch vaterlandsliebend genug, um einzusehen, daß eine so geringe Sache, wie eines einzelnen Soldaten Leben in der großen Sache, für die er es gelassen hat, gänzlich verschwindet. Du, meine Tochter, bist lange nicht patriotisch genug gesinnt. Aber ich will jetzt mit Dir nicht zanken … Die Hauptsache ist, daß Du wieder gesund wirst, und Dich für Deinen Rudi erhältst, um einen tüchtigen Mann und Vaterlandsverteidiger aus ihm heranzubilden.
Ich genas nicht so schnell, als man anfangs gehofft. Die fortdauernde Nachrichtslosigkeit versetzte mich in solche bange Aufregung, daß ich aus dem fieberhaften Zustand eigentlich gar nicht herauskam. Die Nächte waren mit schauerlichen Phantasien gefüllt und die Tage vergingen in harrender Sehnsucht oder trübem Hinbrüten; dabei war es schwer, wieder zu Kräften zu gelangen.
Einmal, nach einer Nacht, da ich besonders [234] schauderhafte Gesichte gehabt – Friedrich – lebend unter einem Haufen von Menschen und Pferdeleichen verschüttet – stellte sich sogar ein Rückfall ein, der mein Leben neuerdings in Gefahr brachte. Die arme Tante Marie hatte ein schweres Amt. Sie hielt es für ihre Pflicht, mir unablässig Trost und Ergebung zuzusprechen und ihre Gründe – namentlich die immer wiederkehrende „Bestimmung“ hatten die Wirkung, mich aufs höchste aufzubringen; und statt sie ruhig predigen zu lassen, ließ ich mich zu leidenschaftlichem Widersprechen, zu auflehnenden Klagen gegen das Geschick, zu unumwundenem Versichern hinreißen, daß mir ihre „Bestimmung“ als ein Unsinn erschiene. Das Alles klang natürlich lästerlich, und die gute Tante fühlte sich nicht allein persönlich verletzt, sondern zitterte auch für meine rebellische, jetzt vielleicht so bald vor den ewigen Richterstuhl gerufene Seele …
Nur ein Mittel gab es, mich für einige Momente zu beruhigen. Das war, wenn man mir den kleinen Rudolf ins Zimmer brachte. „Du mein geliebtes Kind – Du mein Trost, meine Stütze, meine Zukunft!“ … so rief ich den Kleinen in meinem Innern an, wenn ich ihn erblickte. Er blieb aber nicht gern in dem traurigen, verhängten Krankenzimmer. Es war ihm wohl unheimlich, seine sonst so lustige Mama jetzt unaufhörlich im Bette liegen zu sehen, verweint und blaß. Er wurde selber ganz niedergeschlagen, und so behielt ich ihn immer nur für kurze Augenblicke bei mir.
Von meinem Vater kamen häufig Anfragen und Nachrichten. Er hatte an Friedrichs Obersten und [235] noch an mehrere Andere geschrieben, doch „noch keine Antwort erhalten“. Wenn eine Verlustliste eintraf, schickte er eine Depesche an mich:
„Friedrich nicht dabei.“
„Ob ihr mich nicht vielleicht betrügt?“ fragte ich einmal die Tante. „Ob nicht schon längst die Todesnachricht da ist – und ihr sie mir verhehlet?“
„Ich schwöre Dir …“
„Bei Deinem Glauben? bei Deiner Seele?“ …
„Bei meiner Seele.“
Solche Versicherung that mir unsäglich wohl, denn mit aller Macht klammerte ich mich an meine Hoffnung … Stündlich erwartete ich das Eintreffen eines Briefes, einer Depesche. Bei jedem Lärm im Nebenzimmer stellte ich mir vor, daß es der Bote sei; fast beständig waren meine Blicke zur Thür gerichtet, mit der beharrlichen Vorstellung, daß einer da eintreten müsse, die beglückende Botschaft in der Hand … Wenn ich auf jene Tage zurückschaue, so liegen sie wie ein langes, qualgefülltes Jahr in meiner Erinnerung. Der nächste Lichtblick war mir die Nachricht, daß abermals ein Waffenstillstand geschlossen worden sei – das bedeutete diesmal wohl den Frieden. An dem Tage nach dem Eintreffen dieser Neuigkeit stand ich zum erstenmale ein wenig auf. Der Friede! Welch ein süßer, wohliger Gedanke … Vielleicht zu spät für mich! … Gleichviel: ich fühlte mich doch unsäglich beruhigt: wenigstens brauchte ich mir nicht mehr täglich, stündlich den tosenden Kampf vorzustellen, von welchem Friedrich vielleicht gerade umgeben war …
[236] „Gott sei Dank, jetzt wirst Du bald gesund werden,“ sagte die Tante eines Tages, nachdem sie mir geholfen, mich auf einen Ruhesessel niederzulassen, den man mir zum offenen Fenster geschoben hatte. „Und da können wir nach Grumitz …“
„Sobald ich die Kraft habe, reise ich nach – Alsen!“
„Nach Alsen? Aber Kind, was fällt Dir ein?“
„Ich will dort die Stelle finden, wo Friedrich entweder verwundet oder –“ ich konnte nicht weitersprechen.
„Soll ich den kleinen Rudolf holen?“ fragte die Tante nach einer Weile. Sie wußte, daß dies das beste Mittel sei, um meine trüben Gedanken für eine Zeit zu verscheuchen.
„Nein, jetzt nicht – ich möchte ganz ruhig und allein bleiben … Auch Du thätest mir einen Gefallen, Tante, wenn Du in das Nebenzimmer gingest … vielleicht werde ich ein wenig schlafen. Ich fühle mich so matt …“
„Gut, mein Kind, ich will Dich in Ruhe lassen … Hier auf dem Tischchen neben Dir steht eine Glocke. Wenn Du etwas brauchst, wird gleich Jemand zur Hand sein.“
„War der Briefträger schon da?“
„Nein – es ist noch nicht Postzeit.“
„Wenn er kommt, so wecke mich.“
Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Leisen Schrittes ging die Tante hinaus. Dieses unhörbare [237] Auftreten hatten sich in letzter Zeit alle Hausgenossen angewöhnt.
Nicht schlafen wollte ich, sondern nur mit meinen Gedanken allein bleiben … Ich befand mich in demselben Zimmer, auf demselben Ruhesessel wie an jenem Vormittage, wo Friedrich gekommen war, mir mitzuteilen: „Wir haben Marschbefehl“. Es war auch eben so schwül, wie an jenem Tage, und wieder dufteten Rosen in einer Vase neben mir, wieder tönten von der Kaserne Trompetenübungen her. Ich konnte mich ganz in die Stimmung von damals zurückversetzen … Ich wollte, ich hätte wieder so einschlummern können und träumen, wie ich damals zu träumen wähnte: daß die Thür leise aufging und der geliebte Mann hereintrat … Die Rosen dufteten immer schwerer und durch das offene Fenster hallten die fernen Tra – ra – – – allmählich schwand mir das Bewußtsein der Gegenwart, immer mehr und mehr fühlte ich mich in jene Stunde zurückversetzt – vergessen war alles, was seither vorgefallen, nur die eine fixe Idee ward immer intensiver, daß jetzt und jetzt die Thür sich öffnen müsse, um dem Teuren Einlaß zu gewähren. Zu diesem Zwecke mußte ich aber träumen, daß ich die Augen halb offen hielt. Es war mir eine Anstrengung dies zu erzwingen, aber es gelang – linienbreit hob ich die Lider und – –
… Und da war es, das ersehnte, das beglückende Bild: Friedrich, mein geliebter Friedrich auf der Schwelle … Laut aufschluchzend und das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, fuhr ich aus meinem traumhaften Zustand auf. Mit einem Schlag war es mir [238] klar geworden, daß dies nur eine Hallucination gewesen, und das himmelshelle Glückslicht, welches von diesem Wahnbild ausgeflossen, ließ mir die höllenfinstere Nacht meines Unglücks nun desto schwärzer erscheinen.
„O mein Friedrich – mein Verlorener!“ stöhnte ich.
„Martha, Weib –!“
Was war das? Eine wirkliche Stimme – die seine – und wirkliche Arme, die mich stürmisch umfingen … Es war kein Traum: ich lag an meines Mannes Herzen.
Wie in der letzten Abschiedsstunde unser Schmerz sich mehr in Thränen und Küssen, denn in Worten geäußert hatte – so auch unser Glück in dieser Wiedersehensstunde. Daß man vor Freude wahnsinnig werden kann, ich fühlte es deutlich, als ich den Verlorengeglaubten wieder fest hielt, als ich schluchzend und lachend und erregungszitternd immer wieder den teuren Kopf mit beiden Händen faßte, um ihm Stirn und Augen und Mund zu küssen, unverständliche Worte stammelnd …
Auf meinen ersten Jubelschrei war Tante Marie aus dem Nebenzimmer herbeigeeilt. Auch sie hatte von Friedrichs Rückkunft keine Ahnung gehabt und bei seinem Anblick ließ sie sich mit einem lauten „Jesus, Maria und Joseph!“ auf den nächsten Sessel fallen.
Es dauerte lange, bis der erste Freudentaumel sich genug gelegt hatte, um gegenseitigen Fragen und [239] Gegenfragen, Mitteilungen und Berichten Raum zu lassen. Dann erfuhren wir, daß Friedrich in einem Bauernhause liegen geblieben war, während sein Regiment weiter gezogen. Die Wunde war keine schwere gewesen, dennoch hatte er mehrere Tage bewußtlos im Fieber gelegen. Briefe waren ihm in letzter Zeit keine zugekommen, und es war auch nicht möglich gewesen, solche abzuschicken. Als er genesen, da war der Waffenstillstand bereits erklärt und eigentlich der Krieg zu Ende. Nichts hinderte ihn, nach Hause zu eilen. Jetzt schrieb und telegraphierte er nicht mehr und reiste Tag und Nacht, um so schnell als möglich anzukommen. Ob ich noch am Leben, ob ich außer Gefahr war – das wußte er nicht. Er wollte sich auch gar nicht darum erkundigen – nur hin, nur hin, ohne eine Stunde zu verlieren und ohne seiner Heimfahrt etwa die Hoffnung abzuschneiden, daß er sein Liebstes wiederfindet … Und diese Hoffnung ward nicht getäuscht: jetzt hatte er sein Liebstes wiedergefunden: gerettet und selig – über die Maßen selig …
Bald übersiedelten wir alle nach meines Vaters Landsitz. Friedrich hatte zur Herstellung seiner Gesundheit einen längeren Urlaub erhalten und die ihm vom Arzt verordneten Mittel: Ruhe und gute Luft, konnte er am besten bei uns in Grumitz finden.
Das war ein glücklicher Nachsommer … Ich erinnere mich keines Zeitabschnittes in meinem Leben, der schöner gewesen wäre. Die endliche Vereinigung mit einem lang ersehnten Geliebten mag wohl unendlich sein; aber fast noch süßer will mir die Wiedervereinigung [240] mit einem schon halb Verlorengegebenen scheinen. Wenn ich mich für einen Moment in das Angstgefühl zurück versetzte, welches mich vor Friedrichs Rückkunft erfüllte, oder mir die Bilder herauf beschwor, welche meine Fiebernächte gequält hatten – Friedrich, allerlei Todesqual erleidend – und mich dann an seinem Anblick weidete, so jubelte mir das Herz. Ich hatte ihn jetzt noch lieber, noch hundertmal lieber, den wiedererlangten Gatten, und ich empfand seinen Besitz als einen immer anwachsenden Reichtum. Schon hatte ich mich für eine Bettlerin gehalten – und jetzt: – die Freudenmillion war mein!
Die ganze Familie war in Grumitz versammelt. Auch Otto, mein Bruder, brachte seine Ferien bei uns zu. Er war jetzt fünfzehn Jahre alt und sollte noch drei Jahre in der Wiener-Neustädter Militärakademie zubringen. Ein herziges Bürschchen, mein Bruder, und des Vaters Liebling und Stolz. Er sowohl, als Lilli und Rosa füllten das Haus mit ihrer Lustigkeit. Das war ein ewiges Lachen und Springen und Ball- und Raquette-Spiel und allerlei tolles Streiche-machen. Vetter Konrad, dessen Regiment unweit von Grumitz in Garnison lag, kam so häufig als möglich herübergeritten und hielt bei den Ausgelassenheiten der Jungen wacker mit. Eine zweite Partei bildeten die Alten – nämlich Tante Marie, mein Vater und einige als Gäste bei uns weilende Kameraden des Letzteren. Unter diesen wurde fleißig Karten gespielt, gemäßigte Parkpromenaden gemacht, den Tafelfreuden gehuldigt und unabsehbar viel „kannegegossen“. Die eben stattgehabten [241] kriegerischen Ereignisse und die durch letztere durchaus nicht zum Abschluß gebrachte schleswig-holsteinsche Frage boten ein ergiebiges Feld hierzu. Friedrich und ich lebten von den anderen eigentlich so ziemlich abgeschieden – nur zu den Mahlzeiten trafen wir mit ihnen zusammen – und auch das nicht immer. Man ließ uns gewähren. Es galt als ausgemacht, daß wir in einer zweiten Auflage des Honigmondes uns befanden und uns Einsamkeit gebühre. Und wir waren auch am liebsten allein. Nicht etwa, um, wie die anderen vermutlich glaubten, in Honigmondesart zu schäkern und zu kosen – dazu waren wir doch nicht „neuvermählt“ genug; aber weil wir im gegenseitigen Umgang die meiste Befriedigung fanden. Nach den kürzlich durchgemachten schweren Sorgen konnten wir die naive Munterkeit der Jugendpartei nicht teilen und noch weniger sympathisierten wir mit den Interessen und Unterhaltungen der Würdenspersonen, und so zogen wir es vor – unter dem uns stillschweigend zuerkannten Privilegium eines verliebten Paares – uns ein gutes Stück Abgeschiedenheit zu wahren. Wir unternahmen zusammen lange Spaziergänge, mitunter Ausflüge in die Umgebung, wobei wir den ganzen Tag abwesend blieben; viele Stunden verbrachten wir zu zweien im Bibliothekzimmer, und abends, wenn die verschiedenen Spielkarten in Angriff genommen wurden, zogen wir uns in unsere Gemächer zurück, wo wir bei Thee und Cigarre unsere vertraulichen Plaudereien wieder aufnahmen. Wir fanden immer unendlich viel uns zu sagen. Am liebsten erzählten wir einander von den [242] Trauer- und Schreckgefühlen, die wir während unserer Trennungszeit empfunden, dies weckte die Freude unseres Wiederfindens immer aufs neue. Wir kamen überein, daß Todesahnungen und dergleichen nichts als Aberglaube seien, denn beide waren wir seit der Stunde unseres Abschiedes von der Voraussicht erfüllt gewesen, daß eins oder das andere sterben müsse – und jetzt hatten wir uns wieder! Friedrich mußte mir genau alle die Gefahren und Leiden erzählen, die er eben durchgemacht, und die Greuelbilder des Schlachtfeldes und des Lazareths beschreiben, welche er neuerdings in seine schaudernde Seele aufgenommen. Ich liebte den Ton des Unwillens und des Schmerzes, der bei solchen Berichten in seiner Stimme zitterte. Aus der Art, wie er von den Grausamkeiten sprach, deren Zeuge er im Kriegsgetümmel gewesen war, hörte ich die Verheißung der Edelmenschlichkeit heraus, welche berufen ist, erst bei Einzelnen, später bei Vielen, endlich bei – Allen die alte Barbarei zu überwinden.
Auch mein Vater und Otto forderten Friedrich häufig auf, Episoden aus dem stattgehabten Feldzuge zum besten zu geben. Freilich geschah dies in ganz anderem Geiste, als wenn ich um eine solche Erzählung bat, und in anderem Geiste war denn auch Friedrichs Vortrag gehalten. Er begnügte sich damit, die taktischen Bewegungen der Truppen, die Ergebnisse der Gefechte, die Namen der genommenen und der verteidigten Ortschaften zu berichten, einzelne Lagerscenen zu beschreiben, Worte zu wiederholen, welche von den Heerführern gesprochen wurden, und was dergleichen [243] Kriegsmiscellen mehr sind. Sein Auditorium war entzückt davon; mein Vater lauschte mit Genugthuung, Otto mit Bewunderung, die Generäle mit sachverständiger Wichtigkeit. Nur ich konnte an dieser trockenen Erzählungsweise keinen Geschmack finden; ich wußte, daß dieselbe eine ganze Welt von Gefühlen und Gedanken verschwieg, welche die berichteten Dinge in des Erzählers Seelengrund geweckt hatten. Als ich ihm einst unter vier Augen darüber einen Vorwurf machte, entgegnete er:
„Falschheit? Unaufrichtigkeit? Mangel an Meinungsmut? Nein, liebes Kind, Du irrst – bloße Anständigkeit ist es. Erinnerst Du Dich unserer Hochzeitsreise, – unserer Abfahrt von Wien, das erste Alleinsein im Waggon – die Nacht im prager Hotel? Hast Du die Einzelheiten jener Stunden jemals hier erzählt – und jemals Deinen Freunden und Verwandten die Gefühle und Regungen dieser Rosenzeit geschildert?“
„Nein, gewiß nicht … von solchen Dingen schweigt wohl jede Frau …“
„Nun siehst Du, es gibt auch Dinge, von welchen jeder Mann zu schweigen pflegt. Ihr dürft von Euren Liebesfreuden nichts berichten; wir nichts von unseren Kriegsleiden. Ersteres könnte Eure Haupttugend – die Keuschheit – bloßstellen; letzteres die unsere – den Mut. Die Wonnen der Flitterwochen und die Schrecken des Schlachtfeldes: davon kann doch in gesitteter Gesellschaft kein ‚weibliches‘ Weib, kein ‚männlicher‘ Mann etwas erzählen. Wie? Du hättest in [244] der Verzückung der Liebe süße Thränen vergossen – wie? – ich hätte unter dem Hieb der Todessense aufgeschrieen – wie könntest Du Dich zu solcher Sinnlichkeit, wie dürfte ich zu solcher Feigheit mich bekennen?“
„Und hast Du geschrieen – hast Du gezittert, Friedrich? Mir kannst Du es sagen. Ich verschweige Dir auch die Geheimnisse meiner Liebesfreuden nicht, so magst Du –“
„Dir das Todesbangen eingestehen, das uns Soldaten auf der Wahlstatt erfaßt? Wie wäre es denn anders möglich? Die Phrase und die Dichtung lügt darüber hinweg – die durch Phrase und Dichtung künstlich angefachte Begeisterung vermag sogar den Naturtrieb der Selbsterhaltung momentan zu überwinden – aber nur momentan … Bei den Rohen kann auch mitunter Mord- und Zerstörungslust die Angst um das eigene Leben verscheuchen; bei den Ehrenfesten wird der Stolz vermögen, die äußere Kundgebung dieser Angst zu unterdrücken … Aber wie viele habe ich stöhnen und wimmern gehört, von den armen jungen Burschen – welche verzweifelnde Blicke, welch todesfurcht-verzerrte Gesichter hab’ ich gesehen – welche wilde Klagen und Flüche und flehendes Bitten vernommen!“
„Und das hat Dir weh gethan, Du mein Guter, Milder?“
„Oft zum Aufschreien weh, Martha. Und doch weniger, als es meiner Mitleidsfähigkeit eigentlich entspräche … Man sollte glauben, wenn man beim Anblick [245] eines vereinzelten Leidens von Mitgefühl ergriffen ist, daß vertausendfachtes Leid auch tausendmal stärkeres Mitgefühl wecken mußte. Aber das Gegenteil tritt ein: die Massenhaftigkeit stumpft ab. Man kann den einen nicht so heftig bedauern, wenn man um ihn herum 999 ebenso Unglückliche sieht. Aber wenn man auch die Fähigkeit nicht hat, über einen gewissen Grad von Mitschmerz hinaus zu fühlen – zu denken und zu berechnen vermag man es doch, daß die unfaßbare Jammerquantität vorhanden ist –“
„Das vermagst Du und ein paar andere – doch die meisten denken und berechnen nicht.“
„Denken nicht“, wiederholte er. „Gott sei’s geklagt, das ist an allen Übeln schuld: die meisten denken nicht.“ – –
Es war mir gelungen, Friedrich zu dem Entschlusse zu bewegen, den Dienst zu verlassen. Der Umstand, daß er – nach seiner Verheiratung – noch über ein Jahr gedient und mit Auszeichnung einen Feldzug mitgemacht, schützte ihn vor dem, meinem Vater in der Brautzeit aufgestiegenen Verdacht, daß die ganze Heirat nur den Zweck hatte, seine Laufbahn aufgeben zu können. Jetzt, wenn der Friede, dessen Präliminarien im Gange waren, geschlossen sein würde, und da voraussichtlich lange Jahre des Friedens bevorstanden – jetzt hatte ein Austritt aus dem Militärverband nichts Ehrverletzendes an sich. Zwar wiederstrebte es noch einigermaßen Friedrichs Stolz, auf
[246] Stellung und Einkommen zu verzichten, um, wie er sagte, „nichts zu thun, nichts zu sein und nichts zu haben“; aber seine Liebe zu mir war doch ein mächtigeres Gefühl, als sein Stolz, und er konnte meinen Bitten nicht widerstehen. Ich erklärte, ein zweites Mal könne ich die Seelenangst nicht durchmachen, die mir die letzte Trennung verursacht – und er mochte wohl selber solchen Schmerz nicht wieder auf uns Beide herabbeschwören. Das Zartgefühl, welches vor seiner Verheiratung mit mir ihn vor der Idee zurückschrecken ließ, von dem Vermögen der reichen Frau zu leben, das war jetzt nicht mehr im Spiele, denn wir waren so sehr eins geworden, daß zwischen „mein“ und „dein“ kein fühlbarer Unterschied mehr waltete, und verstanden einander so gut, daß er eine Mißbeurteilung seines Charakters von meiner Seite nicht mehr befürchten durfte. Der letzte Feldzug hatte zudem seine Abneigung gegen die Mordpflichten des Krieges noch so sehr vergrößert und das rückhaltlose Aussprechen dieser Abneigung hatte dieselbe so gefestigt, daß ihm das Quittieren nicht nur als eine unserem häuslichen Glücke gemachte Konzession, sondern zugleich als eine Bethätigung seiner Gesinnung, als einen Ueberzeugungstribut erscheinen ließ, und so versprach er mir, im kommenden Herbste – bis dahin mußten die Friedensverhandlungen doch beendet sein – seinen Abschied zu nehmen.
Wir planten, mit meinem, gegenwärtig im Bankhause Schmitt & Söhne liegenden Vermögen ein Gut zu kaufen, an dessen Bewirtschaftung Friedrich Beschäftigung [247] finden würde. Damit sollte der erste Teil seiner Sorge „nichts zu thun, nichts zu sein und nichts zu haben“, schon beseitigt werden. Für das Sein und Haben würde auch Abhilfe geschaffen:
„Sein: k. k. Oberst a. D. und ein glücklicher Mensch – ist das nicht genug?“ fragte ich. Und haben: Du hast uns – mich und Rudi und – – die Kommenden … ist das nicht auch genug?“
Er schloß mich lachend in die Arme.
Meinem Vater und den Anderen wollten wir von unseren Plänen vorläufig noch nichts mitteilen. Jedenfalls würden jene Einwände erheben, Ratschläge erteilen, Rügen aussprechen – und das war jetzt noch überflüssig. Später würden wir uns über derlei hinauszusetzen wissen; denn wenn sich zwei alles in allem sind, prallt jede fremde Meinung wirkungslos von ihnen ab. Diese gewonnene Sicherheit für die Zukunft erhöhte noch den Genuß der Gegenwart, welche sich ohnehin von der Folie der durchgemachten schweren Vergangenheit so vorteilhaft abhob … ich kann es nur wiederholen: es war eine schöne Zeit.
Mein Sohn Rudolf, nunmehr ein siebenjähriger kleiner Mann, fing jetzt an lesen und schreiben zu lernen, und seine Lehrerin – war ich. Ich hätte keiner „Bonne“ die Freude gegönnt – was ihr übrigens vermutlich gar keine gewesen wäre – diese kleine Seele langsam sich entfalten zu sehen und derselben die ersten Überraschungen des Wissens beizubringen. Oftmals war der Kleine unser Begleiter auf unseren Spaziergängen und wir wurden nicht [248] müde, die Fragen, welche seine erwachende Wißbegier an uns stellte, zu beantworten. Zu beantworten so gut und so weit wir konnten. Auf Lügen ließen wir uns nicht ein. Wir scheuten uns nicht, solche Fragen, auf die wir keinen Bescheid wußten – auf die kein Mensch Bescheid weiß – mit einem aufrichtigen „das weiß man nicht, Rudi“ zu beantworten. Anfänglich geschah es, daß Rudolf, mit solcher Antwort nicht zufrieden, seine Frage nochmals bei Tante Marie, bei seinem Großvater oder bei – der Kinderfrau vorbrachte, und da wurden ihm stets unzweifelhafte Aufschlüsse zu teil. Triumphierend kam er dann zu uns: „Ihr wißt nicht, wie alt der Mond ist? Ich weiß es jetzt: sechs tausend Jahre – merkt euch das.“ Friedrich und ich wechselten einen stummen Blick. Ein ganzes Buch voll pädagogischer Klagen und Bedenken lag in diesem Blick und diesem Schweigen.
Besonders unliebsam war mir die Soldatenspielerei, welche sowohl mein Vater wie mein Bruder mit dem Kleinen trieben. Die Begriffe von „Feind“ und von „Dreinhauen“ wurden ihm beigebracht, ich weiß gar nicht wie. Eines Tages kamen wir dazu, Friedrich und ich, wie Rudolf mit einer Reitgerte unbarmherzig auf zwei wimmernde junge Hunde einhieb.
„Das ist ein falscher Italiener,“ sagte er, auf das eine der armen Tierchen ausholend, „und das“ – auf das andere – „ein frecher Däne“.
Friedrich riß dem Nationenzüchter die Gerte aus der Hand:
„Und das ist ein herzloser Österreicher,“ sagte [249] er, indem er ein paar tüchtige Schläge auf Rudolfs Schultern fallen ließ. Italiener und Däne liefen vergnügt davon, und das Wimmern wurde jetzt von unserem kleinen Landsmann besorgt.
„Bist Du mir böse, Martha, daß ich Deinen Sohn geschlagen? Ich bin sonst wahrlich nicht für die Prügelstrafe eingenommen, aber Grausamkeit gegen Tiere kann mich entrüsten –“
„Du hast recht gethan,“ unterbrach ich.
„Also nur gegen Menschen … darf man … grausam sein?“ fragte der Kleine mitten in seinem Schluchzen.
„Auch nicht – noch weniger –“
„Du hast doch selber auf Italiener und Dänen gehaut?“
„Das waren Feinde –“
„Die also darf man hassen?“
„Und heute oder morgen“ – wandte sich Friedrich leise an mich – „wird ihm der Pfarrer sagen, daß man seine Feinde lieben solle – o Logik!“ Dann laut zu Rudolf: „Nicht, weil wir sie hassen, dürfen wir unsere Feinde schlagen, sondern weil sie uns schlagen wollen.“
„Und warum wollen sie uns schlagen?“
„Weil wir sie – nein, nein,“ unterbrach er sich, „aus diesem Cirkel find’ ich keinen Ausweg. Geh spielen, Rudi – wir verzeihen Dir – aber thu’s nicht wieder.“
Vetter Konrad machte, wie mir schien, einige Fortschritte in Lillis Gnade. Es geht doch nichts [250] über Ausdauer. Ich hätte diese Verbindung sehr gern gesehen, und beobachtete mit Vergnügen, wie die Blicke meiner Schwester froh aufleuchteten, wenn von weitem der Hufschlag von Konrads Pferde sich vernehmen ließ, und wie sie seufzte, wenn er wieder davonritt. Er machte ihr nicht mehr den Hof, das heißt er sprach nichts von seiner Liebe, brachte seine Werbung nicht von neuem vor – dennoch war sein Benehmen eine regelrechte Belagerung.
„Wie es verschiedene Arten gibt, eine Festung zu nehmen,“ so erklärte er mir eines Tages, – durch Sturm, – durch Hunger – so gibt es auch mehrfache Mittel, ein Frauenherz zur Kapitulation zu bringen. Darunter eins der wirksamsten: die Gewohnheit – die Rührung … Es muß sie doch rühren, daß ich so beharrlich liebe, dabei so beharrlich schweige und immer wiederkomme. Wenn ich ausbliebe, risse das eine gewaltige Lücke in ihre Existenz; und wenn ich noch eine Zeit lang so fortfahre, so wird sie ohne mich es gar nicht mehr aushalten.“
„Und wieviel mal sieben Jahre gedenkst Du so um Deine Erkorene zu dienen?“
„Das habe ich nicht berechnet … so lange, bis sie mich nimmt.“
„Ich bewundere Dich. Gibt es denn gar keine anderen Mädchen auf der Welt?“
„Für mich nicht. Ich habe mir die Lilli in den Kopf gesetzt. Sie hat ein gewisses Etwas um die Mundwinkel, im Gang, in der Art zu sprechen, das mir keine Andere ersetzen kann … Du, Martha, [251] bist zum Beispiel zehnmal hübscher und hundertmal gescheiter –“
„Danke –“
„Aber ich wollte Dich nicht zur Frau.“
„Danke.“
„Eben weil Du zu gescheit bist – Du würdest mich so gewiß von oben herab ansehen. Mein Kreuzchen am Kragen, mein Säbel, die Sporen imponieren Dir nicht. Lilli hat doch Respekt vor einem streitbaren Mann – ich weiß, sie betet das Militär an, während Du –“
„Ich habe doch zweimal Militärs geheiratet,“ erwiderte ich lächelnd.
Während der Mahlzeiten, an dem oberen Ende der Tafel, wo mein Vater und seine alten Freunde den Ton angaben und wo auch ich und Friedrich saßen – die Jugend war am anderen Ende und unterhielt sich untereinander – wurde zumeist „politisiert;“ das war so der alten Herren Lieblingsgesprächsstoff. Die schwebenden Friedensverhandlungen boten genügenden Anlaß zu dieser Weisheitsentfaltung; denn daß politische Erörterungen die gediegenste und ernster Männer würdigste Unterhaltung sei, das steht bei den meisten Leuten fest. Aus Galanterie und in freundlicher Rücksicht auf meine weibliche Verstandesschwäche, sagte wohl mitunter einer der Generäle: „Diese Dinge können unsere junge Baronin Martha kaum
[252] interessieren – wir sollten darüber nur sprechen, wenn wir unter uns sind, nicht wahr, schönes Frauchen?“
Aber dagegen verwahrte ich mich und bat ernstlich, das Gespräch fortzusetzen. Ich nahm an den Vorgängen in der militärischen und diplomatischen Welt wirklichen und gespannten Anteil. Nicht vom selben Standpunkt, wie diese Herren; doch war mir daran gelegen, die „dänische Frage“, deren Ursprung und Verlauf ich anläßlich des Krieges so aufmerksam studiert hatte, bis zu ihrem endgültigen Abschluß zu verfolgen. Jetzt, nach diesen Kämpfen und Siegen, hätte es wohl entschieden sein sollen, was mit den fraglichen Herzogtümern zu geschehen habe – aber immer noch schwebten die Fragen und die Zweifel. Der Augustenburger – der famose Augustenburger, wegen dessen altbegründeten Rechten der ganze Streit entbrannt war – war er denn jetzt eingesetzt? Durchaus nicht. Sogar ein ganz neuer Prätendent erschien auf dem Plan. Mit Glücksburg und Gottorp und wie alle die Linien und Nebenlinien hießen, deren Namen ich mir mühsam angeeignet hatte, war’s noch nicht genug. Jetzt trat Rußland auf und schob dem Augustenburger einen – Oldenburger vor. Das Resultat des Krieges aber war bisher, daß weder einem Glücks-, noch Augusten-, noch Olden-, noch sonst einem -burger die Herzogtümer gehören sollten, sondern den verbündeten Siegern. Folgendes, so erfuhr ich, waren die Artikel der eben im Gang befindlichen Friedensunterhandlungen:
1) „Dänemark tritt die Herzogtümer an Österreich und Preußen ab.“
[253] Damit war ich zufrieden. Die Verbündeten würden sich nun natürlich beeilen, das nicht für sich, sondern für einen anderen eroberte Land diesem anderen zu übergeben.
2) „Die Grenze wird genau reguliert.“
Das wäre auch ganz hübsch; wenn nur diese Regulierungen ein bischen mehr Verharrungskraft hätten; aber es ist ja erbärmlich, welche ewige Verschiebungen solche blaue und grüne Striche auf den Landkarten unaufhörlich zu erleiden haben.
3) „Die Staatsschulden werden nach dem Maß der Bevölkerung verteilt.“
Das verstand ich nicht. Bis zu volkswirtschaftlichen und finanziellen Fragen hatte ich mich in meinen Studien nicht aufgeschwungen; ich nahm an der Politik nur sofern Anteil, als sie auf Krieg und Frieden Bezug hatte, denn dies war mir – als Mensch und Gattin – Herzensfrage.
4) „Die Kriegskosten tragen die Herzogtümer.“
Das war[WS 5] mir wieder einigermaßen klar. Das Land war verwüstet worden, die Saaten zertreten, dessen Söhne getötet: einiger Ersatz gebührte ihm doch – nun denn: es durfte die Kriegskosten tragen.
„Und was gibt es heute Neues mit Schleswig-Holstein?“ fragte ich selber, wenn das Gespräch noch nicht auf das politische Gebiet gelenkt worden war.
„Das neueste ist,“ berichtete am 13. August mein Vater, „daß Herr von Beust an den Bundestag die Frage gestellt hat, mit welchem Rechte die Verbündeten sich die Herzogtümer von einem Könige abtreten [254] ließen, den der Bund gar nicht als rechtmäßigen Besitzer anerkannt hatte.“
„Das ist eigentlich ein ganz vernünftiger Einwand,“ bemerkte ich; „denn es hieß ja doch, der Protokoll-Prinz sei nicht der legitime Herr der deutschen Lande, und nun laßt Ihr Euch feierlich von Christian IX. –“
„Das verstehst Du nicht, Kind“ – unterbrach mein Vater. „Eine Frechheit, eine Chicane ist es von diesem Herrn von Beust, weiter nichts. Die Herzogtümer gehören ohnehin schon uns, da wir sie erobert haben.“
„Aber doch nicht für Euch erobert? – es hieß: für den Augustenburger.“
„Das verstehst Du wieder nicht. Die Gründe, welche vor Ausbruch eines Krieges von den Kabinetten als Veranlassung desselben angegeben werden, die treten in den Hintergrund, sobald die Schlachten einmal geschlagen worden. Da bringen die Siege und Niederlagen ganz neue Kombinationen hervor; dann vermindern und vermehren und bilden sich die Reiche in vorher ungeahnten Verhältnissen.“
„Also sind die Gründe eigentlich keine Gründe, sondern Vorwände gewesen?“ fragte ich.
„Vorwände? nein“ – kam einer der Generäle meinem Vater zu Hilfe. – „Anlässe vielmehr, Anstöße zu den Ereignissen, welche sich dann selbständig nach Maßstab der Erfolge gestalten.“
„Hätte ich zu sprechen,“ sagte mein Vater, „so würde ich nach Düppel und Alsen wahrlich zu keinen [255] Friedensverhandlungen mich hergegeben haben – ganz Dänemark hätte man erobern können.“
„Und was damit?“
„Dem deutschen Bunde einverleiben.“
„Du bist doch sonst nur spezifisch österreichischer Patriot, lieber Vater – was liegt Dir an der Vergrößerung Deutschlands?“
„Hast Du vergessen, daß die Habsburger deutsche Kaiser waren und es wieder werden können?“
„Das würde Dich freuen?“
„Welchen Österreicher sollte dies nicht mit Freude und Stolz erfüllen?“
„Wie aber“, meinte Friedrich, „wenn die andere deutsche Großmacht gleiche Träume nährte?“
Mein Vater lachte laut auf:
„Die Krone des heiligen römisch-deutschen Reiches auf dem Haupte eines protestantischen Königleins? Bist Du bei Trost?“
„Wenn jetzt nur nicht“, bemerkte Dr. Bresser, „zwischen den beiden Mächten über das Objekt, für welches sie vereint gefochten haben, ein Streit entsteht. Die Elbprovinzen erobern – das war eine Kleinigkeit – aber was nun damit anfangen? Das kann noch zu allerlei Verwickelungen Anlaß geben. Jeder Krieg – was immer dessen Ausgang sei – enthält unweigerlich den Keim eines folgenden Krieges in sich. Ganz natürlich: ein Gewaltakt verletzt immer irgend ein Recht. Dieses erhebt über kurz oder lang seine Ansprüche und der neue Konflikt bricht aus – wird [256] dann von neuem durch unrechtsschwangere Gewalt zum Austrag gebracht – und so ins Unendliche.“
Einige Tage später gab es wieder eine Neuigkeit. König Wilhelm von Preußen stattete unserem Kaiser in Schönbrunn einen Besuch ab. Äußerst herzlicher Empfang, Umarmung. Aufgehißte preußische Adler. Von allen Militärkapellen vorgetragene preußische Volkshymne. Jubelnde Hochrufe. Mir waren diese Berichte wohlthuend, denn durch sie wurde die schlimme Prophezeiung Doktor Bressers zu Schanden gemacht, daß die beiden Mächte über das gemeinschaftlich befreite Ländchen miteinander in Streit geraten würden. Dieser beruhigten Zuversicht gaben auch allenthalben die Zeitungen Ausdruck.
Mein Vater freute sich gleichfalls über die freundschaftlichen Kundgebungen in Schönbrunn. Aber nicht vom friedlichen, sondern vom kriegerischen Standpunkte aus.
„Ich bin froh,“ sagte er, „daß wir nun einen neuen Alliierten haben. Mit Preußen im Bunde werden wir – ebenso leicht, wie wir die Elbherzogtümer erobert haben – uns die Lombardei zurückholen können.“
„Das wird Napoleon III. nicht zugeben, und mit dem wird sich der Preuße auch nicht brouillieren wollen“, meinte einer der Generäle. „Es ist ohnehin ein schlechtes Zeichen, daß Benedetti, Österreichs ärgster Feind, jetzt Gesandter in Berlin ist.“
„Aber sagt mir doch, Ihr Herren“, rief ich, die Hände faltend, warum schließen denn nicht die sämtlichen [257] gesitteten Mächte Europas einen Bund? das wäre doch das einfachste.“ …
Die Herren zuckten die Achseln, lächelten überlegen und gaben mir keine Antwort. Ich hatte offenbar wieder eine jener Dummheiten ausgesprochen, wie sie „die Damen“ zu sagen pflegen, wenn sie sich in das ihnen unzugängliche Gebiet der höheren Politik wagen.
Der Herbst war gekommen. Am 30. Oktober wurde zu Wien der Friede unterzeichnet und somit war der Zeitpunkt da, wo mein Lieblingswunsch – Friedrichs Quittierung – erfüllt werden sollte.
Aber der Mensch denkt und die Umstände lenken. Es traf ein Ereignis ein – ein schwerer Schlag für mich – das unsere so froh gehegten Pläne scheitern machte. Einfach dies: das Haus Schmitt & Söhne brach zusammen und mein gesamtes Privatvermögen war hin.
Auch eine Folge des Krieges, dieses Fallissement. Nicht nur die Mauern, auf welche sie gezielt sind, schießen die Kartätschen und Bomben zusammen –: durch diese Erschütterung fallen auch in weitem Umkreis Bankhäuser und Kreditgebäude in Trümmer …
Ich war darum nicht – wie so manche andere – an den Bettelstab gebracht; denn mein Vater würde es mir an nichts fehlen lassen. Aber mit dem Quittierungsplane war es jetzt vorbei. Wir waren keine unabhängigen [258] Leute mehr; jetzt war Friedrichs Gehalt unsere einzige selbständige Hilfsquelle. Wenn mir mein Vater auch eine genügende Zulage gewähren würde – unter solchen Umständen war es ausgeschlossen, daß Friedrich den Dienst verlasse. Ich selber konnte es ihm nicht zumuten: welche Rolle hätte er da meinem Vater gegenüber gespielt?
Es war nichts zu machen – wir mußten uns fügen. „Bestimmung“ hätte Tante Marie gesagt. Von der Kränkung, die ich über diesen bedeutenden pekuniären Verlust empfand – es handelte sich um mehrere Hunderttausend – weiß ich nicht viel zu berichten. Es finden sich nämlich in meinem Tagebuch keine weitläufigen Eintragungen darüber, und auch mein Gedächtnis – das seither so viel tiefer schmerzende Eindrücke aufgenommen hat – weist von diesen Vorfällen keine sehr lebhaften Spuren mehr auf. Ich weiß nur, daß mir hauptsächlich um das schöne Luftschloß leid war, welches wir uns da gebaut hatten: Quittierung, Gutsankauf, unabhängige, von der sogenannten „Welt“ abgeschiedene Existenz; im übrigen traf mich der Verlust nicht gar so schwer. Denn, wie gesagt: mein Vater würde mir bei seinen Lebzeiten nichts abgehen lassen und hernach mir ein genügendes Erbe hinterlassen; auch meinem Sohn Rudolf stand in Zukunft sicherer Reichtum bevor. Eins tröstete mich: es war ja nicht der mindeste Krieg in Sicht; man konnte gut auf zehn bis zwanzig Friedensjahre hoffen. – Bis dahin! …
Schleswig-Holstein und Lauenburg waren im Vertrag [259] vom 30. Oktober endgültig an Preußen und Österreich zu freier Verfügung abgetreten. Diese beiden, nunmehr die besten Freunde, würden sich dieses Erfolges freuen, die hieraus erwachsenden Vorteile brüderlich teilen und keinen Grund finden zu streiten. Nirgends – am ganzen politischen Horizont – der berüchtigte „schwarze Punkt“. Die Scharte der in Italien erlittenen Niederlage war durch den in Schleswig-Holstein geholten Waffenruhm genügend ausgewetzt, es lag also auch für den militärischen Ehrgeiz keine Veranlassung mehr vor, neue Feldzüge heraufzubeschwören. In dieser Hinsicht also war ich beruhigt. Daß der Krieg vor so kurzer Zeit gewesen, faßte ich als Bürgschaft auf, daß derselbe sich nicht so bald wiederholen würde. Auf Regen folgt Sonnenschein und im Sonnenschein vergißt man den Regen. Auch nach Erdbeben und Vulkanausbrüchen bauen die Menschen auf der Schuttstätte wieder neue Wohnungen auf und denken nicht an die Gefahr, daß die überstandene Katastrophe sich wiederhole. Ein Hauptbestandteil unserer Lebensenergie scheint in der Vergeßlichkeit zu liegen.
Wir nahmen Winterquartier in Wien. Friedrich hatte nunmehr Beschäftigung im Kriegsministerium, eine Thätigkeit, die er dem Kasernendienst jedenfalls vorzog. Dieses Jahr waren meine Schwestern mit Tante Marie den Fasching über nach Prag gezogen. Daß Konrads Regiment gegenwärtig in der böhmischen Hauptstadt lag, war doch nur eine Zufälligkeit? Oder sollte dieser Umstand einigermaßen auf die Wahl des Winteraufenthaltes Einfluß gehabt haben? Als ich [260] letztere Vermutung meiner Schwester Lilli gegenüber fallen ließ, errötete sie tief und antwortete achselzuckend:
„Du weißt doch, daß ich ihn nicht mag.“
Mein Vater bezog seine alte Wohnung in der Herrengasse. Er trug uns an, wir möchten uns bei ihm niederlassen, da er genügend Raum dazu hätte; wir zogen es aber vor, allein zu leben, und mieteten am Franz-Joseph-Quai ein kleines Mezzanin. Meines Mannes Gehalt und das mir von meinem Vater ausgestellte Monatsgeld genügten für unseren bescheidenen Haushalt reichlich. Auf abonnierte Logen, Hofbälle – überhaupt auf „in die Welt gehen“ mußte freilich verzichtet werden. Aber wie leicht verzichteten wir da! Es war uns sogar angenehm, daß meine pekuniären Verluste dieses Zurückziehen rechtfertigten – denn wir liebten die Zurückgezogenheit.
Einem kleinen Kreise von Verwandten und Freunden blieb unser Haus immerhin offen. Besonders meine Jugendfreundin Lori Griesbach besuchte uns oft, öfter beinahe als mir lieb war. Ihre Gespräche, die mir schon früher stark oberflächlich erschienen waren, fand ich jetzt gar ermüdend schal, und ihr Interessenhorizont, dessen Enge ich immer erkannt hatte, machte mir den Eindruck, jetzt noch zusammengeschrumpfter zu sein. Aber hübsch war sie und lebhaft und kokett. Ich begriff, daß sie in der Gesellschaft so manchen den Kopf verdrehte – und es hieß, daß sie sich nicht ungern den Hof machen ließ. Was mir nicht ganz angenehm war, war die Wahrnehmung, daß ihr Friedrich sehr wohl gefiel, und daß sie manche Blickpfeile auf ihn [261] abschoß, welche offenbar die Bestimmung hatten, in seinem Herzen sitzen zu bleiben. Loris Mann, eine Zierde des Jockeyclubs, des Rennplatzes und der Theatercoulissen, war bekanntermaßen so wenig treu, daß eine kleine Rachenahme ihrerseits nicht allzustreng zu verdammen gewesen wäre; aber daß Friedrich als Revanchemittel dienen sollte – dagegen hätte ich doch einiges einzuwenden gehabt …
Eifersüchtig – ich? … Ich wurde rot, als ich mich bei dieser Erregung ertappte. Ich war ja seines Herzens so sicher … Keine, keine auf der Welt konnte er so lieben wie mich. Nun ja: lieben – aber eine kleine Verliebtseinsflamme – die hätte immerhin neben der mir geweihten, sanften Glut aufflackern können …
Lori verhehlte mir gar nicht, wie sehr sie an Friedrich Gefallen fand:
„Hörst Du, Martha – Du bist wirklich zu beneiden um diesen charmanten Mann.“ Oder: „Bewache ihn nur ordentlich, Deinen Friedrich, denn dem setzen gewiß alle Frauenzimmer nach.“
„Ich bin seiner Treue sicher,“ antwortete ich darauf.
„Laß Dich nicht auslachen – als ob „treu“ und „Ehemann“ nebeneinander genannt werden könnten, das gibt’s nicht. Du weißt, wie zum Beispiel mein Mann –“
„Mein Gott, vielleicht bist Du da auch falsch berichtet. Dann sind ja nicht alle gleich –“
„Alle, alle – glaube mir. Ich kenne keinen von unseren Herren, der nicht … Unter denen, die mir den Hof machen, sind mehrere verheiratet – was [262] wollen die nun? Offenbar nicht mich und nicht sich in ehelicher Treue üben.“
„Sie wissen vermutlich, daß Du sie nicht erhören wirst … Und gehört Friedrich auch zu dieser Phalanx?“ fragte ich lachend.
„Das werde ich Dir doch nicht sagen, Gänschen. Es ist ohnehin sehr schön von mir, Dich aufmerksam zu machen, wie gut er mir gefällt. Jetzt heißt es nur, ein wachsames Auge öffnen.“
„Ich habe es schon weit offen, dieses Auge Lori, und dasselbe hat bereits mit Mißbehagen verschiedene Koketterie-Angriffe Deinerseits wahrgenommen.“
„Da haben wir’s! So werde ich mich in Zukunft besser verstellen müssen“ …
Wir lachten beide; dennoch fühlte ich, daß – so wie hinter meiner scherzhaft vorgebrachten Eifersucht eine wirkliche Regung dieser Leidenschaft sich verbarg – so auch unter ihrer vermeintlich neckenden Rede ein Kern von Wahrheit lag.
Loris Mann hatte den Schleswig-Holsteiner Feldzug nicht mitgemacht und das verdroß ihn sehr. Auch Lori ärgerte sich ob dieses „Pechs“.
„So ein schöner, siegreicher Krieg!“ klagte sie. „Jetzt wäre Griesbach gewiß um eine Stufe im Rang vorgerückt. Nun, das Tröstliche ist, daß bei einer nächsten Campagne –“
„Was fällt Dir ein?“ unterbrach ich. „Dazu ist nicht die mindeste Aussicht. Oder weißt Du einen Anlaß? Wofür sollte denn jetzt ein Krieg geführt werden?“
[263] „Wofür? Darum kümmere ich mich wahrlich nicht. Die Kriege kommen und sind da. Alle fünf oder sechs Jahre bricht immer wieder etwas aus – das ist so der Gang der Geschichte.“
„Es müssen aber doch Gründe vorliegen?“
„Vielleicht … doch wer kennt sie? Ich gewiß nicht, und mein Mann auch nicht. „Warum schlägt man sich denn eigentlich dort droben,“ fragte ich ihn während des letzten Krieges. „Das weiß ich nicht – ist mir auch ganz egal,“ antwortete er achselzuckend. Ärgerlich ist nur, daß ich nicht mit dabei bin,“ fügte er hinzu. O, Griesbach ist ein echter Soldat. – Das ‚warum‘ und das ‚wozu‘ der Kriege, das geht den Soldaten nichts an. Das machen die Diplomaten untereinander ab. Ich habe mir nie den Kopf zerbrochen über alle die politischen Streitigkeiten. Uns Frauen geht es schon gar nichts an – wir würden doch nichts davon verstehen. Ist das Gewitter einmal losgebrochen, so heißt es beten –“
„Daß es beim Nachbar einschlage und nicht bei uns, das ist freilich das einfachste.“
- Gnädige Frau!
Ein Freund – vielleicht auch ein Feind gleichviel – ein Wissender, der sich nicht nennen will, benachrichtigt Sie hierdurch, daß Sie betrogen werden. Auf die verräterischste Weise betrogen. Ihr scheinheiliger Mann und Ihre unschuldigthuende Freundin
[264] lachen Sie aus ob Ihres gutmütigen Vertrauens, Sie arme, verblendete Frau. Ich habe meine Gründe, den Beiden die Maske vom Gesicht zu reißen. Nicht aus Wohlwollen für Sie handle ich da, denn ich kann mir denken, daß diese Entlarvung zweier geliebter Wesen Ihnen eher Schmerz als Gewinn bringen wird – aber ich bin Ihnen nicht wohlwollend gesinnt. Vielleicht bin ich sogar ein verstoßener Anbeter, der sich rächt … Was liegt am Motiv? Die Thatsache ist da, und wenn Sie Beweise wollen, so kann ich Ihnen dieselben liefern. Ohne Beweise würden Sie einem anonymen Brief ohnehin keinen Glauben schenken. Beifolgendes Billet hat Gräfin Gr*** verloren.“
Diese überraschende Epistel lag eines schönen Frühlingsmorgen auf unserem Frühstückstisch. Friedrich saß mir gegenüber, mit seiner Post beschäftigt, während ich Obiges las und zehnmal wiederlas. Das dem verräterischen Schreiben beigelegte Billet war in einen Extra-Umschlag verschlossen und ich zögerte, denselben aufzureißen.
Ich schaute zu Friedrich auf. Er war in ein Morgenblatt vertieft, doch mußte er meinen auf ihn gerichteten Blick gefühlt haben, denn er ließ die Zeitung sinken und mit seinem gewohnten lieben, lächelnden Ausdruck wandte er den Kopf zu mir:
„Nun, was gibt’s, Martha? Warum starrst Du mich so an?“
„Ich möchte wissen, ob Du mich noch lieb hast?“
[265] „Schon lange nicht mehr,“ scherzte er. „Eigentlich habe ich Dich nie recht leiden können.“
„Das glaube ich nicht.“
„Aber jetzt sehe ich erst – Du bist ja ganz blaß! Hast Du eine böse Nachricht erhalten?“
Ich schwankte. Sollte ich ihm den Brief zeigen? Sollte ich vorher das Beweisstück besehen, welches ich noch immer unerbrochen in der Hand hielt? Die Gedanken schwirrten mir im Kopfe … Mein Friedrich, mein alles, mein Freund und Gatte, mein Vertrauter und Geliebter – könnte er mir verloren sein? Untreu – er? Ach, ein momentaner Sinnentaumel, weiter nichts … War da in meinem Herzen nicht Nachsicht genug, um das zu verzeihen, zu vergessen, als nicht geschehen zu betrachten? … Aber die Falschheit! Wie, wenn auch sein Herz sich von mir abwendete, wie, wenn er die verführerische Lori lieber hatte als mich? …
„So sprich doch – Du bist ja ganz verstummt … Zeige mir den Brief, der Dich so erschreckt hat.“ Er streckte die Hand darnach aus.
„Da hast Du.“ Ich überließ ihm das schon gelesene Blatt; die Einlage behielt ich zurück.
Er überflog die angeberischen Zeilen. Mit einem zornigen Fluche zerknitterte er das Blatt und sprang von seinem Sitze auf.
„Eine Infamie!“ rief er. „Und wo ist das vermeintliche Beweisstück?“
„Hier – noch uneröffnet. Friedrich, sag’ nur ein Wort und ich werfe das Ding ins Feuer. – Ich will keine Beweise, daß Du mich betrogen hast.“
[266] „O Du meine Einzige!“ … Er war jetzt an meiner Seite und umschlang mich stürmisch – „mein Kleinod! Sieh mir in die Augen – zweifelst Du an mir? Beweis, oder kein Beweis – genügt Dir mein Wort?“
„Ja,“ sagte ich und warf das Papier in den Kamin.
„Es fiel aber nicht in die Flammen, sondern blieb neben dem Roste liegen. Friedrich hatte sich darauf hingestürzt und hob es auf.
„Nein, nein, das dürfen wir nicht vernichten – ich bin zu neugierig … wir[WS 6] wollen es zusammen ansehen. Ich erinnere mich nicht, je Deiner Freundin etwas geschrieben zu haben, was auf ein Verhältnis schließen ließe – welches nie bestanden hat.“
„Aber Du gefällst ihr, Friedrich … Du brauchst nur Dein Taschentuch hinzuwerfen –“
„Glaubst Du? … Komm, laß uns dieses Dokument besichtigen. – Richtig: meine Schrift! Ah, sieh her, es sind ja die zwei Zeilen, die Du mir selber vor einigen Wochen diktiert hattest, als Deine rechte Hand verwundet war:
„Meine Lori, komm, ich erwarte Dich mit Sehnsucht heute um 5 Uhr Nachmittag.
- Martha (noch immer Krüppel).“
„Die Bedeutung der Klammer nach der Unterschrift hat der Finder des Billets nicht verstanden … Das ist wirklich ein komisches Quiproquo. Gottlob, daß dieses prächtige Beweismaterial nicht verbrannt ist – jetzt ist meine Unschuld am Tage. Oder hast Du noch immer Verdacht?“
[267] „Schon seitdem Du mir ins Auge gesehen hast – nicht mehr. – Weißt Du, Friedrich, daß ich sehr unglücklich gewesen wäre – Dir aber doch verziehen hätte. Lori ist kokett, sehr hübsch … Sag’ – hat sie Dir nicht Avancen gemacht? – Du schüttelst den Kopf … Nun freilich: hierin hättest Du ein Recht ja beinah’ die Pflicht, sogar mich anzulügen – ein Mann darf weder angenommene noch verschmähte Frauengunst verraten.“
„Du würdest mir also eine Verirrung verzeihen? Bist Du nicht eifersüchtig?“
„Doch – auf herzquälerische Weise … Wenn ich Dich mir vorstelle, einer Anderen zu Füßen, von den Lippen einer anderen Seligkeit nippend … gegen mich erkaltet – jedes Begehren erstorben – das ist mir schrecklich. Dennoch – das Ersterben Deiner Liebe fürchte ich nicht – Dein Herz wird unter keinen Umständen mehr gegen mich erkalten, dessen fühle ich mich sicher – unsere Seelen sind ja so verschlungen, aber –“
„Ich verstehe. Du brauchst mir aber durchaus nicht zuzumuten, daß ich für Dich fühle wie ein Ehemann nach der silbernen Hochzeit. Dazu sind wir doch noch zu jung verheiratet – so weit das Feuer der Jugend (ich bin freilich schon vierzig Jahre alt) noch in mir lodert, brennt es für Dich. Du bist mir das einzige Weib auf Erden. Und sollte in der That noch einmal eine andere Versuchung an mich herankommen – ich habe den festen Willen, sie von mir abzuwehren. Das Glück, welches in dem Bewußtsein [268] liegt, den Treueschwur bewahrt zu haben; die stolze Gewissensruhe, mit der man sich sagen kann, daß man den festgeschlungenen Lebensbund in jeder Beziehung heilig gehalten – das alles finde ich zu schön, um es durch einen vorübergehenden Sinnentaumel vernichten zu lassen. Du hast überhaupt einen so vollständig glücklichen Menschen aus mir gemacht, meine Martha daß ich über alles, was Berauschung, was Lust, was Vergnügen ist, so erhaben bin, wie der Besitzer von Goldbarren über den Gewinn von Kupfermünzen.“
Wie wonnig mir solche Worte ins Herz fielen. Ich war dem anonymen Briefschreiber förmlich dankbar, daß er mir zu diesem süßen Auftritt verholfen. Auch habe ich jedes Wort in die roten Hefte gesetzt. Hier kann ich die Eintragung noch nachlesen, unter dem Datum 1/4. 1865. Ach wie weit – wie weit liegt das alles zurück!
Friedrich hingegen war gegen den Verleumder höchlichst aufgebracht. Er schwor, herauszubringen, wer das Machwerk verfaßt, um den Thäter gehörig zu strafen.
Ich erfuhr noch am selben Tage, was Ursprung und Zweck des Schriftstücks gewesen; den Erfolg desselben – nämlich, daß Friedrich und ich uns nunmehr noch ein wenig näher gekommen – hatte der Urheber schwerlich vorausgesehen.
Am Nachmittage ging ich zu meiner Freundin Lori, um ihr den Brief zu zeigen. Ich wollte sie aufmerksam machen, daß sie einen Feind habe, von welchem sie fälschlich verdächtigt wurde, und wollte mit ihr über [269] den Fall lachen, daß mein diktiertes Billet so mißdeutet worden.
Sie lachte mehr als ich geglaubt.
„Also bist Du über den Brief erschrocken?“
„Ja, tödlich. Und doch hätte ich beinahe das inliegende Billet ungelesen verbrannt.“
„Da wäre ja der ganze Spaß mißlungen –“
„Welcher Spaß?“
„Du hättest am Ende noch geglaubt, daß ich Dich wirklich betrüge. Laß mich bei dieser Gelegenheit Dir beichten, daß ich in einer verrückten Stunde – es war nach dem Diner bei Deinem Vater, wo ich neben Tilling saß, und weil ich zu viel Champagner getrunken hatte – daß ich da wirklich mein Herz so zu sagen auf einem Präsentierteller ihm antrug –“
„Und er?“
„Und er mir noch rechtzeitig sagte, daß er Dich über alles liebe und fest entschlossen sei, Dir bis zum Tode treu zu bleiben. Damit Du nun dieses Phänomen desto besser schätzen lernen mögest, ist der ganze Spaß gemacht worden.“
„Von welchem Spaß redest Du nur immer?“
„Du weißt doch: nachdem der Brief samt Einlage von mir kommt –“
„Von Dir? … Ich weiß nichts.“
„Hast Du denn das Begleitschreiben nicht umgewendet? Sieh her: hier steht ja auf der Kehrseite der Name und das Datum: Erster April.
[270] Näher gebracht – immer näher! Ich habe es erfahren, daß die Annäherungsfähigkeit liebender Herzen zu jenen Dingen gehört, die keine Grenzen haben – wie zum Beispiel die Teilbarkeit. Man sollte glauben, ein Partikelchen sei schon so klein, daß es nicht kleiner gedacht werden könne, und doch: es läßt sich noch in zwei Hälften spalten; und man sollte glauben, zwei Herzen seien schon so ineinander verschmolzen, daß ein innigeres Einswerden nicht mehr möglich wäre, und doch: eine äußere Einwirkung und noch fester und näher – immer näher – umschlingen und durchdringen sich die Herzensatome.
So hatte Loris ziemlich geschmackloser Aprilscherz auf uns gewirkt, und so wirkte noch ein äußeres Ereignis, welches kurz darauf eintrat. Ein heftiges Nervenfieber nämlich, das mich sechs Wochen auf das Krankenlager warf. Ein an sich zwar trübes Ereignis – und doch wie fruchtbar an glücklichen Erinnerungen für mich und wie einflußreich auf den oben geschilderten Vorgang: das „Noch-näher-bringen“ von zwei so allernahesten Herzen. War es die Furcht, mich zu verlieren, die mich dem Gatten noch teurer machte, oder war mir seine Liebe nur noch offenbarer geworden durch sein Krankenwärter-Benehmen – kurz, während dieses Nervenfiebers und nach demselben fühlte ich mich noch viel mehr und noch viel sicherer geliebt als zuvor.
Vor dem Sterben hatte ich mich auch wohl gefürchtet. Einmal, weil es mir schrecklich leid gethan hätte, ein Leben zu verlieren, das mir so reich an [271] Schönheit und Glück schien, und meine Lieben – Friedrich, mit dem ich so gern alt geworden wäre, Rudolf, den ich so gern zum Manne auferzogen hätte, zu verlassen; zweitens auch – nicht in Selbstsucht, sondern im Hinblick auf Friedrich – war mir der Gedanke an den Tod entsetzlich, denn ich wußte, so gewiß als man nur wissen kann, daß der Schmerz, mich zu begraben, den Beraubten schier unerträglich wäre … Nein, nein: glückliche Menschen und von teuern Wesen geliebte Menschen können nicht Todesverachtung empfinden. Zu dieser gehört vor allem Lebensverachtung. Ich konnte auf meinem Lager, wo die Krankheit mit ihrer tödlichen Gewalt mich umschwirrte, wie der Krieger auf dem Schlachtfeld von Kugeln umschwirrt wird, mich so recht in die Empfindung solcher Soldaten hineindenken, welche das Leben lieben, und welche wissen, daß ihr Tod geliebte Wesen in Verzweiflung stürzen würde.
„Nur das eine hat der Soldat vor dem Fieberkranken voraus: das Bewußtsein erfüllter Pflicht,“ antwortete mir Friedrich, als ich ihm diese Gedanken mitteilte. „Doch darin gebe ich Dir recht: gleichgültig sterben, freudig sterben, – was uns allenthalben zugemutet wird – das kann kein glücklicher Mensch. Das konnten nur die aller Lebensnot Preisgegebenen in alter Zeit, die an der Friedensexistenz gar nichts zu verlieren hatten, oder solche, die sich und ihre Brüder nur durch den Tod von Schmach und unerträglichem Joch befreien können.“
Als die Gefahr überstanden war, wie genoß ich [272] da meine Genesung, meine Wiedergeburt! Das war ein Fest – für uns beide. Ähnlich dem Glücke bei der Wiedervereinigung nach dem Schleswig-Holsteiner Kriege, aber doch anders. Dort kam die Freude mit einem Schlag und hier nach und nach – und zudem, wir waren uns ja seither wieder näher, immer näher.
Mein Vater hatte mich während meiner Krankheit täglich besucht und viel Besorgnis gezeigt; dennoch, ich wußte, daß er sich meinen Tod nicht übertrieben zu Herzen genommen hätte. Seine beiden jüngeren Töchter hatte er viel lieber als mich, und der Liebste von Allen war ihm Otto. Ich war ihm durch meine zwei Heiraten, namentlich durch die zweite, und vielleicht auch durch meine ganz verschiedene Denkungsart, einigermaßen entfremdet. Als ich vollständig hergestellt war – es war Mitte Juni –, übersiedelte er nach Grumitz und forderte mich lebhaft auf, samt meinem kleinen Rudolf mitzukommen. Ich aber zog es vor, da Friedrich diensteshalber die Stadt nicht verlassen durfte, meinen Landaufenthalt ganz in der Nähe von Wien zu nehmen, wo mein Mann mich täglich besuchen konnte, und so mietete ich eine Sommerwohnung in Hietzing.
Meine Schwestern, immer unter Tante Mariens Schutz – reisten nach Marienbad. In ihrem letzten Brief aus Prag schrieb mir Lilli unter Anderem:
„Ich muß Dir gestehen, daß Vetter Konrad anfängt, mir – gar nicht zuwider zu werden. Während so manchen Cotillons war ich in der Laune, wenn er nur die betreffende Frage gestellt hätte, [273] „ja“ zu sagen. Er unterließ es aber, den entscheidenden Schritt im rechten Moment zu thun. Als es hieß, daß wir abreisen sollten, hat er zwar wieder einen neuen Antrag gemacht, aber da hatte ich einen neuen Anfall von Korbgeben. Das habe ich mir dem armen Konrad gegenüber schon so angewöhnt, daß, wenn er das bekannte: „Willst Du nicht doch meine Frau werden, Lilli?“ vorbringt, meine Zunge ganz von selber antwortet: „Fällt mir gar nicht ein.“ Diesmal aber habe ich hinzugefügt: „Frage in sechs Monaten nochmals an.“ Ich werde nämlich den Sommer über mein Herz prüfen. Sehne ich mich nach dem Abwesenden, verläßt mich der Gedanke an ihn – der mich jetzt so ziemlich unablässig im Wachen und Träumen verfolgt – auch in Marienbad nicht; gelingt es dort und auch in folgender Jagdsaison keinem Anderen, Eindruck auf mich zu machen – dann hat des eigensinnigen Vetters Ausdauer gesiegt.“
Um dieselbe Zeit schrieb mir Tante Marie; (Es ist zufällig der einzige Brief von ihr, den ich aufbewahrt habe.)
„Mein liebes Kind! Das war eine ermüdende Winter-Campagne: Ich werde nicht wenig froh sein, wenn Rosa und Lilli Partien gefunden haben werden. Gefunden hätten sie deren zwar genug, denn wie Du weißt, haben sie hier im Laufe des Faschings jede ein Vierteldutzend Körbe ausgeteilt – den perennierenden Konrad gar nicht mitgerechnet. Jetzt [274] wird die Plackerei in Marienbad wieder anheben. Ich wäre für mein Leben gern nach Grumitz gegangen, oder zu Dir – und muß statt dessen die mühsame und undankbare Chaperon-Rolle bei den vergnügungssüchtigen Mädchen weiterspielen.
Ich freue mich sehr, zu hören, daß Du wieder ganz gesund bist. Jetzt, da die Gefahr vorüber, kann ich Dir sagen, daß wir sehr besorgt waren – Dein Mann schrieb uns eine Zeit lang so verzweifelte Briefe: jeden Augenblick fürchtete er, Dich sterben zu sehen. Nun das war Dir, Gott sei Dank, nicht bestimmt. Die Novene, welche ich für Deine Genesung bei den Ursulinerinnen abgehalten, hat vielleicht auch zu Deiner Rettung beigetragen. Der liebe Gott wird Dich für Deinen Rudi erhalten. Grüße mir den lieben Kleinen, und er soll nur immer recht brav lernen. Ich schicke ihm gleichzeitig ein paar Bücher: „Das fromme Kind und sein Schutzengel“ – eine wunderschöne Geschichte – und „Vaterländische Helden“ – eine Sammlung von Kriegsbildern für Knaben. Man kann den Kleinen nicht früh genug Sinn für derlei beibringen. Dein Bruder Otto z. B. war noch nicht fünf Jahre alt, als ich ihm schon vom großen Alexander, von Cäsar und anderen berühmten Eroberern erzählte – und wie ist er jetzt für alles Heroische begeistert – es ist ein Vergnügen!
Ich habe vernommen, daß Du den Sommer in der Nähe von Wien bleiben willst, statt nach [275] Grumitz zu gehen. Daran thust Du sehr unrecht. Die Luft in Grumitz würde Dir viel besser bekommen, als die des staubigen Hietzing – und der arme Papa wird sich langweilen, so allein. Vermutlich willst Du Deines Mannes wegen nicht fort; aber mir will scheinen, daß die Tochterpflichten doch auch nicht ganz vernachlässigt werden sollten. Tilling könnte ja doch bisweilen auch einen Tag nach Grumitz kommen. Gar so viel beieinander sein ist für Eheleute nicht einmal gut – glaube meiner Lebenserfahrung. Ich habe bemerkt, daß die besten Ehen diejenigen sind, wo die Gatten sich nicht immer gegenseitig auf dem Halse sitzen, sondern einander eine gewisse Freiheit lassen. Jetzt leb’ wohl, schone Dich, damit Du keinen Rückfall bekommst, und überlege Dir das noch mit Hietzing. Der Himmel schütze Dich und Deinen Rudi! – Dies das aufrichtige Gebet Deiner Dich liebenden
Tante Marie.
P. S. Dein Mann hat ja Verwandte in Preußen (zum Glück ist er nicht so arrogant wie seine Landsleute), frage ihn doch, was man dort im allgemeinen spricht über die politische Lage. Dieselbe ist doch sehr bedenklich.“
[276] Dieser Brief meiner Tante brachte mir erst wieder ins Gedächtnis, daß es eine „politische Lage“ gebe. Die ganze Zeit über hatte ich mich nicht um derlei gekümmert. Vor und nach meiner Krankheit hatte ich zwar, wie immer, viel gelesen: Tag- und Wochenblätter, Revüen und Bücher, aber die Leitartikel der Zeitungen waren unbeachtet geblieben; seitdem ich nicht mehr die bange Frage aufstellte: „Krieg oder nicht Krieg“, besaß der inner- und außerpolitische Klatsch kein Interesse für mich. Erst anläßlich der Nachschrift des oben angeführten Briefes fiel mir ein, das Vernachlässigte einzuholen und mich nach den gegenwärtigen Verhältnissen zu erkundigen.
„Was will denn Tante Marie mit diesem ‚bedrohlich‘ sagen, Du minder arroganter Preuße?“ frug ich meinen Mann, ihm den Brief zu lesen gebend. „Gibt es denn überhaupt jetzt eine politische Lage?“
„Die gibt es – gerade so wie irgend ein Wetter – leider immer. Und dabei ebenso veränderlich und trügerisch –“
„Nun, so erzähle mir … Spricht man etwa noch immer von den verwickelten Elbherzogtümern? Sind die nicht abgemacht?“
„Mehr als je spricht man davon. Nicht im geringsten abgemacht. Die Schleswig-Holsteiner haben jetzt große Lust, die Preußen – die ‚arroganten‘, denn das sind wir, dem neuesten Schlagwort gemäß – wieder ganz los zu werden. ‚Eher dänisch als preußisch‘, wiederholen sie eine ihnen von den Mittelstaaten gegebene Losung. Und weißt Du, wie das abgedroschene [277] ‚Meerumschlungen‘-Lied jetzt zur Abwechselung gesungen wird:
„Schleswig-Holstein stammverwandt
Schmeißt die Preußen aus dem Land.“
„Und was ist’s mit dem Augustenburger? Den haben sie doch? O sag’ mir nicht, Friedrich, daß sie ihn nicht haben … Wegen dieses einzig berechtigten Thronerben, nach welchem die armen dänengedrückten Lande sich so gesehnt, mußte der ganze Krieg, der mich Dich – Dich! – hätte kosten können, geführt werden! Laß mir also wenigstens den Trost, daß der nötige Augustenburg in seine Rechte eingesetzt worden und über die ungeteilten Herzogtümer regiert. Auf diesem ‚ungeteilt‘ bestehe ich: das ist ein altes historisches Recht, das jenem seit mehreren hundert Jahren verbürgt ist und dessen Begründung ich mir mühsam genug erforscht habe.“
„Schlecht steht’s um Deine historischen Rechtsansprüche, meine arme Martha“, lachte Friedrich. „Vom Augustenburger ist – außer in seinen eigenen Protesten und Manifesten – gar nicht mehr die Rede!“
Von nun an fing ich wieder an, mich um die politischen Verwicklungen zu bekümmern und erfuhr folgendes:
Festgesetzt und anerkannt war – trotz des beim wiener Frieden gezeichneten Protokolls – eigentlich noch gar nichts. Die schleswig-holsteinische Frage war seither in allerlei Stadien gebracht worden, „schwebte“ aber mehr als je. Der Augustenburger und der Oldenburger hatten sich beeilt – nach der von seiten des [278] Glücksburgers erfolgten Abtretung –, beim Bundestag zu reklamieren. Und Lauenburg verlangte stürmisch, dem Königreich Preußen einverleibt zu werden. Niemand wußte, was die Verbündeten nun eigentlich mit den eroberten Provinzen anfangen würden. Von diesen beiden Mächten selber mutete jede der anderen zu, daß jede die andere übervorteilen wolle.
„Was will nur dieses Preußen?“ Das ist nunmehr die von Österreich, von den Mittelstaaten und den Herzogtümern stets aufgeworfene, Böses ahnende Frage. Napoleon III. rät Preußen, es solle die Herzogtümer – bis auf das dänisch redende Nordschleswig annektieren. Aber daran denkt Preußen vorläufig nicht. Am 22. Februar 1865 formuliert es endlich seine Ansprüche dahin: Preußische Truppen bleiben in den Landen; die letzteren haben ihre Wehrkraft zu Wasser und zu Land mit Ausnahme eines Bundeskontingents Preußen zur Verfügung zu stellen. Der Kieler Hafen wird in Besitz genommen: Post und Telegraphen sollen preußisch werden und die Herzogtümer müssen sich dem Zollverein anschließen.
Über diese Forderungen ärgert sich – ich weiß nicht warum – unser Minister Mensdorf-Ponilly. Und noch mehr – ich weiß schon gar nicht warum – vermutlich aus Neid, diesem Grundzug in Behandlung der „äußeren Angelegenheiten“ – ärgern sich die Mittelstaaten. Dieselben verlangen ungestüm, der Augustenburger möge eiligst, sofort, in die Verwaltung der Herzogtümer eingesetzt werden. Österreich hat aber [279] auch etwas zu sagen und sagt – indem es den Augustenburger als Luft behandelt – daß es den Besitz des Kieler Hafens gern zugestehe, aber gegen die Rekrutierung und Matrosenpresse sich verwahre.
So wird unablässig fortgestritten. Preußen erklärt, daß seine Forderungen nur im Interesse Deutschlands gemacht werden, daß es Annektierung gar nicht verlange – Augustenburg möge, unter Gewährung der gestellten Forderungen, sein Erbrecht antreten; wenn aber diese notwendigen und billigen Ansprüche nicht befriedigt werden, dann – mit drohend erhobener Stimme – dann werde es vielleicht gezwungen sein, mehr zu fordern. – Gegen diese drohenden erheben sich sofort höhnische, hämische, hetzende Stimmen. In den Mittelstaaten und in Österreich wird die öffentliche Meinung gegen Preußen und namentlich gegen Bismarck immer mehr verbittert. Am 27. Juni tragen die Mittelstaaten darauf an, von den Großmächten Auskunft zu verlangen, aber (Auskunftgeben ist auch nicht diplomatischer Brauch, nur alles schön geheim) die Großmächte unterhandeln unter sich. König Wilhelm reist nach Gastein, Kaiser Franz Joseph nach Ischl. Graf Blome fliegt zwischen beiden hin und her und man einigt sich über verschiedene Punkte: die Besatzung soll halb österreichisch und halb preußisch werden. Lauenburg wird – wie es ja selber wünschte – Preußen einverleibt. Dafür erhält Österreich eine Entschädigung von zweieinhalb Millionen Thaler. Dieses letztere Ergebnis ist durchaus nicht im stande, mir patriotische Freude einzuflößen. Was soll den [280] sechsunddreißig Millionen Österreichern – selbst wenn sie unter ihnen verteilt würde, was nicht geschieht – diese unbedeutende Summe nützen? Würde sie die Hunderttausende ersetzen, die zum Beispiel ich bei Schmitt & Söhne durch den Krieg verloren? Oder gar die Verluste derjenigen, die ihre gefallenen Lieben beweinen? … Was mich freut, ist ein am 14. August zu Gastein unterzeichneter Vertrag. – „Vertrag“, das Wort klingt so friedensverheißend. Erst später habe ich die Erfahrung gemacht, daß die internationalen Verträge sehr oft dazu da sind, um durch gelegentliche Verletzungen dasjenige herbeizuschaffen, was man einen „casus belli“ nennt. Da braucht denn nur einer den anderen des „Vertragsbruches“ anzuklagen und sofort springen – mit allem Anschein der Verteidigung verbriefter Rechte – die Schwerter aus der Scheide.
Mir jedoch gewährte der Gasteiner Vertrag Beruhigung. Der Streit schien beigelegt, General Gablenz – der schöne Gablenz, für welchen wir Frauen alle leise schwärmten – ward Statthalter in Holstein; – Manteuffel in Schleswig. Auf meine im Jahre 1460 erhaltene Lieblingszusicherung, daß die Lande ewig zusammen bleiben, „ungeteilt“, mußte ich jetzt doch endgültig verzichten. Und was meinen Augustenburger betraf, für dessen Rechte ich mich so mühsam erwärmt hatte, so geschah, daß der Prinz einmal ins Land kam und sich von seinen Getreuen anjubeln ließ, worauf ihm Manteuffel bedeutete, daß, wenn er noch einmal sich unterstände, ohne Erlaubnis in die Gegend zu kommen, er ihn unweigerlich verhaften lassen müßte. [281] Wer das keinen guten Witz der Muse Klio findet, der hat kein Verständnis für die „Fliegenden Blätter“ der Geschichte.
Trotz des Gasteiner Vertrages wollte die Angelegenheit nicht zur Ruhe kommen, und da ich nun – durch Tante Mariens Brief und die darauf erhaltenen Auskünfte aufgeschreckt – nunmehr wieder regelmäßig die politischen Leitartikel las und mich allseitig über die herrschenden Meinungen erkundigte, so konnte ich die Phasen des schwebenden Streites wieder genau verfolgen. Daß derselbe zu einem Krieg führen würde, fürchtete ich nicht. Solche Prozeßsachen mußten doch auf dem Wege der Prozesse – nämlich durch Abwägung der Rechtsansprüche und durch hiernach zu fällenden Rechtsspruch – zum Austrag zu bringen sein. Alle diese beratenden Minister- und Bundesversammlungen, diese unterhandelnden Staatsmänner und freundschaftlich verkehrenden Monarchen, würden doch mit diesen – im Grunde so unwichtigen – Streitfragen fertig werden. Mehr mit Neugierde, als mit Besorgnis folgte ich dem Gang dieser Angelegenheit, deren verschiedene Stadien ich in den roten Heften notiert finde:
- 1. Oktober 1865. In Frankfurt Abgeordnetentag, folgende Beschlüsse gefaßt: 1) Selbstbestimmungsrecht des schleswig-holsteinischen Volkes bleibt in Kraft. Der Gasteiner Vertrag wird als Rechtsbruch von der Nation verworfen. 2) Alle Volksvertreter sollen den Regierungen, welche die bisherige Politik der Vergewaltigung fordern, alle Steuern und Anlehen verweigern.
[282]
- 15. Oktober. Preußischer Kronsyndikus gibt sein Gutachten über die Erbrechte des Prinzen Augustenburg ab. Der Vater desselben habe für sich und seine Nachkommen, gegen eine Summe von anderthalb Millionen Speziesthaler auf die Thronanwartschaft verzichtet. Im wiener Frieden seien die Herzogtümer abgetreten – somit habe der Augustenburger gar nichts mehr zu beanspruchen.
Eine Frechheit, eine Anmaßung – wird die in Berlin geführte Sprache genannt, und die „preußische Arroganz“ wird zum Schlagwort. „Gegen die muß man sich schützen“: das wird allenthalben als Dogma aufgestellt. König Wilhelm scheint sich auf den deutschen Viktor Emanuel aufspielen zu wollen.“ – „Österreich hat die stille Absicht, Schlesien zurück zu erobern.“ „Preußen buhlt mit Frankreich.“ „Österreich buhlt mit Frankreich“ … et patati et patatà, wie die Franzosen sagen … Tritschtratsch heißt es auf deutsch und pflegt in den Kaffeekränzchen der Kleinstädter nicht eifriger betrieben zu werden, als zwischen den Kabinetten der Großmächte.
Der Winter brachte unsere ganze Familie wieder nach Wien zurück. Rosa und Lilli hatten sich in den böhmischen Bädern sehr gut unterhalten, aber verlobt hatte sich keine. Konrads Aktien standen vortrefflich. In der Jagdsaison war er nach Grumitz gekommen, und obwohl bei dieser Gelegenheit das entscheidende Wort noch immer nicht gesprochen wurde, waren jetzt doch beide in ihrem Innern überzeugt, daß sie als ein Paar enden würden.
Auch zu diesen Herbstjagden war ich, trotz meines Vaters dringenden Zuredens, nicht erschienen. Friedrich [283] hatte keinen Urlaub erhalten, und mich von ihm zu trennen, war ein Leidwesen, das ich mir ohne Notwendigkeit nicht auferlegen mochte. Ein zweiter Grund, mich nicht auf längere Zeit zu meinem Vater zu begeben, war der, daß ich meinen kleinen Rudolf nicht gern dem großväterlichen Einfluß überließ, denn dieser war dazu angethan, dem Kinde militärische Neigungen einzuflößen. Die Lust zu diesem Berufe, zu welchem ich meinen Sohn durchaus nicht bestimmen wollte, war ohnehin schon in ihm geweckt. Vermutlich lag’s im Blute. Der Sproß einer langen Reihe von Kriegern muß naturgemäß kriegerische Anlagen zur Welt bringen. In den naturwissenschaftlichen Werken, deren Studium wir jetzt eifriger denn je betrieben, hatte ich von der Macht der Vererbung gelernt, von dem Wesen der sogenannten „angeborenen Anlagen“, welche weiter nichts sind, als der Drang, die von den Ahnen angenommenen Gewohnheiten zu bethätigen.
Zu des Kleinen Geburtstag brachte ihm sein Großvater diesmal richtig wieder einen Säbel.
„Du weißt doch, Vater,“ sagte ich ärgerlich, „daß mein Rudolf durchaus nicht Soldat werden soll; ich muß Dich schon ernstlich bitten –“
„Also ein Muttersöhnchen willst Du aus ihm machen? Das wird Dir hoffentlich nicht gelingen. Gutes Soldatenblut lügt nicht: … Ist der Bursch einmal erwachsen, so wird er seinen Beruf schon selber wählen – und einen schöneren gibt es nicht, als den, welchen Du ihm verbieten willst.“
[284] „Martha fürchtet sich, den einzigen Sohn der Gefahr auszusetzen“, bemerkte Tante Marie, welche diesem Gespräche beiwohnte; „sie vergißt aber, daß, wenn es einem bestimmt ist, zu sterben, ihn dieses Los ebensogut im Bett als im Krieg ereilt.“
„Also, wenn in einem Kriege hunderttausend Menschen zu grunde gegangen sind, so wären dieselben auch im Frieden verunglückt?“
Tante Marie war um eine Antwort nicht verlegen.
„Diese Hunderttausend waren dann eben bestimmt, im Krieg zu sterben.“
„Wenn aber die Menschen so gescheit wären, keinen solchen mehr zu beginnen?“ warf ich ein.
„Das ist aber eine Unmöglichkeit“, rief mein Vater, und damit war das Gespräch wieder auf eine Kontroverse gebracht, welche er und ich des öfteren – und zwar stets in denselben Geleisen – zu führen pflegten. Auf der einen Seite die gleichen Behauptungen und Gründe, auf der anderen die gleichen Gegenbehauptungen und Gegengründe. Es gibt nichts, worauf die Fabel der Hydra so gut paßt, wie auf das Ungetüm: stehende Meinung. Kaum hat man ihm so einen Argumentenkopf abgeschlagen und macht sich daran, den zweiten folgen zu lassen, so ist der erste schon wieder nachgewachsen.
Da hatte mein Vater so ein paar Lieblingsbeweise zu Gunsten des Krieges, die nicht umzubringen waren.
1. Kriege sind von Gott – dem Herrn der Heerscharen – selber eingesetzt, siehe die heilige Schrift.
[285]2. Es hat immer welche gegeben, folglich wird es auch immer welche geben.
3. Die Menschheit würde sich ohne diese gelegentliche Dezimierung zu stark vermehren.
4. Der dauernde Friede erschlafft, verweichlicht, hat – wie stehendes Sumpfwasser – Fäulnis, nämlich den Verfall der Sitten zur Folge.
5. Zur Bethätigung der Selbstaufopferung, des Heldenmuts, kurz zur Charakterstählung sind Kriege das beste Mittel.
6. Die Menschen werden immer streiten, volle Übereinstimmung in allen Ansprüchen ist unmöglich – verschiedene Interessen müssen stets aneinanderstoßen, folglich ewiger Friede ein Widersinn.
Keiner dieser Sätze, namentlich keins der darin enthaltenen „folglich“ läßt sich stichhaltig behaupten, wenn man ihm zu Leibe rückt. Aber jeder dient dem Verteidiger als Verschanzung, wenn er die anderen fallen lassen mußte. Und während die neue Verschanzung fällt, hat sich die alte wieder aufgerichtet.
Zum Beispiel wenn der Kriegskämpe, in die Enge getrieben, nicht mehr im stande ist, Nr. 4 aufrecht zu erhalten und zugeben muß, daß der Friedenszustand menschenwürdiger, beglückender, kulturfördernder sei als der Krieg, so sagt er:
Nun ja, ein Übel ist der Krieg schon, aber unvermeidlich, denn: Nr. 1 und 2.
Zeigt man nun, daß er vermieden werden könnte, durch Staatenbund, Schiedsgerichte u. s. w., so heißt es:
Nun ja, man könnte wohl, aber soll nicht, denn: Nr. 5.
Jetzt wirft der Friedensanwalt diesen Einwand um und beweist, daß im Gegenteile, der Krieg den Menschen verroht und entmenschlicht –
Nun ja, das schon, aber – Nr. 3.
[286] Dieses Argument, wenn von den Verherrlichern des Krieges angeführt, ist schon das allerunaufrichtigste. Eher dient es jenen, die den Krieg verabscheuen und die für die grausige Erscheinung doch einen Grund, ein die Natur sozusagen entschuldigendes Moment auffinden wollen; aber wer im Innern den Krieg liebt und ihn erhalten hilft, der thut es sicher nicht im Hinblick auf das Wohlbefinden entfernter Geschlechter. Die gewaltthätige Dezimierung der gegenwärtigen Menschheit durch Totschlag, künstliche Seuchenbildung und Verarmung wird gewiß nicht veranstaltet, um von der künftigen die Gefahr etwaigen Mangelleidens abzulenken; wenn menschliches Eingreifen nötig wäre, um zum allgemeinen Wohle Übervölkerung zu verhüten, so gäbe es wohl direktere Mittel hierzu als Kriegführung. Das Argument ist also nur eine Finte, welche aber meist mit Erfolg angewendet wird, weil sie verblüfft. Das Ding klingt so gelehrt und eigentlich sehr menschenfreundlich – man denke nur: unsere lieben in einigen tausend Jahren lebenden Nachkommen, denen müssen wir doch genügenden Ellbogenraum schaffen! – Dieses Nr. 3 bringt viele Friedensverteidiger in Verlegenheit. Über solche naturwissenschaftliche und sozialökonomische Fragen sind die wenigsten Leute unterrichtet; die wenigsten wissen wohl, daß das Gleichgewicht von Sterblichkeit und Fruchtbarkeit von selber sich herstellt; daß die Natur über ihre Lebewesen nicht die vernichtenden Gefahren bringt, um deren Überzahl zu verhüten, sondern umgekehrt: daß sie die Fruchtbarkeit derer erhöht, die großen Gefahren ausgesetzt sind. Nach einem Kriege [287] z. B. steigt die Zahl der Geburten und so wird der Verlust wieder ersetzt; nach langem Frieden und bei Wohlstande fällt diese Zahl – und so tritt die Übervölkerung – dieses Wahngespenst – überhaupt nicht ein. Das alles aber hat man nicht klar vor Augen; man fühlt nur instinktiv, daß das berühmte Nr. 3 nicht richtig sein kann und keinesfalls vom anderen ehrlich gemeint ist. Da begnügt man sich, das alte Sprichwort anzuführen: „Es ist schon dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen“ und dann – nicht jenes Resultat haben die Machthaber im Auge …
– Zugegeben – aber Nr. 1.
Und so nimmt der Streit kein Ende. Der Kriegerische behält immer recht; sein Räsonnement bewegt sich in einem Kreise, wo man ihm stets nachlaufen, ihn aber nie erreichen kann. Der Krieg ist ein schreckliches Übel, aber er muß sein. – Er muß zwar nicht sein, aber er ist ein hohes Gut. Diesen Mangel an Folgerichtigkeit, an logischer Ehrlichkeit, lassen sich alle jene zu schulden kommen, welche aus uneingestandenen Gründen – oder auch ohne Gründe, bloß instinktiv – eine Sache vertreten und hier alle ihnen je zu Ohren gekommenen Phrasen und Gemeinplätze benutzen, welche zur Verteidigung der betreffenden Sache in Umlauf gesetzt worden sind. Daß diese Argumente von den verschiedensten Standpunkten ausgehen, daß sie daher einander nicht nur nicht unterstützen, sondern mitunter geradezu aufheben, das ist jenen einerlei. Nicht weil diese oder jene Schlüsse dem eigenen Nachdenken [288] entsprungen und der eigenen Überzeugung gemäß sind, sind sie zu ihrer aufgestellten Behauptung gelangt, sondern nur um diese letztere zu stützen, gebrauchen sie auswahllos die von anderen Leuten durchdachten Folgerungen.
Das alles konnte ich mir zwar damals, wenn ich mit meinem Vater über das Thema Krieg und Frieden stritt, nicht so ganz klar machen; erst später habe ich mir angewöhnt, den Verrichtungen des Geistes im eigenen und im Kopfe anderer beobachtend nachzuspüren. Ich erinnere mich nur, daß ich immer höchst ermüdet und abgespannt aus diesen Diskussionen hervorging, und jetzt weiß ich, daß diese Ermüdung von dem „Im-Kreise-nachlaufen“ kam, zu welchem mich meines Vaters Streitweise zwang. Der Schluß war dann doch jedesmal ein seinerseits mit mitleidigem Achselzucken gesprochenes „Das verstehst Du nicht“, welches – da es sich um militärische Dinge handelte – im Munde eines alten Generals, einer jungen Frau gegenüber, gewiß sehr gerechtfertigt klang.
Neujahr 1866. Wieder saßen wir alle – bei Punsch und Faschingkrapfen – um meines Vaters Tisch versammelt, als die erste Stunde dieses verhängnisvollen Jahres schlug. Es war ein heiteres Fest. Zugleich mit Sylvester feierten wir eine Verlobung: Konrad und Lilli. Als der Zeiger auf Zwölf wies und auf der Straße einige Freudenschüsse losgingen,
[289] umschlang mein unternehmender Vetter das neben ihm sitzende Mädchen, preßte – zu unser aller Staunen – einen Kuß auf ihre Lippen und fragte dann:
„Willst Du mich in 66?“
„Ja – ich will,“ antwortete sie; „ja – ich hab’ Dich lieb, Konrad.“ Das war nun von allen Seiten ein Gläser-erklingen-lassen und umarmen und Händeschütteln, und Glück- und Segenwünschen ohne Ende:
„Das Brautpaar soll leben“ – „Konrad und Lilli – hoch!“ – „Gott segne eueren Bund, Kinder“ – „Gratuliere herzlichst, Vetter“ – „Sei glücklich, Schwester“ und so weiter und so weiter. Eine freudige und gerührte Stimmung bemächtigte sich unser aller. Vielleicht nicht bei allen ganz neidlos; denn so wie der Tod das traurigste und bedauernswerteste Ereignis abgibt, so ist die Liebe – die zum lebenschaffenden Bunde sanktionierte Liebe – das fröhlichste und beneidenswerteste. Ich konnte zwar von Neid nichts spüren, denn mir war das der neuen Braut erst verheißene Glück schon zum wirklichen und festen Besitz geworden; es beschlich mich eher ein Gefühl des Zweifels: „So ein vollkommenes Glück, wie es mir von Friedrich bereitet wird, kann wohl der armen Lilli kaum zu teil werden … Konrad ist zwar ein allerliebster Mensch, aber – es gibt nur einen Friedrich!“
Mein Vater machte dem Gratulationstumult ein Ende, indem er mit dem an seinem kleinen Finger befindlichen Siegelring an das Glas klopfte und sich zum sprechen erhob:
[290] „Meine lieben Kinder und Freunde“ – sagte er ungefähr – „das Jahr sechsundsechzig fängt gut an. Mir bringt es schon in der ersten Stunde die Erfüllung eines Lieblingswunsches – denn auf den Konrad als Schwiegersohn hatte ich es lange abgesehen. Hoffen wir, daß dieses freundliche Jahr auch unsere Rosa unter die Haube und euch – Martha und Tilling – einen Storchbesuch bringt … Ihnen, Doktor Bresser, soll es zahlreiche Patienten verschaffen – was zwar mit den vielen Gesundheitswünschen, die heute ausgetauscht werden, nicht recht klappt … und Dir, liebe Marie, bescheere es – vorausgesetzt, daß es Dir bestimmt sei, ich kenne und ehre Deinen Fatalismus – einen Haupttreffer, oder einen vollständigen Ablaß, oder was Du Dir sonst wünschen magst; … Dich, mein Otto, beschenke es mit zahlreicher „Eminenz“ zu Deiner Schlußprüfung und mit allen möglichen soldatischen Tugenden und Kenntnissen, damit Du einst eine Zierde der Armee und der Stolz Deines alten Vaters werdest … Letzterem muß ich doch auch einiges Gute zukommen lassen, und da dieser keine höheren Wünsche kennt, als das Wohl und den Ruhm Österreichs, so möge das kommende Jahr dem Lande einen großen Gewinn bringen – die Lombardei oder – was weiß ich? – die Provinz Schlesien … Man kann nicht wissen, was sich da alles vorbereitet – es ist gar nicht unmöglich, daß wir dieses, der großen Maria Theresia entwendete Land den frechen Preußen wieder abnehmen“ …
Ich erinnere mich, daß der Schluß von meines [291] Vaters Trinkrede „eine Kälte“ verbreitete. Die Lombardei und Schlesien – wahrlich, nach diesen fühlte niemand unter uns ein dringendes Bedürfnis. Und der darunter versteckte Wunsch: „Krieg“ – also neuer Jammer, neue Todesqual – der stimmte schon gar nicht zu der weichen Fröhlichkeit, welche diese, durch einen neuen Liebesbund geweihte Stunde, in unseren Herzen wachgerufen. Ich erlaubte mir sogar eine Entgegnung:
„Nein, lieber Vater – für die Italiener und für die Preußen ist heute auch Neujahr … da wollen wir ihnen kein Verderben wünschen. Mögen im Jahre 66 und in den folgenden alle Menschen besser, einträchtiger und glücklicher werden!“
Mein Vater zuckte die Achseln!
„O, Du Schwärmerin,“ sagte er mitleidig.
„Durchaus nicht,“ nahm mich Friedrich in Schutz. „Der von Martha ausgedrückte Wunsch beruht nicht auf Schwärmerei – denn seine Erfüllung ist uns wissenschaftlich verbürgt. Besser und einträchtiger und glücklicher werden die Menschen beständig – seit den Uranfängen bis auf heute. Aber so unmerklich langsam, daß eine kleine Spanne Zeit, wie ein Jahr, kein sichtbares Vorwärtsschreiten aufweisen kann.“
„Wenn Ihr so fest an den ewigen Fortschritt glaubt,“ warf mein Vater ein. „warum dann euer häufiges Klagen über Reaktion, über Rückfall in die Barbarei?“ …
„Weil“ – Friedrich zog einen Bleistift aus der Tasche und zeichnete auf ein Blatt Papier eine Spirale [292] – „weil der Gang der Civilisation so beschaffen ist wie dieses … Bewegt sich diese Linie, trotz ihrer gelegentlichen Rückwärtskrümmungen, nicht sicher voran? Das beginnende Jahr kann freilich eine der Krümmungen vorstellen, besonders wenn, wie es den Anschein hat, wieder ein Krieg geführt werden sollte. So etwas schleudert die Kultur – in jeder, in materieller wie in moralischer Beziehung – immer wieder um ein gutes Stück zurück.“
„Du sprichst nicht wie ein Soldat, mein lieber Tilling.“
„Ich spreche von einer allgemeinen Sache, mein lieber Schwiegervater. Darüber kann meine Ansicht eine richtige oder falsche sein, – ob sie nun eine soldatische sei oder nicht, ist eine andere Frage. Wahrheit gibt es doch überall nur eine … Wenn ein Ding rot ist – soll es einer grundsätzlich blau nennen, wenn er eine blaue Uniform, und schwarz, wenn er eine schwarze Kutte trägt?“
„Eine – was?“ Mein Vater pflegte, wenn ihm eine Diskussion nicht recht genehm war, etwas Schwerhörigkeit hervorzukehren. Auf solches „was“ die ganze Rede zu wiederholen – dazu hatten die wenigsten Leute die Geduld und man gab den Streit lieber auf.
Noch in der selben Nacht, nachdem wir nach Hause gekommen, nahm ich meinen Mann ins Verhör:
„Was hast Du meinem Vater gesagt? … Daß es allen Anschein habe, man würde sich in diesem Jahre wieder schlagen? Ich will Dich in keinen Krieg mehr ziehen lassen, ich will nicht“ …
[293] „Was hilft dieses leidenschaftliche „ich will“, meine Martha? Du wärest doch die erste, die es angesichts der Umstände wieder zurückzöge. Je wahrscheinlicher ein Krieg vor der Thür steht, desto unmöglicher wär es mir, um Entlassung einzukommen. Unmittelbar nach Schleswig-Holstein wäre es thunlich gewesen –“
„Ach, diese elenden Schmitt & Söhne!“ …
„Doch jetzt, wo sich neue Wolken ballen –“
„Du glaubst also wirklich, daß –“
„Ich glaube, diese Wolken werden sich wieder verziehen – die beiden Großmächte werden sich doch jener Nordländchen wegen nicht zerfleischen. Aber weil es nun einmal drohend aussieht, würde ein Zurückziehen feige erscheinen. Das leuchtet Dir wohl ein?“
Diesen Gründen mußte ich mich fügen. Aber ich klammerte mich fest an das Hoffnungswort „Die Wolken werden sich verziehen.“
Mit Spannung folgte ich nunmehr der Entwickelung der politischen Ereignisse und den darüber in Zeitungen und Gesprächen kursierenden Meinungen und Vorhersagungen. „Rüsten,“ „rüsten“ war jetzt die Losung. Preußen rüstet im Stillen. Österreich rüstet im Stillen. Die Preußen behaupten, daß wir rüsten, und es ist nicht wahr – sie rüsten. Sie leugnen – nein, es ist nicht wahr: wir rüsten. Wenn jene rüsten, müssen wir auch rüsten. Wenn wir abrüsten, wer weiß, ob jene abrüsten? So schlug die Rüsterei in allen möglichen Varianten an mein Ohr. – Aber wozu denn dieses Waffengeklirre, wenn man nicht angreifen will? fragte ich, worauf mein Vater [294] den alten Spruch vorbrachte: Sie vis pacem, para bellum: Wir rüsten ja doch nur aus Vorsicht. – Und die Andern? – In der Absicht, uns zu überfallen. – Jene sagen aber auch, daß sie sich nur gegen unseren Überfall vorsehen. – Das ist Heimtücke. – Und sie sagen, daß wir heimtückisch seien. – Das sagen sie nur als Vorwand, um besser rüsten zu können.
Wieder so ein endloser Cirkel, eine sich in den Schwanz beißende Schlange, deren oberes und unteres Ende zweifache Unaufrichtigkeit ist … Nur um einem Feinde zu imponieren, der den Krieg will, kann die rüstende Schreckmethode etwa des Friedens willen am Platze sein; aber zwei Gleichgesinnte, Frieden Wollende, können unmöglich nach diesem System handeln, ohne daß Jeder fest überzeugt sei, daß der Andere mit leeren Phrasen lügt. Und diese Überzeugung wird nur so fest, wenn man selber hinter den gleichen Phrasen dieselben Absichten versteckt, deren man den Gegner beschuldigt. Nicht nur die Auguren – auch die Diplomaten wissen voneinander genau, was jeder hinter den öffentlichen Ceremonien und Redeweisen im Sinne führt …
Das beiderseitige In-Kriegsbereitschaft-setzen dauerte die ersten Monate des Jahres fort. Am 12. März kam mein Vater freudestrahlend in mein Zimmer gestürzt.
„Hurrah!“ rief er. „Gute Nachrichten –“
„Abgerüstet?“ fragte ich freudig.
„Warum nicht gar! Im Gegenteil, die gute Nachricht ist die: Gestern wurde großer Kriegsrat [295] gehalten … Es ist wirklich glänzend, über welche Streitmacht wir verfügen … da kann sich der arrogante Preuße verstecken. – Mit 800 000 Mann sind wir stündlich bereit, auszurücken. Und Benedek, unser tüchtigster Stratege, wird Oberfeldherr mit unbeschränkter Vollmacht … Ich sag’ Dir’s im Vertrauen, Kind: Schlesien ist unser, wenn wir nur wollen“ …
„O Gott, o Gott“, – stöhnte ich – „soll denn wieder diese Geißel über uns kommen! Wer – wer kann denn nur so gewissenlos sein – aus Ehrgeiz, aus Ländergier –“
„Beruhige Dich. Wir sind nicht so ehrgeizig – noch sind wir ländergierig. Wir wollen – (das heißt ich gerade nicht, mir wäre die Wiedergewinnung unseres Schlesiens schon recht) aber die Regierung will Frieden halten – das hat sie oft genug versichert. Und der ungeheuere Stand unserer aktiven Armee, wie derselbe aus den im gestrigen Kriegsrat dem Kaiser vorgelegten Mitteilungen sich ergibt, wird allen anderen Mächten gehörigen Respekt einflößen … Preußen wird wohl zu allererst klein beilegen und aufhören, das große Wort führen zu wollen … Wir haben, Gott sei Dank, in Schleswig-Holstein auch noch mitzureden – und werden sicher nie dulden, daß sich der andere Großstaat durch allzustarke Machtausdehnung eine überwiegende Stellung in Deutschland erringe … Da handelt es sich um unsere Ehre, um unser „prestige“ – vielleicht um unsere Existenz – das verstehst Du nicht … Das Ganze ist ja doch nur ein Hegemoniestreit – um das miserable Schleswig handelt es sich [296] am wenigsten – aber der prächtige Kriegsrat hat deutlich gezeigt, wer den ersten Rang einnimmt und wer den Anderen Bedingungen vorschreiben darf; die Nachkommen der kleinen brandenburger Kurfürsten oder diejenigen der langen römisch-deutschen Kaiser-Reihe! Ich halte den Frieden für gesichert. Sollten aber die anderen dennoch fortfahren, sich unverschämt und arrogant zu geberden und dadurch einen Krieg unvermeidlich machen, so ist uns der Sieg verbürgt und mit demselben ganz unberechenbare Gewinne … Es wäre zu wünschen, daß es losginge –“
„Nun ja, das wünschest Du auch, Vater – und mit Dir wahrscheinlich der ganze Kriegsrat! So ist’s mir lieber, wenn das aufrichtig gesagt wird … Nur nicht diese Falschheit, dem Volke und den Friedliebenden zu versichern, daß all die Waffenanschaffungen und Heerverstärkungen und Militärkreditforderungen nur um des lieben Friedens willen geschehen. Wenn ihr schon die Zähne zeigt und die Fäuste ballt, so flüstert keine sanften Worte dazu – wenn ihr schon vor Ungeduld zittert, das Schwert zu schwingen, so macht doch nicht, als legtet ihr aus bloßer Vorsicht die Hand an den Knauf“ …
So redete ich eine Weile mit bebender Stimme und steigendem Affekte fort – ohne daß mein verblüffter Vater ein Wort erwiderte – und brach schließlich in Thränen aus.
[297] Jetzt folgte eine Zeit der schwankenden Hoffnungen und Befürchtungen. Heute hieß es „der Friede gesichert“, morgen – „der Krieg unvermeidlich“. Die meisten Leute waren letzterer Ansicht. Nicht so sehr, weil die Verhältnisse auf die Notwendigkeit eines blutigen Austrages wiesen, als deshalb, weil, wenn das Wort „Krieg“ einmal gefallen, wohl noch sehr lange hin und her debattiert werden kann, aber erfahrungsgemäß das Ende jedesmal Krieg ist. Das kleine, unscheinbare Ei, welches den „Casus belli“ enthält, wird da so lange ausgebrütet, bis das Ungetüm hervorkriecht.
Täglich zeichnete ich in die roten Hefte die Phasen des schwebenden Streites auf und so wußte ich damals, und weiß noch heute, wie der verhängnisvolle „66er Krieg“[WS 7] sich vorbereitet hat und wie er ausgebrochen ist. Ohne diese Eintragungen wäre ich wohl über das betreffende Stück Geschichte in derselben Unkenntnis, in welcher die meisten, inmitten der Geschichtsabspielung lebenden Menschen sich befinden. Gewöhnlich weiß die große Mehrzahl der Bevölkerung nicht, warum und wie ein Krieg entsteht – man sieht ihn nur eine Zeit lang kommen – dann ist er da. Und wenn er da ist, so frägt man schon gar nicht mehr nach den kleinen Interessen und Meinungsverschiedenheiten, die ihn herbeigeführt, sondern ist nur noch mit den gewaltigen Ereignissen beschäftigt, die sein Fortgang mit sich bringt. Und ist er einmal vorüber, so erinnert man sich höchstens der dabei persönlich erlebten Schrecken und Verluste – beziehungsweise Gewinne und Triumphe – aber an die politischen Entstehungsgründe wird nicht [298] mehr gedacht. In den verschiedenen Geschichtswerken, welche nach jedem Feldzuge unter Titeln wie „Der Krieg vom Jahre – historisch und strategisch dargestellt –“ und dergleichen erscheinen, werden alle vergangenen Streitmotive und alle taktischen Bewegungen des betreffenden Feldzuges aufgezählt, und wer dafür Interesse hat, kann in der einschlägigen Litteratur sich Aufschluß holen; – aber im Gedächtnis des Volkes lebt diese Geschichte gewiß nicht fort. Auch von den Gefühlen des Hasses und der Begeisterung, der Erbitterung und Siegeshoffnung, mit welchen die ganze Bevölkerung den Anfang des Krieges begrüßt – Gefühle, welche sich in dem Schlagwort äußern: „dieser Krieg ist sehr populär“, auch davon ist nach ein paar Jahren alles verwischt.
Am 24. März erläßt Preußen ein Rundschreiben, worin es sich über die bedrohlichen österreichischen Rüstungen beklagt. – Warum rüsten wir denn nicht ab, wenn wir nicht bedrohen wollen? – Wie sollen wir? Es wird ja am 28. März preußischerseits verfügt, daß die Festungen in Schlesien und zwei Armeekorps in Bereitschaft gesetzt werden sollen …
31. März. Gott sei Dank! Österreich erklärt, daß sämtliche umlaufende Gerüchte über geheimes Rüsten falsch seien; es falle ihm gar nicht ein, Preußen anzugreifen. Er stellt daher die Forderung, daß Preußen seine Kriegsbereitschafts-Maßnahmen einstelle.
Preußen erwidert: Es denke gar nicht im entferntesten daran, Österreich anzugreifen, aber durch des [299] letzteren Rüstungen ist es gezwungen, sich auf Angriff gefaßt zu machen.
So wird der zweistimmige Wechselgesang unausgesetzt fortgeführt:
Meine Rüstung ist die defensive,
Deine Rüstung ist die offensive,
Ich muß rüsten, weil du rüstest,
Weil du rüstest, rüste ich,
Also rüsten wir,
Rüsten wir nur immer zu.
Die Zeitungen geben die Orchesterbegleitung zu diesem Duo ab. Die Leitartikler schwelgen in sogenannter Konjekturalpolitik. Es wird geschürt, gehetzt, geprahlt, verleumdet. Geschichtswerke über den siebenjährigen Krieg werden veröffentlicht, mit der ausgesprochenen Tendenz, die einstige Feindschaft aufzufrischen.
Indessen, der Notenwechsel dauert fort. Unterm 7. April leugnet Österreich nochmals offiziell seine Rüstungen, spielt aber auf eine mündliche Äußerung an, welche Bismarck gegen Károlyi gemacht hätte, „daß man sich über den Gasteiner Vertrag leicht hinwegsetzen werde.“ – Also davon sollen die Völkerschicksale abhängen, was zwei Herren Diplomaten in mehr oder minder guter Laune über Verträge sprechen? Und was sind das überhaupt für Verträge, deren Einhalten von dem guten Willen der Kontrahenten abhängig bleibt und durch keine höhere schiedsrichterliche Gewalt gesichert wird?
[300] Auf diese Note antwortet Preußen unterm 15. April, daß die Anschuldigung unwahr sei; es müsse aber dabei beharren, daß Österreich wirklich an den Grenzen gerüstet habe; dadurch sei die eigene Gegenrüstung gerechtfertigt. Ist es Österreich mit dem Nichtangreifen Ernst, so solle es zuerst abrüsten.
Hierauf das wiener Kabinett: Wir wollen am 23. dss. abrüsten, wenn Preußen verspricht, am folgenden Tage dasselbe zu thun.
Preußen erklärt sich bereit.
Welch ein Aufatmen! So wird denn trotz aller drohenden Anzeichen der Friede erhalten bleiben! Diese Wendung verzeichnete ich freudig in die roten Hefte.
Aber zu früh. Neue Verwickelungen stellen sich ein. Österreich erklärt, es könne nur im Norden, nicht aber zugleich im Süden abrüsten, denn dort sei es von Italien bedroht.
Darauf Preußen: Wenn Österreich nicht ganz abrüstet, so wollen wir auch gerüstet bleiben.
Jetzt läßt sich Italien vernehmen: Es wäre ihm nicht im entferntesten eingefallen, Österreich anzugreifen, aber nach dessen letzter Erklärung werde es allerdings Gegenrüstungen machen.
Und so wird das hübsche Defensivlied nunmehr dreistimmig gesungen.
Ich lasse mich von dieser Melodie wieder einigermaßen in Ruhe lullen. Nach solchen lauten und wiederholten Versicherungen kann doch keiner angreifen, und ohne daß einer angreife, gibt es keinen Krieg. [301] Das Prinzip, daß nur noch Verteidigungskriege gerecht seien, hat sich schon so sehr des öffentlichen Bewußtseins bemächtigt, daß doch keine Regierung mehr einen Einfall in das Nachbarland unternehmen darf; und wenn sich nur lauter Verteidiger gegenüberstehen, so können dieselben, so drohend sie auch bewaffnet, so fest sie auch entschlossen seien, sich bis aufs Messer zu wehren – doch thatsächlich den Frieden nicht brechen.
Welche Täuschung! Neben „Offensive“ gibt es ja noch verschiedene andere Arten, Feindseligkeiten zu eröffnen. Da sind die irgend ein drittes Ländchen betreffenden Forderungen und Einmengungen, die als ungerecht abgewehrt werden können; da sind die alten Verträge, die man für verletzt erklärt, und für deren Aufrechterhaltung zu den Waffen gegriffen werden muß; da ist endlich das „europäische Gleichgewicht“, welches durch die Machterweiterung des einen oder des anderen Staates gefährdet werden könnte und daher gegen solche Machterweiterung energisches Einschreiten erheischt. Uneingestandenermaßen, aber am heftigsten zum Kampfe treibend, wirkt der lang geschürte Haß, welcher schließlich ebenso sehnsüchtig und naturgewaltig nach todbringendem Handgemenge drängt, wie lang genährte Liebe nach lebenschöpfender Umarmung.
Von nun an überstürzen sich die Ereignisse, Österreich tritt so entschieden für den Augustenburger ein, daß Preußen dies für einen Bruch des Gasteiner Vertrags erklärt und darin eine deutliche feindliche Absicht erkennt, was zur Folge hat, daß beiderseits [302] aufs äußerste gerüstet wird und nun auch Sachsen damit beginnt. Die Aufregung ist eine allgemeine und wird täglich heftiger. „Krieg in Sicht, Krieg in Sicht!“ verkünden alle Blätter und alle Gespräche. Mir ist zu Mute, als wäre ich auf dem Meere und der Sturm im Anzug …
Der gehaßteste und geschmähteste Mann in Europa heißt jetzt Bismarck. Am 7. Mai wird auf denselben ein Mordversuch gemacht. Hat Blind, der Thäter, jenen Sturm dadurch abwenden wollen? Und hätte er ihn abgewendet?
Ich erhalte aus Preußen Briefe von Tante Kornelie, aus welchen hervorgeht, daß dort zu Lande der Krieg nichts weniger als gewünscht wird. Während bei uns allgemeine Begeisterung für die Idee eines Krieges mit Preußen herrscht, und mit Stolz auf unsere „Million auserlesener Soldaten“ geblickt wird, herrscht drüben innere Zerfahrenheit. Bismarck wird im eigenen Lande nicht viel weniger geschmäht und verleumdet, als bei uns; das Gerücht geht, daß die Landwehr sich weigern werde, in den „Bruderkrieg“ zu ziehen, und man erzählt, daß die Königin Augusta sich ihrem Gemahl zu Füßen geworfen, um für den Frieden zu flehen. O, wie gern hätte ich an ihrer Seite gekniet und alle meine Schwestern – alle – zu gleicher That hinreißen wollen. Das, das allein sollte aller Frauen Bestreben sein: „Friede, Friede – die Waffen nieder!“ Hätte doch unsere schöne Kaiserin sich auch zu Füßen ihres Gemahls geworfen und weinend, mit erhobenen Händen, um Entwaffnung [303] gefleht! Wer weiß? Vielleicht hat sie es gethan – vielleicht hätte der Kaiser selber auch gewünscht, den Frieden zu erhalten, aber der Druck, der von den Räten, von den Sprechern, Schreiern und Schreibern kommt, dem kann ein einzelner Mensch, – selbst auf dem Thron nicht widerstehen.
Am 1. Juni erklärt Preußen dem Bundestage, es werde sofort abrüsten, wenn Osterreich und Sachsen das Beispiel geben. Dagegen erfolgt von Wien geradeheraus die Anschuldigung, daß Preußen schon lange mit Italien einen Angriff auf Österreich geplant habe, weshalb Letzteres sich nunmehr ganz dem deutschen Bund in die Arme werfen wolle, um diesen aufzufordern, die Entscheidung in Sachen der Elbherzogtümer zu übernehmen. Gleichzeitig wolle es die holsteinischen Stände einberufen.
Gegen diese Erklärung legte Preußen Protest ein, weil dieselbe gegen den Gasteiner Vertrag verstoße. Damit sei zum wiener Vertrag zurückgekehrt, nämlich zum gemeinschaftlichen Condominat; folglich habe Preußen auch das Recht, Holstein zu besetzen, wie es seinerseits den Österreichern den Besitz Schleswigs nicht verwehre. Und zugleich rücken die Preußen in Holstein ein. Gablenz weicht ohne Schwertstreich, aber unter Protest zurück.
Vorher hat Bismarck in einem Rundschreiben gesagt: Von Wien hatten wir gar kein Entgegenkommen [304] gefunden. Im Gegenteil: es waren dem Könige von authentischer Quelle Auslassungen von österreichischen Staatsmännern und Ratgebern des Kaisers zu Ohren gekommen (Tritschtratsch), welche beweisen, daß die Minister den Krieg um jeden Preis wünschen (Völkermord wünschen: welche furchtbare Verbrechensanklage!), teils auf Erfolg im Felde hoffend, teils, um über innere Schwierigkeiten hinwegzukommen und um den eigenen zerrütteten Finanzen durch preußische Kontribution aufzuhelfen. (Staatsklugheit.)
Unterm 9. Juni erklärt Preußen dem Bundestag, derselbe habe kein Recht zur alleinigen Entscheidung in der schleswig-holsteinischen Frage. Ein neuer Bundesreformplan wird vorgelegt, nach welchem die Niederlande und Österreich ausgeschlossen bleiben sollen.
Die Presse ist nunmehr ganz kriegerisch und zwar, wie dies patriotische Sitte ist, siegesgewiß. Die Möglichkeit einer Niederlage muß für den loyalen Unterthan, den sein Fürst zum Kampfe ruft, völlig ausgeschlossen sein. Verschiedene Leitartikel malen den bevorstehenden Einzug Benedeks in Berlin aus, sowie die Plünderung dieser Stadt durch die Kroaten. Einige empfehlen auch, Preußens Hauptstadt dem Erdboden gleich zu machen. „Plünderung“, „Erdboden gleich machen“, „über die Klinge springen lassen“ – diese Worte entsprechen zwar nicht mehr dem neuzeitlichen Völkerrechtsbewußtsein, sie sind aber, von den Schulstudien der alten Kriegsgeschichte her, an den Leuten hängen geblieben; derlei ward in den auswendig gelernten Schlachtberichten so oft hergesagt, in den [305] deutschen Aufsätzen so oft niedergeschrieben, daß, wenn nun über das Thema Krieg Zeitungsartikel verfaßt werden sollen, solche Worte von selber in die Feder fließen. Die Verachtung des Feindes kann nicht drastisch genug ausgedrückt werden; für die preußischen Truppen haben die wiener Zeitungen keine andere Bezeichnung mehr, als „die Schneidergesellen“. General-Adjutant Graf Grünne hat geäußert: „Diese Preußen werden wir mit nassen Fetzen verjagen“. Mit derlei macht man einen Krieg eben „populär“. So etwas kräftigt das nationale Selbstgefühl.
11. Juni. Österreich beantragt, der Bund solle gegen die preußische Selbsthilfe in Holstein einschreiten und das ganze Bundesheer mobil machen. Am 14. Juni wird über diesen Antrag abgestimmt und mit neun gegen sechs Stimmen – angenommen. O, diese drei Stimmen! Wie viel Jammer- und Wehgeheul hat diesen drei Stimmen als Echo nachgedröhnt!
Es ist geschehen. Die Gesandten erhalten ihre Pässe. Am 16. fordert der Bund Österreich und Bayern auf, den Hannoveranern und Sachsen, welche bereits von Preußen angegriffen seien, zu Hilfe zu kommen.
Am 18. ergeht das preußische Kriegsmanifest. Zu gleicher Zeit das Manifest des Kaisers von Österreich an sein Volk und die Proklamation Benedeks an seine Truppen. Am 22. erläßt Prinz Friedrich Karl einen Armeebefehl und eröffnet damit den Krieg. Ich [306] habe die vier Urkunden zur Zeit abgeschrieben; hier sind sie:
König Wilhelm sagt:
- „Österreich will nicht vergessen, daß seine Fürsten einst Deutschland beherrschten, will im jungen Preußen keinen Bundesgenossen, sondern nur einen feindlichen Nebenbuhler erkennen. Preußen, meint es, sei in allen seinen Bestrebungen zu bekämpfen, weil, was Preußen frommt, Österreich schade. Alte, unselige Eifersucht ist in hellen Flammen wieder aufgelodert; Preußen soll geschwächt, vernichtet, entehrt werden. Ihm gegenüber gelten keine Verträge mehr. Wohin wir in Deutschland schauen, sind wir von Feinden umgeben und deren Kampfgeschrei ist Erniedrigung Preußens. Bis zum letzten Augenblick habe ich die Wege zu gütigem Ausgleich gesucht und offen gehalten – Österreich wollte nicht.“
Dagegen läßt sich Kaiser Franz Joseph also vernehmen:
- „Die neuesten Ereignisse erweisen es unwiderleglich, daß Preußen nun offen Gewalt an Stelle des Rechtes setzt. So ist der unheilvollste Krieg – ein Krieg Deutscher gegen Deutsche – unvermeidlich geworden! Zur Verantwortung all des Unglücks, das er über einzelne, Familien, Gegenden und Länder bringen wird, rufe ich diejenigen, welche ihn herbeigeführt, vor den Richterstuhl der Geschichte und des ewigen allmächtigen Gottes.“
Immer der „Andere“ ist der Kriegwünschende. Immer dem „Anderen“ wird vorgeworfen, daß er Gewalt an Stelle des Rechtes setzen will. Warum ist es denn überhaupt noch völkerrechtlich möglich, daß dies geschehe? Ein „unheilvoller Krieg“, weil „Deutsche gegen Deutsche“. Ganz richtig: es ist schon ein höherer Standpunkt, der über „Preußen“ und „Österreich“ den weiteren Begriff „Deutschland“ erhebt – aber nur [307] noch einen Schritt: und es wäre jene noch höhere Einheit erreicht, in deren Licht jeder Krieg – Menschen gegen Menschen, namentlich civilisierte gegen civilisierte – als unheilvoller Bruderkrieg erscheinen müßte. Und vor den „Richterstuhl der Geschichte“ rufen – was nützt das? Die Geschichte, wie sie bisher geschrieben wurde, hat noch niemals anders gerichtet, als daß sie dem Erfolge huldigte. Derjenige, der aus dem Kriege als Sieger hervorgeht, vor dem fällt die historienskribbelnde Gilde in den Staub und preist ihn als den Erfüller einer „Kulturmission“. Und „vor dem Richterstuhl Gottes, des Allmächtigen“? Ja, ist es denn dieser selber nicht, der stets als der Lenker der Schlachten hingestellt wird – geschieht denn mit dem Ausbruch sowohl als mit dem Ausgang jedes Krieges nicht eben dieses Allmächtigen unverrückbarer Wille? O Widerspruch über Widerspruch! Ein solcher muß sich eben überall einstellen, wo unter Phrasen die Wahrheit versteckt werden soll, wo man zwei einander aufhebende Prinzipien – wie Krieg und Gerechtigkeit, wie Völkerhaß und Menschlichkeit, wie Gott der Liebe und Gott der Schlachten – nebeneinander gleich heilig halten will.
Und Benedek sagt:
„Wir stehen einer Streitmacht gegenüber, die aus zwei Hälften zusammengesetzt ist: Linie und Landwehr. Erstere bilden lauter junge Leute, die, weder an Strapazen und Entbehrungen gewöhnt, niemals eine bedeutende Campagne mitgemacht haben. Letztere besteht aus jetzt unzuverlässigen, mißvergnügten Elementen, die lieber die eigene mißliebige Regierung [308] stürzen, als gegen uns kämpfen möchten. Der Feind hat infolge langer Friedensjahre auch nicht einen einzigen General, der Gelegenheit gehabt hätte, sich auf den Schlachtfeldern heranzubilden. Veteranen von Mincio und Palestro, ich denke, ihr werdet unter euren alten bewährten Führern es euch zur besonderen Ehre rechnen, einem solchen Gegner auch nicht den leisesten Vorteil zu gestatten. Der Feind prahlt seit langer Zeit mit seinem schnellen Kleingewehrfeuer – aber, Leute, ich denke, das soll ihm wenig Nutzen bringen. Wir werden ihm wahrscheinlich keine Zeit dazu lassen, sondern ungesäumt ihm mit Bajonett und Kolben auf den Leib gehen. Sobald mit Gottes Hilfe der Gegner geschlagen und zum Rückzug gezwungen sein wird, werden wir ihm auf dem Fuße verfolgen und ihr werdet in Feindesland euch ausrasten und diejenigen Erholungen im reichlichsten Maße in Anspruch nehmen, die sich eine siegreiche Armee mit vollstem Rechte verdient haben wird.“
Prinz Friedrich Karl endlich spricht:
Soldaten! Das treulose und bundesbrüchige Österreich hat ohne Kriegserklärung schon seit einiger Zeit die preußischen Grenzen in Oberschlesien nicht respektiert. Ich hätte also ebenfalls ohne Kriegserklärung die böhmische Grenze überschreiten dürfen. Ich habe es nicht gethan. Heute habe ich eine betreffende Kundgebung überreichen lassen und heute betreten wir das feindliche Gebiet, um unser eigenes Land zu schonen. Unser Anfang sei mit Gott. (Ist das derselbe Gott, mit dessen Hilfe Benedek versprochen hat, den Feind mittels Bajonett und Kolben zurückzuschlagen? …) Auf ihn laßt uns unsere Sache stellen, der die Herzen der Menschen lenkt, der die Schicksale der Völker und den Ausgang der Schlachten entscheidet. Wie in der heiligen Schrift geschrieben steht: Laßt eure Herzen zu Gott schlagen und eure Fäuste auf den Feind. In diesem Kriege handelt es sich – ihr wißt es – um Preußens heiligste Güter und um das Fortbestehen unseres teuren Preußens. Der Feind will es ausgesprochenermaßen zerstückeln und erniedrigen. Die Ströme von Blut, welche eure und meine Väter unter Friedrich [309] dem Großen und wir jüngst bei Düppel und auf Alsen vergossen haben, sollten sie umsonst vergossen sein? Nimmermehr! Wir wollen Preußen erhalten wie es ist, und durch Siege kräftiger und mächtiger machen. Wir werden uns unserer Väter würdig zeigen. Wir bauen auf den Gott unserer Väter, der uns gnädig sein und Preußens Waffen segnen möge. Und nun vorwärts mit unserem alten Schlachtruf: Mit Gott für König und Vaterland. Es lebe der König!