Der weiße Maulwurf

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Autor: Max Schraut
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Titel: Der weiße Maulwurf
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Erscheinungsdatum: 1932
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Kurzbeschreibung: Ein Detektiv-/Kriminalroman.
Band 325 der Romanreihe Harald Harst. Aus meinem Leben.
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[1]
Harald HarstHarald Harst Harald


Aus meinem Leben


Band: 325


Der weiße Maulwurf


Erzählt vonErzählt von
Max SchrautMax Schraut




Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a


[2]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16. – 1932.



Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16.


[3]
1. Kapitel.
Der Fall „Tussi Berkamp“.

Einen Kriminalfall mit einem verzwickten Vorspiel dem Leser mundgerecht zu machen, ohne ihn durch die nackte Wiedergabe von Polizeiberichten und Auszügen aus Tageszeitungen zu ermüden, ist stets dann äußerst schwierig, wenn man selbst – in diesem Falle Harst und ich – erst in einem späteren Stadium aktiv auftritt.

Ich wähle daher hier die Form einer unpersönlichen Erzählung, der ich immerhin einige Reize zu verleihen vermag.

– Der Abend des 13.Mai war mild und windstill.

In der Parkstraße des Berliner Vorortes Dahlem saßen auf den Bänken der Kinderspielplätze dieses breiten, urwüchsigen Waldstreifens vereinzelte Pärchen und lauschten den Tönen eines Lautsprechers der nahen Villen, der bei offenen Fenstern in voller Tonstärke die Hauptmotive aus dem „Rosenkavalier“ von Strauß wiedergab.

Auch die große Villa des Generaldirektors Lüning lag einem dieser Spielplätze schräg gegenüber, die Fensterfront war jedoch dunkel, nur neben dem Wintergarten schimmerten ein paar helle Streifen: Die Fenster des Salons der Gattin des Generaldirektors, die soeben den Freund des Hauses, Doktor Gerbert für einige Zeit beurlaubt hatte.

Er wollte mit seinem Motorrad noch schnell im Postamt Grunewald eine dringende Depesche aufgeben.

Das war etwa zehn Minuten vor zehn …

Gleich darauf bemerkte ein jüngerer Mann, der mit seiner derzeitigen Braut auf einer der Bänke saß, ein gewisser [4] Baluschewski, im Gebüsch etwas Blankes liegen, – es war ein Motorrad.

Herr Baluschewski nahm an, daß es einem Jüngling gehörte, der in der Nähe wartend auf und ab schritt und mit dem er später ins Gespräch kam.

Ziemlich genau um zehn Uhr kehrte Generaldirektor Lüning in der kleinen Limousine seiner Stieftochter Tussi Berkamp aus der City heim.

Er hatte für den Abend seine beiden Chauffeure beurlaubt, und Tussi sollte ihn sofort wieder in die City zurückbringen, wo er mit einigen amerikanischen Finanzgrößen eine Konferenz verabredet hatte.

In dem Auto lag eine Aktentasche, die 200 000 Mark in Devisen enthielt. Lüning brauchte die Summe für die geplanten Transaktionen mit den Amerikanern.

Das Auto hielt vor der Pforte des Parkes der Villa, der sehr ausgedehnt war, der Generaldirektor eilte ins Haus, um noch einige Akten zu holen, überließ die wertvolle Tasche jedoch nur für kurze Zeit der Aufsicht seiner Stieftochter.

In der Villa kam ihm nämlich wie immer der unlängst erst von einer leichten Fleischvergiftung genesene Diener Josef Strahl entgegen, und er befahl dem noch etwas blassen Manne, durch den Seitenausgang – der Hauptausgang war für das Personal verboten – auf die Straße zu eilen und auf das Geld mit acht zu geben.

Er selbst begab sich in sein Arbeitszimmer. –

Tussi Berkamp, ein frisches, junges Mädchen, machte sich der wertvollen Tasche wegen weiter keine Gedanken. Sie war etwas müde von der Frühjahrsluft, und ihr junges, heißes Herz beschäftigte sich mit anderen Dingen …

Urplötzlich tauchte da neben dem Auto ein bärtiger Mann auf, öffnete die Tür, Tussi stieß zwei leise Angstschreie aus und sank schwer verletzt in sich zusammen, während der Räuber mit der Tasche ebenso blitzschnell das Weite suchte.

[5] Das friedliche Bild der stillen Parkstraße war mit einem Male gänzlich verändert.

Der Diener Josef Strahl, der infolge seiner geschwächten Kräfte angeblich nicht sofort Lärm geschlagen und soeben erst den Vorgarten erreicht hatte, meldete Lüning halb ohnmächtig vor Schreck das Geschehene, und als die Kriminalpolizei eintraf, war die durch Messerstiche schwer verletzte Tussi längst in das nahe Dahlem-Sanatorium geschafft worden, der Diener Strahl erlitt während seiner Vernehmung einen schweren Anfall von Herzschwäche und mußte gleichfalls in das Sanatorium gebracht werden, den Räuber hatte niemand so recht zu Gesicht bekommen, niemand sah, wohin er flüchtete, alle Nachforschungen blieben ergebnislos, inzwischen war auch Doktor Gerbert zurückgekehrt, doppelte Trauer war in das Haus Lüning eingezogen, vor kurzem war in dem Ostseebade Zinnowitz Frau Lünings Tante plötzlich verstorben, ein altes Fräulein namens Vilja Födösy, und nun lag auch Tussi Berkamp mit dem Tode ringend in dem weißen Krankengemach. –

Über alledem waren vier Tage verstrichen.

Die Zeitungen hatten über den Raubmordversuch sehr eingehend berichtet, die fleißigen Reporter hatten viel Material zusammengetragen, und besonders eins der kleineren Blätter Berlins, das notgedrungen auf grobe Sensation sich eingestellt hatte, der „Allerweltskurier“, schien über Dinge informiert zu sein, die nicht gerade an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden brauchten.

Zum Glück waren die Stichverletzungen Fräulein Berkamps doch nicht lebensgefährlich, der Diener Strahl tat bereits wieder Dienst, und in diesem Stadium der Angelegenheit wurden wir am 18. Mai durch den Besuch einer in tiefe Trauer gekleideten Dame überrascht, die sich als Frau Geraldine Lüning vorstellte und dann mit einiger Nervosität ihr unklares Anliegen vorbrachte.

[6] Wir beide hatten den Fall Berkamp natürlich genau verfolgt, Harald war jedoch nicht dazu zu bewegen gewesen, sich auf eine bestimmte Annahme hinsichtlich des Täters festzulegen, da hier Familienverhältnisse mitsprachen, die er bei seinem ausgesprochenen Reinlichkeitsgefühl nicht mit in seine Schlußfolgerungen einbeziehen wollte. Der „Allerweltskurier“ hatte da von drei anonymen Briefen gesprochen, von denen er der Polizei nur noch die Abschriften vorlegen konnte, da die Originale stets verbrannt würden. In einem der Briefe war auch Herr Baluschewski erwähnt worden, in einem anderen schien Doktor Gerbert eine Rolle zu spielen.

Und nun saß eine der Mitbetroffenen dieser Tragödie hier vor uns und fand offenbar nicht den Mut, ihre Wünsche und Befürchtungen in schlichte Worte zu kleiden.

Harald fragte denn auch schließlich:

„Ich verstehe noch immer nicht recht, gnädige Frau, weshalb Sie sich in dieser Sache an uns wenden. Die Kriminalpolizei ist an der Arbeit, und ich bin überzeugt, daß sie es an dem nötigen Eifer nicht fehlen lassen wird. Ihr Gatte ist ein sehr bekannter Großkaufmann.“

Frau Geraldine Lüning, in zweiter Ehe mit Siegfried Lüning, Generaldirektor der Lüning-Werke, seit zehn Jahren verheiratet, war eine schlanke Dame, die sich getrost für dreißig ausgeben durfte. Wir wußten, daß an diesen dreißig in Wahrheit neunzehn fehlten.

In ihrem Benehmen ganz große Dame, unterstrich sie noch über Gebühr jene müde Vornehmtuerei, die immerhin ein Gutes hat: Sie ist ein dichter Schleier für all die Charakterschwächen, die bei temperamentvollem Auftreten so leicht zur Bloßstellung des eigenen Ichs führen.

Haralds Frage konnte diese Frau nicht verwirren. Dazu war Frau Geraldine zu abgeklärt, zu stark gewappnet gegen jeglichen Angriff.

„Ich würde kein Mittel unversucht lassen, den Täter vor Gericht zu bringen“, erwiderte Frau Lüning und ordnete den [7] langen schwarzen Schleier, um ihre schönen Hände und kostbaren Ringe wieder einmal zu zeigen.

„Entschuldigen Sie, gnädige Frau, - das glaube ich Ihnen nicht recht“, meinte Harald mit fataler Offenheit … „Ich bin nun einmal ein Mensch, der seine Mitmenschen sehr bald durchschaut. Ich behaupte, Sie haben einen ganz bestimmten Verdacht gegen eine Person, die in den Zeitungsartikeln ebenfalls erwähnt wurde, natürlich mit der nötigen Vorsicht … In dieser Hinsicht sind die Reporter modernste Diplomaten: Alles andeuten, aber nichts Bestimmtes verlauten lassen! Kitzel für die Leser … Jeder mag sich das Gedruckte auslegen, wie er will ..!“

Der Hieb saß. Die Frau verlor die Maske für Sekunden, errötete tief und schaute zur Seite.

Harald lächelte unmerklich.

„Ich will ehrlicher sein wie Sie … Ich denke an Doktor Gerbert“, fügte er rücksichtslos hinzu. „Gerbert ist ständiger Gast in Ihrer Villa, und gewisse Blätter haben dies weidlich ausgeschlachtet.“

Die Dame ließ den schwarzen Schleier fallen.

Sehr praktisch …

Ihr einziges Kind lebte noch, lag schwer verletzt in einer Klinik, und die Tante, die dort vor kurzem in Zinnowitz gestorben, rechtfertigte diese düstere Tracht erst recht nicht.

Frau Lüning beschränkte sich auf vieldeutige, sehr theatralische Handbewegungen. Die Stimmung wurde dadurch noch ungemütlicher. Weshalb verabschiedete die Dame sich nicht? Wir hatten ihr nichts mehr zu sagen.

Sie blieb …

Merkwürdig genug, sie wurde immer nervöser. Und dann warf sie all diese lächerlichen Mätzchen urplötzlich ab und wurde Mensch, Weib, gequältes Wesen.

„Herr Harst, ich ertrage das nicht länger … Sie lassen Doktor Gerbert beobachten ..! Um Gotteswillen, sagen Sie [8] mir die Wahrheit, verdächtigen Sie ihn wirklich?! Ich spreche hier als Mutter, – Gerbert verehrt Tussi …“

Harald duldete es, daß sie nach seiner Hand gegriffen hatte und daß sie diese Hand verzweifelt umklammerte. Er duldete es und blieb höflich-gemessen.

„Als Mutter ..?! Nur das … Eine Bewerbung über den Umweg über die Mutter kann sehr leicht falsch ausgelegt werden. Zwischen Ihnen und Gerbert bestehen irgend welche Beziehungen, die höchst unklar sind.“

Antwort?!

… Ein mutloser leiser Seufzer, ein leichtes Zusammensinken der bisher gestrafften Gestalt.

Sie gab Harsts Hand frei, und sie fiel wieder zurück in die frühere Gekünsteltheit, erhob sich sehr langsam, streifte die Handschuhe über und meinte nur:

„Es ist zwecklos … Verzeihen Sie, daß ich Sie ohne stichhaltige Gründe in Anspruch nahm, Herr Harst.“

Wir standen gleichfalls auf, Haralds Verbeugung war sehr abgezirkelt. „Die Gründe kenne ich nun, gnädige Frau. Sie hören noch von mir.“ Es klang ohne jede Wärme. „Schraut wird Sie hinausbegleiten … Auf Wiedersehen …“

Sie neigte den Kopf, – das war alles, – sie wandte sich zur Tür, und als sie diese bereits halb durchschritten hatte, drehte sie sich nochmals um.

„Wissen Sie etwas über den weißen Maulwurf, Herr Harst?“

Bisher hatte sie uns nicht überraschen können, durch nichts, ihr Besuch war farblos gewesen wie eine Anstandsvisite. Jetzt im letzten Augenblick warf sie eine Frage hin, die auch Harald nicht zu deuten wußte. Ich merkte es ihm an, und er entgegnete auch nachdenklich-gedehnt:

„Weißer Maulwurf? – Nein …“

Ein seltsames kurzes Auflachen ertönte hinter dem schwarzen Schleier, dann verließ sie ohne jedes weitere Wort unser Haus und fuhr in ihrer dunklen Limousine davon. –

[9] Dieser Besuch hatte immerhin zur Folge, daß Harald sofort unsere altbewährten Helfer von der Detektei Argus gründlich in Bewegung setzte. Wir wußten, daß zwischen Frau Lüning und dem alten Fräulein Födösy in Zinnowitz starke Unstimmigkeiten geherrscht hatten, Frau Lüning hatte nicht einmal an dem Begräbnis teilgenommen, und es gab da vieles auf unsere Art aufzuklären.

Ohne die Bemerkung über den weißen Maulwurf wäre all dies unterblieben. Harald witterte jetzt etwas durchaus nicht Alltägliches hinter diesem Kriminalfall, und sein Jagdeifer war erwacht.

Wir traten auf den Plan …

Oder besser: Wir fuhren mit bestimmten Absichten in die Stadt.




[10]
2. Kapitel.
Wir kaufen fünf Briefe.

Ein schnittiges Auto sauste zur City, wo in einer düsteren Seitenstraße des Zeitungsviertels die Redaktion des „Allerweltskurier“ sehr bescheiden sich eingenistet hatte. Der Herr Chefredakteur Schwarz verriet schon durch seine äußere Erscheinung, daß er sich ebenso mühsam über Wasser hielt wie sein Blatt.

Die Unterredung währte trotzdem zehn Minuten, denn der Herr verstand sein Geschäft, und erst als Harald einen Scheck über fünfhundert Mark ausgestellt hatte, besann Schwarz sich plötzlich, daß er die Originale der drei Briefe doch nicht verbrannt habe, händigte sie uns aus und bat … um Diskretion wegen seiner Gedächtnisschwäche.

Wir bestiegen unseren Benzinwindhund und gondelten gen Westen, wo Herr Kasimir Baluschewski in einer Mietskaserne möbliert im Hofgebäude in der Mansarde einen Mordsrausch ausschlief, wie seine Wirtin uns zuflüsterte.

Baluschewski wach zu bekommen, war schwer, sehr schwer.

Kasimirs Stube glich einem Schweinestall. Aber er hatte Geld, und Haralds Angebot stieg bis dreihundert Mark, bevor Herr Kasimir uns das beichtete und aushändigte, was er der Polizei vorenthalten hatte. – Diskretion Geldsache ..!

„… Herr Harst, dem Briefe lagen zweihundert Mark bei … Sehr nobel!!“, erklärte dieses Edelgewächs, während Harald das Schreiben überflog und mich mitlesen ließ.

Es lautete: „Geehrter Herr, ich schicke Ihnen eingeschrieben anbei eine Summe, die Ihnen und Ihrer Braut [11] einige frohe Stunden bereiten soll. Wollen Sie als Dank für die Spende an den nächsten fünf Abenden mit Ihrer Braut den Kinderspielplatz in Dahlem, Ecke Heyden-Straße und Parkstraße, besuchen, und dort von neun bis elf abends ausharren und alle Vorgänge in Ihrer Nähe genau beobachten. – Ein Wohltäter.“

Kasimir, übrigens ein ganz netter Bursche, von seinem Nachtkostüm und anderem abgesehen, vertraute uns gegen weitere fünfzig Mark noch an, daß er sich mit dem jungen Kaufmann, dem das Motorrad gehörte, längere Zeit unterhalten habe, der Jüngling heiße Peter Schnee und wohne ganz in der Nähe, – Augusta-Straße 11.

Wir verabschiedeten uns, – den uns angebotenen Kognak lehnten wir ab, da uns in dieser Umgebung sogar der Appetit auf Alkohol verging.

Also nun: Peter Schnee!! – Merkwürdige Geschichte, auch er wohnte möbliert, auch er war stellungslos und lag mit Kater im Bett, auch er war geschäftstüchtig, der fünfte anonyme Brief kostete auch zweihundert Mark. Aber sonst stellte Peter Schnee eine völlig verschiedene Spezies von Mensch dar wie Kasimir. Es war ein flottes, sauberes Kerlchen, etwa 23 Jahre alt … – Der Brief? – – Der Leser darf sich auf eine Überraschung gefaßt machen.

„Geehrter Herr, ich übersende Ihnen gleichzeitig durch Postanweisung fünfhundert Mark und bitte Sie, dafür ein Motorrad für alt zu kaufen und an den fünf nächsten Abenden von halb neun bis elf das Rad auf dem Kinderspielplatz Ecke Heydenstraße und Parkstraße ins Dunkle zu stellen und selbst in einiger Entfernung auf und ab zu gehen. Ein altes Motorrad können Sie für 200 Mark bekommen. – Ein alter Freund Ihres Vaters, der ungenannt bleiben möchte.“

Wie mir beim Überfliegen dieser ebenfalls getippten Zeilen, die Peter Schnee der Polizei verheimlicht hatte, zu Mute war, wird jeder Einsichtsvolle leicht begreifen.

[12] „Der alte Freund“ war natürlich der mörderische Bursche, der Tussi Berkamp niedergestochen hatte. – Sollte dies einem der lieben Leser noch nicht klar sein, muß er schon noch auf die weitere Entwicklung der Dinge warten.

Wir sagten Peter Schnee Lebewohl, wir hatten nun fünf anonyme Briefe, und daheim stellten wir fest, daß sie sämtlich mit derselben Schreibmaschine getippt waren – sämtlich!

Was durfte man hieraus folgern?

Harald, in seinem Arbeitszimmer auf und ab gehend, erklärte im nüchternsten Kathederton: „Mein lieber Alter, du bist im Bilde, hoffe ich … Kasimir und Peter erhielten Briefe und Geld am 10. Mai, beide sollten fünf Abende den Kinderspielplatz besuchen, beide taten es, beide waren ohne Stellung, und Peter Schnee hat sogar nur hundert Mark für sein Benzinwrack bezahlt. Mit absoluter Gewißheit ergibt sich aus alledem folgendes: Der Überfall auf Lüning oder dessen Tochter war vorbereitet, jemand wußte, daß der Generaldirektor in den nächsten Tagen eine Konferenz mit den Amerikanern haben und zweihunderttausend Mark mit sich führen würde. Der Täter war also genau eingeweiht, er legte sich seinen Plan zurecht, wie ein Schachspieler, er wollte den Verdacht auf Gerbert lenken, Gerbert ist Motorradler, und irgendwie wurde der junge Privatgelehrte veranlaßt, gerade vor 10 Uhr abends am 13. Mai die Villa mit seinem Motorrad zwecks Aufgabe einer Depesche zu verlassen. – Nun aber stellen sich die Widersprüche gegen den letzten Teil dieser an sich unanfechtbaren Theorie ein. Alle fünf anonymen Briefe stammen von dem Täter. Dieser Mann benimmt sich seltsam. Er meldet anonym dem übelsten der Berliner Presseerzeugnisse den Aufenthalt Kasimirs in dem Wäldchen. – Wozu? – Die Antwort erscheint auf den ersten Blick einfach: Kasimir soll das herrenlose Motorrad erwähnen!! – Weshalb? – Das Motorrad soll den Eindruck erwecken, als ob es das Doktor Gerberts gewesen wäre, die Polizei soll also auf Gerberts Person gestoßen werden. – Nun erwähne [13] ich die mir noch undurchsichtigen Schachzüge des Täters oder vielmehr das Unbegreifliche seiner Vorbereitungen. Als leidlich intelligenter Mensch, und das ist er fraglos, muß er mit der Möglichkeit rechnen, daß der schwarze Kasimir den auf dem Promenadenweg der Anlagen auf und ab wandelnden Peter Schnee fragte, ob das herrenlose Rad etwa sein Eigentum sei. Dies geschah ja auch. Mithin – bitte gib genau acht, denn nun kommt die Hauptsache – mithin verdarb der Täter das, was er zunächst so schlau eingefädelt hatte, indem er die Möglichkeit offen ließ, Kasimir könnte den ausdauernden abendlichen Spaziergänger, unseren Peter Schnee, ansprechen und des Mordes wegen ausfragen. – Ich behaupte, und auch dabei bleibe ich, daß hier nicht etwa ein fehlerhafter Schachzug des Täters vorliegt, sondern eine satanisch kluge Berechnung.“

Harald stand vor mir und schaute mich versonnen an.

„Satanisch kluge Berechnung“, wiederholte er. „Insofern nämlich satanisch, als Schnee mit voller Absicht als Besitzer des scheinbar herrenlosen Motorrades hingestellt werden sollte. Begreifst du das Teuflische dieser List? Dein Kopfschütteln erstaunt mich. Ich durfte annehmen, du[1] wärest genügend Geistesakrobat geworden, auch derartige Schliche zu durchschauen. Der Täter ist nicht Gerbert, aber die Polizei sollte unbedingt auf Gerbert aufmerksam gemacht werden. Hätte Peter Schnee vor der Polizei alles ausgesagt und auch den Spender der fünfhundert Mark erwähnt, würde die Mordkommission 3, die den Fall in Arbeit hat, den an Peter gerichteten Brief genau so sorgsam untersucht haben wie wir, und bei Gerbert, der ohnedies verdächtig erscheint, sich dessen Schreibmaschine angesehen haben. Ich gehe jede Wette ein, daß alle fünf Briefe mit dieser Maschine getippt sind. – Dein noch immer recht zweifelnder Gesichtsausdruck stört mich nicht. Ich werde Gerbert anrufen.“

Der Doktor, der in unserer Nähe am Fehrbelliner Platz wohnte, war daheim. „– Bitte kommen Sie sofort mit [14] Ihrer Schreibmaschine zu uns, nehmen Sie ein Auto, Herr Doktor“, schloß Harald das kurze Gespräch.

„Ich bin in spätestens zehn Minuten bei Ihnen“, versprach Gerbert.

Unsere Standuhr zeigte zehn Minuten vor vierzehn Uhr.

Und nun begann der Fall Tussi Berkamp, der bisher für uns wenig aufregende Einzelheiten gebracht hatte, in ein anderes Stadium zu treten.

Der weiße Maulwurf meldete sich.

Die zehn Minuten waren längst verstrichen. Kein Gerbert erschien. Erst nach fünfundzwanzig Minuten entstieg einer Autotaxe ein schlanker Herr, den linken Arm in der Binde, das Gesicht vielfach bepflastert.

Im rechten Arm trug er einen Schreibmaschinenkasten, der nur noch Bruch war.

Gerbert saß im Sessel und erklärte, noch immer etwas bleich: „Meine Herren, ich komme von einer Unfallstation. Meine Taxe wurde von einer Limousine in der stillen Lux-Straße am Fehrbelliner-Platz gerammt und schlug um … Sie sehen ja, was aus mir geworden, – wenn ich noch lebe, verdanke ich dies dem Zufall, der Taxenchauffeur ist schwer verletzt, die Limousine entkam. Ich beeilte mich, Sie sprechen zu können – – dieserhalb!!“

Und er hielt uns einen toten Maulwurf von schneeweißer Farbe hin, den er in sein Taschentuch gewickelt hatte.

„Dieser Tierkadaver flog mir beim Zusammenstoß ins Gesicht … In der Limousine saß nur ein einzelner Mann, ein Chauffeur mit Brille und Vollbart …“

Er war erschöpft, – ein Glas Wein munterte ihn auf, und Harsts Frage, ob Frau Lüning ihm gegenüber nie den „weißen Maulwurf“ erwähnt habe, beantwortete er mit entschiedenem „Nein!“ und mit dem ebenso ehrlich klingenden Nachsatz: „Herr Harst, ich habe bereits gegen drei dieser jämmerlichen Schmutzblätter, die Frau Lünings Ehre und zu gleich die meine angegriffen haben, Strafantrag gestellt. Ich [15] bin mit Tussi Berkamp heimlich verlobt, meine etwas wilden Jahre liegen hinter mir, daß der Generaldirektor mich als Freier weder ernst nahm noch meine Bewerbung um die Hand seiner Stieftochter billigte, kann ich ihm nicht verargen. Mein Ruf ist nicht der beste, leider, aber seit einem halben Jahre lebe ich fast wie ein Mönch … zwischen Frau Geraldine und mir bestehen lediglich freundschaftliche Beziehungen, sie steht auf unserer Seite, sie hat gegen mich als Schwiegersohn nichts einzuwenden. Sie wird viel belächelt, verleumdet, noch mehr verkannt, man macht ihr den früheren Beruf als gefeierte Budapester Operettendiva zum Vorwurf, – all das ist ja so widerwärtig und gemein, Herr Harst ..!“ Er war in Eifer geraten, – es war die feurige Begeisterung eines anständigen Charakters für eine Frau, die er verehrte, nicht liebte.

Harald beobachtete ihn still. Dieser elegante junge Gelehrte, der sich für eine Dozentur an der Berliner Universität vorbereitete und Ägyptiologe war, hatte nichts Gekünsteltes an sich und nahm unbedingt durch sein ganzes Wesen für sich ein.

„Dann …“, sagte mein Freund bedächtig, „begreife ich Frau Lüning nicht. Hier bei uns gab sie sich so ganz anders. – Aber lassen wir das … Prüfen wir Ihre Schreibmaschine, die zum Glück unversehrt geblieben ist. Und Sie, Herr Doktor, – bitte, betrachten Sie einmal diese fünf anonymen Schreiben recht genau. Es sind fünf verschiedene Papiersorten, aber die Maschinenschrift …“

Gerbert fiel erregt ein: „Die Schrift stammt von meiner Maschine, das sehe ich auf den ersten Blick an den fehlerhaften Anschlägen einzelner Typen … Und das Papier, – – seltsam, – Herr Harst, diese fünf Papierarten verwende ich …“

„Und die Fingerabdrücke, die wir sichtbar gemacht haben – diese hier – dürften von Ihnen herrühren, Herr Doktor. Machen wir die Probe …“

[16] Die Probe fiel positiv aus. – Doktor Gerbert schüttelte den Kopf … „Wie ist das möglich?! Mein Wort: Ich habe die Briefe nicht geschrieben.“

„Das wußte ich …“ – Harald hatte sich über den kleinen Tierkadaver des weißen Maulwurfs gebeugt … „Ich fürchte, dieser Maulwurf wird uns noch sehr viel zu raten aufgeben, Herr Doktor … Das Attentat gegen Ihre Person und dieser Maulwurf gehören zusammen … Das Tier ist ein Albino, also eine Entartungserscheinung, genau wie die weißen Neger, die weißen Kaninchen und andere Warmblüter, denen der Farbstoff in der Körperhaut fehlt …“

Er horchte …

Draußen fuhr ein Auto vor.

„Ah – – die hohe Behörde!!“ Er packte den weißen Maulwurf rasch in Papier und verschloß ihn in dem Tresor.

Die drei Herren, die ich dann einließ, waren Kommissar Dwars und zwei Kriminalbeamte.

Dwars, ein jüngerer Herr von kältester Zurückhaltung, lehnte den ihm angebotenen Sessel ab. „Wir haben Sie und Ihren Freund, Herr Harst, vorhin dauernd in der Stadt beobachtet. Wir sind so dahinter gekommen, daß Sie fünf anonyme Originalbriefe …“

Harald reichte sie dem Kommissar bereits über den Tisch. „Bitte, – – und weiter?!“

Dwars erklärte sehr dienstlich:

„Herr Doktor Gerbert, – im Namen des Gesetzes, …“

– Gleich darauf fuhr Gerbert als Verhafteter mit den Beamten von dannen.




[17]
3. Kapitel.
Der Prozeß um den weißen Maulwurf.

„Wir hätten eben vorsichtiger sein müssen“, meinte Harald und blickte dem Auto nach. „Herr Dwars wird zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangt sein wie wir, mein Alter, und da ihm auch kaum verborgen geblieben sein konnte, daß Gerbert mit der Schreibmaschine die Unfallstation schleunigst wieder verlassen hatte, erwischte er den armen Gerbert hier bei uns und nahm auch die Briefe und die Schreibmaschine mit. Man darf dieses ausgedehnte Überwachungssystem der Polizei nicht tadeln, umso weniger, als …“

Hier machte er eine kleine Pause …

„… als ich froh bin, daß nunmehr Doktor Gerbert in der Polizeizelle vor weiteren Anschlägen gesichert ist … Untersuchungshaft ist ja keine Strafhaft, und Fräulein Tussi Berkamp …“

… Abermals eine Pause …

„wird von dieser Verhaftung nichts erfahren und ist auch vor anderen Überraschungen und dergleichen genügend geschützt … Ich habe den Chefarzt des Sanatoriums Dahlem durch Direktor Matz vom „Argus“ ins Vertrauen gezogen, und die beiden dort neu eingestellten Schwestern haben die Pflege der Patientin übernommen, – mir erschien dies sehr notwendig, denn ich halte das Leben Tussi Berkamps für ernstlich bedroht, ein junges Mädchen, das eine Millionärin ist, hat wohl zumeist diesen oder jenen erblüsternen Verwandten, der seine Hoffnungen realisieren möchte, – du verstehst wohl?“

[18] Ob ich verstand! – Ich war entsetzt … Als Erbin kam hier ja nur Frau Geraldine Lüning in Betracht, und wenn ich mir diese Dame und ihr widerspruchsvolles Benehmen hier bei uns nochmals vergegenwärtige, steigerte sich mein Mißtrauen bis zu der unerträglichen Überzeugung, daß eine Mutter aus Habgier oder vielleicht aus Habgier und Eifersucht – sie konnte Gerbert heimlich für sich erringen wollen – alle moralischen Bedenken bei Seite geschoben und zur Intrigantin und zu noch Schlimmerem geworden sei.

Harst hatte sich mir wieder gegenübergesetzt, nickte mir unmerklich zu und sagte in einem Tone, als ob er nur meine eigenen Gedanken fortspänne: „Ja, – sie konnte sich sehr leicht einmal bei Gerbert einschleichen, mein Alter, und sie konnte die Briefe in seiner Wohnung tippen, konnte auch Gerberts Fingerabdrücke künstlich auf das Papier bringen, sie ist eine sehr kluge Frau …“

Ich starrte ihn lange an. „Glaubst du an das alles wirklich?!“, fragte ich zweifelnd.

Er hob die Schultern, und sein schmales Gesicht verriet nichts. „Glauben?! – Ich suche den Täter … Vorläufig halte ich mich an Frau Lüning, bis mir etwas Besseres einfällt. Sie war Operettendiva, sie versteht die Kunst des Verkleidens, sie war allein, als der Raubanfall stattfand, das heißt, sie saß in ihrem Salon – angeblich – und wartete auf Gerberts Rückkehr von der bisher unaufgeklärten Fahrt zum Postamt … Sie kann unbemerkt die Villa verlassen haben, der Park nimmt ja ein ganzes Straßenquadrat ein, sie kann … sie kann …“ - er lächelte dazu … „Sie kann! - Aber damit kommen wir nicht weiter, mein Alter, und ich will weiter kommen!“ Er erhob sich schnell. „Mathilde läutet zum Mittagessen … Diese neue Einrichtung, daß bei uns wie in einem Pensionat ein Gong geschlagen wird, ist eine Idee unserer lieben Dicken … Gehen wir …“

Der Gong dröhnte, und während der Mahlzeit ließ sich dann Haralds Mutter wie stets Bericht erstatten. Meine [19] mütterliche Freundin, vielleicht die gütigste und sonnigste, wirklich erwärmende Matrone, die ich kenne, nimmt ja an allem lebhaften Anteil. Über ihres großen Jungen Verdachtsgründe gegen Frau Lüning lächelte sie nachsichtig, und nachher fragte sie so nebenher:

„Und der Diener Josef Strahl, der bei seinem Verhör ohnmächtig wurde?!“

Weltkluge, mit allen menschlichen Schwächen vertraute Augen blickten Harald forschend an.

„Solltest du an diesen Strahl noch gar nicht gedacht haben, Harald? Niemand sah den Täter, nur er und das arme junge Mädchen.“ – Sie sprach nicht aus, was sie nur in Gedanken hinzufügte. Und das war der einfache Satz: „Strahl ist genau so verdächtig wie Frau Lüning.“

Harald schaute auf seinen Teller. „Er wird überwacht, liebe Mama … Fünf Tage sind seit dem Raubanfall verstrichen. Heute hat Strahl seinen freien Abend … Er konnte ja sehr bald aus dem Sanatorium entlassen werden. Der Anfall von Herzschwäche war nicht so arg.“

Frau Harst nickte zufrieden. „Das heißt also, ihr beide werdet heute abend Strahl beschatten, verfolgen …“

„Allerdings, liebe Mutter.“

„Und ihr werdet vorsichtig sein!“, mahnte sie leise. „Mein großer Junge, ich habe ja nur dich, – – und Schraut, – – und Mathilde … Soll ich mit siebzig Jahren etwa an der Bahre meines Sohnes trauern?!“

Harald nahm ihre Hand, und in seinen Augen schimmerte neben all der tiefen Zärtlichkeit ein Flämmchen, das immer heller brannte.

„Mutter, wir werden vorsichtig sein … Gewiß, wir werden mit Gegnern rechnen müssen, die keine Rücksichten kennen. Soll ich deshalb, Mutter, die Gedanken, die mein Hirn mühsam als den einzigen Weg zur Aufklärung dieses Falles herausschälte aus einem schlau zusammengetragenen Berg von Widersprüchen und Ablenkungsmanövern, der Polizei [20] zur weiteren Verarbeitung unterbreiten und mich selbst feige vor Gefahren drücken, die bei weiser Berücksichtigung der Umstände sich auf ein Mindestmaß beschränken?! Wünschest du das wirklich?“

„Nein …“ Es klang etwas hilflos und verzagt, aber es blieb das „Nein“ einer Mutter, die der persönlichen Eigenart des Sohnes jedes Verständnis entgegenbrachte. –

Es versteht sich eigentlich von selbst, daß wir uns in den letzten Tagen nicht lediglich damit begnügt hatten, die chiffrierten Berichte der Argus-Agenten zu lesen. Wir kannten jede der irgendwie mit in den Kriminalfall Tussi Berkamp hineingezogenen Personen von Ansehen, wir hatten unauffällig das ganze Personal so nach und nach heimlich photographiert, wir hatten den ernsten, stillen Generaldirektor wiederholt bei Spaziergängen getroffen, – kurz, wir wußten alles irgendwie Nötige und Nützliche, und jetzt nach dem Mittagessen schien Harald in seiner Bibliothek auch dem „weißen Maulwurf“ nachzuspüren. Endlich hatte er ein Buch gefunden, das den Titel trug:

Der Aberglaube in seinen volkstümlichen Erscheinungsformen.

von Dr. Herbert Berg,

Privatdozent an der Universität Tübingen., 1912.

Er blätterte, las, blätterte weiter und beugte sich tiefer über das Buch.

„Höre mal zu, mein Alter … Was ich hier entdecke, ist zwar grauenvoll, für uns aber sehr wichtig …“ – Er las vor:

„Zu den bösartigsten Formen des Aberglaubens, der mit Verstorbenen in Zusammenhang gebracht wird, ist der Vampir oder Mahr zu zählen. Nicht nur die slavischen Völker, sondern auch die Bewohner Mittel- und Norddeutschlands sehen in dem Vampir den Geist eines Toten, der nachts sein Grab verläßt, um Lebenden unmerklich das Blut auszusaugen. (Ich lasse hier alles Überflüssige weg.) … Noch im Jahre 1871 spielten in Pommern, Ost- und Westpreußen ein Dutzend [21] Vampirprozesse. Dorfbewohner wurden beschuldigt, die Leiche des angeblichen Vampirs heimlich ausgegraben und durch einen zugespitzten Pfahl an seinen Sarg festgenagelt zu haben, – also Leichenschändung … – Der Name Vampir wechselt je nach den Landesteilen, er wird auch Nachzehrer, Blutsauger, Gierfraß genannt … – Eine Abart des Vampirs ist die Willis, eine verstorbene Braut, die junge Burschen zum Tanze verlockt, bis sie tot umsinken … – Neuerdings ist auch in Siebenbürgen in den Ortschaften mit gemischt deutsch-ungarischer Bevölkerung der furchtbare Aberglaube an den weißen Maulwurf wieder aufgelebt, der auf die Zigeuner zurückgeführt wird. Auch diese Bezeichnung ist im Grunde nur eine Umgestaltung des Vampirs, freilich mit Eigenschaften behaftet, die noch abstoßender wirken, da der weiße Maulwurf nicht nur als Blutsauger und Mörder, sondern auch als Räuber auftritt, – für die Zigeuner eine sehr bequeme Verhüllung ihrer Schandtaten durch einen uralten Aberglauben. – Der Verfasser war persönlich im Jahre 1911 bei einer Gerichtsverhandlung in Klausenburg anwesend, in der fünf Raubmorde geklärt werden sollten, die sämtlich in dem nahen Dorfe Karpati an reichen Großbauern begangen worden waren. Während dieser Verhandlung (angeklagt waren drei Zigeuner) wurde der gesamte grauenvolle Spuk dieser sinnlosen Vorstellungen vom weißen Maulwurf gründlich erörtert. Es ergab sich folgendes Bild: Durch gewisse Beschwörungsformeln soll es möglich sein, einen Toten, der sich im Leben keines guten Rufes erfreut hatte, zu bewegen, seinen Sarg zu verlassen und sich durch die Erde bis zum Hause des auserkorenen Opfers hindurchzugraben, – daher „Maulwurf“. Was die Zusatzbezeichnung „weiß“ betrifft, so gab ein Fachgelehrter aus Klausenburg auch hierüber wichtige Fingerzeige. In Siebenbürgen kommen tatsächlich weiße Maulwürfe als Entartungserscheinungen häufiger vor, die Zigeuner stellen gerade diesen Albinos eifrig nach, da ein weißer Maulwurf mit bei den Beschwörungen benutzt [22] werden muß, die einen Toten für die Beschwörer zum Mörder und Räuber machen. – Die Gerichtsverhandlung ist weiter unten ausführlicher wiedergegeben worden. Hier sei nur noch bemerkt, daß die Angeklagten aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden mußten, zumal eine Zeugin, deren Gut ebenfalls unweit des Dorfes gelegen war, und die gleichfalls eines Nachts überfallen wurde, mit aller Bestimmtheit versicherte, der Räuber sei kein Zigeuner gewesen, – sie hatte ihm, als er sie zu erwürgen suchte, die mit Leichengeruch behafteten Leinentücher vom Gesicht gerissen. Es handelte sich um ein Fräulein Vilja Födösy, eine ältere energische Dame, die den Geschworenen auch die Überzeugung beibrachte, daß die fünf Raubmorde von derselben Person begangen sein müßten, nämlich von dem Manne, den sie selbst schließlich durch ihre Hilferufe verscheucht hatte.“

Harald klappte das Buch zu.

„Nun, mein Alter?! – Ich sehe, du bist ein wenig außer Fassung geraten, was verständlich erscheint. Wir stoßen hier auf den Namen der Tante der Frau Lüning, einer geborenen Födösy, diese Tante verstarb am 5. Mai in Zinnowitz, Frau Lüning war mit ihr entzweit, – – seltsame Zusammenhänge zeigen sich uns, zumal der Diener Josef Strahl, vergleiche die Berichte der Argus-Agenten, in Klausenburg geboren ist und früher Ungar war …“

Meine Zigarre schmeckte mir nicht mehr, ich legte sie bei Seite. Ich war in der Tat vollkommen getroffen von diesen ungeahnten, die Sachlage so gänzlich in ein neues Licht rückenden Einzelheiten. Ich war es umso mehr, als der Diener Josef Strahl, ein Mann von etwa fünfzig mit freundlichem Gesicht und klugen Augen und durchaus harmonischen Bewegungen, alles andere als abstoßend wirkte.

Harald griff nach einer neuen Zigarette.

„Bitte erinnere dich jetzt an Frau Lünings letzte Worte beim Abschied hier“, meinte er mit aller Lebhaftigkeit. „Sie fragte, dort in der Tür stehend: „Wissen Sie etwas über den [23] weißen Maulwurf, Herr Harst?“ – Ich verneinte, denn mein Gedächtnis ließ mich im Stich, und erst vorhin bei Tisch entsann ich mich dieses Spezialwerkes über Aberglauben und darauf, daß darin irgend etwas über weiße Maulwürfe stünde. Freilich – die Überraschung, sogar den Namen Födösy vorzufinden, sah ich nicht voraus. Immerhin: Frau Lüning tritt hiermit endgültig aus der Reihe der verdächtigen Personen, denn sie hätte uns niemals diese Frage nach dem weißen Maulwurf zu stellen gewagt, wenn sie auch nur im geringsten sich schuldig fühlte. Ein Rätsel bleibt sie trotzdem. Was wollte sie hier bei uns?! Unsere Hilfe?! Nein! Was sonst?! Wollte sie uns aushorchen?!“

Er neigte sich vor und legte mir die Hand auf die Schulter. „Weißt du, was sie wollte? – – Ich weiß es …“

„Ich auch“, erwiderte ich sofort. „Sie wollte uns tatsächlich aushorchen … Ihre letzte Frage mag ihr lange genug auf den Lippen gebrannt haben … Sie wagte sie nicht zu stellen.“

„Mithin?“ Harst rüttelte mich ungeduldig. „Mithin?! – – So antworte doch!!“

„Mithin …“ – Ich überlegte noch …

Da sprang Harst auf …

„Machen wir Schluß! Mithin hat Frau Lüning Beweise, daß auf dem Grabe ihrer Tante in Zinnowitz jene gräßlichen Beschwörungen nachts stattgefunden haben, die aus einem Toten einen Raubmörder machen, – – Aberglaube, gewiß, aber Aberglaube ist schlimmer als Glaube!! – Frau Lüning war nach der Beerdigung in Zinnowitz, das wissen wir, und das hat Argus herausgebracht. – Was fand sie dort auf dem Grabe? – Ein weißes Maulwurfsfell im Grabhügel?! – Bitte, ließ die Prozeßverhandlung …“

Er schlug das Buch wieder auf …

„Hier steht es ..: „Auf die Frage des Vorsitzenden an einen der Angeklagten, ob es zuträfe, daß man sich durch die Beschwörungen unter Benutzung des Felles eines weißen [24] Maulwurfs auch die Hilfe eines Toten zu einem Verbrechen sichern könnte, antwortete der Zigeuner mit einem zögernden „Ja“. Auch die beiden anderen Beschuldigten bestätigten dies.“ – So, mein Alter …“ – er legte das Buch wieder weg, „nun kennen wir wahrscheinlich den Raubgesellen … Josef Strahl dürfte sich selbst das Gift beigebracht haben und hat schwere körperliche Schwäche simuliert … Er hatte auch sicherlich jeder Zeit Zutritt bei Doktor Gerbert, er wußte, daß Lüning das Geld demnächst mit zu der Konferenz mit den amerikanischen Herren nehmen würde, und begleitete das Ehepaar Lüning am 10. Mai bei der Autotour nach Zinnowitz … Natürlich hat er Verbündete … – Nun, heute abend werden wir sehen, was er in seiner freien Zeit treibt … – Weißer Maulwurf!! Wer hätte das gedacht – – ein gräßlicher Aberglaube ..!!“

Er schritt erregt auf und ab.

Blieb wieder vor mir stehen … „Mein Alter, weshalb äußerte Frau Lüning diesen Verdacht auf solchem Umwege?! Sollten wir etwa doch wieder auf falscher Fährte sein?!“

Er war plötzlich unsicher geworden …

Dann wies er mit einer harten Geste diese Zweifel zurück.

„Abends!!“, sagte er … „Abends!!“




[25]
4. Kapitel.
Der Diener Josef Strahl.

Der Abend zeigte ein noch unfreundlicheres Gesicht als der vorausgegangene Tag.

Es regnete, es wurde sehr früh dunkel, aber gerade diese Dämmerstunde, wo im Zimmer alle Umrisse der Möbel verschwimmen, und die Gesichter nur noch als hellere Flecken schimmern, sind Harsts einträglichste Zeit, wie er stets behauptet …

Einträglich deshalb, weil nach seiner festen Überzeugung diese Stunde des Übergangs zur Nacht, sofern man sie ohne künstliche Beleuchtung durchlebt, den Geist doppelt scharf arbeiten läßt, was – auch seine Behauptung – auf das Ausschalten äußerer Einflüsse zurückzuführen sein dürfte.

Wir warteten auf Direktor Matz vom Argus, der mit von der Partie sein sollte. Und während wir warteten, wurde es immer dunkler, aus der Richtung von Haralds Klubsessel glühte nur noch das feurige Pünktchen der Zigarette, und urplötzlich warf mein Freund in das beredte Schweigen die Frage ein:

„Wo hat der Bursche die weißen Maulwürfe her?! Aus Ungarn?! – Etwas umständlich wäre das …“

Zugegeben, daß ich an diesen Punkt überhaupt noch nicht gedacht hatte.

Die Frage anzuschneiden, war berechtigt. In Deutschland dürfte man nur zufällig einmal – falls überhaupt – auf Albino-Maulwürfe stoßen.

[26] „Zumindest müßte er“, erwiderte ich vorsichtig, „ein Zuchtpärchen aus Ungarn eingeführt haben. Der Nachwuchs käme dann von selbst. Das setzte allerdings voraus, daß das Verbrechen von langer Hand geplant wäre.“

„Darüber sind wir uns wohl einig, daß dem so ist“, sagte Harald trocken.

Leider wurde hier die Unterhaltung über diesen gewiß recht vielseitigen Gegenstand durch Matz’ Erscheinen unterbrochen, der die Nachricht mitbrachte, daß Josef Strahl die Villa noch nicht verlassen habe.

Wir fuhren in unserem Sportwagen mit verschlossenem Verdeck zur Parkstraße, und als Strahl seinen Abendurlaub antrat, begleiteten wir beide ihn in sehr unauffälligen Masken in ein nahes Vorstadtkino, wo wir der Flimmerleinwand und dem Kellerton der Klangapparatur weniger Beachtung schenkten als den anderen Zuschauern. Wir rechneten damit, daß auch hier die weißen Maulwürfe genau so behutsam sich eingefunden hätten wie wir selbst. Ein einziger Herr erschien mir etwas verdächtig, ich täuschte mich aber trotzdem wohl, – wenigstens beachtete ich den Mann nicht weiter.

Während das Kinostück sich seinem Happy End näherte, entfernte er sich, wir blieben hinter ihm, unser Auto schlich hinter der Taxe her, die der Diener bestiegen hatte, und die Verfolgung endete unweit des Sanatoriums Dahlem an der Ecke der Heyden-Straße.

Direktor Matz vom Argus, der dritte im Bunde, mußte im Wagen zurückbleiben.

Josef Strahl in seinem langen Gummimantel überschritt die Straße, die die Gebäude des Sanatoriums von dem Grunewaldforst trennt, und bewegte sich unter den Kiefern mit äußerster Vorsicht weiter.

Es war nicht leicht, hinter ihm zu bleiben, er benahm sich wie ein scheues Wild, und als er nun gar in einer Mulde sich niederkauerte, mußten wir Schritt für Schritt vorwärtskriechen, um unbemerkt näher heranzukommen.

[27] Die Vertiefung im Waldboden lag unweit der Straße zwischen den ersten hohen Kiefern und genau gegenüber den beiden Fenstern, hinter denen Tussi Berkamp nun, betreut durch zuverlässige Schwestern, ihre Genesung erwartete. Wir kannten das Zimmer, es lag im ersten Stock, hatte einen großen Balkon und war eins der besten, über die das Sanatorium verfügte. Josef Strahl hatte in einem Nebengebäude nur zwei Nächte zugebracht, dann war seine Herzschwäche behoben, und er hatte seinen Dienst wieder aufgenommen.

Was wollte Strahl hier zu dieser Stunde?!

Ich traute ihm weniger denn je, und ich bedauerte nur, mich mit Harald nicht einmal flüsternd verständigen zu können. Was mochte er denken?!

Wir lagen lang auf den Kiefernnadeln, wir ließen uns den Regen geduldig auf die Mäntel trommeln, – irgend etwas wurde sich ereignen! – Was aber ..?

Und dann glitt eine neue Gestalt heran, wir konnten den Menschen gegen das Laternenlicht der Straße recht deutlich sehen, er war bucklig, hatte einen grauen Bart, trug Brille und eine Windjacke und Schlappmütze und in der linken Hand einen dicken Spazierstock.

Seine Bewegungen waren flink und elastisch, gewandt und zielsicher, – er machte unter einer der ersten Kiefern halt, holte einen Strick hervor, der einen Eisenhaken hatte, und schleuderte den Haken über den ersten Ast – verblüffend geschickt.

Der Haken faßte, und der Mann wollte emporklettern.

Da erhob sich Josef Strahl, warf den rechten Arm nach hinten und schleuderte irgend etwas, – traf auch den Mann, wir hörten einen schwachen Knall, ein Splittern von Glas, und der Mann fuhr herum, duckte sich und rannte wie gehetzt schräg in den Wald hinein.

Ich wollte hinterdrein, aber Harsts Faust preßte mich zu Boden, – – Josef Strahl glitt auf die Kiefer zu, lockerte den Haken durch Schwenken der Leine, der Haken fiel herab, [28] und der Diener wickelte das Seil zusammen und überquerte die Straße …

„Bleibe liegen!“, flüsterte Harald …

Und im Nu war er in der Dunkelheit untergetaucht …

Ich blieb liegen.

Die Minuten verstrichen …

Meine Armbanduhr zeigte halb zwölf.

Plötzlich spürte ich die Nähe eines lebenden Wesens … Ein Ast knackte – noch einer … Dann kroch ein Mensch fünf Schritt entfernt vorüber, geriet in den Lichtschein der Straße: Es war der Bucklige!

Ich hatte die Pistole bereit …

Erhob mich …

War hinter ihm …

„Hände hoch!!“

Der Mann … lachte …

Drehte sich gemächlich um …

Dann fuhr sein Stock hinterlistig von unten nach oben, mein Arm erhielt einen derben Schlag, und dann flog mir etwas ins Gesicht … Ein nasser Schwamm ..!

Naß, getränkt mit Chloroform …

Ich konnte gerade noch die Augen schließen … – ich warf mich zu Boden, schrie um Hilfe, spürte einen leichten Schmerz in der Brustgegend, an den Rippen, – ich schrie nochmals … wälzte mich zur Seite, und vernahm Harsts Stimme:

„Stehen bleiben – – ich schieße ..!!“

Er schoß nicht …

Er hob mich empor … – –

„Entwischt, mein Alter! – Pech!! – Und du hast Glück gehabt … Hier steckt das Messer im Waldboden, das dir galt …“

Seine Taschenlampe beleuchtete die Kiefernnadeln … Ich trocknete mein Gesicht mit dem Taschentuch, mir war der Kopf nur etwas benommen.

[29] Und dann – – ein Zischen …

Jenes kurze harte Zischen einer Kugel …

Haralds Mütze wirbelte davon …

Wir lagen schon lang am Boden …

Nochmals pfiff eine Kugel, ohne das ein Schuß zu hören war, neben uns in die Humuserde.

Rückwärts kriechen – – zur Straße ..!“, befahl Harst leise.

Und wieder pfiff ein Bleigeschoß, klatschte in einen Stamm …

Dann sprangen wir auf, flüchteten über den hellen Fahrdamm …

Ein letztes Mal bedachte uns der Windbüchsenschütze … Die Kugel zerspritzte an einem Laternenmast.

Als wir unser Auto erreichten, rief Harst dem erstaunten Matz zu:

„Nach Hause!! Das haben wir gründlich verpfuscht!!“

„Was denn?!“

„Fahren Sie, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist ..!“

– Wer die Straßenleere der nächtlichen Straßen der westlichen Vororte Berlins kennt, wird es begreiflich finden, daß wir bei dem jetzt niedergehenden Platzregen und der damit verbundenen Dunkelheit nicht nochmals dem heimtückischen Schützen Gelegenheit geben wollten, seine Schießwut an uns auszulassen.

Unser Auto glitt davon … Wir hatten es nicht weit bis zur Blücherstraße, in sieben Minuten waren wir angelangt, stiegen aus, und – – an der Vorgartenpforte stand unter einem Regenschirm eine hohe würdige Gestalt im langen Ledermantel: Generaldirektor Lüning!

„Herr Harst?“, fragte er höflich.

„Harst, – ich kenne Sie von Ansehen, Herr Generaldirektor …“

„Wie ich Sie kenne, – allerdings haben Sie sich heute etwas merkwürdig kostümiert … – Ich warte hier bereits [30] eine geraume Weile auf Sie … Ihre Fenster sind dunkel, ich klopfte, ich mochte Ihre Köchin nicht herausläuten … Nachher tat ich es doch, – sie war nicht sehr liebenswürdig …“ Er sprach müde und gleichgültig, und als er dann im Sessel neben dem Kamin saß, schauten wir in ein blasses, stilles, vergrämtes Gesicht, dessen vornehme Züge und ruhige, kluge Augen nur von tiefen Seelenqualen sprachen.

„Herr Harst“, meinte er sehr ernst, „ich bin zu Ihnen geflüchtet … Mein Heim birgt nur noch Schrecken für mich. Ich weiß, meine Frau war heute bei Ihnen …“

Er schaute Harald traurig an.

„Und vorhin, – – vorhin hat sich mein Diener Josef Strahl vergiftet … – Ich läutete nach ihm, er kam nicht, ich ging in sein Zimmer … Er lag tot auf dem Bett … Im Bett lag auch das Glas, das Wasserglas … Gift, – – Spuren von Gift … Reste von Gift … – – Es ist … grauenvoll ..!“

Sein Kopf sank nach vorn, seine Arme glitten von den Sessellehnen, aber er überwandt den Ohnmachtsanfall …

„Kognak, Schraut, – – schnell!!“

Lüning trank gierig … Er erholte sich.

„Haben Sie die Polizei verständigt?“, fragte Harald mit aller Rücksichtnahme.

„Ja … ja … Ich habe die Meldung erstattet … Bitte, – – begleiten Sie mich, meine Herren … Ich bin meines Lebens dort nicht mehr sicher … Begleiten Sie mich … Ich fürchte mich, ich bin ganz ehrlich …“

Er starrte vor sich hin …

„Wissen Sie etwas über den weißen Maulwurf, Herr Harst?“

Er hob den trüben Blick …

„Sie bejahen … – Nun, – auf Strahls Nachttisch lag ein toter weißer Maulwurf, und … und Strahl ist tot … tot …, – zehn Jahre diente er mir, war mein einziger Vertrauter … Ich mache mir über die Menschen im allgemeinen [31] keine Illusionen mehr, dazu bin ich zu sehr Mann des praktischen Lebens. Aber Strahl war treu, anhänglich und dankbar. – Wir werden aufbrechen müssen, meine Herren … Ihren Wagen brauchen wir nicht. Mein kleiner Sportwagen steht weiter unten an der Straßenecke …“

Lüning war zu bedauern, man konnte es ihm nachfühlen, was er gelitten haben mußte, sein Haus, seine Familie waren in die üble Sensationsmaschine einer durch moralische Bedenken in nichts gehemmten Presse geraten, sein tadelloser Ruf, sein makelloser Name hatten die traurige Wahrheit des Spruchs gespürt: „Etwas bleibt immer an einem vor das unvernünftige Forum der Öffentlichkeit Gezerrten hängen!“

Wir ließen Matz zurück, Harald raunte ihm noch etwas zu, und als wir nun vor der Villa in der Parkstraße standen, hielt bereits ein Polizeiauto vor der Tür.




5. Kapitel.
Auch Strahl schuldlos?!

Der jugendliche Kommissar Dwars, in letzter Zeit durch so manchen Erfolg bekannt geworden, ein unermüdlicher, eiskalter, schweigsamer Kämpfer für Wahrheit und Recht, hatte gerade an der Pforte läuten wollen. Lüning ließ uns ein, Dwars schien wenig erfreut über unsere Anwesenheit, und es herrschte von vornherein eine äußerst peinliche Stimmung, die durch des Kommissars knappe Fragen an Lüning noch verstärkt wurde.

Das Zimmer des Dieners lag gleichfalls im Erdgeschoß nach dem Garten hinaus, während das übrige Personal im Seitenflügel untergebracht war.

[32] Lüning schaltete das Licht ein, stutzte, fuhr zurück und lehnte sich, noch tiefer erbleichend, an den Türrahmen.

Strahls Bett war leer, war zerwühlt, – weder Strahl noch das Glas mit den Resten von Gift noch der weiße Maulwurf wurden gefunden.

Die Villa schlief.

Frau Lüning hatte ihr Schlafzimmer im ersten Stock neben ihrem Salon, sie mußte erst geweckt werden, dann erschien auch das Personal, niemand wußte etwas über den Verbleib des Dieners, niemand hatte ihn zurückkommen hören, nirgends zeigten sich Spuren des gewaltsamen Eindringens fremder Personen. – Frau Lüning, in einen sehr eleganten Morgenrock gehüllt, hatte sehr lange auf sich warten lassen, sie war anscheinend äußerst gefaßt, sie war tadellos hergerichtet, sah überraschend jung aus und nahm die seltsame Mitteilung über Strahls Selbstmord und das Verschwinden der Leiche unnatürlich gleichgültig hin. Ihre Züge blieben Maske, und als Dwars nun an den Generaldirektor erneut einige Fragen richtete, rauchte sie, im Sessel zurückgelehnt, mit sehr schön abgerundeten Bewegungen eine Zigarette.

„… Wenn ich auch nicht studierter Chemiker bin“, erwiderte Lüning zerstreut und immer wieder seine Gattin heimlich musternd, „so verstehe ich als Leiter der rheinischen Werke Lüning-A. G. doch von Giften genug, Herr Kommissar … Die Reste in dem Wasserglas waren eine starke Hyoscin-Lösung[WS 1], mit Alkohol vermischt, wahrscheinlich Kognak … Ich habe davon geschmeckt. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Was den weißen Maulwurf betrifft, – darüber mag Ihnen meine Frau Auskunft geben … Ein lächerlicher Aberglaube, aber gefährlich …“

Dwars nickte. „Ja, – ein Aberglaube, der in Siebenbürgen seine Heimat hat … Ich bin im Bilde, gönnen wir der gnädigen Frau Ruhe …“

Nun, Frau Geraldine sah kaum schonungsbedürftig aus. Die ganze Untersuchung der recht mysteriösen Angelegenheit [33] zerflatterte schließlich in ein paar Redensarten, die Kommissar Dwars vielleicht gegen bessere Überzeugung sich abrang. „Sie werden sich eben getäuscht haben … Strahl war nicht tot, Herr Generaldirektor … Und das Hineinziehen des weißen Maulwurfs in diesen fingierten Selbstmord dürfte ein Ablenkungsmanöver sein … – Ich möchte nicht länger stören …“ Er verabschiedete sich, ließ freilich zwei Beamte in Strahls Zimmer zurück, ohne dies näher zu begründen. Das ganze Auftreten des Herrn Dwars machte den Eindruck, als ob er weit mehr wüßte, als er sich anmerken ließ.

Auch wir begleiteten ihn, Lüning war nun wieder etwas hoffnungsvoller … „Wenn nur Strahl noch lebt ..!“, sagte er im Vorgarten … „Er wird schon gefunden werden … Vielleicht habe ich mich wirklich geirrt, er mag nur bewußtlos gewesen sein … Er hatte ja wahrlich keinen Grund, seinem Leben ein Ende zu machen …

Dwars nahm uns im Dienstauto mit. Er war still, in sich gekehrt, – plötzlich ließ er den Chauffeur wenden, ebenso plötzlich überfiel er uns mit der scharf hervorgestoßenen Bemerkung: „Ich möchte mir die bewußte Kiefer vor dem Sanatorium ansehen, meine Herren … Auch ich hatte einen Mann im Kino, leider nur einen … Der Windbüchsenschütze wollte Fräulein Berkamps Genesung hintertreiben, mild ausgedrückt. Herr Harst, Sie müssen nicht denken, daß wir am Alexanderplatz (Polizeipräsidium) schlafen … Gerbert hat mir alles gebeichtet, alles, auch von dem weißen Maulwurf … Eine Eildepesche ging nach Klausenburg, Antwort war in fünf Stunden da: Josef Strahl stammt aus Klausenburg und lebte dort als Diener des alten Fräulein Vilja Födösy, die in Klausenburg ein Haus besaß, dort war er Diener und Hausmeister. Wissen Sie von dem großen Prozeß gegen die drei Zigeuner, dem „Maulwurf-Prozeß“? Nun, Strahl war damals zweiundzwanzig Jahre alt … – – Stopp, – – steigen wir aus.“

[34] Wir drei schritten über die Straße. Es fiel zwischen uns kein Wort mehr. Dwars war durch seinen Beamten, der hier alles mit beobachtet hatte, aufs genaueste unterrichtet. Er ließ den Scheinwerfer des Autos vom Wagen herabheben, die Drähte reichten bis zur Kiefer, der Baum wurde von weißen Lichtfluten umspielt, und dann bemühte sich der Kommissar, die Kiefer zu erklettern. Es gelang ihm nicht, erst als vom Auto eine Leine geholt worden war, in die wir einen Stein einknoteten, turnte Dwars empor.

„Überflüssig!“, meinte Harald zu mir. „Es ist selbstverständlich, daß man von der Kiefer Einblick in das Zimmer der Kranken hat. Die Luftscheiben sind halb offen, das Bett wird an der Rückwand stehen, Strahl ahnte den beabsichtigten meuchlerischen Schuß voraus, er wollte dieses Attentat verhindern … Wer war der Schütze? – Der weiße Maulwurf! – Wer ist es?! Wer? Wir tappen im Dunkeln … Vollständig …“

Ob das stimmte?! Ob nicht Harald gerade dasselbe annahm wie ich?! Frau Lüning mißfiel mir immer mehr … Diese Dame besaß zu viel Selbstbeherrschung, zu wenig Nerven.

Dwars glitt an der Leine wieder herab. „Das Bett ist leer..!“, stieß er hervor. „Dabei ist das Zimmer hell …“

„Ja“, sagte Harst gelassen „das zweite Bett steht an der linken Wand … auf meine Anregung hin, und der Wandschirm verdeckt es …“

Der Kommissar blickte ihn lange an. „Sie rechneten mit diesem Attentat, Herr Harst?“

„Auch damit, – ich gehe immer sicher, Herr Dwars. Ich glaube auch zu wissen, wo Peter Strahl steckt … Augenblicklich wohl auf der Hauptchaussee nach Swinemünde-Zinnowitz in einem Auto …“

Der Kommissar verlor nun doch etwas seine gewohnte Abgeklärtheit. „Weshalb das, Herr Harst?! Nach Zinnowitz?!“

[35] „Ich rate Ihnen, depeschieren Sie dorthin und lassen Sie den Friedhof überwachen … Sie verhüten dadurch einen Leichenraub …“

Dwars lehnte sich an die Kiefer … Zum ersten Male erschien er hilflos und vermochte in Harsts Gedankengänge nicht einzudringen. Sein junges Gesicht, dem die energischen Linien nicht fehlten, hob sich, und die Augen suchten im trüben Dunkel der Baumwipfel Rat.

Sein Ruf als jüngste, tüchtigste Kraft am Alexanderplatz bewahrheitete sich. Genau so urplötzlich kam ihm die Erleuchtung.

„Das alte Fräulein ist keines natürlichen Todes gestorben, Herr Harst … Meinen Sie das?!“

„Ja! – Depeschieren Sie … Man kann nicht wissen, ob nicht Strahls Auftraggeberin ihn genügend mit Geldmitteln für die Benutzung eines Flugzeugs versorgte …“

Dwars trat schnell einen Schritt vor.

„Frau Lüning etwa?!“

„Sehr wahrscheinlich – fast gewiß“, erwiderte Harald widerwillig.

„Mein Gott!“, – Dwars war entsetzt. „Und ich wollte Gerbert freilassen!!“ Gerbert ist ja schuldlos … Und nun, – er als Verbündeter dieser Frau, – ich muß das annehmen, ich bin ein entwurzelter Stamm, ich glaubte, festen Boden unter den Füßen zu haben, und – – es war Flugsand …“

„Es scheint so … Lassen Sie Gerbert nicht frei. Der Mann ist zu schade als Opfer des weißen Maulwurfs“, erklärte Harst mit allem Nachdruck.

Dwars schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie schon, – – ich vermag Ihnen nicht mehr zu folgen … Gerberts Leben soll bedroht sein?!“

„Wie das des Generaldirektors, das seiner Frau, das seiner Stieftochter, das des tüchtigen Josef Strahl! Alle sind bedroht, die in diese verworrene Geschichte hineingeraten: Sie, Schraut, ich ..! – Die Maulwürfe schonen niemand … Schalten [36] Sie den Scheinwerfer aus … Eine Bleikugel ist schädlicher als die schweren Regentropfen. – Depeschieren Sie, rate ich Ihnen … Und jetzt möchte ich mich ausschlafen, schlafen gehen …“

Als Dwars uns daheim absetzte, als wir die Haustürtreppe emporstiegen, lag da auf der Schwelle … ein weißer Maulwurf.

„Schnell, – – hinein!“, flüsterte Harald.

Dwars rief uns noch ein „Gute Nacht“ zu. … Harst stieß den kleinen Tierkadaver mit der Fußspitze über die Schwelle und schlug die Tür zu …

Ich schaltete das Licht ein.

„Hole Lysol[WS 2] aus dem Laboratorium, mein Alter … Für alle Fälle …“

Wir überschwemmten den Kadaver und den Flurläufer mit starker Lysollösung, Harald begoß auch draußen die Schwelle, und als er die Tür wieder zuzog, ertönte ein harter Schlag gegen die Türleiste …

„Bleikugel, – – sehr gemütlich!“, meinte Harst achselzuckend. "Energische Teufel sind das … – Nicht wahr, mein Alter, bei alledem lernt man so etwas das Gruseln …“

In seinem Zimmer nahm er den Hörer vom Tischtelephon und rief Direktor Matz an, der sich bereits nach Hause begeben hatte. „Hallo, Matz … Sofort vier Leute zur Bewachung unseres Hauses … Die Herrschaften lungern hier herum und verschenken Silvesterblei. Wir werden ja keinen von ihnen fangen, denn Maulwürfe lassen sich schwer erwischen und kriechen wieder in die Erde …“

Um halb drei meldeten sich die vier Agenten. Es goß noch immer aus Kübeln.

Um drei verließen zwei schäbige Pennbrüder, die als Regenschutz löcherige Zeltbahnen benutzten, unser Haus durch den Gemüsegarten und schwangen sich wieder eine Viertelstunde darauf über die Lüning’sche Parkmauer.

So etwas nennt Harst „Sich ausschlafen“ …




[37]
Das alte Fräulein Födösy
1. Kapitel.
Eine Maulwurffarm.

Die zwanzig Minuten Fußweg bis zur Villa[2] Lüning brachten mir zwei Überraschungen.

Die erste bestand darin, daß ein Schupobeamter, dem unser Kostüm allzu fragwürdig erschien, uns anhielt und mit der bei unserer vielgeplagten Polizei üblichen Höflichkeit nach unseren Papieren und nach „Woher“ und „Wohin“ fragte. Dazu war er verpflichtet, und nachher wurde er desto liebenswürdiger …

Die zweite Überraschung führte ich durch eine Frage herbei, die gleichfalls den Umständen angemessen war. Harald hatte vor dem Aufbruch nur kurz geäußert, er wolle den Bau des weißen Maulwurfs suchen. Diese Erklärung mußte mich stutzig machen, und ich schnitt die Frage nunmehr mit aller Sachlichkeit an.

„Wenn du von einem „Bau“ sprichst, mußt du Beweise haben, daß in dem ausgedehnten Park irgend etwas diesen „Bau“ darstellen könnte“, meinte ich in einem Tone, der eine klare Antwort forderte.

Er erwiderte ohne Umschweife: „Wenn ich „Bau“ sage, [38] mag das ein geringer Fehlgriff im Ausdruck gewesen sein. Genauer: Versteck für die weißen Maulwürfe, oder etwas Ähnliches. Du wirst sofort nachher merken, mein Alter, worauf ich aus bin, worauf ich ein Auge geworfen habe. Diese Albino-Erdwühler lassen sich nur außerhalb der Villa in einem sonst kaum benutzten Zubehör des Grundstückes verbergen, – falls die Tiere sich überhaupt im Parke befinden. Das, was wir jetzt unternehmen, ist mithin lediglich eine Stichprobe. Wir müssen sie wagen – ein Wagnis bleibt es –, denn in diesem Kriminalfall muß man selbst dem kleinsten „Einfall“ nachgehen, und der Einfall kam mir in der Dämmerstunde …“

Dann, wie gesagt, schwangen wir uns über die Lüning’sche Parkmauer.

In der Parkecke, die am weitesten von der Villa entfernt war, stand ein vernachlässigter Pavillon mit solidem Unterbau, mit herabgelassenen Stabjalousien vor den Fenstern, vergitterten Luftschächten des Kellerraumes und einem grün patinierten Kupferdach.

Der Pavillon schmiegte sich so eng in die verwilderte Parkecke ein, daß zwei seiner Grundmauern die Parkmauer hier ersetzten und daß jeder Spaziergänger sehen konnte, daß hinter den Gittern des Kellerraumes noch Holzladen angebracht waren.

Die Wildnis rings um den Pavillon störte den Gesamteindruck des sonst so wohlgepflegten großen Parkes keineswegs, sie verlieh ihm eher einen romantischen Schimmer, und die vielen Vögel, die in den Büschen, Bäumen und Dornenhecken und wild wuchernden Brombeerstauden nisteten, waren Lüning sicherlich von Herzen dankbar, ihnen diese unberührte Zufluchtsstätte gewährt zu haben. So war denn der Pavillon wie ein kleines Dornröschenschloß von grünen, undurchdringlichen Wällen umgeben, und wir beide hatten hier so manches Mal halt gemacht und uns über die Unmenge von Schwarzdrosseln, Meisen und Grünlingen, Spechte und Finken herzlich gefreut.

[39] Daß wir je gezwungen sein würden, diese Stätte in weniger friedlicher Absicht zu besuchen, konnten wir nicht vorausahnen. Immerhin kam uns unsere Ortskenntnis jetzt zugute.

Der Zugang zu dem Untergeschoß des Pavillons lag unter der steilen, bemoosten Marmortreppe. Es gab da eine kleine verrostete Eisentür, deren Gelenke jedoch in Öl schwammen und deren zwei Schlösser uns ebenso verdächtig wie vielverheißend erschienen.

Harald hatte den Lichtkegel der Taschenlampe nur flüchtig und vorsichtig über die Eisentür hinweggleiten lassen.

Dann bückte er sich und schaute durch eins der Schlüssellöcher. Um uns her herrschte tiefste Finsternis. Der Regen rauschte und klatschte, aus der Gosse des Kupferdaches schoß gurgelnd ein dicker Strahl, – wir standen hier im Trockenen, und doch standen wir auch, das wußten wir, vielleicht dem heimtückischen Sensenmann gegenüber. Die Maulwürfe würden wohl, falls dies hier ihr Bau sein sollte, ihn genügend geschützt haben.

Gewiß, wir hatten den Erdboden sorgfältig abgesucht, wir taten alles, einer Gefahr auszuweichen, aber menschliche Tücke ist so vielseitig, daß man all die teuflischen Einfälle verderbter Hirne unmöglich rechtzeitig wirksam bekämpfen kann.

Dennoch lag in dieser nächtlichen geheimnisvollen Spürarbeit, die wir hier wagten, der große unnennbare Reiz des Abenteuerlichen. – Leise versuchte Harald nun den Patentdietrich an den Schlössern, – endlich ging die Tür lautlos auf, wir leuchteten in den mit morschen Gartengeräten gefüllten viereckigen Raum hinein und schlüpften dann sofort hinter zwei aufeinander gestellte Schiebkarren, die uns einige Deckung boten. Die Eisentür blieb offen, wir verharrten lange Minuten in dieser muffigen Finsternis, bevor Harst die Tür versperrte.

Wir glaubten nun annehmen zu dürfen, daß uns niemand [40] gefolgt sei, und wir prüften das Kellergelaß mit jener Sorgfalt, die man sich im Laufe der Jahre angewöhnt und die auch nicht die geringste Kleinigkeit außer acht läßt. Der Boden war mit Ziegelsteinen ausgelegt, jedoch voller toter Blätter und feuchter Erde. An der Holzdecke oben hingen lange Spinnengewebe, Spinnennetze mit schwarzen großen Hausspinnen spannten sich von den Querbalken zur Mauer oder nach oben zu den dicken Bohlen der Decke, die Mauern selbst waren feucht, mit weißen Pilzfeldern überzogen und verbreiteten jenen faden, fauligen Geruch, der für den Champignonzüchter ein Genuß, für andere Sterbliche ein Ekel ist.

In der Erdschicht und in den faulenden Blättern war nicht eine einzige Fußspur zu erkennen. Wenn nicht die Türgelenke geölt und die beiden neuen Patentschlössern vorhanden gewesen wären, hätte man glauben können, dieser Keller sei seit Jahren nicht betreten worden.

Harald deutete auf ein morsches Brett, das über Erde und Blätter lag und bis zur anderen Wand reichte – wie ein fester Pfad, der keine Fährte annahm.

Wir standen auf diesem Brett, und wie wir noch horchend und mißtrauisch nur die Blicke umherschweifen ließen, mischte sich in das eintönige Rauschen und Prasseln und Gurgeln der Regenmassen ein anderer Laut …

Unbestimmbar seiner Natur nach …

Es klang wie leises Stöhnen …

Harsts Gesicht neigte sich …

Zwei weiße Lichtkreise irrten wie verlorene Seelen durch die Finsternis, und der Schatten meines halb erhobenen Armes glitt über die Wand wie ein finsterer, bedächtiger Spuk.

Die beiden Laternenkegel vereinigten sich, verschworen zu einer weißen Eieruhr am Boden, und dieser Lichtfleck geriet in Wallung, als ob er von unten her in seiner Bewegung gestört würde. Erdreich und faule Blätter, Ziegelsteine und ein paar zerbrochene hölzerne Harken bäumten sich empor, klafften als zackiges Loch, aus dem ein weißer Tierschädel [41] mit rosiger Nase sowie zwei Maulwurfsgrabklauen, über Menschenmaß vergrößert, sich hervorschoben.

So gewiß mir sofort klar wurde, daß hier lediglich irgend eine seltsame Spielerei, etwa ein Tierautomat oder auch nur ein weißer Maulwurf, unendlich vergrößert, als Maske für ein Wesen wie wir, benutzt wurde, – die Erinnerung an den Aberglauben vom weißen Maulwurf erwachte trotzdem mit all dem stillen Grauen, das die Vorstellung hervorrufen mußte, ein durch altertümliche Beschwörungen aus seinem Sarge aufgescheuchter Toter wühle sich zum Tageslicht empor und beabsichtige ebenso Grauenvolles vorzunehmen.

Der Anblick war lähmend, wenn auch nur für Sekunden. Dieser Anblick mußte sich durch das Mitwirken der Phantasie, die durch Gelesenes und immer wieder neu aufgepeitschte Einzelheiten das Schreckhafte zu Übernatürlichem steigerte, zu einem unerträglichen Zwang verstärken, – wir blieben untätig, und als Harald dann das Geschöpf drohend anrief, klappte vor unseren Augen der Ziegelboden geräuschvoll zu und war nur wieder Schmutz, Blätter, morsche Harken und lichtbeschienener, nichtssagender Fleck.

Trotzdem ein Fleck, der nur eine Doppelfalltür sein konnte, die hinabführte in einen Raum, von dem niemand etwas wußte. Harst kniete am Boden, befühlte die Zwischenräume der Ziegelsteine, wurde immer eifriger, immer hartnäckiger, legte seine Taschenlampe neben die tastenden Hände und schob den Zeigfinger in eine Fuge …

Ein fremder Ton erklang da – wie vorhin, – ein Stöhnen, hatten wir geglaubt, – jetzt zerlegten wir das Geräusch, und es war ein dumpfes Knarren von Balken, die in der Tiefe sich aneinanderrieben.

Langsam hoben sich wie soeben die Ziegel, das Loch klaffte wieder, es war leer, und die eindrucksvolle Vorstellung, ein weißer Riesenmaulwurf wühle sich ans Licht, blieb aus …

Es war nur eine Falltür, und als Harald den Arm mit [42] der Lampe hindurchstreckte, wurde eine kleine Steintreppe sichtbar und ein kahles Gewölbe, sehr niedrig, noch muffiger, noch feuchter, – – und leer.

Harst kletterte hinab.

Die Feldsteinfundamente des alten Pavillons – auch die Villa Lüning war ein älterer Bau – bildeten die Seitenwände, die Treppe war wie ein Mauerblock an der Seite errichtet und glich fast einer verfallenen Pyramide, der Boden des Gewölbes war lockere Erde, und das einzig Auffällige hier blieben die Maulwurfshügel, die wie kleine Höcker über den Boden verteilt waren.

Harald winkte, und ich stieg ebenfalls hinab.

„Weißt du, was das hier ist, mein Alter?“, fragte er gedämpft. „Eine Maulwurfsfarm sozusagen … Warte einen Augenblick.“

Er beleuchtete den Treppenklotz, und sehr bald hatte er in dem dicken Pfeiler die versteckte Tür gefunden, dahinter lag ein Hohlraum, in dem zwei neue Spaten und drei flache Kisten standen. Die Kisten enthielten Humuserde, und in dieser Erde steckten dicht bei dicht Engerlinge, Insektenpuppen, – –: „Futter für die Farm“, meinte Harald und nahm den einen Spaten und begann zu graben.

Das Erdreich lag hier kaum sechzig Zentimeter hoch über einer Schicht von Ziegelsteinen, so daß die Maulwürfe nicht ins Freie flüchten konnten. Harald buddelte auch drei weiße Maulwürfe heraus, die er jedoch unbelästigt ließ.

Ich stand stumm dabei.

Am Rande der Weltstadt Berlin sah ich hier etwas, das hinübergriff mit seinen entarteten Wühlern, denen der Farbstoff der Haut fehlte, bis ins ferne Karpatenland Siebenbürgen, bis zur Stadt Klausenburg, bis zu den ungarischen Zigeunern, diesen Meistern der Fiedel und Meistern im Faullenzen und Stehlen.

Harst warf die Löcher, die er gegraben, wieder zu, und dann suchte er nach dem Schlupfloch, durch das der Riesenmaulwurf [43] samt seiner Maske entkommen war. Er fand es. Von den großen Feldsteinen des Fundaments waren drei aneinanderliegende gelockert: Das Loch, das sie freigaben, lief schräg nach oben in ein Brombeerdickicht.

Wir tilgten alle Spuren unserer Anwesenheit und kehrten heim. Harst sprach kein Wort, auch zu Hause drückte er mir stumm und zerstreut die Hand und suchte sein Schlafzimmer auf.




2. Kapitel.
Die Zigeunerkneipe.

Am nächsten Vormittag hatte sich mein Freund ein Paket Zeitungen aus dem verflossenen Februar herausgesucht und verfolgte die Spalten der Anzeigen unter „Tiermarkt“ und „Vermischtes“ mit einem Eifer, der ihn geradezu schwerhörig machte. So mußte ich denn die Erörterung über die Maulwurffarm abermals verschieben, saß im Sessel und rauchte und freute mich schadenfroh über Haralds mißvergnügte Miene. Plötzlich leuchtete sein Gesicht jedoch auf, und er rief fast triumphierend: „Das hier ist unser Mann!! Den brauchen wir!“

Ich beugte mich vor und sah in einer Zeitung ein Bild des Herrn Aloys Huber, der als Spezialist im Finden von Käfern, Larven, Engerlingen auch den Zoologischen Garten mit „Nahrung“ versorgt. – Er heißt nicht Huber, ich nenne ihn hier nur Huber, aber man hat ihm tatsächlich lange Artikel gewidmet, ohne ihn würden verschiedene Tierarten im Zoo einfach verhungern.

Wir fuhren also zu Herrn Huber, hatten Glück, er war daheim, und als Harald seinen Namen nannte und Huber auf den Kopf zusagte, daß er einem Unbekannten unter geheimnisvollen [44] Umständen Engerlinge liefere, gab der Spezialist für lebende Futtermittel jedes Leugnen auf.

„Herr Harst, wie Sie dahinter gekommen sind, weiß ich nicht“, erklärte der frische Mann sehr ehrlich. „Nicht einmal meine Frau kennt meine gewinnbringenden Beziehungen zu dem Unbekannten … Vor einem Jahr etwa erhielt ich einen getippten Brief …“

„Haben Sie das Schreiben noch …“

„Ja – gut versteckt, – ich hole es Ihnen, Herr Harst …“

Der Brief war bestimmt wieder mit Doktor Gerberts Maschine geschrieben und lautete:

„Geehrter Herr Huber, Sie versorgen den Zoologischen Garten mit Engerlingen und sonstigen nicht leicht auffindbaren Nahrungsmitteln für bestimmte Tiere. Da ich mir gleichfalls derartige Tiere halte, bitte ich Sie, mir baldigst eine größere Menge Engerlinge zu beschaffen, sagen wir zum 1. Februar, und dann alle vier Wochen immer am 1. jeden Monats. Ich füge als Anzahlung 50 Mark bei. Wir wollen uns regelmäßig an derselben Stelle treffen, Ecke Lux-Straße und Sport-Straße am Fehrbelliner Platz, genau um elf Uhr abends. Ich werde[3] Ihnen das Dreifache zahlen wie der Zoologische Garten, verlange jedoch strengste Verschwiegenheit. Mein Name tut nichts zur Sache. Ich möchte mich einer harmlosen Schrulle wegen nicht belächeln lassen.“

Das war alles.

„Das Geschäft lohnte also, Herr Huber?“, fragte Harald gleichgültig.

„Ob es lohnte!! Leider ist es nun Schluß damit. Der Herr, der immer mit einem Motorrad am Treffpunkt erschien, und den ich kaum wiedererkennen würde, gab mir jetzt am 1. Mai die letzten hundert Mark und erklärte, vorläufig sei er nun genügend versorgt.“

„So … so … Am 1. Mai also, vor ungefähr 10 Tagen, – – natürlich, da war der Plan fix und fertig“, meinte [45] Harald mehr zu sich selbst. „War denn der Herr verkleidet, Herr Huber?“

„Ich glaube ja … Er trug immer Autobrille und grauen Vollbart, aber der Bart war wohl kaum echt. – Sehr schade – es war ein schöner Verdienst …“

Harst gab Huber zwanzig Mark. „Da – auch leicht verdient ..! Schweigen Sie, ich werde Sie später noch brauchen, und dann fallen dabei sogar zweihundert Mark ab …“

Wir verabschiedeten uns.

Im Auto sagte ich anerkennend: „Das hast du gut gemacht, Harald, sehr gut … Die beiden Kisten mit Humuserde und Engerlingen in dem Versteck in der Ecke brachten dich auf die Idee … Sehr fein!!“

„Danke verbindlichst … Daß der weiße Maulwurf für seine Farm nicht selbst die Nahrung suchen konnte, lag wohl klar auf der Hand.“ Er steuerte unseren Wagen den nördlichen Vierteln Berlins zu, und die endlos lange Müllerstraße, bekannt durch ihre Zigeunerkolonie, den jetzt eingegangenen Hundefriedhof und durch einige Rummelplätze, fuhr er sehr langsam empor. „Du hast auch aus Hubers Angaben ersehen“, meinte er unvermittelt, „daß der weiße Maulwurf alles getan hat, Doktor Gerbert zu verdächtigen. Ich sprach bei Huber von einem „Plan“, – dieser Plan liegt also schon länger als ein Jahr zurück, der weiße Maulwurf benutzte schon damals Gerberts Schreibmaschine, er bestellte Huber an die Ecke Lux-Straße, er benutzte ein Motorrad, – Gerbert wohnt Lux-Straße und ist Motorradler, – – alles genau vorbereitet und mit engelhafter oder satansmäßiger Geduld durchgeführt, ein förmliches Netz, in dem sich mehrere Fliegen fangen sollten. – Du wirst nun fragen, was wir hier in der Müllerstraße suchen. Warte ab, – ich fand es im Adreßbuch … Gib acht, – – lies rechts die Firmenschilder dieser Seitenstraße, wir sind in der Zigeunerkolonie angelangt …“

Die Straße war mir bekannt. Wir hatten hier schon früher einmal auf Großwild gejagt. – Plötzlich gab es mir [46] einen förmlichen Ruck … Da war eine saubere Kneipe, darüber ein großes Wirtshausschild:

Zum weißen Maulwurf.

Harald fuhr vorüber, bog wieder in eine Seitenstraße ein und hielt vor einer Tankstelle an, übergab den Wagen dem Angestellten zur Beaufsichtigung und führte mich denselben Weg zurück. Bevor wir den „Weißen Maulwurf“ betraten, erklärte er nur: „Wir sind Ausländer … Wir wollen lediglich zivilisierte Zigeuner kennen lernen.“

Die Kneipe machte auch innen einen sehr sauberen Eindruck. Ein paar Tische waren mit schwarzhaarigen Herrschaften besetzt, der Wirt, dick und würdig, musterte uns sehr argwöhnisch, taute aber sofort auf, als wir die Engländer spielten und Harald eine Pfundnote auf den Tisch legte … „Bier – – für alle Gentlemen …“, radebreche er und deutete auf die anderen Gäste.

Jedenfalls nahm der Wirt nachher bei uns Platz und ließ sich geduldig aushorchen … So erfuhren wir, daß er hier nur Verwalter sei, das Haus und die Kneipe gehörten einer ungarischen sehr feinen alten Dame, die seit Jahren an der See gelebt habe … hier in Deutschland, an der Ostsee.

Harald tat interessiert … „Die Dame ist also tot, verstorben … Sie sagten doch, sie lebe nicht mehr …“

Das hatte der Mann nun keineswegs behauptet oder auch nur angedeutet. Immerhin konnte ein Engländer ihn falsch verstanden haben. Er wurde sehr verlegen, nickte dann übereifrig …

„Ja – sie ist tot, – unlängst verstorben, Herr …“

Es handelte sich hier zweifellos um Fräulein Vilja Födösy, die schon in dem großen Prozeß in Klausenburg die drei angeklagten Zigeuner durch ihre bestimmte Aussage gerettet hatte.

Ich verfolgte die Weiterentwicklung des Gesprächs nun mit größter Spannung.

[47] „Wer hat geerbt dieses Haus?“, fragte Harald immer in demselben gelangweilten Tone.

„Das … das weiß noch niemand, mein Herr … Das Testament der Dame soll erst nach drei Monaten eröffnet werden, bis dahin soll es so bleiben, wie bisher … Ein Rechtsanwalt in Swinemünde betraut den Nachlaß … Die Dame ist sehr reich …“

War sehr reich, – sie ist doch tot …“, verbesserte Harald …

Der dicke Zigeuner (er stammte auch aus Ungarn) hüstelte. „Natürlich, – – sie ist tot … – Trinken die Herren noch ein Glas?“

„Danke …“

Fünf Minuten darauf standen wir gegenüber der Kneipe in einem Hausflur und beobachteten das Gebäude, in dessen erstem Stock ein „Privathotel“ untergebracht war.

Wir brauchten nicht allzu lange zu warten: Drüben aus dem Haupteingang trat eine schlicht gekleidete, hagere Matrone mit schneeweißem Haar und dunklem Gesichtsschleier heraus und wandte sich der Müllerstraße zu. Von ihren Zügen war nicht viel zu erkennen, sie ging sehr aufrecht und sehr kräftigen Schrittes dahin, ihre Bewegungen und ihre Kopfhaltung verrieten Frische und Energie, und ein unnennbarer Hauch von Vornehmheit umgab sie …

Die Födösys entstammten einer Magnatenfamilie, waren freilich eine Seitenlinie.

Harald hatte mich untergehakt. „Mein Alter, dort wandelt eine Tote … – Diese Überraschung ist selbst mir in die Glieder gefahren. Allerdings: In meine Theorie über den weißen Maulwurf läßt sich diese Lebendige-Tote sehr gut einfügen.“

Sie ist der weiße Maulwurf!“, behauptete ich kühn.

„Ein weiser weißer Maulwurf mag sie sein, der weiße Maulwurf ist sie nicht“, lautete seine knappe Antwort.

„Also kennst du ihn? – Ist es doch Josef Strahl?!“

[48] Da lachte er herzlich. „Gewiß kenne ich ihn … Aber Strahl?! – Josef Strahl wohnt auch im Privathotel über der Zigeunerkneipe, ich sah ihn dort vorhin flüchtig am Fenster … Strahl ist ein Verbündeter Frau Lünings …“

Die Matrone bestieg eine Autotaxe … Wir auch, wir blieben hinter ihr …

Und dadurch lüftete sich ganz wenig der Schleier, der über all diesen Geheimnissen lagerte.




3. Kapitel.
Frau Lünings Geständnis.

Gestern hatte es in Strömen gegossen, heute schien klare Maiensonne vom Himmel herab, und der Grunewald-Forst duftete nach Frühling, nach Kiefernnadeln, nach Harz, Buntspechte pochten überall, Eichhörnchen flitzten hin und her, und die wenigen Vormittagsspaziergänger erfreuten sich doppelter Stille und all dieses Frühlingswebens …

Hundert Schritt vor uns wandert die Matrone dahin, und gerade als Harald mir erklärte, er habe sich, was Josef Strahl beträfe, sehr geirrt, schwenkte die aufrechte Dame in eine Schonung ein, auf deren Sandweg ein paar Bänke standen …

Wir machten uns schleunigst unsichtbar, schlugen einen Bogen und wurden Zeugen, wie Frau Geraldine Lüning sich von einer der Bänke erhob und der Matrone entgegeneilte. Frau Lüning schien ihre Tante in die Arme schließen zu wollen, aber eine gebieterische Handbewegung scheuchte sie zurück, und Fräulein Födösy stand nun vor ihr und sprach erregt und vorwurfsvoll auf sie ein.

Frau Lüning antwortete, verteidigte sich zaghaft, allmählich [49] wurden die Gesten der beiden Frauen ruhiger, und dann war es die ältere, die Frau Lüning umarmte und küßte und die verzweifelt Weinende auf die Bank drückte und ihre Hände streichelte und ihr gütig zuredete.

Tante und Nichte hatten sich nach jahrelanger Entfremdung wieder versöhnt. – Was war der Anlaß zu dieser Entfremdung gewesen? Wirklich Frau Lünings erster Gatte?!

Wir beide, eng an den Waldboden geschmiegt, fanden leider selbst hier in der Schonung wenig Deckung. Wir durften uns nicht näher heranwagen, von der Unterhaltung der beiden hörten wir nichts, außerdem war Harald auch merkwürdig nervös und schenkte der Umgebung weit mehr Beachtung als den beiden Frauen.

Der Gedanke, daß hier irgendwie eine Gefahr lauere, kam mir erst, als Harst sich halb erhob und auf eine Eiche deutete, die ebenfalls auf dem Wege durch die Schonung sich erhob. Es war ein sehr alter Baum, und erst nach schärfstem Hinsehen erkannte ich oben hinter dem Stamm eine Männergestalt, die auf einem dicken Seitenast stand. Der Mann beobachtete die beiden Frauen, hatte in der einen Hand einen plumpen Spazierstock, war ärmlich gekleidet, trug Brille, grauen Vollbart und einen zerbeulten großen Filzhut.

Jetzt packte auch mich das Jagdfieber.

Ich wußte: Der da auf der Eiche war der Windbüchsenschütze, sein Spazierstock war ein Luftgewehr von großer Tragweite, und als der Mann nun diesen gefährlichen Spazierstock emporhob und Miene machte, auf die Frauen anzulegen, schnellte ich noch rascher als Harald vorwärts …

Gleichzeitig vernahm ich einen dumpfen Schlag, – so, als ob ein Stein gegen einen Ast geschleudert würde, – Harst jagte an mir vorüber, der Mann glitt von der Eiche herab, raffte sein Fahrrad auf und fuhr davon, während vor uns wie aus dem Boden gewachsen Josef Strahl auftauchte und Harald am Arm packte und zurückriß.

Dies spielte sich bereits auf dem Wege der Schonung [50] ab, – ich wunderte mich, daß Harst sich von Strahl dieses Eingreifen zu Gunsten des weißen Maulwurfs gefallen ließ, ich wunderte mich noch mehr, als er zu Strahl ganz förmlich sagte: „Sehr brav, – Sie sind auf dem Posten!!“

Ich blickte zur Seite, – die beiden Frauen entfernten sich fluchtartig, trennten sich, und Josef Strahl schien erleichtert aufzuatmen, als auch der Radler in entgegengesetzter Richtung im Hochwalde verschwand.

Harald blieb genau so freundlich, obwohl Strahl uns bitterböse anschaute und recht barsch erklärte: „Mischen Sie sich doch nicht in fremde Angelegenheiten, Herr Harst! Sie stiften nur Unheil an!“

„So?! Unheil?! Und wie denken Sie sich das Ende, Herr Strahl?!“, meinte Harald geduldig. „Sie können doch nicht gut verlangen, daß ich den Mörder von Klausenburg, Prozeß 1911, den Raubgesellen vom 13. Mai, den doppelten Giftmischer und den Windbüchsenschützen so einfach laufen lasse?!“

Strahl erbleichte, stierte Harst lange an und fragte dann kleinlaut: „Sie wissen also alles, Herr Harst?“

„Ja – jetzt ja … Nachdem ich eine irrige Annahme korrigiert habe, kenne ich die ganzen Zusammenhänge. Es gab einmal einen jungen Verbrecher, der in dem Dorfe Karpati bei Klausenburg fünf Raubmorde beging und den Verdacht auf drei Zigeuner lenkte. Beim sechsten Raubmordversuch riß ihm Fräulein Födösy die Leichentücher ab … […][4] Witwe, Berkamp starb, - - und da entzweiten sich Tante und Nichte, denn erstere hatte den Mörder von Karpati wiedererkannt …“

Strahl ließ den Kopf mutlos sinken …

„Ja –- es war so …“, flüsterte er …

„Und dann, lieber Strahl, starb wieder nach Jahren das alte Fräulein … Alle Achtung vor deren Energie ..! Sie ahnte wohl, daß sie vergiftet werden sollte … Wie sie es [51] fertig brachte, sich beerdigen zu lassen und doch weiterzuleben, ist nebensächlich. – Wer schickte ihr das Gift?“

Der Diener hatte längst allen Widerstand aufgegeben. „Fräulein Tussi sandte ihr unter anderem zum Geburtstag Konfekt“, erwiderte er verzweifelt. „Wie sind Sie nun auf …“

„Lassen Sie es gut sein …,“ – ich reimte mir das einzig Richtige zusammen … – Also Fräulein Tussi, – – natürlich ahnte sie nicht, daß jemand das Konfekt vergiftet hatte, aber das alte Fräulein war eben vorsichtig und klug und kannte die Gefahr … – Und dann sollten Sie stumm gemacht werden, Josef Strahl … Sie trinken wohl vor dem Schlafengehen regelmäßig etwas Wasser mit Kognak … – Nun also, – der Kognak war vergiftet, auch Sie waren gewarnt, Sie tranken nicht, täuschten „Leiche“ vor und entflohen – mit Frau Lünings Einverständnis …“

Strahl nickte schwach, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute Harst flehend an.

„Bitte, lassen Sie mich jetzt gehen … Ich muß Fräulein Födösy beschützen …“

„Gehen Sie, – – und sagen Sie der alten Dame, sie möge von sich aus nichts mehr unternehmen … Ich werde die Sache zu einem Abschluß bringen, der alle Teile befriedigt.“ Er drückte Strahl die Hand, und der seltsame Diener lief eilends davon.

Harald winkte mir, wir durchschritten die Schonung und läuteten zehn Minuten darauf an der Parkpforte der Villa Lüning.

Ein Kriminalbeamter ließ uns ein.

„Der Herr Generaldirektor schläft noch“, bedeutete er uns. „Er hat eine sehr schlechte Nacht gehabt, der Hausarzt war hier …“

Harald betrat trotzdem den Vorgarten .und sagte leichthin: „Wir werden im Park warten, bis Herr Lüning uns empfangen kann. – Ist Frau Lüning zu Hause?“

„Ja – soeben zurückgekehrt …“

[52] „Vielleicht benachrichtigen Sie die gnädige Frau, daß wir im Park sind“, bat Harst und schritt nach links um die Villa herum.

Eine dichte, hohe Taxushecke, neben der noch hohe Magnolienbüsche standen, zog sich von der Villa bis zur westlichen Parkmauer und säumte so eine schmale Allee ein.

Harald blieb stehen. Nach dem reichlichen Regen der Nacht war der Kies der Allee noch sehr feucht, ebenso die Erde unter den Magnolien.

Ich wußte noch immer nicht, wer der weiße Maulwurf war, ich hegte zwar einen ganz bestimmten Verdacht, wies ihn jedoch als unmöglich zurück.

Jetzt erst deckte Harst seine Karten auf.

„Sehr schlau!“, meinte er … „Dort, wo die Taxushecke an die Villa stößt und auch die Magnolien im Halbkreis einen Abschluß bilden, liegen Lünings Schlafzimmerfenster …“

Er brauchte nichts weiter zu sagen. Jetzt kannte ich den Verbrecher.

Trotzdem überlief es mich kalt.

„Arme Frau Lüning“, sagte ich nur.

„Das trifft zu … Die Ärmste kämpfte verzweifelt, ihren Mann von jedem Argwohn zu reinigen, überhaupt keinen Argwohn aufkommen zu lassen …“

Wir schritten auf die Parkmauer zu … Ein kleines Pförtchen zeigte uns die Stelle, wo Lüning unbemerkt ein- und ausschlüpfen konnte.

Harst blieb wiederum stehen. „Gerbert half Frau Lüning, Josef Strahl half ihr auch … Was mich in Erstaunen setzt, ist das eine, daß Kommissar Dwars nicht sofort den Täter herausfand. Bedenke: Lüning läßt sich von seiner Stieftochter im Auto aus der Stadt abholen, seine Stieftochter soll ihn nachher auch zu der Konferenz fahren, dabei hat Lüning drei Autos und zwei Chauffeure! Die Chauffeure haben Abendurlaub, der Diener Strahl ist noch halb krank nach der Fleischvergiftung, – natürlich hat Lüning ihm das Gift beigebracht, [53] damit der geschwächte Mann nicht gefährlich werden könnte. Lüning schickt Strahl durch den Seitenausgang auf die Straße zum Schutze seiner Stieftochter, – er selbst ist natürlich flinker, er maskiert sich, … er raubt Geld, – – alles sehr fein ausgeklügelt und bis auf die Sekunde genau berechnet. Es klappt alles, aber … – und hier setzen meine Schlußfolgerungen ein – aber Tussi Berkamp, obwohl schwer verletzt, reißt dem Mordbuben den falschen Bart ab und erkennt ihn und schreit: „Vater!!“, und wird ohnmächtig … Diesen Schrei hörte Josef Strahl, er erkennt Lüning ebenfalls, und – – er wird bei seiner Vernehmung ohnmächtig … – – Still, – – Frau Lüning kommt …“

Das war nicht mehr dieselbe Frau, die damals vormittags bei uns mit heroischer Energie eine ganz bestimmte Rolle gespielt hatte … Das war ein blasses, verstörtes Weib, eine Bittende, Flehende:

„Herr Harst, ersparen Sie uns die ungeheure Schande!! Ersparen Sie mir das Entsetzliche, daß die Öffentlichkeit erfährt, ich hätte entgegen den Warnungen meiner Tante einen Mörder geheiratet! Tante hat Lüning sofort wiedererkannt, sie hat ihm in meiner Gegenwart die Beschuldigung ins Gesicht geschleudert, der Mörder von Karpati zu sein. Was tat Lüning? Er drohte ihr mit Beleidigungsklage, er glaubte sich sicher, ich glaubte ihm, – – wir heirateten …“

Sie lehnte ganz matt an einer Birke, sie fand keine Tränen mehr, in ihren Augen flackerte die Angst … vor dem Skandal, vor der Presse, vor dem Publikum …

„… Wir heirateten, und ich gab meinem Kinde einen Stiefvater, der ein Verbrecher war. Ich ahnte dies nicht, erst die grauenhaften Vorgänge am 13. Mai abends gegen zehn öffneten mir die Augen … Josef Strahl teilte mir die Wahrheit mit, hielt treu zu mir und gab mir selbst den Gedanken ein, Sie aufzusuchen und den Verdacht auf ihn zu lenken … Deshalb erwähnte ich den weißen Maulwurf … Strahl wollte dann fliehen …, oh, – – ich kann all dies Häßliche nicht [54] weiter aufwühlen, ich bin am Ende meiner Kräfte, ich kämpfe ja für mein Kind, nicht für mich!!“

Harald war genau so erschüttert wie ich. Er suchte zu trösten, er fand nicht die rechten Worte, denn seine Aufmerksamkeit war beständig gespalten, er sollte sich dieser bedauernswerten Frau widmen und mußte nebenbei den größten Teil seiner Wachsamkeit auf die Umgebung richten. Er fürchtete für Frau Lüning, seine Augen durchsuchten beständig die Büsche, glitten hierhin und dorthin, außerdem entdeckte ich in seinen Zügen einen sonderbaren zerfahrenen Ausdruck, der nur auf eine gesteigerte, ihn selbst verwirrende Gedankenarbeit schließen ließ.

„Gnädige Frau“, fragte er nach kurzer Pause in herzlicher Eindringlichkeit, „seien Sie bitte ehrlich, Sie lieben Ihren Gatten noch immer, nicht wahr?“

Mit einem Schlage war sie wieder wie umgewandelt. Eine Würde und Feierlichkeit, die in der Form bisher nicht an ihr zu bemerken gewesen, veränderte ihr tränenfeuchtes Gesicht. „Ja, ich liebe ihn“, erklärte sie fest. „Er war mir bis vor einem Jahr etwa der zärtlichste, aufmerksamste Gatte und meinem Kinde ein liebevoller Stiefvater. Dann kam der jähe Umschwung – ohne jeden äußeren Anlaß. Er war traurig, bedrückt, leicht aufbrausend, er veränderte die bisherige Einteilung der Zimmer, er belegte für sich das halbe Erdgeschoß, ließ Umbauten vornehmen, schuf das große Bibliothekszimmer, wurde Büchersammler, nicht einmal Strahl durfte die Bibliothek betreten, er hielt sich von uns fern, verfiel auch körperlich, nahm die Mahlzeiten zumeist allein ein, aß unmäßig, trank unmäßig, vernachlässigte sein Geschäft, – alles Anzeichen für eine beginnende Geisteskrankheit …“ – Jetzt brachen ihr die Tränen wieder hervor, sie hatte nun auch ihr letztes, schreckliches Geheimnis enthüllt, sie verlor wieder jede Widerstandskraft, sie hing in Harsts Armen wie ein mattes, krankes Vöglein, und erst nach geraumer Zeit faßte sie sich wieder und gehorchte schweigend Haralds dringendem Rat, sich so, wie sie [55] ging und stand, zu ihrer Tante zu begeben und dort vorläufig zu bleiben. „Nehmen Sie ein Taxameterauto, gnädige Frau, – – sofort! Ich öffne Ihnen hier die Seitentür des Parkgitters … Vertrauen Sie auf uns, vielleicht verläuft alles noch besser, als Sie es je zu hoffen wagten …“




4. Kapitel.
Ist Lüning der weiße Maulwurf?

Wir schritten der Villa zu. Harst ging mit tief gesenktem Kopf. Was ihn beschäftigte, wußte ich nicht. Ich selbst glaubte an Lünings Geisteskrankheit nicht, es mußten andere Gründe für seinen plötzlichen Sinneswechsel vorhanden sein.

Am Haupteingang lehnte der eine Kriminalbeamte. „Der Generaldirektor hat soeben sein Frühstück verlangt“, teilte er uns mit. „Besucher weist er ab … Herr Kommissar Dwars ist in der Vorhalle und verhört nochmals das Personal.“

Dwars begrüßte uns höflich. „Sie werden bei Lüning kein Glück haben, meine Herren … Er verschanzt sich hinter den Anordnungen des Hausarztes: Keine Aufregungen! – Haben Sie Neues herausgefunden?“ – Wir standen in einer Ecke, Dwars hatte soeben die Köchin vernommen und winkte ihr nun zu, daß sie gehen könne.

„Einen Augenblick“, sagte Harst … „Herr Lüning stellte an Ihre Kochkunst wohl sehr hohe Anforderungen?“

Die blitzsaubere Köchin erwiderte schlicht: „Mehr der Menge als der Güte nach, Herr Harst …“

„Danke …“ – Die Köchin verschwand.

Dwars warf Harald einen prüfenden Blick zu. „Ich glaube“, meinte er leise, „wir sind auf derselben Fährte, Herr Harst …“

[56] „Vor fünf Minuten vielleicht, jetzt nicht mehr“, gab Harald zur Antwort. „Ihr Wild ist Lüning, das meine ist jetzt der weiße Maulwurf … Begleiten Sie uns bitte, Lüning muß uns einlassen. Sie werden doch gewiß Lünings Vorleben nachgespürt haben. Was ermittelten Sie?“

„Nichts – – oder nur Nebel, Unklarheiten … Nur das eine dürfte feststehen: Lüning trägt diesen Namen zu Unrecht. Wie er wirklich heißt, war bisher nicht zu ergründen.“

Dwars pochte dann sehr energisch an die Flügeltür der Bibliothek. Es wurde sofort geöffnet, und vor uns stand bleich und gebeugt mit verfallenem Gesicht der Generaldirektor. „Sie sollten mich wirklich nicht belästigen, meine Herren, ich fühle mich sehr krank“, sagte er klanglos und gleichgültig. „Bitte, treten Sie trotzdem näher, wenn es sein muß …“

Die langgestreckte Bibliothek hatte drei hohe Bogenfenster, die Wände waren mit hohen Bücherregalen bestellt, vor dem Kamin standen zwei Klubsessel, in der einen Fensterecke war eine Klubecke mit einem runden Tisch hergerichtet, dort hatte Lüning gefrühstückt.

Wir setzten uns zu ihm. Der junge Dwars zögerte, dann erklärte er nachsichtig: „Herr Lüning, würden Sie sich durch drei Spezialärzte untersuchen lassen? Ich möchte Sie schonen. Ich halte es für angebracht, daß Sie … eine Anstalt aufsuchen. Die Beweise gegen Sie sind erdrückend. Auch heute waren Sie nicht im Bett, sondern im Walde … Im Erdreich unter den Magnolien führt eine doppelte frische Kriechspur bis zur Seitenpforte, eine Hin- und Rückspur. Sie sind krank, Herr Lüning … Schon Ihre unmäßigen Mahlzeiten und manches andere stießen mir auf …“

Lüning saß zurückgelehnt da, Schweißperlen auf der Stirn, mit trüben, erloschenen Augen … Er schaute uns nicht an … Er erwiderte ganz monoton:

„Ich … bin … einverstanden …“

Harst erhob sich und schritt lautlos auf dem weichen Perser auf und ab.

[57] Dwars warf ihm einen unwilligen Blick zu.

Lüning wurde unruhig. Er beobachtete Harald, er duckte sich zusammen, er hielt sich wie sprungbereit, seine müden Augen funkelten.

Harst schritt zu der fensterlosen Wand hinüber und betrachtete die beiden Bücherregale.

Dann schob er mit dem Fuße die Teppiche bei Seite.

Lüning schnellte empor. „Was wollen Sie dort?!“, – nur ein eiserner Griff des Kommissars zwang ihn auf den Sitz zurück.

Dwars schaute mich an, sein Blick bat um meine Unterstützung, das verzerrte Gesicht Lünings machte sofortiges Eingreifen notwendig. Ich packte zu, Handschellen knackten, Lüning wehrte sich nicht, nur ein grauenvolles Grinsen zuckte um seinen Mund.

Inzwischen hatte Harald drüben die beiden Bücherregale nach innen wie eine Flügeltür von der Wand abgerückt … betastete die Holztäfelung der Wand, zog seine Pistole hervor, entsicherte sie und, – – in der Täfelung erschien eine Öffnung, Harst hatte die versteckte Tür gefunden.

Seine Taschenlampe blitzte auf, er leuchtete in den schmalen Raum hinein und trat dann ein.

„Niemand hier …“, erklärte er laut. „Hier steht ein Bett, ein Waschtisch, manches andere … Der Raum wurde bewohnt … Hier sind Teller mit Speiseresten … eine halb aufgerauchte Zigarre, ein aufgeschlagenes Buch, – – ein Kursbuch …“

Er erschien wieder in der Bibliothek und stellte sich neben Lüning, legte ihm die Hand auf die Schulter …

„Lüning, wen verbergen Sie seit einem Jahre dort? Für wen ließen Sie die baulichen Veränderungen vornehmen? – – Lüning, denken Sie an Ihre Frau, die Sie noch immer liebt. Sie sind kein Mörder, Sie nicht, aber der da ist es, den Sie vor aller Welt verstecken …“

Der gebrochene Mann empfand den gütigen Ton als [58] Wohltat und schaute fragend, unsicher zu Harst empor.

„Meine Frau … liebt mich?! Ist das wahr?“

„Es ist wahr … Sie hält Sie für geisteskrank … Sprechen Sie, Lüning … Ich will Ihnen helfen, Ihnen das Geständnis erleichtern … Der Mann, den Sie verbargen, muß eine große Ähnlichkeit mit Ihnen haben, muß gleich alt sein, es kann nur Ihr Bruder sein …“

„Mein … Zwillingsbruder“, gestand der andere tonlos. „Mein Zwillingsbruder, für den ich von Kind an eine unvernünftige Liebe und noch unvernünftigere Rücksichtnahme allzeit bereit hatte … Ich heiße nicht Lüning … Mein Vater war Deutscher, wanderte nach Klausenburg in Siebenbürgen aus, er hieß Schmiedling … Er hatte nur zwei Söhne, Zwillinge, – Ernst und mich … Mein Bruder geriet in schlechte Gesellschaft, als die Eltern verstorben waren. In Klausenburg gab es einen Kreis von Gesunkenen, die sich die weißen Maulwürfe nannten und planmäßige Raubzüge unternahmen, wobei sie den Aberglauben der ländlichen Bevölkerung ausnutzten. Als der große Mordprozeß in Klausenburg spielte und ich fürchtete, mein Bruder könnte der Täter sein, eignete ich mir die Papiere eines verstorbenen Freundes an und ging nach Berlin und arbeitete mich als Siegfried Lüning empor …“ Er sprach das alles wie etwas Eingelerntes … Man merkte, daß er diese Dinge immer wieder überdacht hatte: Das Verhängnis seines Lebens! … „Mehr als zehn Jahre lebte ich in Ruhe und Frieden, nur damals, als ich um Geraldine warb, wurde ich an die düstere Vergangenheit erinnert … Fräulein Födösy glaubte in mir den Mörder von Karpati zu erkennen … Und dann … erschien mein Bruder Ernst hier vor einem Jahr, – – als flüchtiger Sträfling … Aus dem Zuchthaus war er entwichen, er drohte mir, ich war schwach, ich fürchtete den öffentlichen Skandal, fürchtete den Zusammenbruch meines Lebenswerkes, – ich hieß ja nicht Lüning, ich hieß und heiße Georg Schmiedling, das ist mein wahrer Name … Ich fürchtete den Zusammenbruch und ich verbarg [59] meinen Bruder zuerst im Pavillon im Park … im Kellerraum. Ernst hat mich … gefoltert, hat mich erpreßt, hat nachts in üblen Kneipen gewüstet, – aber er ist schlau, zu schlau, … er ließ sich nie erwischen, er hütete unser Geheimnis, er … wartete auf einen großen Raub … Ich wollte ihn reichlich mit Geld versehen, er sollte ins Ausland flüchten, er lachte mich aus, seine Ansprüche waren nicht zu befriedigen, eine halbe Million verlangte er … – Wie verworfen er war, ahnte ich noch immer nicht … – Und dann … dann kam das Ableben Vilja Födösys ... – sein Werk, sein Plan, den ich erst heute durchschaute …“

Lünings Augen waren halb geschlossen. Er zitterte, konnte kaum mehr sprechen …

Sein Plan … Die Tante meiner Frau sollte sterben, meine Stieftochter würde sie beerben, das wußte er, – meine Stieftochter sollte sterben, dann erbte meine Frau, dann wollte er … eine Million haben … und verschwinden … – Vorhin, als er aus dem Walde zurückkehrte, war er wie ein Tollhäusler, – –: „Die alte Hexe lebt noch!“, schrie er mich an … „Ich sah sie … Ich wollte sie erschießen …“ – Und da … da … habe ich … endlich mich aufgerafft … Mit jener Bronzevase schlug ich ihn nieder, fesselte ihn und schleppte ihn in den Pavillonkeller … Wie ich es fertig gebracht habe, weiß ich nicht … Es gelang … Niemand sah mich … niemand … – ein Wunder … Und jetzt – – gehen Sie, verhaften Sie ihn, hier ist der Schlüssel zum Kellergeschoß des Pavillons … Mir ist alles gleichgültig, mag geschehen, was da will … Geraldine wird mir verzeihen …“

Hier erst fiel Harald mit einer Frage ein.

„Wissen Sie, daß Ihr Bruder unter dem Keller des Pavillons weiße Maulwürfe züchtet?“

„Nein, – um Gotteswillen, – nein …“ Lüning war außer sich … „Also daher die weißen Maulwürfe, deshalb sein häufiger Aufenthalt im Pavillon ..!“ Und plötzlich eine [60] vorsichtig tastende Bemerkung: „Herr Harst, ob mein Bruder etwa geistesgestört ist?!“

Harald antwortete ohne zögern: „Ja, ich nehme dies an. Wenn man diesen ganzen verbrecherischen Plan Ihres Bruders zergliedert, in den sogar Doktor Gerbert als Tussis Bewerber mit einbezogen wurde, muß man zu der Überzeugung gelangen, daß nur ein Geisteskranker derartige Ungeheuerlichkeiten bis ins feinste auszutüfteln vermag. – Und jetzt, Herr Lüning, begleiten Sie uns zum Pavillon … Nehmen Sie auch dieses Letzte, Schwerste auf sich … – nicht sofort, erholen Sie sich erst … Ich möchte inzwischen telefonieren, von Ihrem Arbeitszimmer aus … Trinken Sie ein Glas Wein, der Herr Kommissar wird Ihnen Gesellschaft leisten … – Schraut, begleite mich …“




5. Kapitel.
Der einzige Ausweg.

Im Arbeitszimmer Lünings blätterte er im Fernsprechverzeichnis, – es war die Nummer des Privathotels, das zu der Zigeunerkneipe gehörte, die er suchte.

Er ließ dann Fräulein Födösy an den Apparat rufen. – „Hier Harst … Gnädiges Fräulein, zunächst eine Frage: Wer wurde an Ihrer Stelle in Zinnowitz beerdigt?“

„Eine angetriebene Frauenleiche … Ich habe sehr zuverlässiges Personal.“

„Sie wollten nunmehr den Gatten Ihrer Nichte überführen und der Polizei ausliefern?“

„Ich wollte es …, aber auf andere Art, ich wollte selbst strafen … Jetzt hat Geraldine mir jedoch …“

„Danke … ich bin im Bilde. – Würden Sie in vierzig [61] Minuten bereit sein, jene Strafart, die Sie vorbereitet haben, an dem wahren Schuldigen zu versuchen? Bitte – genau vierzig Minuten … Meine Uhr zeigt zwanzig Minuten nach vierzehn Uhr – – pünktlich. Lüning ist nämlich unschuldig, und es wäre möglich, daß Ihr Vorhaben uns sehr viel Peinlichkeiten überhebt … Darf ich auf Sie rechnen?“

„Bestimmt ..! Ich verstehe Sie, Herr Harst.“ Die Stimme klang noch energischer.

„Also – – vierzehn Uhr ..!“ Er hängte ab und wandte sich mir zu. „Ein garstiges Spiel, mein Alter … Und doch fühle ich mich rein. Lüning soll geschützt werden, der Mann verdient es … Jetzt heißt es nur noch, Dwars dahin zu beeinflussen, daß er den Beamten abstreift und lediglich als Mensch handelt.“

Lüning, längst wieder ohne Fesseln, hatte inzwischen wenigstens etwas seine Haltung wiedergewonnen, und der Kommissar, der uns ein wenig mißtrauisch entgegenschaute, nahm Haralds Mitteilung, er habe nur Fräulein Födösy angerufen, mit sichtlicher Erleichterung hin.

„Ich fürchtete schon, Sie beide würden Ernst Schmiedling etwa befreien“, sagte er herzlich. „Ich wünschte ja, Schmiedling verschwände irgendwie auf Nimmerwiedersehen, damit Herr Lüning geschont würde, aber so, wie die Dinge liegen, kann ich nicht dulden, daß …“

Harald winkte mit undurchdringlichem Gesicht hastig ab. „Schmiedling verschwinden zu lassen, ihm etwa zur Flucht zu verhelfen, lag nie in meiner Absicht, Herr Dwars. Ich möchte Sie nur fragen, ob das, was Herr Lüning hier beichtete, von Ihnen nur als Mensch, nicht als Beamter mit angehört wurde für den Fall, daß Schmiedling etwa wirklich endgültig ausscheiden würde …“

Dwars horchte auf. „Ausscheiden?! Wie meinen Sie das?! – – Selbstmord?!“

„Oh, ich meine gar nichts … Ich wiederhole nur: Würden Sie Lünings ehrlichen Namen und eine ehrliche Familie, [62] eine tapfere Frau und eine der Genesung entgegengehende Braut als Mensch schonen, wenn Schmiedling ein Unbekannter, irgendwie durch höhere Gewalt ein Namenloser bliebe und nichts mehr verraten könnte? Überlegen Sie es sich – – bis fünf Minuten vor vierzehn Uhr … – Bis dahin wollen wir von anderen Dingen sprechen.“ –

Es war fünf Minuten vor vierzehn Uhr, und Dwars erklärte: „Ein bindendes Versprechen vermag ich nicht abzugeben.“

„Dann – zum Pavillon, schnell, – nur wir vier“, sagte Harst etwas nervös.

Wir beeilten uns, wir drangen durch die Wildnis in der Parkecke bis unter die Pavillontreppe vor, Harald schloß die Eisentür auf, wir traten ein …

Auf den umgekippten morschen Schiebkarren saß der gefesselte Schmiedling, – das Ebenbild Lünings, und doch nicht sein Ebenbild.

Eine Flut von wüsten Flüchen empfing uns, – Drohungen folgten … neue Flüche …

Lüning lehnte bleich an der Tür.

Harst unterbrach den Tobenden …

„Ernst Schmiedling“ – auch er sprach sehr laut – „Sie glauben an den weißen Maulwurf?“

Schmiedlings Gesicht, bisher nur Fratze, nahm einen fast ängstlichen Ausdruck an.

„Das geht Sie gar nichts an!“, – aber er flüsterte nur.

„Haben Sie nie daran gedacht, Schmiedling, daß einer der Toten, den Sie durch Beschwörungen sich dienstbar machen wollten, sich einmal an Ihnen rächen könnte?!“ Harst rief dies noch lauter …

„Still … still …“, hauchte der Irrsinnige mit stierem Blick … „Ich … fürchte mich, ich habe … einmal … hier unten … so etwas … wie den … echten weißen Maulwurf gesehen, einen … verzauberten Toten … Still …, – – was war das?! Hörten Sie?! Da … da … stöhnt jemand – – [63] unten – – bei meinen weißen Maulwürfen, und die … stöhnen nicht …“

Ein Poltern folgte …

Das Loch im Boden tat sich auf …

Schmiedling schnellte empor, kreischte vor Angst …

Aus dem Loche, auf dem der Lichtkegel von Harsts Lampe ruhte, erschien der Riesenkopf eines weißen Maulwurfs, die Grabklauen, und ein heiseres Keuchen ertönte …

Nochmals schrie Schmiedling …

Schrie: „Hebe dich weg, – – ich … bereue, ich …“

Und sank hintenüber, stürzte schwer zu Boden, lag still.

Polternd schloß sich das Loch …

Dwars hatte meinen Arm umklammert …

„Was – – war das?!“

… Er war leichenfahl …

Lüning weinte …

Harald beugte sich über den Mann, der da neben dem Schiebkarren lag …

„Tot …“, sagte er leise… „Dwars, der Mund dieses Unglücklichen ist stumm für immer … Besser dieser Tod als ein lebender Leichnam zwischen den Mauern eines Irrenhauses. – Dwars, – werden Sie Lüning schonen?“

Und er nahm dem Toten die Stricke ab …

„Dwars, tun Sie es, seien Sie Mensch, nicht Beamter. Dieser Unbekannte hat hier gehaust, – – mehr wollen wir nicht wissen … Ich weiß auch nicht mehr, ich lösche alles andere aus meinem Gedächtnis aus …“

Dwars blickte Lüning an, der die Hände vor das Gesicht gepreßt hielt.

„Ein Unbekannter also“, sagte Dwars fest. „Ein Mensch, der eine zufällige Ähnlichkeit mit Lüning besitzt … – Gehend wir … Nehmen Sie meinen Arm, Herr Lüning, – – Sie kehren als freier Mann in Ihr Heim zurück …“

* * *

[64] Drei Tage später saßen wir auf einer der großen Loggien des Sanatoriums Dahlem und tranken mit Tussi Berkamp, die in einem Krankenstuhl lehnte, mit dem Ehepaar Lüning und der lebhaften Matrone Vilja Födösy vorzüglichen Tee …

Nicht zu vergessen, daß ganz dicht neben Tussi Doktor Gerbert saß und daß die Maisonne strahlend über dem nahen Walde lag.

Das muntere alte Fräulein, dem Tussis Fragen etwas unbequem wurden, meinte lächelnd:

„Liebes Kind, du hast ganz recht, – eigentlich bin ich tot … Aber auch das läßt sich wieder einrenken … Das besorge ich schon … Mein alter Kopf hat zuweilen recht nützliche Einfälle … Die Hauptsache bleibt doch, daß dein lieber Stiefvater vorhin von dir einen so langen, herzlichen Kuß bekam, daß dein Verlobter hätte neidisch werden können.“ Dann wurde sie wieder ernst und etwas nachdenklich und fügte abschließend hinzu: „Für das Grab des Unbekannten werde ich sorgen, der arme Mensch litt an einem gefährlichen Wahn, – – weiße Maulwürfe werden nicht mehr auftauchen, – – und nach zwei Monaten feiert ihr Hochzeit, Kinder … Meine Villa in Zinnowitz soll euer Flitterwochenheim werden, – – nun, – habe ich nicht wirklich mitunter noch einen glücklichen Gedanken?!“

Niemand widersprach …

Drüben rauschte der harzduftende Wald …

Nicht eine einzige dunkle Wolke stand am Himmel …

Nur ein einziges helles Wölkchen schwamm im Äther und hatte eine ganz seltsame Form.

Harst sah es auch, zwinkerte mir verstohlen zu und … schwieg …


Nächster Band:


Fünf Schlüsselbärte.


[Verlagswerbung]

Titel-Verzeichnis der Harald Harst-Bändchen.
242. Old Cracks Ende. 279. Das Land des Röchelns.
243. Die Affäre des Dr. Gudor. 280. Die rote Taube.
244. Die grüne Fliege. 281. Die leere Teebüchse.
245. Der Herr der Unterwelt. 282. Sarka und der weiße Sarg.
246. Der Kalender der Murvays. 283. Die geheimnisvolle Gondel.
247. Kastell Mondalar. 284. Der Tote auf der Piazetta.
248. Das Gasthaus „Zur weißen 285. Das Siegel Salomonis.
000. Ratte“. 286. Der blinde Geiger.
249. Die goldene Glocke. 287. Wilde Zwiebeln.
250. Der brennende Wald. 288. Der Calumet Gang.
251. Irinas Verhängnis. 289. Der blaugrüne Walfisch.
252. Die Hexe von Malvetta. 290. Der Reklametrickfilm.
253. Chuna Dangi, das weiße Rätsel.      291. Der grüne Schatten.
254.[5] Der Schädel mit den 292. Das Haus der Winde.
000. Goldzähnen. 293. Die blaue Tänzerin.
255. Der blaue Schatten. 294. Der Orchideenzüchter.
256. Pension Grabstein. 295. Will Marsons Erfindung.
257. Der goldene Waschtisch. 296. Die letzte Meldung.
258. Salon Geisterberg. 297. Die Todeseule von
259. Die drei Totengräber. 000. Wenderloh.
260. Die Frau aus Ceylon. 298. Der Zaubergarten des Abu
261. Die Japanvase. 000. Said.
262. Das Tor des Todes. 299. Der Fall Tussy Gambys.
263. Der Stern von Kabinur. 300. Auto 131 313.
264. Das Lied des Sterbens. 301. Der Mann im Feuer.
265. Mr. Kapuziner. 302. Die Hungerklippe.
266. Das Erbe der Brantings. 303. Die versiegelte Insel.
267. Das Patent Nr. 100 832. 304. Die Frau die den Mord beging.
268. Die Rahmenantenne. 305. Der gefleckte Tod.
269. Die Nachtgespenster. 306. Der Gespensterreiter von
270. Die leuchtende Eule. 000. Badnapur.
271. Die Kakteen der alten 307. Der Panzerschrank d. Mohalla.
000. Mamsell. 308. Charles Austins Perlenraub.
272. Der alte Gobelin. 309. Der Zaubergott der Ralla Wu.
273. Banditen des Olymp. 310. Der Kopf, der nichts verriet.
274. Der Skatklub. 311. Die Todesbrücke von
275. Das Schaltbild für sechs 000. Siwaruck.
000. Röhren. 312. Der grüne Vampir.
276. Der Ball der Toten. 313. Der Puppenschrank der
277. Pension Grollmatz. 000. Lady Goßwell.
278. Der schwarze Würfel. 314. Mr. Duddelbrucks Affenfarm.



Korrigierte Druckfehler der Vorlage (Wikisource)

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  4. In der Vorlage wiederholt sich die Zeile 17:Giftmischer und den Windbüchsenschützen, so einfach laufen, wodurch sich eine Textlücke ergibt.
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Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe Wikipedia: Hyoscin, auch Scopolamin.
  2. Siehe Wikipedia: Lysol, ein Desinfektionsmittel.