Drei Erzählungen (Patkanjan)/Ich war verlobt

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Der verödete Hof Drei Erzählungen
von Rafael Patkanjan
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III.
Ich war verlobt.
(Jes nschanatz ej.)



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[95]
I.

Während des Winters des Jahres 185. herrschte in Petersburg eine solche Kälte, dass sich selbst die ältesten Bewohner dieser Stadt keiner ähnlichen erinnerten. Vom Froste war der Schnee so hart und fest geworden, dass er unter den Füssen der Fussgänger knisterte und der Hauch der Menschen war so nebeldicht, dass man oft auf zwei Schritte weit nichts sehen konnte. Niemand wagte es, ein Glied seines Körpers zu entblössen, denn Finger, Nase und Ohren erstarrten in ein paar Minuten, wenn sie nicht gehörig eingehüllt waren. Wer zu Fuss ging, ging nicht gewöhnlichen Schrittes, sondern lief aus allen Kräften, um seine Füsse vor dem Erfrieren zu bewahren.

Es war das in jenem unheilvollen Winter, da die Bräune und die Cholera ein Bündnis [96] geschlossen zu haben schienen und unter der von Schrecken ergriffenen Bevölkerung die fürchterlichsten Verheerungen anrichteten. Hätte jemand die Geduld gehabt, vom Morgen bis zum Abend auf der die Stadt mit der Wassili-Insel verbindenden Brücke zu stehen, der hätte hier wohl an hundert Begräbniszüge von Verstorbenen der verschiedensten Stände aufgezählt. Besonders gross war jedoch die Zahl der Armen, die in diesem Winter starben.

Ich war erst vor zwei Monaten nach Petersburg gekommen und wie Äsops Grille hatte ich mich für den Winter in keiner Weise versorgt. Ein leichter nicht gefütterter Tuchmantel und die alte Studentenuniform waren die einzigen Schutzhüllen meines gegen die Kälte sehr empfindlichen Körpers. Dabei war ich ganz fremd in der fremden Stadt, denn ausser einigen armen armenischen Studenten kannte ich niemand und machte auch keine Bekanntschaften. Übrigens wäre es mir auch nie eingefallen, mein Zimmer zu verlassen, wenn es in demselben nicht fast kälter gewesen wäre als draussen. Meine Wohnung, die ausser mir noch ein anderer Armenier, namens Johannes, ein Schüler der Kunstakademie, inne hatte, wäre selbst für einen echten Nordländer eine keineswegs einladende Herberge [97] gewesen. Der Ofen wurde allerdings täglich ziemlich stark geheizt, aber von allen vier Seiten pfiff durch die Wände sowie auch durch die Diele der Wind herein, dazu war auch das Fenster in schlechtem Zustande, so dass also durch keinerlei Heizung ein solcher Schuppen zu erwärmen war. Doch was sollten wir machen! Weder ich noch mein Kollege hatten die Mittel eine bessere Wohnung zu mieten und die, welche wir inne hatten, war uns unentgeltlich von einem menschenfreundlichen Manne abgetreten worden. Vielleicht dachte er bei sich: „Sie sind arm, diese Armenier … die Wohnung steht leer … mögen sie in Gottes Namen darin wohnen!“ In der Not frisst der Teufel Fliegen! Ja, wir bewohnten diese Eiskammer, aber Gott weiss wie! In jenem Winter habe ich mir auch den Husten geholt, der bis jetzt meine Brust erschüttert.

Der Frost währte in jenem Jahre unaufhörlich vier Monate lang und so herrschte auch an dem Tage, von welchem ich meine Erzählung beginne, eine fürchterliche Kälte.

Es war gegen elf Uhr Vormittag, als ich von meinem Freunde Gabriel A. kommend, nach Hause eilte. An der neuen Brücke angelangt, konnte ich nicht mehr weiter kommen, ein reicher Leichenzug versperrte mir den Weg. [98] Die Wagen und Fussgänger waren so zahlreich, dass ich eine halbe Stunde hätte auf das Ende des Zuges warten müssen. Ich ging also auf die Brücke und auf der Mitte derselben erreichte ich wieder einen Leichenwagen, auf welchem allem Anscheine nach ein Armer zur ewigen Ruhe gefahren wurde, denn ausser zwei alten Frauen und einem jungen Mädchen folgte ihm niemand. Die beiden Frauen sprachen ziemlich lebhaft mit einander und zwar wie es schien, von ihrem täglichen Leben, denn soviel ich bemerkte, folgten sie der Leiche ohne das geringste Beileid und schienen nur eine unfreiwillig übernommene Pflicht zu erfüllen.

Einen ganz andern Eindruck machte das junge Mädchen, welches heisse Thränen vergoss. Zwar stöhnte sie nicht, auch raufte sie sich nicht die Haare und noch weniger rief sie Himmel und Erde um Mitleid an, aber in ihrem trüben, trostlosen Gesichte, in ihren entzündeten Augen lag der Ausdruck ihres inneren Kampfes, ihres das Herz zerreissenden Schmerzes. Ich weiss nicht, warum mich dieses Bild so an sich fesselte, denn da ich in der Nähe des Smolenskischen Friedhofes wohnte und täglich hunderte solcher Trauerzüge sehen konnte, war ich ja schon an ihren Anblick [99] gewöhnt. Aber diesmal flüsterte mir eine innere Stimme zu: Folge diesem Leichenwagen! Habe Mitleid, zwar nicht mit dem Verstorbenen, der desselben nicht mehr bedarf, aber mit dieser vereinsamten Waise, die vielleicht ihre letzte Lebensstütze zu Grabe geleitet!

Ich weiss selbst nicht, ob es ein religiöses Gefühl oder die Anwesenheit des jungen Mädchens war, die mich zum Mitgehen bewog, und so folgte ich dem armen Leichenzuge, ohne mir selbst darüber Rechenschaft abzulegen. Weder das Mädchen noch die beiden Frauen beachteten mich und alle schienen mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt zu sein.

Von Zeit zu Zeit warf ich einen versteckten Blick auf das Mädchen und bemerkte, dass sie schön und von hoher Gestalt war. Ihre Taille war schlank, ihre Gesichtszüge edel und ausdrucksvoll, die Haare dunkel und die schwarzen Augen von schön gebogenen Brauen umrahmt. Ihr Gang war sicher und würdevoll und obgleich ich an ihrer Kleidung sah, dass sie die Tochter armer Eltern war, so erkannte ich doch wieder an ihren Gesichtszügen, dass sie einer vornehmen Familie angehören müsse. Hierin lag für mich ein Geheimnis, welches ich vergeblich zu erraten mich bemühte. Doch die innere Stimme, welche oft in schwierigen [100] Umständen prophetisch zu mir spricht, flüsterte mir zu: Dein Schicksal ist entschieden! Ob mir das neue Schicksal Glück oder Unglück bringen sollte, konnte ich natürlich in jenem Augenblicke noch nicht wissen.

So gelangten wir alle vier schweigend und betrübt an die Stelle der Strasse, wo sich diese in drei verschiedene Wege zerzweigt, von denen einer auf den russischen, der andere auf den armenischen und der dritte auf den evangelischen Friedhof führt. Der Kutscher, dem man wahrscheinlich nichts gesagt hatte, fuhr auf den russischen Friedhof zu.

„Ich glaube, die Verstorbene war keine Russin,“ bemerkte eine der alten Frauen zur andern.

„An ihrer Aussprache sah man, dass sie eine Deutsche war. Warum fährt also der Kutscher auf den russischen Friedhof?“

„Ich weiss nicht,“ entgegnete die andere, „vielleicht war sie nach unserem Glauben getauft. Doch, es ist besser, das Mädchen zu fragen. Du Mädchen, höre, zu welcher Kirche bekennst du dich?“

Das Mädchen, welches in seine trüben Gedanken vertieft war, achtete nicht auf das, was um sie her vorging.

Die Alte wiederholte also ihre Frage und [101] mit der dem niederen russischen Volke eigenen Grobheit zerrte sie sie am Ärmel und sagte: „Der Teufel weiss, was das für ein dummes Volk ist, diese Deutschen; ich spreche laut und deutlich auf russisch zu ihr und sie versteht mich nicht!“

Das Mädchen blickte erstaunt auf sie ohne etwas zu erwidern. Ich begriff nun sogleich, dass sie nicht russisch spreche und redete sie auf französisch an:

„Mademoiselle, ces dames ignorent la religion de la defunte et elles sont dans un grand embarras.“

„Ma mère était lutherienne,“ sagte sie und versank wieder in ihren vorigen Trübsinn.

Ich befahl sofort dem Kutscher umzukehren und auf den deutschen Kirchhof zu fahren, von welchem wir bereits eine Strecke entfernt waren.

Ich weiss nicht, ob der Kutscher betrunken war, ob die Achsen des Wagens krumm waren oder die Pferde scheu wurden, nur soviel weiss ich, dass beim Umdrehen der Sarg zu schwanken begann und gewiss herunter gefallen wäre, wenn ich nicht schnell herbei gesprungen wäre. Ich stemmte meine rechte Achsel gegen den Leichenwagen, hielt mit der Hand den Sarg fest und verblieb in dieser Stellung, bis der [102] Wagen wieder in gerader Richtung weiter fuhr. Doch was bemerkte ich, als die Gefahr vorüber war und wir den Friedhof betraten! Auf meinem Mantel waren Bluttropfen. Ich musste mir wahrscheinlich beim Halten des Sarges an einem Stücke Eisen oder Nagel die Hand verletzt haben, denn auf derselben bemerkte ich eine breite Wunde.

„Mein Gott, Sie sind verwundet!“ rief das Fräulein.

„Ich habe mich nur etwas geritzt,“ antwortete ich vor Schmerz mit den Zähnen knirschend, denn von der kalten Luft fing die Wunde so zu brennen an, dass mir der Schmerz durch Mark und Bein ging. Ich griff in die Tasche, um mein Taschentuch heraus zu nehmen und die Wunde zu verbinden, aber o weh! ich hatte es bei Gabriel gelassen!

Das Mädchen verstand, was ich wollte.

Errötend zog sie ihr Battisttuch aus der Tasche, reichte es mir hin und ohne meinen Dank abzuwarten, eilte sie nach der Stelle hin, wo der Leichenwagen stehen geblieben war. Alles das geschah so schnell, dass die beiden Frauen ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt hatten, denn als sie aufschauten, war das Mädchen schon wieder bei ihnen. Bei dem Verbinden der Hand bemerkte ich auf dem [103] Taschentuche die mit rotem Zwirn eingenähten Buchstaben M. W., was einen mächtigen Eindruck auf mich machte, denn die Buchstaben waren auch die Anfangsbuchstaben meines Namens. Wollte der blinde Zufall mit mir scherzen oder wollte mich die Vorsehung auf unsichtbaren Wegen mit ihr zusammenführen?

Wie sollte ich mir unser Zusammentreffen auf der Brücke erklären? Dann das Mitgefühl mit diesem Mädchen, das in jedem andern Falle, ohne den geringsten Eindruck auf mich zu machen, an mir vorüber gegangen wäre, meine ritterliche Aufopferung, als ich den Sarg aufhielt, die Zeichen auf dem Taschentuche dieses wunderschönen Mädchens, alles dies kam mir sonderlich vor. Mehrere Male schaute ich die Zeichen an und traute kaum meinen Augen, denn alles, was um mich her vorging, schien mir ein Traum zu sein.

Doch nein, alles war wie vordem, ich stand auf dem lutherischen Friedhofe, nicht weit von mir der Leichenwagen mit dem Sarge, dann das schöne Mädchen mit ihrem betrübten Antlitze, meine Hand war verwundet und mein Körper zitterte vor Kälte.

Ich wollte mich schon dem Mädchen nähern und sie um Aufklärung dieses sonderbaren [104] Zusammentreffens bitten, doch ich wurde plötzlich nüchtern und gestand mir selbst ein, dass es höchst unschicklich gewesen wäre, in einem so feierlich-traurigen Augenblicke meine unstatthafte und thörichte Neugier befriedigen zu wollen.

Als ich mich den Frauen näherte, waren sie ziemlich aufgeregt und in Verlegenheit, denn es war niemand da, der beim Herunterheben des Sarges Hülfe geleistet hätte und obgleich der Kirchhof voll von Leuten war, so waren doch alle nur mit sich selbst beschäftigt. Nicht ein einziger der Anwesenden zeigte sich bereit, der verlassenen Toten einen letzten Dienst zu erweisen. Das Mädchen warf ängstliche Blicke umher, die leicht zu verstehen waren. Ich bat daher den Kutscher, den Sarg an dem einen Ende zu halten, während ich das andere ergriff und so hoben wir ihn vom Wagen auf den Boden herunter. Übrigens war der Sarg so leicht, dass ich ihn auch ohne Hülfe des Kutschers herunter gehoben hätte. Die Arme ist gewiss an der Schwindsucht gestorben! dachte ich bei mir. Hierauf trugen wir den Sarg an ein frisch gegrabenes Grab. An jenem Tage beerdigte man auf dem lutherischen Friedhofe mehr als zehn Leichen und es war daher nicht zu verwundern, [105] dass die unsrige niemandes Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Ich ging zum Pastor und bat ihn, doch auf das arme Mädchen Rücksicht zu nehmen und ihrer verstorbenen Mutter den kirchlichen Segen zu erteilen.

„Aber zu wem von euch soll ich denn zuerst kommen?“ antwortete mir der Pastor ungeduldig und barsch, als ob ihn die Armut des Mädchens dazu erdreistet hätte. „Wartet ein wenig oder wenn ihr nicht wollet, so bestattet die Leiche ohne mich! Ich werde dann hinkommen und ein Gebet für sie sprechen. Ihr seht ja, dass ich keine Zeit habe.“

Ziemlich entrüstet über das Benehmen des Pastors ging ich zu dem Mädchen zurück und wiederholte ihr dessen Worte.

„Machen Sie es wie Sie glauben,“ antwortete sie mir.

Während dieser Zeit gingen die Frauen ungeduldig auf dem Friedhofe hin und her und dachten gar nicht daran, uns Hülfe zu leisten, ja, die unzusammenhängenden Worte, die sie aussprachen, schienen mir eher Flüche als ein Gebet zu sein. Ich selbst war nicht mehr im Stande, mich länger zu geduldigen, mein Herz empfand ein reges Wehgefühl, meine Augen wurden feucht und meine Stimme [106] begann zu zittern, denn nur ein ganz gefühlloser Mensch hätte in so einem traurigen Augenblicke gleichgültig bleiben können. Die arme von allen verlassene Tote, die vielleicht in der Fremde, weit von den Ihrigen entschlafen und nun in der Begräbnisstunde diesen beiden herzlosen Weibern überantwortet war; die arme, betrübte Waise, die regungslos vor Schmerz am Sarge ihrer Mutter stand, um die sich auch niemand in der Welt kümmerte, die in leichter, dürftiger Kleidung vor Kälte zitterte – o, dieses Bild war herzzerreissend! Ich konnte es nicht ertragen und musste Rat schaffen.

„Fräulein!“ sagte ich zu dem Mädchen, „sprechen Sie für Ihre Mutter ein letztes Gebet, denn es ist schon Zeit, sie zu bestatten!“

Die Unglückliche schien wie aus einem tiefen Schlummer zu erwachen und warf einen irrenden Blick auf mich.

„Was sagen Sie?“ stammelte sie, ohne mich zu erkennen.

Ich wiederholte ihr meine Worte und wies mit der Hand auf den Sarg ihrer Mutter hin.

„Ist es denn wahr, dass meine Mutter gestorben ist?“ sagte sie mit bebender Stimme, sank auf den Sarg nieder, umfing ihn mit ihren Armen und schien die Besinnung zu verlieren.

[107] Die beiden Weiber schauten wie vordem teilnahmslos auf dieses erschütternde Schauspiel und brachten nicht ein einziges Wort des Mitleids hervor. Mehrere Minuten verblieb das Mädchen in derselben Lage und ich fing schon an, mich um sie zu beunruhigen, doch plötzlich fasste ich Mut, näherte mich ihr und brachte sie endlich durch Worte des Trostes und Beileids zum Bewusstsein zurück.

Ohne das geringste Sträuben stützte sie sich auf meinen Arm und stand auf. Auf ihrem Gesichte war die vorherige Verzweiflung nicht mehr sichtbar und sie schien beruhigt zu sein.

Zu meinem Glücke war das Grab nicht tief. Ich stieg also hinein und bat den Kutscher, mir beim Hineinsenken des Sarges behülflich zu sein. Von der Kälte waren meine Hände so erstarrt, dass, als ich den Sarg ergriff, dieser mir beinahe aus den Händen gerutscht wäre. Trotzdem ging unsere Arbeit dieses Mal leichter von statten als beim Herunterheben vom Wagen.

Als wir endlich den Sarg ins Grab gesenkt hatten, stieg ich heraus, füllte meinen Hut mit Erde und reichte ihn dem Mädchen dar, indem ich es bat, der frommen Sitte gemäss eine Hand voll Erde auf den Sarg der [108] Mutter zu streuen. Sie zog den Handschuh herunter und streute drei Mal einige Erdkrumen auf den Sarg.

„Auf Wiedersehen, meine gute Mutter!“ sagte sie dabei mit kaum vernehmbarer Stimme, sank auf die Kniee und den Kopf zur Erde beugend, betete sie.

Der Wind, welcher den ganzen Tag über geweht hatte, wurde in diesem Augenblicke so stark, dass er die hundertjährigen Tannen wie schwache Bäumchen hin und her bewegte. Ihre grünen Kronen fingen an zu brausen und überschütteten das auf der Erde knieende Mädchen mit Nadeln. O, ich wäre glücklicher gewesen, wenn ich damals zugleich die beiden Unglücklichen, von denen die eine tot, die andere halbtot war, beerdigt hätte!

Der Leser wird mir gewiss diesen Wunsch sehr übel nehmen, denn er hat ja schon meine aufkeimende Liebe zu diesem Mädchen bemerkt. Ja, aber mag er meine Rechtfertigung anhören! Da ich das Mädchen nicht aus den Augen liess und jede seiner Bewegungen beobachtete, hatte ich auf seinem Finger einen goldenen Ring, das deutliche Zeichen seiner Verlobung bemerkt. Ich weiss nun nicht warum, aber wenn in jenem Augenblicke das Mädchen plötzlich gestorben wäre, hätte ich [109] mich für den glücklichsten Menschen auf der Welt gehalten. Mein Beileid erschwachte plötzlich, Eifersucht beschlich mein Herz. Vor einigen Augenblicken hatte ich noch geglaubt, ich sei ihr einziger Beschützer auf Erden, aber dieser Ring sagte mir, dass es einen andern gebe, der mehr Recht zu ihrer Neigung habe als ich. „Vielleicht,“ dachte ich bei mir selbst, „schwört sie jetzt am Grabe ihrer Mutter dem Auserwählten ihres Herzens ewige Treue!“ Mit so unbegründeten Befürchtungen beunruhigte ich meine Seele in diesem feierlich traurigen Augenblicke!

Das Mädchen stand endlich auf, wischte sich mit dem Ärmel die Thränen ab und das Haupt senkend, schaute sie noch lange auf den mit Schnee bedeckten Sarg der Mutter, mit der sie sich in Gedanken zu verabschieden schien. Als ich ihr ins Gesicht blickte, schwand meine Verdächtigung vollständig.

„Wenn sie liebt,“ dachte ich bei mir, „wo ist denn da der Gegenstand ihrer Liebe? Warum hat sie der Geliebte der Willkür des Schicksals und der Obhut dieser zwei Hexen überlassen? Warum versorgt er sie bei so rauhem Wetter nicht mit wärmerer Kleidung?“

Diese Gedanken beruhigten meine aufgeregte Phantasie und mit neuer Energie machte [110] ich mich an die Bestattung der Leiche. Nahe am Grabe lag ein Spaten und eine Hacke. Die Hacke ergriff ich, gab dem Kutscher den Spaten und so begannen wir das Grab mit Erde zu füllen. Unsere Arbeit dauerte ungefähr eine halbe Stunde und als wir sie beendigt hatten, waren die beiden Weiber, ohne auf die Ankunft des Pastors zu warten, schon fortgegangen. Auch der Kutscher setzte nun seine Mütze auf und fuhr zurück, so dass ich und das Mädchen allein blieben.

Endlich kam der Pastor und las aus einem Büchlein verschiedene Gebete vor, worauf er uns, nämlich ihr und mir, eine kleine Trostrede hielt, in welcher er darlegte, dass der Tot unser aller harret, dass nur die Kleinmütigen ihn fürchten u.s.w. Mit der Überzeugung, das Mädchen getröstet zu haben, ging er dann, mit sich selbst zufrieden, fort, um am Grabe anderer Verstorbenen dasselbe zu wiederholen.

Der Wind wehte stark, fegte den frischen Schnee auf und in den Wipfeln der Nadelbäume brausend, sang er tausend unheimliche Weisen, die so ganz der Trauer des Augenblicks entsprachen.

Es war schon gegen drei Uhr Nachmittag und mir mangelte fast die Kraft, die Kälte noch länger zu ertragen.

[111] „Fräulein!“ begann ich daher zu dem Mädchen, „hier werden Sie für Ihren Schmerz keine Linderung mehr finden und schliesslich müssen Sie ja auch an sich denken. Die Luft ist eisigkalt und Ihre Kleidung gewährt Ihnen wenig Schutz gegen dieselbe …“

Ich weiss nicht, was ich noch sonst zu ihr sagte und fand sogar, dass meine Worte unstatthaft waren.

„Jetzt werde ich das Haus nicht finden können, in welchem ich wohne,“ erwiderte sie mit niedergeschlagenen Augen, „meine Wirtin hat mich allein hier gelassen und nicht daran gedacht, dass mir Petersburg ganz unbekannt ist. Ich bin kaum einen Monat hier.“

„Und wissen Sie wenigstens, auf welcher Strasse sich das Haus befindet?“

„Nein!“

„Haben Sie hier Verwandte oder Bekannte ?“

„Nein!“

Was sollte ich thuen? Wo sollte ich sie hinführen? Wessen Schutze sollte ich diese unglückliche Waise anvertrauen, um sie vor der Verderbnis zu bewahren?

Wie ich oben erwähnte, befand sich meine Wohnung in der Nähe des Smolenskischen Friedhofes, also nicht weit von dem Orte, wo wir eben waren.

[112] „Gehen wir!“ sagte ich zu ihr, „vielleicht finden wir mit Gottes Hülfe einen Ausweg aus dieser schwierigen Lage.“

Mit echt studentischer Höflichkeit bot ich ihr meinen Arm an, bat sie, so schnell als möglich zu gehen und führte sie zu meinem Hause. An der Hausthür angelangt, bat ich sie, etwas zu warten, da ich sofort wieder herunter kommen würde.

Ich ging ins Zimmer, wo mein Kollege auf dem Bette liegend damit beschäftigt war, auf die Zimmerdecke zu spucken.

„Was machst du da, Johannes?“ sagte ich, über seine sonderbare Beschäftigung lachend.

„Nichts, seit einer Stunde bemühe ich mich diesen Schwaben da oben durch Spucken herunter zu bringen.“

„Nun, unterbreche für einen Augenblick diese Jagd, denn ich habe dir etwas zu sagen.“

„Sprich, sprich!“ sagte er, sich von neuem an seine Beschäftigung machend.

„Hast du nicht zwanzig Kopeken?“ fragte ich, obgleich ich schon im voraus wusste, dass ich eine verneinende Antwort erhalten würde.

„Von was für zwanzig Kopeken sprichst du da?“ erwiderte Johannes erstaunt, „ich dachte, dass du wenigstens sechs Kopeken mitbringst, drei für eine Kerze und drei für zwei Pfund Brod. [113] Weisst du denn nicht, dass von dem gestrigen Brode nur ein kleines Stück geblieben ist, das ich heute beim Thee verzehrt habe? Seit elf Uhr habe ich nichts im Munde gehabt und harrte deiner Ankunft wie die Juden der Ankunft des Messias. Vor zwei Stunden habe ich die letzte Cigarette geraucht.“

Ich schaute mich im Zimmer um, aber ausser einigen Büchern und Heften war nichts da; dann blickte ich auf mich und o Wunder! wie ein Verrückter lief ich aus dem Zimmer hinaus.

„Michael, warte, höre doch!“ rief mir Johannes nach, aber ich wartete nicht, und als ich schon draussen war, drangen noch seine flehenden Worte an mein Ohr, die ungefähr folgendes enthielten: Verschaffe ein Licht, Brod und Tabak! Es sind das die bescheidenen Bedürfnisse eines Studenten.

Aber ich blieb taub und mein Herz seinen Bitten verschlossen, denn ganz andere mir bis dahin noch unbekannte Sorgen erstanden für mich in jenem Augenblicke. Wenn mir gesagt worden wäre, dass auf dem Grunde der tiefen Newa ein Rubel liege, ich wäre hinunter gesprungen, um ihn heraus zu holen.

Gewiss wird der Leser fragen, warum ich so wie ein Rasender aus dem Zimmer lief und [114] welche Aussicht ich hatte, meinen Kummer zu beseitigen! Nun, das will ich in kurzen Worten erklären.

Als ich von Gabriel wegging, hatte ich aus Versehen anstatt meiner alten Gummischuhe die seinigen, welche völlig neu waren, angelegt und als im Zimmer meine Blicke auf dieselben fielen, kam mir ein genialer Gedanke ein. Der Leser wird jetzt meine Absicht durchschauen, wenn nicht, so will ich darüber eine kurze Erklärung abgeben. In Petersburg ist unter den Studenten und ihnen ähnlichen armen Schluckern die Sitte des Verpfändens sehr verbreitet. Man bemerkt z. B. bei seinem Freunde eine Uhr, einen Ring, eine Busennadel u.s.w. und eines schönen Tages sieht man ihn ohne diese Sachen, wobei man stets auf die Frage, wo er diesen oder jenen Gegenstand hingethan habe, die Antwort erhält: „Ich habe ihn in die Lehre gegeben!“ Jetzt weiss nun der Leser, dass ich, da ich keinen Rubel in der Tasche hatte, gleichfalls meine Gummischuhe in die Lehre geben, nämlich bei einem Juden versetzen wollte.

„Fahren wir!“ sagte ich zu dem Mädchen, „mit Gottes Hülfe wird alles gehen!“

„Ich bin Ihnen unaussprechlich dankbar, womit habe ich denn Ihren Grossmut verdient?“ [115] sagte sie mit so süsser Stimme, dass ich völlig die Qualen vergass, die ich während der vier Stunden auf dem Friedhofe ausgestanden hatte. „Schlitten vor!“ rief ich so befehlerisch, wie vielleicht der reichste Mensch auf Erden nicht rufen würde.

In demselben Augenblicke sausten vier oder fünf Schlitten herbei, jeder Kutscher tadelte die Pferde des andern und pries die Schnelligkeit der seinigen.

Ich stand schon mit einem Fusse in einem der Schlitten, als ich hinter mir eine bekannte Stimme vernahm.

„Michael, wohin fährst du? Schon so lange rufe ich und du hörst es nicht. Was ist denn mit dir geschehen, dass du so stolz geworden bist? Wo hast du denn dieses Täubchen aufgefangen?“

„Ach, Alexander, das bist du!“

„Nun, ich muss dir die Wahrheit sagen, Bruder! Du hast gute Beute gemacht.“

„Ich bitte dich, lass’ diese Reden! Ich habe dich um etwas zu fragen.“

„Befehle, mein Lieber!“

„Sage mir, wo wohnt jener Jude, der Geld auf Pfänder leiht?“

„Solltest du es wirklich vergessen haben? [116] Auf der grossen Mieschtschanskaja, im Hause Glasunow. Der Haushälter wird es dir schon zeigen. Was willst du denn versetzen?“

„Meine Gummischuhe.“

„Wozu brauchst du sie denn so weit zu tragen? Siehst du diese Bierhalle dort? Der Wirt ist mein Bekannter. Wenn du willst, trage ich sie hin und versetze sie. Wieviel brauchst du?“

„Je mehr, desto besser,“ antwortete ich, zog die Gummischuhe von den Füssen und gab sie ihm.

„Das sind ja ganz neue Schuhe, wer weiss, vielleicht giebt er dir zwei Rubel … Was sagst du dazu?“

„Gut, gut, nur schnell, mein Lieber, denn ich habe keine Zeit zum Warten.“

„Wohin fährst du denn mit diesem Täubchen?“ sagte er mit den Augen blinzelnd.

Seine aufdringliche, unbescheidene Frage war mir geradezu widerwärtig und besonders die unbegründete Verdächtigung, die dabei auf das arme Mädchen fiel.

„Mach’ dich fort, klügele nicht viel! Willst du mir einen Dienst erweisen, so erweise ihn, und wenn nicht, so scher’ dich zum Teufel! Ich werde mir auch ohne dich Rat schaffen.“

„Was bist du so böse? Darf man denn [117] mit dir nicht scherzen? Es ist ja eine Russin, die unsere Sprache nicht versteht. Was ärgerst du dich also?“

Ich unterbrach seine Rede, indem ich ihn ziemlich unsanft am Arme in der Richtung nach der Bierhalle hinstiess.

Während er dort mit dem Versetzen meiner Gummischuhe beschäftigt ist, will ich in Kürze den Leser mit diesem sonderbaren Geschöpfe bekannt machen. Sein Spitzname ist „Enge“ und woher dieser Name rührt und was das überhaupt für ein Mensch ist, wird der Leser im nächsten Abschnitte erfahren.

II.

Vor ungefähr zehn oder elf Jahren kam dieser Armenier nach Petersburg, doch weiss ich nicht, was für ein Wind ihn hierher geweht hat. Seinen Worten nach kam er zu Handelszwecken hierher. Ich bin jedoch von Natur nicht besonders leichtgläubig und zweifle, ob der Handel der einzige Zweck seiner Hierherkunft gewesen sein mag. Es ist wahrscheinlicher, dass er so Manches von den zahlreichen Vergnügungen und Schwelgereien der nordischen Hauptstadt gehört hatte, von Schwelgereien, in deren Genuss die Bewohner armenischer [118] Städte aus Rücksicht auf Freunde und Bekannte ziemlich eingeschränkt sind. Vielleicht hatte er auch von der Annehmlichkeit gehört, die ein müssiger Mensch empfindet, wenn er mit einigen Rubeln in der Tasche in den zahlreichen und verschiedenartigen Restaurants, Kaffeehäusern, Konditoreien und sonstigen andern mitunter namenlosen Lokalen herumschlendert. Vielleicht hatte er von dem berühmten Newski Prospekt gehört, von seinen im Lichtermeer schwimmenden Trottoiren und der bunten Menge, die Tag und Nacht hier herumwogt. Ohne Zweifel mochte er auch von jenen Glücksrittern vernommen haben, die da in einem Hemd, mit ein paar Rubeln in der Tasche hierher gekommen und dann reich an Ehren und Gütern in ihre Heimat zurückgekehrt sind.

Ja, der Name „Petersburg“ hat schon manchen Abenteurer betäubt und es ist daher nicht zu verwundern, dass unser Freund, ähnliche Hoffnungen hegend, sich schnell einige Rubel verschaffte und hierher kam, um sein Glück zu versuchen. Doch der Arme hatte vergessen, dass Petersburg nicht allen auf gleiche Weise günstig ist. Er hatte es nicht gewusst, dass jeder Abenteurer, wenn er auf Erfolg rechnen will, doch entweder ein wenig [119] durchtrieben oder schön von Angesicht sein muss. Zum Unglück für ihn besass er keine von beiden Eigenschaften. Er war geradezu ein Ausbund von Hässlichkeit, klein von Wuchs, mager, dabei braun wie ein Zigeuner, so dass er eher einem solchen als einem Armenier ähnlich sah. Seine Nase war so lang wie der halbe Kopf, seine Beine kurz und krumm und mehrere der Zähne hatte er in Faustkämpfen verloren. Daher war es auch für jeden, der nicht an seine Aussprache gewöhnt war, schwer, ihn zu verstehen. Er sprach etwas russisch, auch armenisch, doch Gott weiss, welchen Dialekt. Auch die tatarische Sprache war ihm nicht fremd und da er in der Unterhaltung alle diese Sprachen mit einander mengte, erinnerte seine Rede lebhaft an die babylonische Sprachverwirrung. Was sein Alter betrifft, so mochte er wohl dreissig bis fünf und dreissig Jahre zählen, doch genau weiss ich es nicht.

Sein Treiben und Handeln hatte eine Licht- und eine Schattenseite. Die Lichtseite bestand für uns darin, dass wir ihn als einen armen unglücklichen Armenier kannten, den wir oft aus Mitleid in unsere Wohnung aufnahmen und mit Brod und Käse bewirteten. Seine Schattenseite lag in verschiedenen Verdächtigungen und Gerüchten, die über ihn in [120] der Stadt, wo ihn fast alle kannten, von Mund zu Mund gingen. Bei alledem hatte er eine lobenswerte Eigenschaft. Wenn er nämlich irgend ein Gaunerstück ausführte, für welches er bestraft werden sollte, so verschwieg er stets, dass er ein Armenier sei. In solchen Fällen gab er sich gewöhnlich für einen Griechen, einen Zigeuner oder einen Juden aus. Wenn wir ihn dann im Scherze fragten, warum er seine Nationalität leugne, antwortete er gewöhnlich: „Ach, Brüderchen, wozu soll ich denn den Namen unseres Volkes schänden, mag man schon lieber den Griechen als den Armenier schelten!“

Welche Streiche er andern spielte, weiss ich nicht, aber für uns Studenten war er unentbehrlich. Wenn es vorkam, dass wir kein Geld hatten, so verschaffte er uns so schnell Thee, Zucker, Brod, Wurst und Tabak, dass wir geradezu erstaunten. Auch beim Versetzen und Verkaufen von Sachen zeigte er viel Geschicklichkeit, doch schlimm erging es uns, wenn er erfuhr, dass einer von uns Geld in der Tasche habe. Er ruhete da nicht, bevor er ihm nicht drei oder vier Rubel abgezwungen hatte.

Ich sagte oben, dass er den Spitznamen „Enge“ trug, doch wie er dazu gekommen, [121] mag er selbst erzählen und damit wird auch die Charakteristik dieses Armeniers zu Ende sein.

„Ich komme einmal, Brüderchen, zu Gabriel Bogdanitsch und finde Johannes bei ihm. „Hans,“ sage ich, „was lasst ihr so die Nasen hängen? Gewiss geht es euch hundemässig schlecht, ihr habt kein Geld!“ Beide antworten nicht. „Michael!“ sage ich da, „wir nehmen an, Hans ist Hans, nämlich ein armer Teufel, auch Gabriel ist ein Lump, heute hat er etwas und morgen nichts, aber warum hast du denn kein Geld? Ja, ja, ich habe es dir schon gesagt, jage diese Metze zum Geier, denn sie frisst dich auf. Aber nein, du wolltest es nicht glauben und jetzt siehst du, dass ich nicht gelogen habe. Ach, du mein Brüderchen, ich kenne den Charakter dieser Frauenzimmer. Bevor sie dir nicht das letzte Hemd auszieht, wird sie dir immer ins Ohr flüstern: Ich liebe dich, ich bin bereit für dich zu sterben! und dann schürzt sie ihre Röcke auf und du hast das Nachsehen. Ach, weisst du, wenn ich deine Fähigkeiten besässe und so ein hübscher Kerl wäre wie du, würde ich hier eine glänzende Rolle spielen. Ja, ja, Michak, du kennst deinen Wert gar nicht und zahlst gar noch den Frauenzimmern Geld. Das ist der reine Wahnsinn!“

[122] „Ach, höre auf, wir sind deiner schon überdrüssig, bist du denn ein Pfaffe, dass du uns hier solche Predigten hältst? Du siehst, dass keiner von uns einen Heller hat, dass wir nichts zu Mittag gegessen haben und nichts zu rauchen haben und anstatt uns etwas zu verschaffen, hältst du uns eine Predigt!“

„Das ist es eben!“ sagte ich, „wenn ihr Geld habet, gebt ihr mir Rippenstösse und jagt mich aus dem Hause, und wenn eure Taschen leer sind, o, da bin ich ein herzensguter Kerl!“

„Doch mögen sie da gewesen sein wie sie wollen, sie waren doch meine Landsleute, sie waren Armenier. Ich ging, Brüderchen und holte Essvorrat für unsere Jungen. Keine halbe Stunde verging, als ich schon mit drei Pfund Brod, einem halben Schock gekochten Eiern, 1/8 Pfund Thee, zwei Pfund Zucker, mit Wurst und Tabak zurückkam. Die Jungen fielen wie hungrige Wölfe über mich her und als ich auf einen Augenblick wegging, um ein Tischtuch zu holen, war, als ich zurückkam, schon die Hälfte des Essvorrates verschwunden. Es war kein Brod und keine Wurst mehr da und die Eier hatten sie fast mit den Schalen verschlungen. Ich stand wie versteinert da. Und dann, als sie sich den Magen gefüllt hatten, [123] fragte mich noch Michak: „Wo hast du das alles aufgegabelt?“ Ich antwortete ihm, was mir gerade in den Kopf kam: „Ich habe mit einem Krämer „Enge“[1] gemacht.“ Ach, Bruder, wie da die Jungen lachten und schäkerten. „Enge!“ „Enge!“ wie oft haben sie dieses Wort wiederholt! Seit diesem Tage ist mir auch dieser Name verblieben.“

Nach einigen Minuten kehrte Alexander zurück und gab mir zwei Rubel, indem er sagte: „Der Mann verlangt keine hohen Zinsen und zwar monatlich nur fünfzehn Kopeken vom Rubel.“

Ich dankte ihm schnell und befahl dem Kutscher, zum Adress-Bureau zu fahren. Als wir dort anlangten, fragte ich meine Begleiterin nach ihrem Tauf- und Familiennamen.

„Marie Werder,“ antwortete sie.

„Sofort werde ich Ihre Wohnung erfahren.“ Ich ging schnell ins vierte Stockwerk hinauf und erfuhr dort, dass sie auf der Offiziersstrasse No. 16 wohne. Da wir uns nicht weit von dieser Strasse befanden und unsere Füsse von der Kälte fast erstarrt waren, so [124] schlug ich ihr vor, den Weg bis zu ihrer Wohnung zu Fuss zurückzulegen.

Ich entliess den Droschkenkutscher und wir gingen wieder Arm in Arm weiter. Als wir an einem Kaffeehause vorüberkamen, erinnerte ich mich plötzlich, dass wir beide seit sieben oder acht Stunden nichts genossen hatten.

„Vielleicht wollen Sie etwas geniessen?“ sagte ich zu ihr und lenkte meine Schritte der Thür des Kaffeehauses zu.

„Ich habe gar keinen Hunger,“ sagte sie, „doch durstig bin ich sehr und ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir ein Glas Wasser brächten.“

Wir traten ins Kaffeehaus ein und ich befahl dem Kellner, vor allem ein Glas Limonade und dann zwei Tassen Kaffee und Cigaretten zu bringen. Als der Kellner alles gebracht hatte und wieder weggegangen war, bat ich das Mädchen, auf dem Lehnstuhle Platz zu nehmen, während ich mich auf den Sessel niedersetzte.

„Mein Fräulein, entschuldigen Sie meine Dreistigkeit,“ sagte ich auf deutsch, „ich möchte nämlich einige Fragen an Sie stellen.“

„Fragen Sie immer, mein Herr!“ erwiderte sie, verschämt die Augen niederschlagend.

[125] „So viel ich bemerkt habe, sind Sie nicht von hier; sagen Sie mir also gefälligst, woher Sie sind?“

„Ich bin eine Schweizerin. Vor kaum einem Monate bin ich mit meiner Mutter hierher gekommen.“

„Warum haben Sie denn Ihre Heimat verlassen?“

„Mein Vater hat uns hierher berufen.“

„Wo ist jetzt Ihr Vater?“

„Eine Woche vor unserer Ankunft in Petersburg ist er hier in diesem Zimmer gestorben, wo auch meine Mutter entschlafen ist,“ sagte sie mit einem tiefen Seufzer.

„Womit beschäftigte sich denn Ihr Vater?“

„Ein reicher russischer Fürst, namens L…, hatte ihn eingeladen, die Verwaltung seiner Güter zu übernehmen. Mein Vater war schon ein halbes Jahr hier, und da ihn der Fürst für seine Treue und Geschäftskenntnis sehr liebte, schlug er ihm schliesslich vor, seine Familie hierher kommen zu lassen, wobei er versprach, unsere Zukunft sicher zu stellen.

„Der Vater schrieb an uns, doch obgleich er das Leben in Russland sehr lobte und uns überhaupt seine Einladung grosse Freude bereitete, so verliessen wir doch unsere liebe [126] Heimat nur mit schmerzlichem Leidgefühl. Da wir von vielen gehört und auch in manchem Buche gelesen hatten, dass Russland ein sehr rauhes Klima habe, dass sein Boden unfruchtbar und überhaupt das Land sehr unwirtlich sei, so erfüllte uns schon der Gedanke, unsere schöne Heimat gegen dieses fremde Land zu vertauschen, mit Schrecken. Ach ja, wer giebt mir unsere schönen Fluren wieder, unsere freien Berge, unsere schäumenden Bäche, unsern wolkenlosen, blauen Himmel, unser gastfreundschaftliches, menschenfreundliches Volk! Ach wer …“ Hier verstummte sie, ihre Augen füllten sich mit Thränen. „Ach!“ fuhr sie nach einer Weile fort, „warum haben wir der Ahnung unserer Herzen nicht Gehör gegeben, warum haben wir die Heimat verlassen, was suchten wir in diesem rauhen Lande? Ach, mein Herr, nehmen Sie mir meine Schwäche nicht übel, aber es war mir unmöglich, meinen Schmerz zu überwinden. Sie begreifen meine traurige Lage und werden Nachsicht fühlen mit meiner Mutlosigkeit, in die mich dieses schwere Unglück versetzt hat. Ach, ich verliere fast die Sinne, wenn ich daran denke, was meiner hier harrt.“

„Haben Sie in Ihrer Heimat Verwandte?“

„Nein, mein Vater war ein französischer [127] Emigrant. Während der Revolution im Jahre 1830 gelang es ihm den Händen seiner Henker zu entwischen, all’ sein Hab und Gut, welches er in Frankreich besass, liess er im Stiche und liess sich in Basel nieder. Dort lernte er meine Mutter kennen, welche eine arme, aber unbescholtene Waise war und sich durch Nähen ihren Unterhalt verdiente. Wie Sie sehen, bin ich in dieser Welt eine hilflose Waise. Vor drei Tagen habe ich meine letzte Stütze verloren. Jetzt werden Sie mir glauben, dass ich ein Recht habe, mich für das unglücklichste Wesen der Welt zu betrachten.“

„Verzagen Sie nur nicht!“ sagte ich ihr, „es giebt überall edle Menschen und Gott verlässt die Waisen nicht. Allerdings will ich nicht behaupten, dass Ihre gegenwärtige Lage nicht traurig sei, aber gedenken Sie doch Ihrer Mutter, die ja auch, ehe sie Ihren Vater kennen lernte, ihren Unterhalt zu verdienen wusste. Auch Sie können ja auf dieselbe Weise Ihren Unterhalt verdienen; vielleicht …“ Ich sprach den Satz nicht zu Ende, sondern schaute sie schweigend an, doch als mein Blick dem ihrigen begegnete, wurden wir Beide verlegen und schlugen die Augen nieder.

„Trinken Sie Ihren Kaffee, denn er wird ja ganz kalt!“ begann ich nach einer Weile, um [128] unserer Verlegenheit ein Ende zu machen und rauchte eine Cigarette an.

„Woher sind Sie denn?“ fragte sie mich nach kurzem Schweigen. „Entschuldigen Sie meine Neugier, aber ich glaube, Sie sind kein Russe.“

„Sie haben Recht, ich bin auch fremd in diesem Lande, ich bin ein Armenier.“

„Sie leiden also so wie ich an Heimweh!“ versetzte sie lächelnd, „wie ist denn Ihr Name?“

„Michael Wajeltschjan,“ erwiderte ich, zog von meiner verwundeten Hand das mir von ihr geliehene Taschentuch und ohne etwas zu sagen, zeigte ich mit dem Finger auf die auf dasselbe eingenähten Buchstaben M. W. „Wundern Sie sich denn nicht, dass die Anfangsbuchstaben unserer Namen dieselben sind? Meinen Sie nicht auch, dass in diesem Zusammentreffen ein Geheimnis liegt, welches die Vorsehung einstweilen noch vor uns verbirgt?“

„Auch mir schienen diese Buchstaben immer geheimnisvoll zu sein; ich suchte in ihnen immer meine Schicksalsbestimmung zu finden. Wenn Sie nicht über mich lachen wollen, werde ich Ihnen etwas sagen. Eines Tages, es war noch in der Heimat, ging meine Mutter in die Kirche und ich blieb mit unserer [129] alten Dienstmagd allein zu Hause. Ich sass einsam am Fenster und wie ich es oft zu thun pflegte, heftete ich meine Augen auf diese zwei Buchstaben, um aus Wörtern mit denselben Anfangsbuchstaben einen Gedanken zu bilden. Jedoch nicht einer derselben gefiel mir, bis mir endlich Worte einfielen, die sich tief in meine Phantasie eingeprägt haben und mir seit jener Stunde nicht aus dem Gedächtnis schwinden wollen. Es ist mir, als ob sie mir Schrecken einflössten und doch warte ich mit Ungeduld ihrer Erfüllung.“

„Wie sind diese Worte?“ fragte ich.

„Mort par venin!“ sagte sie, „seit jenem Tage habe ich mir in den Kopf gesetzt, dass mein Leben durch Gift enden muss.“

„Um Gottes Willen, lassen Sie doch diese thörichten Ahnungen, die nur ein Kind, aber nicht ein so gebildetes Fräulein wie Sie beschäftigen können. Doch was würden Sie sagen, wenn ich aus diesen Anfangsbuchstaben andere Worte bildete und zwar: Madame oder Marie Wajeltschjan!“ schloss ich scherzend.

„Jetzt ist die Reihe an mir, Ihnen zu sagen: Lassen Sie diese thörichte Prophezeiung, die nur einem Knaben in den Kopf kommen kann, aber nicht einem so gebildeten Studenten wie Sie.“

[130] Sie errötete, als sie diese Worte sagte und aufs Fenster blickend, rief sie aus:

„Ach Gott, es ist schon finster, ich muss nach Hause gehen. Was wird meine Wirtin denken, dass ich so lange nicht nach Hause komme. Ich bitte Sie, mein Herr, begleiten Sie mich!“

Sie erhob sich von ihrem Lehnstuhle und obgleich ungern, stand auch ich auf, rief den Kellner, bezahlte ihn und verliess mit ihr das Kaffeehaus.

„Mein Fräulein!“ begann ich, als wir auf der Strasse waren, „was gedenken Sie fernerhin zu thun?“

„O ich bin ganz ratlos in dieser Hinsicht, ich weiss nicht, was ich morgen …“ Sie sprach ihre Worte nicht zu Ende, doch ich verstand sie und fuhr in Gedanken fort: „Ich weiss nicht, was ich essen und wo ich wohnen werde.“

„In diesem Falle bitte ich Sie meine sehr unbedeutende Hülfeleistung nicht abzuschlagen; ich biete sie Ihnen von ganzem Herzen an. Nehmen Sie hier diesen Rubel, vielleicht kommen Sie damit bis morgen Mittag durch, das weitere wird sich mit Gottes Hülfe wohl machen lassen.“

„Ach, mein Herr, welches Recht habe ich [131] denn, Sie der letzten Kopeke zu berauben. Ich weiss ja, dass Sie selbst unbemittelt sind und auch zu Hause nichts haben. Glauben Sie, ich hätte es nicht bemerkt, wie Sie Ihre Gummischuhe ausgezogen und jenem Zigeuner verkauft haben, um mir zu helfen? Ich weiss überhaupt nicht, ob ich Ihnen jemals die Güte, die Sie mir heute erwiesen haben, vergelten kann.“

„Mein Fräulein!“ fiel ich ihr ins Wort, „Ihre Rede zeigt nur, dass Sie von mir keine gute Meinung haben. Glauben Sie denn, ich sei zu einem so unbedeutenden Opfer nicht fähig, und woher können Sie denn übrigens wissen, dass all’ mein Vermögen in diesen Gummischuhen bestand? Nein, Gott sei Dank, ich bin noch genug …,“ ich wollte sagen „reich“, konnte mich aber nicht entschliessen eine so freche Lüge heraus zu bringen und verschluckte die weiteren Worte.

„Wenn Sie mir Ihre Achtung bezeigen wollen, so zwingen Sie mich nicht dieses Opfer anzunehmen.“

„Nun, wenn Sie die Annahme meiner Hülfeleistung abschlagen, wollen Sie wahrscheinlich nicht, dass wir Bekannte bleiben. Thuen Sie wie Sie wollen!“ schloss ich beleidigt.

„Nein, nein! das wollte ich nicht sagen, aber Sie werden ja für morgen selbst nichts [132] haben,“ sagte sie mit so gefühlvoller Stimme, dass ich beinahe, ihr Trauerkleid und ihre trübe Lage vergessend, ihr auf der Stelle Hand und Herz angeboten hätte. (Richte mich nicht strenge, geehrter Leser, ich war damals neunzehn Jahre alt!)

„Machen Sie sich um mich keinen Kummer!“ versetzte ich. „Wenn Sie es zulassen, werde ich aufrichtig mit Ihnen reden. Hören Sie mich also an: Reich bin ich allerdings nicht, ich habe weder einen Jahresgehalt noch sonst welche Einkünfte, auch sind meine Eltern nicht in der Lage mich mit Geldmitteln zu versehen, aber zum Ersatz für alles dies habe ich einen Schatz, den ich unerschöpflich nennen darf. Dieser Schatz sind meine Freunde, welche zwar nicht hier wohnen, aber stets, wenn ich ihrer Hülfe bedarf, bereit sind mir ihr letztes zu opfern. Jetzt werden Sie glauben, dass ich nicht so arm bin wie ich Ihnen scheine.“

„Ach, mein Herr, Sie veranlassen mich Ihnen bis zum Ende meines Lebens dankbar zu sein. Sie handeln so edel, dass ich Sie schon am ersten Tage unserer Bekanntschaft als einen Bruder und innigen Freund anerkennen muss. Ja, ich bin bereit Ihre Hülfe anzunehmen, aber nur unter folgenden Bedingungen, erstens, dass Sie mir Ihre ganze [133] Summe zeigen, zweitens, dass Sie mir versprechen sich vor allem an mich zu wenden, wenn Sie in Geldnot sein sollten.“

„Hier haben Sie meine Hand!“ sagte ich zum Beweise, dass ich mit ihrem Vorschläge einverstanden sei.

„Hören Sie mich jetzt an! Ich habe in der Tasche einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Mit diesen fünfzehn Kopeken werde ich so ziemlich bis morgen auskommen. Sollte ich morgen kein Geld erhalten, so hole ich mir bei Ihnen dreissig Kopeken. Sind Sie damit einverstanden?“

„Gut!“ erwiderte sie.

Als sie dieses letzte Wort aussprach, waren wir gerade an ihr Haus gekommen.

„Wollen Sie nicht in meine Wohnung eintreten?“ sagte sie mit solcher Unschuld und Harmlosigkeit, dass ihre Worte selbst in dem argwöhnischsten Menschen keinen Verdacht hätten erwecken können.

„O, ich möchte sehr gern Ihr Heim sehen,“ erwiderte ich, ohne irgend etwas dabei zu denken.

Es dämmerte schon. Die finstere und schmutzige Treppe war von keiner Lampe erleuchtet und in der Dunkelheit herum tastend gelangten wir mit Mühe zu ihrer Wohnung. [134] Eine von den beiden mir schon bekannten Frauen öffnete die Thür und um zu sehen, wer da sei, hielt sie mir das Licht vors Gesicht. Marie grüsste sie schüchtern, aber das Weib nahm ihren Gruss sehr kühl entgegen und brummte ironisch vor sich hin:

„Das ist wirklich schön! Die Leiche ihrer Mutter liegt kaum ein paar Stunden unter der Erde und schon bringt sie junge Mannsleute ins Haus!“

Anstatt zu antworten, drohte ich der Alten mit dem Finger. Es war mir schwer meinen Zorn zu bewältigen, ich näherte mich ihr also und sagte ihr halblaut ins Ohr:

„Wenn ich noch ein beleidigendes Wort von dir höre, schlage ich dir deine letzten zwei Zähne aus. Hörst du? Es ist dein Glück, dass dieses Fräulein nicht verstanden hat, was du gesagt hast, denn sonst hätte ich dich zur Treppe hinunter geworfen!“

Vielleicht waren es nicht meine donnernden Worte, sondern die glänzenden Knöpfe meiner Studentenuniform, welche der alten Schachtel Schrecken und Ehrfurcht[WS 1] einflössten. Sie sprach kein Wort mehr und ich trat in Mariens Zimmer ein. Dasselbe war von einem Talglichte nur düster erleuchtet. Drei oder vier zerbrochene Stühle, ein alter Tisch, und [135] in der Ecke ein Koffer bildeten die ganze Möblierung ihrer Wohnung. Doch siehe, inmitten dieses elenden Gerümpels stand ein schönes Klavier von Nussbaumholz.

Ich legte meinen Paletot ab und setzte mich auf einen Stuhl nieder, Marie nahm etwas entfernt von mir Platz. Meine Blicke schweiften im Zimmer umher und da sie wahrscheinlich meine Umschau unterbrechen wollte, sagte sie plötzlich.

„Sie wundern sich wahrscheinlich, dass Sie weder Bettstelle, Bettzeug, noch sonst andere nicht nur nötige, sondern selbst für den Ärmsten unentbehrliche Gegenstände hier sehen! Wundern Sie sich nicht, und da Sie schon ein gewisses Recht haben, alle meine Verhältnisse kennen zu lernen, will ich Ihnen Alles wie einem leiblichen Bruder erzählen. Heute morgen waren alle diese Sachen noch hier, aber der Sargtischler weigerte sich, vor Empfang der ihm zukommenden sechs Rubel den Sarg meiner Mutter ins Haus zu bringen. Auch der Besitzer des Leichenwagens verlangte seine acht Rubel im voraus. Alles, was mir an Sachen von meiner Mutter verblieben war, habe ich ihnen abgegeben, um nur die letzte Kindespflicht zu erfüllen.“

In der Folge erfuhr ich, dass diese Gauner [136] von dem armen, unerfahrenen Mädchen Sachen im Werte von nicht weniger als hundert Rubeln erpresst hatten. Doch was war zu thun, es war einmal geschehen!

„Auf welche Weise haben Sie denn dieses Klavier gerettet?“ fragte ich.

„Ach, mein Herr, fragen Sie nicht! Es war hier in dieser fremden Stadt für mich und meine Mutter der einzige Trost auf Erden. Ohne Leidgefühl habe ich meine Kleider hingegeben, meine Schmucksachen, Bücher, Bettzeug, sogar meinen Wintermantel, um nur dieses Klavier noch einige Tage zu besitzen. Allerdings wird mich früher oder später die Not zwingen es zu verkaufen, aber ich habe mir das Wort gegeben, dass ich diesen Ring, welchen mir meine Mutter in der Sterbestunde überreicht hat, eher verkaufe als dieses Klavier. Ach, mein Gott, soll wirklich der Tag kommen, da ich das letzte Andenken meiner Mutter …“

Als ich erfuhr, dass dieser Ring nicht ein Verlobungspfand, sondern ein Andenken ihrer Mutter sei, beruhigte ich mich, als wäre mir eine schwere Bürde von den Schultern gefallen.

„Verzagen Sie nicht!“ sagte ich, „vor solcher Not wird Sie Gott bewahren. Mein Herz sagt mir, dass Sie bald auf würdige Weise [137] aus dieser unglücklichen Lage herausgelangen werden!“

„O, gebe Gott, dass die Ahnung Ihres Herzens in Erfüllung gehe! Nie hätte ich es zu hoffen gewagt, dass ich hier in diesem fremden Lande als arme, verlassene Waise plötzlich einen so wohlwollenden Freund finden würde, wie Sie es sind!“ Bei diesen Worten reichte sie mir die Hand. „Herr Michael, mein edler Freund!“ fuhr sie fort, „ich danke Ihnen! Glauben Sie mir, dass wenn mich in der Folge auch Meere und Berge von Ihnen trennen sollten, so wird doch das Andenken an Sie unverwelkt in meinem Herzen fortdauern!“

Ihre Worte verwirrten mich ganz und gar und fesselten mir so die Zunge, dass ich ihr nicht einmal antworten konnte. Ich war wie versteinert und das war ganz natürlich, denn es war ja das erste Mal, dass mir ein Mädchen ihr unbeflecktes, jungfräuliches Herz öffnete. Zum ersten Male hörte ich diese aufrichtige, wahrheitstreue Sprache, von der man jedes Wort ohne den geringsten Zweifel glaubt.

Ich verwünschte mich und mein Schicksal und alle die Fälle, in welchen ich einer unwürdigen und lasterhaften Liebe Raum in meinem Herzen gegeben hatte. Meine Reue kam spät, aber sie war um so aufrichtiger. [138] Plötzlich bemächtigte sich meiner ein schweres Leidgefühl, es war mir als ob meine Seele Höllenqualen leide und mein Gewissen sagte mir: Verunreinige nicht die Wohnung dieses keuschen Mädchens durch deine Anwesenheit! Ich ergriff schnell meinen Hut, näherte mich ihr und die Augen niederschlagend, nahm ich Abschied von ihr. Sie stand auf und mir ihre Hand reichend sagte sie:

„Sie gehen schon? … Darf ich hoffen, dass das nicht Ihr letzter Besuch war? Wann sehen wir uns wieder, mein treuer Freund?“

„Wie ich Ihnen gesagt habe, morgen um zwölf Uhr. Sollte ich mich nicht einfinden, so erwarten Sie mich abends, zwischen sieben und acht!“

Hierauf warf ich schnell meinen Mantel um und wie ein Rasender rannte ich die Treppe hinunter.

III.

Sobald die kalte Nachtluft meine Stirne umwehte, schwanden meine trüben Gedanken. Um meinen erhitzten Körper vor Verkältung zu bewahren, beschleunigte ich meine Schritte so sehr, dass ich beinahe laufend nach Hause eilte. Mariens Wohnung war fast vier Werst von der meinigen entfernt, aber da mein ganzes [139] Vermögen aus fünfzehn Kopeken bestand, so wäre es reiner Wahnsinn gewesen, dieselben noch für einen Schlitten auszugeben. Ich wusste bestimmt, dass mich mein Kollege mit Ungeduld erwartete und dabei hoffte, dass ich ihm etwas zum Rauchen und Essen mitbringen würde. Ich sage absichtlich zuerst „zum Rauchen“, denn Studenten und ihnen ähnliche arme Schlucker werden gewöhnlich mehr vom Rauch- als vom Esshunger gequält.

Es ist sonderbar, welche Wirkung der Tabak auf die Menschen ausübt und Nichtraucher sind gar nicht im Stande dieses Vergnügen zu begreifen, welches besonders junge Leute beim Rauchen empfinden.

Als ich schon nahe an meinem Hause war, trat ich in den Laden eines Viktualienkrämers ein und verlangte 2 Pfund Schwarzbrod, 1 Talglicht, für 3 Kopeken Thee und für 4 Kopeken Zucker. Auf diese Weise blieb mir nur eine Kopeke übrig, so dass ich also keinen Tabak kaufen konnte. Doch die Not ist die Mutter der Erfindungen!

„Hast du Cigaretten?“ fragte ich.

„Gewiss, Euer Wohlgeboren!“ erwiderte der sui generis höfliche Krämer. „Wie viel Stück befehlen Eure Durchlaucht?“

„Zehn Stück werden bis morgen genügen, [140] aber siehe, mein lieber Freund, als ich ausging, war ich der Meinung, ich habe Geld zur Genüge in der Tasche und jetzt sehe ich erst, dass ich nicht mehr als fünfzehn Kopeken bei mir habe. Hier nimm diese eine Kopeke, die übrigen neun werde ich dir morgen durch meinen Diener schicken. Ich hoffe, dass du mir so viel Vertrauen schenken wirst.“

„Ich bitte!“ sagte der gutmütige Krämer.

„Den habe ich angeführt!“ dachte ich bei mir, nahm die Ware samt den zehn Stück Cigaretten und vor Freude einen Marsch pfeifend ging ich nach Hause.

„Johannes, bist du da?“ fragte ich, als ich in die Stube trat, doch ich erhielt keine Antwort.

„Johannes!“ wiederholte ich lauter.

„Hm!“ brummte Johannes auf seinem Bette. „Michael, bist du es?“

„Ja, ich bin es! Warum liegst du im Finstern?“ sagte ich in Gedanken lachend.

„Woher sollte ich denn ein Licht nehmen?“ bemerkte mein armer Kollege.

„Steh’ auf, steh’ auf, ich bringe dir ein Licht, Brod und Thee!“

„Hast du nicht einen Stummel?“

„Stehe nur erst auf! Ich will sogleich das Licht anzünden.“

[141] „Brr! ist das kalt in diesem Loche!“ rief Johannes, „wie ist es denn draussen, ist es eben so kalt wie heute Morgen?“

„Hoho, Brüderchen, ich glaube es ist etwas kälter!“ erwiderte ich.

„Ich dachte schon, du wärst unterwegs erfroren; wo hast du dich denn so verspätet? Ach, ja, sage mir doch, weshalb du heute Nachmittag so wie ein Rasender aus dem Zimmer gelaufen bist? Was gab es denn mit dir?“

„Lassen wir das einstweilen. Ich habe dir viel zu erzählen.“

Ich zündete das Licht an. Johannes fiel vor allem über die Cigaretten her, öffnete das Päckchen und zündete eine an, wobei er mit wahrer Gier den Rauch in die Gurgel zog.

„Juchhe! jetzt hat wieder meine Seele ihre richtige Lage gefunden. Seit elf Uhr Vormittag habe ich nicht geraucht und wenn ich noch zwei solche Tage haben sollte, da sterbe ich auch ohne die Cholera.“

„Fürchte dich nicht, du wirst nicht sterben. Man hat mir aus Moskau geschrieben, dass ich mit der ersten Post drei Pfund Tifliser Tabak erhalte.“

„Eine alte Geschichte! Wir hören schon lange diesen Trost. Die werden dir aus Moskau [142] etwas Rechtes schicken!“ sagte er über meine Worte lachend. „Bis du aus Moskau Tabak und andere Sachen bekommst, werden wir uns noch manchen Tag so durchschlagen müssen wie heute.“

„Lassen wir dieses Gespräch! Machen wir lieber den Samowar zurecht und dann werde ich dir beim Glase Thee so manches erzählen.“

„Ach, Michael, weisst du was!“ sagte plötzlich Johannes. „Fast hätte ich es vergessen. Ich hatte eben einen schrecklichen Traum. Mir träumte, du tanztest mit einem Mädchen an einer tiefen Grube. „Michael!“ sagte ich zu dir, „was hast du da für einen Ort zum Tanzen ausgewählt, siehst du denn nicht die Grube vor dir?“ Du achtetest aber nicht auf meine Worte und fuhrst fort zu tanzen. Plötzlich entwand sich das Mädchen deinen Armen, näherte sich dem Rande der Grube und sich noch ein letztes Mal nach dir umsehend, sprang sie hinein. Du liefst ihr in Verzweiflung nach, thatest einen herzzerreissenden Schrei und sprangst auch hinein, aber nach einer Weile kamst du wieder wie auf Flügeln in die Höhe und standst traurig bei mir.“ „Was ist mit dem Mädchen geschehen?“ fragte ich. „Sie ist in der Tiefe verschwunden, ich habe sie nicht finden können,“ [143] gabst du mir zur Antwort und ich erwachte vor Schrecken.

Mein Kollege schwieg eine Weile und sagte dann: „Was kann dieser Traum bedeuten?“

„Wenn der Tag gut ist, hat auch der Traum einen guten Ausgang,“ sagte ich lachend.

„Scherz bei Seite! Die Träume gehen manchmal in Erfüllung, weisst du?“ bemerkte mein Kollege.

„Nun ja, manchmal gehen sie in Erfüllung,“ bemerkte ich. „Zum Beispiel: Vor einigen Tagen träumte mir, ich lege die Hand in die Tasche, und siehe da! Ich ziehe eine Hand voll Gold nach der andern heraus, so viel, dass ich müde wurde. Am Morgen, als ich schon erwacht war, schickte mir der Krämer durch seinen Jungen die Rechnung. Nicht wahr, das war eine gute Erfüllung meines Traumes?“

„Lassen wir diese Träume!“ sagte Johannes, „erzähle du mir jetzt, wie du den Tag verbracht hast!“

Ich erzählte ihm Alles, nur wo Marie wohne, verschwieg ich.

„Hoho, mein lieber Freund, du knüpfst im Geheimen Liebschaften an! Drum dachte ich mir auch: Was ist mit unserem Michael vorgefallen?“

[144] In diesem Augenblicke begann das Wasser im Samowar zu sieden und wir erinnerten uns, dass wir seit dem Morgen nichts Ordentliches gegessen hatten. Ich schüttete also den Thee in die Kanne, schnitt Brod zurecht, klopfte den Zucker in Stücke und dann setzten wir uns zu unserer Doppelmahlzeit nieder, die für uns Mittagessen und Abendbrot zugleich war.

„Ach, Michael!“ begann Johannes, „ich habe mich heute gut abgequält. Wenn mir Gott nicht den Schlaf gesandt hätte, weiss ich nicht, was aus mir geworden wäre!“

Dabei verzehrte er ein Stück Brod nach dem andern mit einem wahren Heisshunger.

Auch ich war nicht minder hungrig als er, denn obgleich ich im Kaffeehause etwas genossen hatte, so war doch die Tasse Kaffee und die wenigen Zwiebacks kein besonderer Trost für meinen Magen, der so selten ein sättigendes Mittagsmahl sah wie Petersburg zur Herbstzeit die Sonne.

„Nun Michael, was sagst du noch Neues?“ begann Johannes, nachdem er drei Gläser Thee und fünf Stücke Brod verzehrt hatte.

„Was kann ich dir Besonderes sagen? Allerdings hätte ich dir noch so manches zu sagen, aber es lässt sich ja doch nicht leicht ausführen. Erstens bin ich verliebt, wie du [145] siehst und zweitens habe ich meiner Freundin das Wort gegeben, morgen irgend einen Weg zu finden, auf dem ich ihr helfen kann, drittens …“

„Michael, nimm mir’s nicht übel, wenn ich dich unterbreche! Die Liebe ist ein ganz hübsches Ding, dagegen lässt sich nichts einwenden, besonders wenn man ein unschuldiges, keusches Mädchen liebt, wie das deinige, aber denke nur daran, mein Brüderchen, wie viel Opfer diese Liebe von dir fordert und hast du dazu die genügende moralische und materielle Kraft? Denke nur daran, dass du in Petersburg bist, wo du kaum deine eigenen geringen Bedürfnisse befriedigen kannst und du willst dir noch mit dem Schicksal eines zarten Mädchens Kummer machen. Als du ihr deine Hülfe versprachst, bildetest du dir wahrscheinlich ein, du seiest der Sohn eines Millionärs. Ja, ja, du hast vergessen, dass deine Moskauer Freunde gegenwärtig deine einzige Zuflucht sind,“ setzte er ironisch hinzu.

„Was willst du mit diesen Worten sagen?“ rief ich erzürnt. „Du willst vielleicht, dass ich sie der Willkür des Schicksals überlasse, dass sie eine Zeit lang mit Not und Entbehrung kämpfen und schliesslich, um dem Elende zu entgehen, ihre Tugend zum Opfer bringen soll. [146] Ja, darin besteht dein Wunsch! Das war ein guter Rat, den du mir gegeben hast!“

„Sachte, sachte, ereifre dich nicht! Wer hat dir gesagt, dass ich der Auserwählten deines Herzens ein solches Schicksal wünsche? Ich meinte nur, du solltest einen anderen Ausweg finden, um nicht deine eigene Lage noch schwieriger zu machen. Du sagtest, das Mädchen sei gebildet, in was besteht denn ihre Bildung? Kennt sie Sprachen, ist sie musikalisch, kann sie sticken, um Stunden geben zu können oder wo als Gouvernante unterzukommen?“

„Ich habe sie nicht geprüft, bin aber überzeugt, dass sie genügende Kenntnisse besitzt, um Erzieherin zu werden, doch ich will mir lieber die Hand abhauen lassen, als ihr zu raten, als Gouvernante in eine hiesige Familie einzutreten. Kennst du denn die Lage dieser Erzieherinnen? Wenn du es nicht weisst, so höre! Ein junges unerfahrenes Mädchen tritt in eine fremde Familie ein; ihre Obliegenheit ist es, nicht nur die Kinder zu unterrichten und zu beaufsichtigen, aber auch deren kleinsten Wunsch zu erfüllen und ihre Laune zu befriedigen. Sie muss mit ihnen auf den Strassen herumschlendern, ist für jede ihrer Bewegungen verantwortlich. Wenn eins der Kinder hinfällt und sein Kleid beschmutzt, so ist die Gouvernante [147] daran schuld; isst es zu viel und wird krank, so ist es auch ihre Schuld. Dann fällt es der Mutter ein aus einem Laden in den andern zu laufen und die Gouvernante muss sie begleiten wie ein Hund. Ist die Madame nicht zu Hause und der Herr Gemahl langweilt sich, so muss wieder die Gouvernante helfen und um ihn zu zerstreuen, mit ihm Karten spielen. Soll ich dir noch mehr sagen, da komme her, denn solche Dinge sagt man nur ins Ohr! Jetzt verstehst du mich, nicht wahr?“

„Wenn das so ist, so handle wie du meinst. Ich zweifle natürlich nicht an deinem Edelmute, aber ich bedaure dich. Handle so, dass du später nichts zu bereuen hast!“

„Ach, lieber Bruder, wenn wir auch edle Thaten bereuen sollen, da lohnt es sich überhaupt nicht zu leben. Da ist es besser, man springt ins Wasser.“

Johannes schwieg, zündete eine zweite Cigarette an und fing an im Zimmer auf und abzugehen.

Plötzlich ging jetzt die Thür auf und der Hausknecht trat mit einem Papiere in der Hand herein.

„Euer Wohlgeboren!“ sagte er, hier ist für Sie eine Postanweisung auf dreissig Rubel.“

[148] „Geld?“ rief ich auf den Hausknecht zuspringend, „gieb, gieb her! ich danke dir!“

Ich ergriff schnell die Anweisung und sah, dass für mich aus Moskau ein Brief mit dreissig Rubeln angekommen war.

„Nun siehst du?“ sagte ich zu Johannes, als der Hausknecht hinausgegangen war. „Siehst du, wie falsch deine Prophezeiung war? Nicht wahr, man kann mitunter auf seine Freunde rechnen? Habe ich dir nicht[WS 2] gesagt, dass meine Freunde edle Jungen sind? Gott sei Dank, jetzt fürchte ich nichts. Jetzt kann ich getrost zu meiner Marie gehen, ihr mit ritterlicher Höflichkeit all’ meinen Reichtum zu Füssen legen und ihr sagen, dass …“

„Und für uns soll nichts bleiben?“ fragte Johannes besorgt.

„Ach, nimm mir’s nicht übel! ich bin ganz verwirrt. Wie könnte ich denn für uns nichts übrig lassen! Natürlich werde ich einen Teil für uns behalten. Sobald ich das Geld in Händen habe, gehe ich und kaufe das Nötige für uns ein und erst dann gehe ich zu meiner Holden. Schön?“

„Schön, sehr schön?“ sagte mein Kollege erfreut. „Doch wie denkst du das Geld einzuteilen, was willst du kaufen?“

„Nun, das ist ja eine bekannte Sache! [149] Zehn Pfund Zucker, ein Pfund Thee, zwei Pfund Tabak, Wurst, Käse, alles kaufe ich und für die Stunde der Not lege ich fünf Rubel bei seite. Nicht wahr, meine Einteilung ist gut?“

„Gut, gut, aber einen Rubel giebst du mir!“

„Wozu denn? wir werden ja alles haben!“

„Ja, aber ich habe kein Papier zum Zeichnen, auch Bleistifte fehlen mir; eben deswegen war ich mehrere Tage nicht in der Akademie.“

„Ja, natürlich, einen Rubel sollst du haben!“

„Heute war der Schuster und die Wäscherin hier. Er verlangte drei Rubel, sie aber achtzig Kopeken. Was meinst du, sollen sie bezahlt werden?“

„Ja, gewiss, ich bezahle sie.“

„Auch die Milchfrau hat ihr Geld gefordert.“

„Auch die bezahle ich, denn erstens ist sie arm und lebt nur von ihrer einzigen Kuh und zweitens hat sie uns ja oft mit ihrer Milch aus der Not geholfen, wenn wir weder Thee noch Zucker hatten. Nein, sie muss durchaus befriedigt werden.“

„Haha!“ lachte mein Kollege, „wenn du so gewissenhaft die Schulden bezahlen willst, so wirst du der Auserwählten deines Herzens nicht viel opfern können.“

[150] „Wieso denn?“ fragte ich erstaunt, „sind denn dreissig Rubel eine kleine Summe?“

„Gewiss, für den, der etwa jeden Monat dreissig Rubel erhält, ist das immer Geld, aber für dich, dessen ganze Zukunftsstütze darin besteht, sind dreissig Rubel gar nichts.“

„Ach, lieber Johannes, Gottes Wege sind uns unbekannt! Vielleicht erhört Gott die Gebete dieses armen Mädchens und wendet mein Schicksal zum bessern!“

„Gott gebe es!“

Wir verfielen beide in Nachdenken.

„Nun Michael!“ begann Johannes nach einer Weile, „es wäre Zeit, dass du dich schlafen legst. Ich muss noch aufbleiben und ein bestelltes Porträt zu Ende bringen, vielleicht verdiene ich dabei einige Rubel!“

Mir fielen wirklich schon die Augen zu und das an diesem Tage Erlebte hatte mich dermassen erschüttert, dass ich kaum noch die Zunge bewegen konnte. Ich stellte also drei Stühle neben einander, legte in Ermangelung eines Kissens meinen Rock unter den Kopf, deckte mich mit dem Mantel zu und schlief ein.

Ich weiss nicht, wie lange ich so geschlafen haben mochte, als ich plötzlich vor Schrecken aufsprang und mich mit irrenden Blicken im Zimmer umschaute. Johannes sass [151] noch am Tische und ein Liedchen summend zeichnete er.

„Johannes!“ sagte ich, „wie spät kann es jetzt sein?“

„Ich habe meine Uhr nicht hier. Warte ein wenig, bis ich sie vom Juden hole!“ erwiderte er lachend.

„Was meinst du, habe ich lange geschlafen?“

„Ich glaube, ungefähr zwei Stunden.“

„Weisst du, ich hatte einen schrecklichen Traum; bis jetzt kann ich noch nicht zu mir kommen.“

„Ach, du sagtest ja, dass du von Träumen nichts hältst.“

„Nun, sage ich denn, dass ich an ihre Bedeutung glaube?“

„Also warum bist du so erschrocken?“

„Nun, im Traume wusste ich doch nicht, dass es ein Traum war. Wenn du willst, werde ich ihn dir erzählen!“

„Bitte, bitte!“

Ein Schrecken ergriff mein Herz, denn fast jeder Mensch hat in seinem Leben Augenblicke, wo er abergläubisch wird. Meine sonderbare Begegnung mit Marien, ihre Erzählung, meine Geldnot und die plötzliche Befreiung aus derselben und schliesslich mein [152] und meines Kollegen Traum; alles das musste einen mächtigen Eindruck auf einen so jungen Menschen machen, wie ich damals war. Trotzdem bemühte ich mich aus falschem Schamgefühl ruhig zu scheinen und erzählte nun meinem Freunde folgendes:

„Mir träumte, ich ginge mit Marien im Sommergarten spazieren. Ich trug meinen einfachen Studentenrock, sie aber war reich und schön gekleidet, wodurch ihre Körperreize bedeutend erhöht wurden. Alle Vorübergehenden schauten sie mit Entzückung an und obgleich Marie gegen diese allgemeine Bewunderung gleichgültig blieb, so war es mir doch äusserst unangenehm, dass jeder seine gierigen Blicke auf sie richtete. Plötzlich erschien bei uns ein Offizier, welcher Marien bei der Hand ergriff und sie mir gewaltsam entriss. „Hilf, hilf, Michael!“ schrie Marie mit herzzerreissender Stimme. Halb rasend lief ich ihnen nach, aber sie entfernten sich so schnell, dass ich sie nicht einholen konnte. Sie verliessen den Garten und liefen an die Newa, wo der Offizier Marien mit Gewalt in einen Kahn setzte. Als ich am Ufer ankam, waren sie bereits in der Mitte des Flusses. „Marie, Marie!“ rief ich, „schreie um Hülfe!“ doch sie hörte mein Rufen nicht. Die Schiffer, welche am Ufer standen, schauten [153] mich mit Lachen an und sagten: „Nun was, gnädiger Herr, der hat Ihnen Ihr Täubchen entführt! Geben Sie uns hundert Rubel und wir wollen sie einholen, denn sonst sehen Sie das Mädel in Ihrem Leben nicht mehr wieder!“ Doch niemand half mir, ich wandte daher meine zornigen Blicke gen Himmel, und was sehe ich! Marie schwebt in der Luft und hinter ihr her jagt der Offizier, um sie zu erhaschen. „Marie, Marie!“ rufe ich, „komme herunter!“ „Nein!“ sagte sie, „ich gehe in den Himmel, denn auf der Erde sind böse Menschen!“ „Marie!“ fuhr ich fort, „fürchte niemand!“ „Nein, ich komme nicht,“ sagte sie, „dort unten wollen mir alle schaden.“ „Marie, also du liebst mich nicht, du hast meiner vergessen, um Gottes Willen, komm herunter, geh’ nicht in den Himmel!“ „Und wirst du mich nicht töten?“ fragte sie mich, herunter schwebend. „Nein, nein!“ antwortete ich. Sie war so abgeschwächt, dass sie sich nur mit Mühe in der Luft halten konnte. Plötzlich schlug sie um und fiel herab und schlug vor meinen Füssen mit dem Kopfe zu Boden. Ich neigte mich zu ihr und sah, dass sie regungslos war und nicht mehr atmete. „Sie ist tot!“ schrie ich erschrocken und erwachte. Was denkst du, Johannes, was kann dieser Traum bedeuten?“

[154] „Du sagtest ja, dass du an solche Dinge nicht glaubst. Rietest du mir nicht vor ein paar Stunden, von Träumen nichts zu halten? Jetzt verlangst du meine Erklärung, um dann über mich zu lachen. Nein, Bruder, ich bin nicht so einfältig.“

„Was für ein sonderbarer Mensch du bist!“ sagte ich, „ich scherzte doch nur mit dir.“

„Scherz bei seite! Zwischen einem Traume und der Wirklichkeit besteht ein unerklärlicher Zusammenhang. Die Träume gehen oft in Erfüllung, besonders wenn im Leben des Menschen eine bedeutende Veränderung vorgehen soll. Gebe Gott, dass das alles, was ich gesagt habe, unrichtig sei! Ich wünsche es dir von ganzem Herzen, aber eine innere Stimme sagt mir, dass deine Bekanntschaft mit diesem Mädchen zu einem Unglücke führt. Ja, Michael, befolge diesmal meinen guten Rat! Überlasse dieses Mädchen seinem eigenen Schicksale, menge dich nicht in ihre Angelegenheiten und brich deine Bekanntschaft mit ihr ab. Weder sie wird ohne dich, noch du ohne sie zu Grunde gehen. Bilde dir ein, du seiest um eine Viertelstunde früher oder später über die Brücke gegangen! Hättest du sie da gesehen? Und wenn du sie nicht gesehen hättest, wärest du ihr nicht nachgegangen und wenn du ihr nicht [155] nachgegangen wärest, hättest du dich nicht in sie verliebt. Glaube mir, sie wird sich auch ohne dich aus ihrer Verlegenheit heraushelfen.“

Ich schwieg, denn da mir die Worte meines Freundes ziemlich überzeugend zu sein schienen, wusste ich auch gar nichts zu erwidern.

Das Talglicht war fast zu Ende gebrannt und es war nur noch ein winziges Stückchen übrig. Johannes stand daher auf, kleidete sich aus und legte sich zu Bette. Von meinen Augen war unterdessen der Schlaf völlig gewichen. Das Licht flackerte noch einmal auf und erlosch. „Gute Nacht!“ sagte Johannes, drehte sich auf die andere Seite und laut schnarchend schlief er ein.

Vor meiner aufgeregten Phantasie erschienen nun Tausend verschiedenartige Bilder, deren jedes sonderbarer als das andere war. Es war das weder ein Traum noch eine Erscheinung, sondern etwas zwischen beiden. In der Dunkelheit und Stille, in der ich mich befand, machten die Weissagungen meines Freundes einen mächtigen Eindruck auf mich. Vor meinen Augen erschienen fortwährend Särge, Gräber, Trauerkleider, Begräbniskerzen und Totengerippe, die mit höllischem Händeklappern um mich herum tanzten. Ein kalter Schweiss rieselte mir über die Stirn, erschrocken bedeckte ich meinen [156] Kopf mit dem Mantel, aber auch da hatte ich keine Ruhe und bald wurde mir unter dem Mantel das Atmen schwer. Ich schämte mich Johannes aufzuwecken und verbrachte in solchen Qualen die Stunden, die noch bis zum Morgen übrig waren.

Endlich begann allmälig das Tageslicht durch das Fenster einzudringen, es erklang melancholisches Glockengeläute. Was weiter geschah, weiss ich nicht mehr, wahrscheinlich schlief ich ein.

IV.

Als ich am nächsten Morgen ausging, beeilte ich mich vor allem auf der Post meinen Geldbrief in Empfang zu nehmen. Ich beeilte mich jedoch keineswegs so sehr, um Johannes oder mir selbst so schnell wie möglich aus der Not zu helfen, sondern vielmehr um ihr, der Fremden, die ich jedoch schon mit der ganzen Glut der ersten Liebe liebte, meine opferwillige Hingebung zu beweisen.

Nach Empfang des Geldes bestieg ich sofort eine Droschke und fuhr zu einem Viktualienhändler, wo ich verschiedene Esswaren und – ich muss schon meinen Leichtsinn eingestehen – auch eine Flasche Champagnerwein kaufte. Mit diesen Sachen fuhr ich zu [157] Marie. Sie war traurig und ihr Gesicht noch blasser als gestern. Auf dem Tische bemerkte ich keinerlei Spuren eines Frühstücks und es war augenscheinlich, dass sie noch nichts genossen hatte. Den beiden Weibern schien mein Kommen nicht zu gefallen und sie brummten etwas vor sich hin, wagten es jedoch nicht ihrem Unwillen in lauten Worten Ausdruck zu geben. Meine gestrige Drohung musste gewirkt haben. „Gebt schnell die Theemaschine her!“ rief ich mit gebieterischem Tone.

Zu unserem Ergötzen imponierten die Studenten durch ihre Uniform und ihren Degen und gemeine Soldaten salutierten sogar vor uns, was uns besonders schmeichelte, wenn wir mit unseren Liebchen spazieren gingen.

Als ich meine Esswaren ausgepackt hatte, bemerkte ich, dass Marie viel munterer geworden war. Es war leicht zu erkennen, dass sie hungerte und die mitgebrachten Sachen Appetit bei ihr erregten.

Ach, dieser Hunger! Gott behüte meinen schlimmsten Feind davor!

Während des Essens erheiterte sich allmälig unsere Stimmung, ja, wir begannen sogar zu scherzen und beim Glase Thee schienen die schmerzlichen Eindrücke des gestrigen Tages fast aus unserem Gedächtnisse zu schwinden.

[158] Als wir so zusammen plaudernd dasassen, fielen plötzlich meine Blicke auf das Klavier.

„Marie!“ sagte ich, „darf ich Sie bitten mir etwas vorzuspielen?“

Allerdings dachte ich dabei an ihre Trauer und wollte mich schon deswegen entschuldigen, unterliess es jedoch.

Marie setzte sich ohne ein Wort zu sagen ans Klavier und begann das allbekannte „Requiem“ von Mozart zu spielen. Als sie zum vierten Teile gelangte, vergass ich mich und ich weiss wirklich nicht, ob es die herrliche Musik des genialen Maestro oder Mariens Spiel war, das mich so mächtig ergriff – ich weiss nur, dass ich vom Stuhle aufsprang, wie ein Wahnsinniger ihre Kniee umfasste und sie zu küssen begann.

Marie wehrte mir nicht, sie hob ruhig ihre Finger von den Tasten auf und als ich sie da anblickte, bemerkte ich zwar Thränen in ihren Augen, aber auch ein Wonnelächeln, welches um ihren Mund spielte.

„Marie!“ sagte ich feierlich, „nicht wahr, du gehörst mir und ich dir? Nicht wahr, dieses Requiem war der letzte Ausdruck deiner Trauer und dann wirst du mit mir froh und glücklich sein?“

[159] „O heiss wünsche ich, dass es so sein möchte, wie du sagst!“ flüsterte sie seufzend.

„Was bedeutet dieses „Ich wünsche“? Liegt es nicht in deiner Macht zu wünschen und diesen Wunsch auszuführen? Hast du nicht die Freiheit, zu lieben, wen du willst?“

Anstatt mir zu antworten, wandte sich Marie von mir ab und fing an zu weinen. Ich dachte, dass ihr der Schmerz um den Verlust der geliebten Mutter diese Thränen aus den Augen presse, aber in der Folge sollte ich erfahren, dass ich mich geirrt hatte.

„Ach, Michael!“ begann sie plötzlich, „du weisst nicht, wie sehr ich dich liebe und doch bin ich deiner Liebe nicht würdig. O mein Teurer, warum bin ich dir begegnet? … Du raubst mir das Leben!“

Ihre Worte verwirrten mich ganz und gar.

„Michael!“ fuhr sie fort, „du siehst, wie sehr, wie heiss ich dich liebe, aber höre: Du musst mich rauben, entführen, weit, weit fort von hier!“ Sie fiel mir an die Brust und küsste mich.

„Marie!“ sagte ich, „du kannst an meiner Liebe nicht zweifeln, aber nie würde ich mich entschliessen, dich zu entführen. Ich will nicht eine Geliebte, aber eine rechtmässige, teure Gattin in dir haben. Ja, in ein paar Wochen [160] sollst du die meinige werden! Bist du bereit, mit mir alle Missgunst und Prüfungen des Lebens zu ertragen?“

„O selbst im dunklen Gefängnisse mit dir zu leben wäre ein Glück für mich!“

Die seelischen Erschütterungen, welche in so kurzer Zeit auf einander gefolgt waren, erfüllten mich mit Schrecken und wirkten nachteilig auf meinen Körper. Ich brauchte Luft und Ruhe, wenn ich nicht erkranken wollte, besonders da mich von Zeit zu Zeit ein Frösteln überkam, als sei ein Fieber im Anzuge. Ich küsste unzählige Male Mariens Hand, verliess sie und ging nach Hause.

V.

Glücklicherweise erkrankte ich nicht, aber mein Herz war überwältigt und meine Liebe zu Marien entbrannte mit jedem Tage mehr. Täglich besuchte ich sie zwei oder drei Mal in ihrem Stübchen und verbrachte wonnige Stunden mit ihr, die allerdings nicht immer frei von erschütternder Betrübnis waren. Ja, jemehr in Mariens Herz die Liebe zu mir entbrannte, desto trauriger und besorgter schien sie zu werden, desto öfter entschlüpften ihren Lippen verzweiflungsvolle Worte, deren ernsthafte Bedeutung ich damals leider nicht verstand.

[161] „O entführe mich von hier, mein Teurer! Fliehe mit mir weit, weit weg von hier! O, wenn du mich nicht raubst, werde ich nie die Deine werden! Was zögerst du? Was wartest du hier?“ Diese und ähnliche Ausrufe und Fragen vernahm ich jeden Tag aus ihrem Munde und ein verzweiflungsvoller Trübsinn lag jedes Mal in ihren Blicken, wenn sie solche Worte an mich richtete. Leider, leider verstand ich damals diese Worte nicht und obgleich eine dunkle Ahnung mein Herz schwer plagte, legte ich ihrer verzweifelten Rede keine Bedeutung bei.

So vergingen mehrere Wochen, während welcher uns die Liebe immer enger an einander schloss, sich aber auch unsere beiderseitige Unruhe steigerte. Marie schien unsere Heirat beschleunigen zu wollen, mir aber war es unmöglich, ihren Wunsch so schnell zu erfüllen, denn meine Lage gestattete es mir nicht, und so verschob ich die Hochzeit bis zur Herbeischaffung der nötigsten Existenzmittel noch einige Wochen. Dieser Aufschub schien sie sehr zu beunruhigen, sie bat mich wieder, sie zu entführen und bestürmte mich von neuem mit ihren für mich unerklärlichen Bitten.

Eines Tages kehrte ich noch mehr als gewöhnlich aufgeregt und ermüdet nach Hause [162] zurück, wo ich Johannes nicht antraf. Ich legte mich sofort zu Bette und nach wenigen Minuten schlief ich ein, aber mein Gott, was war das für ein Schlaf! Mehrere Male erwachte ich und schlief wieder ein und träumte von Dolchen, von Gift und von Blut. Als ich endlich am Morgen aufwachte, empfand ich nicht einmal das Bedürfnis, Thee zu trinken oder sonst etwas zu geniessen. Eine unsichtbare Kraft zog mich zu Marien hin. Ich kleidete mich schnell an, ergriff meinen Hut, bestieg die erste mir zu Gesicht kommende Droschke und befahl dem Kutscher, so eifrig wie möglich seinen Gaul anzutreiben. Obgleich das arme Tier aus allen Kräften dahintrabte, so lief es mir doch noch zu langsam, denn die Sekunden schienen mir an diesem Morgen Stunden zu sein. Endlich gelangte ich bei Mariens Wohnung an und lief schnell die Treppe hinauf. Im Vorzimmer hörte ich ein schnelles, verwirrtes Gespräch mehrerer Personen, unter denen sich auch zwei oder drei Polizeibeamte befanden. Ich war wie versteinert. Mir entgegen kam Mariens Wohnungswirtin und sagte:

„Die Deutsche lässt Ihnen ein langes Leben wünschen!“

Ihre Worte waren mir ganz und gar unverständlich.

[163] „Was plapperst du?“ rief ich halb rasend und wie in der Meinung, als sei das Alles noch eine Fortsetzung meiner Nachtträume.

„Ja, junger Herr!“ bestätigte die andere Alte, „unsere Deutsche hat heute Nacht Gift genommen. Gott mache sie selig! Wir wussten gar nichts davon, aber als wir heute morgen die Theemaschine in ihr Zimmer trugen, sehen wir, dass sie noch unerwacht im Bette liegt, was früher niemals vorkam. Sie stand immer sehr früh auf, die Arme! Als wir uns dem Bette nähern und sie wecken wollen, was sahen wir da! Ihr Gesicht ist blass, die Augen halb geöffnet, der Körper erstarrt. Ich lief zum Hausknechte …“

Ich vermochte ihre Erzählung nicht weiter anzuhören, trat in das Zimmer ein und was sehe ich!

Ach, das Schreckliche solcher Bilder kann man wohl empfinden, aber nicht schildern!

Einer der Polizeibeamten übergab mir einen versiegelten an mich adressierten Brief.

Mit zitternden Händen öffnete ich denselben und las Folgendes:

„Verzeihe mir, geliebtester, teurer Michael! Verzeihe mir, dass dir die kurze Bekanntschaft mit mir nichts als Trauer und Sorge bereitet hat, aber höre mich an und du wirst sehen, [164] wie ich dich liebe. Ja, um nicht einem Andern anzugehören, sterbe ich und zwar mit deinem Namen auf den Lippen! Meine Eltern verlobten mich schon vor ein paar Jahren mit dem einzigen Sohne ihres alten Freundes. Ich erkannte ihn als meinen Bräutigam an, ja, so lange ich dich nicht kannte, dachte ich sogar, dass ich ihn lieben könne. Gestern, bald nachdem du von mir weggegangen warst, kam er hier an und erinnerte mich an den Wunsch unserer Eltern und an meinen Schwur. Die ganze Zeit, die er bei mir weilte, schwieg ich und vermochte ihm nicht ein einziges Wort zu erwidern. Mein Wort zurückzunehmen, wäre ein Eidbruch und seinen Antrag anzunehmen übersteigt meine Kräfte. Lebe wohl, mein Einziger! Verwünsche mich nicht und wenn es dir möglich, gedenke mitunter der unglücklichen Marie! Nun, du erwachsenes, naives Kind, verstehst du jetzt, warum ich dich so stürmisch bat mich zu rauben, mich zu entführen? Ja, es war in deiner Macht mich zur Deinen zu machen, zu deiner Gattin, denn deine Braut konnte ich nicht länger sein, denn – ich war verlobt!“


Anmerkungen

  1. Das Wort bedeutet in der Petersburger Spitzbuben-Sprache „Striezen“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ehrfucht
  2. Vorlage: nich