Meine Seele erhebet den Herrn/a) Lehrerin der „Kleinen Schule“

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Meine Seele erhebet den Herrn
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a) Lehrerin an der „Kleinen Schule“ 1857–1861


Aus der Chronik des Mutterhauses


1857 Berufung des Vikars Lotze von der Missionsanstalt als Konrektor an die Diakonissenanstalt.
Berufung eines eigenen Anstaltsarztes, Dr. Enzler.
Eröffnung der Pfründeanstalt im Dorf.
Erscheinen des ersten „Korrespondenzblattes der Diakonissen von Neuendettelsau“.
Im Spätsommer längere Erkrankung Löhes.
1858 2. Febr. Einsegnung von Fräulein Rehm zur Oberin.
Beginn der Paramentik und der Hostienbereitung.
Beginn des Betsaalbaues.
1859 Beginn der Anstaltsgärtnerei.
24. Dez. Erste Christvesper im Betsaal.
1860 Pfingstsonntag: Erster Hauptgottesdienst im Betsaal.
Pfingstmontag: Erste Abendmahlsfeier.
17. Juli–17. September 1860 Suspension Löhes.


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Zur Einführung


 Schon seit 1855 hatte Löhe auf Bitten befreundeter Familien auch unkonfirmierte Töchter aufgenommen, um ihnen Erziehung in kirchlichem Sinn und gute Allgemeinbildung zuteil werden zu lassen. Zugleich war ihm diese „Kleine Schule“ das Übungsfeld für die Diakonissen, die er zu Lehrerinnen ausbilden wollte. Von Seiten des Staates gab es damals weder Höhere Mädchenschulen noch Lehrerinnenbildungsanstalten. Das Schulwesen der Diakonissenanstalt umfaßte bald die „Kleine“ oder „Rote Schule“ für Kinder, die „Grüne Schule“ für konfirmierte Mädchen und die „Blaue Schule“ für angehende Diakonissen. Die Benennungen kamen von dem farbigen Band, das die Schülerinnen oben am schwarzen Sonntagskleid trugen. Die Grüne Schule war in der Anfangszeit eng mit der Blauen Schule verbunden. Am Aufbau des Schulwesens war neben Löhe auch Konrektor Lotze beteiligt, der vorher an einem Knabeninstitut in Thüringen Erfahrungen gesammelt hatte.

 Alle Hausbewohner waren in „Riegen“ eingeteilt, d. h. in Gruppen, deren Glieder sich inbezug auf äußere Ordnung und auch innerlich fördern sollten.

 Schon bei der Einweihung des Mutterhauses hatte ein „Liebesmahl“ im Betsaal stattgefunden, ein einfaches Abendessen, das die Hausgenossen und Freunde der Anstalt mit Armen aus der Gemeinde vereinte und bei dem angesichts des Altars mit den brennenden Kerzen Lob- und Danklieder gesungen, Bibelworte und geistliche Gedichte vorgetragen wurden. Dieses erste Liebesmahl in Erinnerung an die apostolische Zeit wurde noch manchmal wiederholt, vor allem an Gründonnerstagen.

 Im Spätsommer 1857 erlitt Löhe während einer Wochenpredigt eine leichte Berührung. 1858 und 1859 gebrauchte er Karlsbad. Aus verschiedenen Anlässen kam es 1858–1860 zu Spannungen zwischen ihm und der Kirchenleitung. Zwei dieser Anlässe waren die „Salbung“ und die Kinderbeichte; der letzte Anlaß, eine Trauungsverweigerung, führte 1860 zu zweimonatlicher Suspension.

|  Die Salbung nach Jak. 5, 14–15 hatte Löhe 1856 einer Kranken im Diakonissenhaus auf deren Bitte erteilt. Einige geistliche Gehilfen Löhes, die vorher belehrten Kirchenvorsteher und einige Diakonissen waren dabei zugegen; man sah nicht das Öl, sondern das Gebet als das Wesentliche an und stellte die Heilung Gott anheim. Die Ordnung jener Feier wurde durch Inspektor Bauer als ein liturgischer Versuch in Nr. 12 des Korrespondenzblattes der Gesellschaft für Innere Mission 1857 veröffentlicht. Weitgehende Entrüstung über das „katholisierende“ Vorgehen Löhes veranlaßte das Kirchenregiment, ihm eine Wiederholung der Salbung ausdrücklich zu untersagen. Das öffentliche Urteil über Löhes Verfahren lautete verschieden. (Siehe Deinzer, Wilhelm Löhes Leben, 2. Band, S. 470.)

 Die Kinderbeichte war keine allgemeine Einrichtung. Löhe hatte nur gelegentlich im Unterricht gesagt, daß jeder bußfertige und gläubige Mensch absolviert werden könne, auch wenn er noch nicht konfirmiert sei. Geistlich geweckten Kindern in den Schulen des Diakonissenhauses hatte er dann auf ihre Bitte hin Beichte und Absolution gewährt, weil kein Schriftgrund dagegen vorliegt. Auf seine Vorstellungen hin wurde ihm im März 1859 von der Kirchenbehörde gestattet, zu handeln wie bisher. (Siehe Deinzer, Wilhelm Löhes Leben, 2. Band, S. 476 ff.)


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Briefe von 1857–1861


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 13. April 1857

 Der Osterfriede ziehe ein in Ihr Herz und Haus!

 Meine liebe Mutter, ich bin nun schon über acht Tage eingesegnet und habe Ihnen noch gar nicht geschrieben, noch gar nichts erzählt von dem schönen Tage, fast dem schönsten meines Lebens. Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt für mich, eine Zeit des fröhlichen Dienens und Arbeitens im Herrn. Und was ist das für eine Gnade hier dienen zu dürfen, wo man, indem man das wenige, was man hat, andern gibt, selbst so viel empfängt! O liebste Mutter, wie hab ich solche Gnade verdient! Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die der Herr an mir getan hat. Ich habe mich nun mit allem, was ich bin und habe, in Seinen Dienst gestellt. All meine Arbeit ist nun ein Opfer, das ich Ihm bringe. Als Priester steh ich vor meinem Gott und tue mit allem, was ich tue, eitel priesterlich Werk. Meine Füße sind nun gestellt auf den schmalen Weg, und den werd ich nimmer verlassen, so lange ich lebe. Meine Seele hab ich schon verlobt, und Sein soll sie sein in Ewigkeit.

 Die Feierlichkeit der Aussegnung war die gewöhnliche. Wir empfingen auch das heilige Abendmahl. Vier Schwestern wurden mit mir ausgesegnet, eine zu gleichem Berufe wie ich, und drei, um in der hiesigen Blödenanstalt zu dienen. Die Rede, die Herr Pfarrer an uns hielt, werde ich Ihnen einmal schreiben oder vielleicht erzählen. Unter anderm sagte er auch: „Ihr tut zum Teil dieselben Werke, die ihr vor eurer Einsegnung auch getan, aber dennoch ist ein großer Unterschied. Bisher tatet ihr sie freiwillig, nun bringt ihr sie als Opfer dar. Wenn ein Bäcker seine mit Teig bedeckten Hände aufhebt, so kann er auch sprechen: Siehe da, mein Gott, ich bin auch ein Priester, ich bringe Dir diese meine Arbeit zum Opfer“ etc.

 Wie schön war es, daß ich gerade am Palmensamstag eingesegnet wurde und Marie am Sonntag konfirmiert! Der Herr gieße Seinen reichen Segen aus auf uns beide! Gewiß hat auch der selige Vater und Ludwig für uns gebetet. Die darauffolgende Nacht habe ich unsern lieben seligen Ludwig im Traum gesehen.

|  Die heilige Passionswoche ist nun vorüber, und schon ist der zweite Ostertag da. Möge Segen triefen in unser aller Herzen von der schönen heiligen Festzeit. Wir haben seit vorigen Dienstag alle Tage Predigt, mehreremal täglich zweimal. Solch ein Gedränge in unserm Kirchlein habe ich noch nicht gesehen wie in diesen Tagen. Das ganze Dorf ist voll. Die Leute müssen auf Stroh schlafen.

 Nun haben wir noch drei Wochen Ferien. Obwohl ich viel zu tun habe, wird mir doch die Zeit schrecklich lang vorkommen, um so mehr als unser Haus ziemlich leer wird...

Ihre dankbare Therese.


An ihre Schwester Auguste.
Neuendettelsau, den 17. Juli 1857
 Meine herzlich geliebte Auguste, Friede sei mit Dir! ...Wie sehr ich Dich gestern hieher gewünscht habe, kann ich gar nicht sagen. Hättest Du nur diese Stunde mit anhören können! (Verzeih, daß ich sogleich ohne allen Übergang anfange also zu reden.) Wir haben nämlich gestern einen neuen Unterrichtsgegenstand begonnen, und die noch übrigen drei Monate dieses Semesters sollen zu geschichtlichen Sachen, zu Bibel- und Kirchengeschichte verwendet werden. So fing denn Herr Pfarrer gestern die Schöpfungsgeschichte an auszulegen; doch darf ich eigentlich nicht so sagen, denn Herr Pfarrer spricht: „Ich lege nichts aus, ich weiß ja nichts, sondern ich bemerke bloß.“ Wir haben da auch Gelegenheit gehabt zu sehen, wie Herr Pfarrer selber immer vorwärts schreitet in der Schrifterkenntnis usw. Denn so herrlich die Stunde war, der ich vor zwei Jahren beiwohnte, als das 1. Kapitel des 1. Buches Mose gelesen wurde, so war doch die gestrige noch weit erhabener, tiefer und eingehender. Man wurde ganz hingerissen, hineingezogen in dies Schauerliche, das dieses Kapitel bietet. Gedanken wurden hervorgerufen, die einem noch nie gekommen sind, obwohl sie sich eigentlich von selber verstehen. Dazu sagt uns Herr Pfarrer einzelne Worte im Grundtext, die da oft eine viel schönere, tiefere Bedeutung haben als in der manchmal fehlerhaften Übersetzung. „Hiebei mögen Sie erwarmen für Ihr Bibellesen“, sagte Herr Pfarrer am Schluß der Stunde. In der Tat muß ich auch gestehen, daß ich kaum| jemals für einen Abschnitt der Bibel so warm geworden bin als gestern für das großartige 1. Kapitel des 1. Buches Mose, von welchem jedoch vorderhand nur die neunzehn ersten Verse gelesen sind. ...Ich habe überhaupt in der letzten Zeit die große Gnade, mehr Lust als je zum Worte Gottes zu haben. Ich möchte den ganzen Tag in der Bibel lesen. Das ganze Haus liest, in Partien geteilt, alle Tage gemeinschaftlich eine oder eine halbe Stunde (außer der Stillen halben Stunde), und bei den Kindern ist natürlich Biblische Geschichte ein Hauptlehrgegenstand. Die wissen aber auch die heiligen Geschichten, daß es eine Freude ist.

 Wir singen bei allen unsern Hausgottesdiensten Psalmen in zwei Chören. Es liegt in den Psalmentönen eine Einfachheit und Hoheit, die selbst ein für Musik stumpfer Mensch herausfühlt. Zu einer Harfe lauten sie gewiß noch einmal so schön; daher wir dieses Instrument in unserer Anstalt sehr vermissen... Gegenwärtig handelt Herr Pfarrer in den sonntäglichen Predigten nicht die Evangelien ab, sondern andere Gegenstände, die die Gemeinde notwendig wissen muß und die zu erwähnen sonst wenig Gelegenheit ist: das erste, was da vorgenommen wurde, ist der Hausgottesdienst, von welchem denn auch die beiden letzten Predigten handelten. „Aus dem Gottesdienst fleußt christliches Leben, und aus dem Leben fleußt wiederum der Gottesdienst“, so hieß ein Satz der Predigt: eine Wahrheit, die sich gewiß tausendfach bestätigen läßt. Es ist wirklich eine wichtige, einflußreiche Sache um den Hausgottesdienst.

 Die günstige Witterung, welche wir jetzt haben, erlaubt es wieder vielen Fremden, Dettelsau zu besuchen. Da spürt man oft des Sonntags den Mangel einer größeren Kirche, weshalb Herr Pfarrer seit einigen Wochen eine Sammlung zur Erweiterung unseres Kirchleins veranstaltet hat. Es sind schon fast 100 fl. beisammen und wäre sehr zu wünschen, daß die Summe rasch zunähme. Möchtest Du vielleicht so gut sein und in Kreisen, denen Dettelsau kein Dorn im Auge ist, dies bekannt machen?

 Von Deinen nächsten Ferien mußt Du einige Tage hier zubringen. ...Mit Dir sei die Gnade des Herrn!

Deine treue Therese


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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 24. Juli 1857

 Herzallerliebste Mutter, Friede sei mit Ihnen! Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, daß ich diesmal so lange nichts habe von mir hören lassen, aber es war mir wirklich kaum möglich, eine Zeit zum Briefschreiben zu erübrigen, zumal in den letzten Wochen, da sich die Arbeit durch Krankheit zweier Lehrerinnen etwas gemehrt hat. Daß ich mich, wenn auch nicht brieflich, doch anderswie mit Ihnen beschäftigt habe, können Sie denken. Ich freue mich diesmal gar sehr auf die Ferien, die ich vielleicht in Eichstätt diesmal zubringen darf, besonders macht mich der Gedanke recht fröhlich, mit Ihnen fleißig Psalmen singen zu können. Wir singen solche täglich beim Abendgottesdienst, und wir vermissen dabei nur die Harfe (Davids Kinor), die hier durch kein anderes Instrument, auch nicht durch den bescheidensten Ton der Physharmonika ersetzt wird. Es gibt nichts Einfacheres und zugleich Erhabeneres als den Psalmengesang.

 Nun stehen wir schon im vollen Sommer, die Erntezeit beginnt schon; das Herz geht einem auf, wenn man hinausgeht, sonderlich hier, denn die hiesige Gegend hat in der Tat etwas Eigentümliches, was mir eigentlich erst in der letzten Zeit auffällt. Die ganze Umgebung scheint zu unserm Hause und zu dessen Ziel zu passen. Sie werden es gewiß auch finden, wenn Sie einmal hieher kommen.

 Freilich muß die Hoffnung, die ich hiemit ausspreche, immer geringer werden, weil mein oftmaliges Bitten noch gar keinen Anklang gefunden hat. Nur jetzt, gerade jetzt wenn jemand von den Deinigen hier wäre, denke ich oft um des gegenwärtigen Unterrichtes willen, den Herr Pfarrer gibt und der von einer Herrlichkeit und Hoheit ist, daß, wenn man da zuhört, man mit fortgerissen und emporgezogen wird. So habe ich noch nie die vier ersten Kapitel des 1. Buches Mose angeschaut, wie ich sie jetzt anschaue; solche Höhe und Tiefe habe ich nie darin gefunden, wie jetzt nach diesen Stunden. Mir ist nur leid, daß ich sie nicht aufschreiben kann und Ihnen schicken, denn ich habe keine Zeit, aber vielleicht kann ich mir in den nächsten Ferien das Heft von Doris Braun, die die beste Nachschreiberin ist, entlehnen. Es war ganz rührend, wie| neulich drei Pfarrer, die in der Stunde waren, mit größtem Eifer aufschrieben.

 Vorigen Mittwoch feierten wir das Gedächtnis der Maria Magdalena, die ich nun auch mit ganz anderen Augen anschaue als bisher. Sie ist wirklich nach Maria, der Mutter Gottes, das größte Weib des Neuen Testaments: die Letzte am Kreuz, die Erste am Grabe, zeigt sie eine so glühende Liebe zum Herrn, daß darin keine ihr gleichkommt. Sie ist die Erste unter der Sonne, die den Auferstandenen sehen darf, und erscheint uns überhaupt als eine vom Herrn Hochbegnadigte. Heute feiern wir Jakobus des Größeren Todestag; obwohl eigentlich erst morgen sein Todestag ist, wurde doch heute (Freitag) der Gottesdienst gehalten. Der nächste Sonntag ist wieder ein sehr reicher Tag: da ist zuerst hier Gottesdienst mit Predigt, dann in Reuth, dann in Reuth Christenlehre und zuletzt um 5 Uhr ist hier Vesper.

 Herr Pfarrer hat gegenwärtig sehr zahlreiche Besucher. Die Schwester seiner seligen Frau ist hier mit drei Kindern. Schade, daß Marianne nicht hier ist, die muß nämlich in Reichenhall eine Kur für ihre Augen gebrauchen. Sie darf dieselben nicht im geringsten anstrengen, muß eine Brille tragen. Nun ist sie schon, glaube ich, fünf Wochen fort und ist noch keine Aussicht da, daß sie bald zurückkehren könnte. Gewiß keine Kleinigkeit, so lange vom Vater getrennt zu sein.

 Liebste Mutter, eine herzliche Bitte: daß Sie und das ganze Eichstätter Pfarrhaus fleißig möchten beten für unsern teuern Herrn Pfarrer, sonderlich um noch lange Erhaltung seines Lebens. Er spricht so viel von Müdwerden und Altwerden, daß es einem könnte bange werden; doch der Herr wird’s versehen.

 Auch meiner, liebste Mutter, vergessen Sie nicht im Gebet. Mich will oft mein Beruf drücken, weil ich meine Untüchtigkeit und den geringen Erfolg sehe; das ist Mangel an Gottvertrauen und viel Hochmut. Beten Sie auch für mich um rechte Geduld und Sanftmut.

 Unsere griechischen Studien haben seit vierzehn Tagen wieder begonnen, nachdem sie seit Ostern ausgesetzt waren;| es ist freilich nur eine Stunde, die wir wöchentlich haben, doch meint Herr Pfarrer, daß wir’s lernen könnten und also einen Beweis liefern, daß das weibliche Geschlecht keineswegs so dumm und unfähig ist, wie man gewöhnlich denkt... Die herrliche Aussicht, das Neue Testament einmal griechisch lesen zu können, hält immer den Mut aufrecht...

 Friede sei mit Ihnen und mit Ihrer dankbaren Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 19. September 1857
 Meine liebste Mutter, Gott zum Gruß! Gottlob, ich kann Ihnen ziemlich gute Nachricht von unserm lieben Herrn Pfarrer geben: er ist nun schon mehrere Tage nacheinander zu uns herausgekommen, freilich immer nur auf kurze Zeit. Auf Stunden von ihm werden wir höchstwahrscheinlich in diesem Semester nicht mehr hoffen können, denn er ist immer noch sehr schwach. Auch mit dem Predigen wird’s so schnell noch nicht gehen. Wenigstens kann er noch nicht alle Predigten übernehmen. Neulich zwar hat er eine kurze Ansprache vor der allgemeinen Beichte gehalten; was das für einen Eindruck machte, kann ich Ihnen nicht sagen. Es war, als wolle er uns nun den Kern von der Fülle der Erfahrungen geben, die er während der Krankheit gemacht hat. Wir wurden hingewiesen auf die Geheimnismeere unserer unerkannten Sünden. Ich muß Ihnen wie von vielem anderen mündlich erzählen und, so Gott will, wird das recht bald geschehen, denn bis zum 9. Oktober sind die Prüfungen an unserer Schule zu Ende; die der Diakonissenschülerinnen ziehen sich bis zum 15. hinaus. Ich weiß noch nicht, ob ich schon am 10. kommen kann, jedenfalls werde ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis so bald als möglich kommen, denn ich freue mich diesmal auf die Ferien, ich kann Ihnen nicht sagen wie. Nun hätte ich aber eine Bitte, die ich kaum auszusprechen wage, doch will ich es tun, da Sie mir dieselbe ja ohne weiteres abschlagen können, wenn ihrer Erfüllung irgendein Hindernis im Wege steht: nämlich, ob ich eine aus unserem Hause mitbringen dürfte. Cäcilie Regensrecht heißt sie und ist aus Breslau, daher sie nicht in die Ferien kann. Ich habe ihr natürlich noch nichts| davon gesagt und bin ganz Ihrer Entscheidung gewärtig. Wenn’s irgendwie genieren könnte, komme ich allein. Übrigens hätten Sie Ihre Freude an dem liebenswürdigen Mädchen...

 Beten Sie recht, daß die Prüfungen gut vorübergehen. Mir ist noch recht bange.

Ihre dankbare Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 2. November 1857

 Liebste Mutter, Friede und Gnade sei mit Ihnen! Mein Versprechen, Ihnen gleich nach meiner Ankunft zu schreiben, will ich nunmehr erfüllen und kann Ihnen da, was mich anlangt, nur Gutes berichten, nicht so über unseren teueren Herrn Pfarrer, dessen Gesundheit vor acht Tagen einen bedeutenden traurigen Rückfall erlitten, so daß er Anordnungen für seinen Tod traf. Gottlob, jetzt geht es besser, doch darf er noch nicht aufstehen. Ich hatte das Glück, ihn auf einige Augenblicke zu sehen, da ich ihm von Adolf Trauben brachte. Er war sehr freundlich, fragte mich, ob ich mich ganz erholt habe, und sagte, daß ich sehr gut aussehe usw. So müssen wir nun den Kurs ohne ihn beginnen! Ich begrüßte unser liebes Haus und seine Bewohner vorgestern abend mit solch wallendem, freudevollem Herzen, als wäre ich lange getrennt gewesen, aber nun mußte ich diese Nachricht hören, und dazu, daß auch Marianne krank sei, kaum ein Wort zu sprechen vermöge, auch daß Käthe Hommel (Lehrdiakonissin) zu Bett liege usw. Das waren keine erfreulichen Eindrücke, und nun die vielen neuen Gesichter, die man mit dem Gedanken, daß sie künftige Schülerinnen sind, ansehen muß. Es ist jetzt nicht schön im Haus. Doch bin ich fröhlich und will auch getrost sein.

 Zum Schluß noch meinen herzlichen Dank für die mir erwiesene Liebe während der Ferien. Ich werde bald wieder schreiben, da sich jetzt über die Stunden noch gar nichts berichten läßt. Himmelhohe Mädchen, mehrere Köpfe größer als ich, kommen in unsere Schule, zum Teil schon mit sehr guten Kenntnissen versehen, wenigstens dem Anschein nach. Ursache genug, daß es einem bange werden könnte.

 Mit herzlichen Grüßen

Ihre dankbare Therese.


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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 18. November 1857

 Meine liebste Mutter, „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und Seine Güte währet ewiglich.“ ...Kaum kann ich mir’s denken, daß, seitdem ich Ihnen den letzten Geburtstagsbrief geschrieben, schon ein volles Jahr vergangen sein soll. Ich denke, es wird Ihnen auch so gehen, und dieselben Gefühle von dem raschen Dahinfahren unseres Lebens, die beim Rückblick auf ein vergleichsweise kurzes Leben wie das meinige aufsteigen, müssen in erhöhtem Maße wiederkehren beim Rückblick auf ein langes Leben wie das Ihrige. ...Nah und fern denken an diesem Tage dreizehn Kinder Ihrer in fürbittender Liebe und freuen sich, daß sie an einer solchen Mutter das vierte Gebot erfüllen durften und dürfen.

 „Alle eure Wünsche, die ihr in dem Herrn tut, lasset fortan zu Gebeten werden“, sagte Herr Pfarrer einmal, und so soll auch mein Geburtstagswunsch ein brünstiges Gebet sein. ...

 Unser teurer Herr Pfarrer kommt nun wieder täglich ins Haus und will, wie er sagt, nach seinen schwachen Kräften etwas zum Ganzen beitragen, nämlich durch äußerst strenge Visitationen.

 Obgleich nun aber Herr Pfarrer dies tun kann, so ist dennoch seine Gesundheit noch sehr delikat; aber wir danken Gott, daß es so weit ist. Denken Sie, am vorigen Sonntag haben wir eine Predigt von ihm gehört, die er diktiert hat und die Herr Konrektor Lotze vorlas. Sie handelte von der ersten Auferstehung und wird gedruckt werden. Heute las Herr Konrektor einen Vortrag über die Buße vor; wird auch gedruckt werden. Letzterer hat einen ganz gewaltigen Eindruck auf uns gemacht. So sorgt der treue Hirte für seine Schafe, auch wenn er sie nicht selbst weiden kann.

 Nun hat jede von uns Lehrerinnen etliche von den sechsunddreißig Kindern zur speziellen Aufsicht in Bezug auf äußere und innerliche Reinlichkeit bekommen. Die ganze Einrichtung wird immer anstaltsmäßiger, immer mehr tritt das Familiäre zurück.

 Ich habe, glaube ich, noch gar nicht gesagt, daß Marianne auch am Sterben gelegen und noch sehr krank ist. Das geht| natürlich dem lieben Herrn Pfarrer tief zu Herzen. Da helfe der Herr nach Seiner Gnade!...
Ihre dankbare Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 3. Januar 1858

 Geliebte Mutter, herzlichen Dank für Weihnachtsgeschenk und Geburtstagswunsch! Ich war sehr erfreut und bitte nur um Entschuldigung, daß ich nicht gleich in den Feiertagen geschrieben habe. Ich muß mich wundern, wie wenig ich in den letzten Tagen, obwohl doch keine Stunden waren, getan. Es ist doch recht gut, daß man an eine bestimmte und zwar reichliche Beschäftigung gebunden ist, denn außerdem wird der Mensch kraft der ihm angeborenen Trägheit sehr leicht verleitet, wenig oder nichts zu tun, wenigstens mir geht es so. Heut ist, liebe Mutter, ein wichtigerer Tag für mich, als der 22. Dezember war; vielleicht haben Sie daran gedacht, daß heute der 2. Januar ist, also mein geistlicher Geburtstag, mein Tauftag. ...

 Neujahrswunsch und Festbeschreibung bin ich Ihnen noch schuldig, und das soll auch jetzt folgen. Herr Pfarrer wünschte denen, die ihm gratulierten aus unserem Hause, daß sie alles, was in diesem Jahre kommen möge, für gut hinnehmen, weil es ja alles aus der Hand des Herrn kommt. Das ist denn auch mein Wunsch für Sie, geliebte Mutter. Wie leicht ist an der guten Hand Jesu Christi der Übergang vom alten ins neue Jahr! Wir haben (das Lehrerinnenkollegium) das neue Jahr wachend angetreten, denn eine Dame im Hause, Fräulein von Lepel, lud uns im Jahre 1857 zu sich, um ihren Geburtstag, der am 31. Dezember war, feiern zu helfen. Es wurde da auch der vom Silvesterabend unzertrennliche Punsch getrunken, eine seltene Erscheinung im Diakonissenhaus.... Nun soll das Schönste kommen: die Beschreibung unserer Weihnachtsfeier, nicht ausführlich, weil ich sie schon etlichemale für die, denen ich es schuldig bin, gemacht habe und noch etliche Male machen muß, doch einiges davon. Am schönsten war wohl der heilige Christtag selber, an welchem wir das heilige Abendmahl empfingen in der festlich geschmückten Kirche und der| liebe Herr Pfarrer zum ersten Mal wieder den Abendgottesdienst hielt, an welchen er einige Worte, zu uns geredet, anschloß. Ich kann nicht sagen, was dies für einen Eindruck auf uns machte, zum ersten Mal wieder eine längere Rede aus seinem Munde, noch dazu unter solchen äußerlich glänzenden Umständen (denn der Saal war prachtvoll geschmückt) zu hören. Ein Kandidat, der an der hiesigen Knabenanstalt arbeitet, sagte bei seiner Rückkehr: Nein, man meinte doch, man sei im Paradies gewesen. Unser Zeichenlehrer, Herr Schramm, hatte auch alles aufgeboten, den Saal so schön wie möglich zu schmücken. Er hatte wieder vier Apostel gemalt und mit denselben Herrn Pfarrer und uns überrascht. Alles war mit Kränzen umgeben und mit zahlreichen Lichtern besetzt. Am schönsten war die in der Mitte des Saales hängende Dornenkrone, ganz mit Efeugirlanden umschlungen und mit roten Rosen und weißen Winden besetzt. Ähnlich waren auch die Uhr und der siebenarmige Leuchter geziert. Am dritten Feiertag war erst die Bescherung der gesamten Bevölkerung des Hauses, nachdem die vorhergehenden Abende den Kranken unserer Anstalt und den Bewohnern des Pfründhauses im Dorf beschert worden war, auch die Armen des Dorfes am Heiligen Abend Bibeln und Gesangbücher empfangen hatten. Es war an jenem Abend ein großer Jubel, besonders unter unseren kleinen Kindern. Tagelang vorher war an einer prächtigen Krippe gearbeitet worden, in deren Hintergrund künstlich gemachte Felsen standen und ein ganzer Wald angebracht worden war, aus dem viele Engelsköpfe und goldene Sterne hervorschauten. In einem anderen Zimmer prangte der hohe Baum, den Herr Pfarrer selbst bewunderte, so schön war er. Goldene und silberne Nüsse, glänzende Glaskugeln schimmerten in lieblicher Abwechslung mit allerlei bunten Blumen, die wir selber gefertigt hatten. Bei alldem hatte ich an diesem Fest wieder eine besondere Freude, denn, denken Sie nur, der gütige Herr Korhammer schickte mir eine Fünf-Gulden-Banknote zu einer Bescherung für Arme... Das Beste, was ich von irdischen Gaben in diesen Tagen von hier bekam, hab ich noch nicht erwähnt, das ist nämlich eine Löhesche Postille. Die Kinder schenkten mir dieselbe zum Geburtstag. In herzlicher Liebe
Ihre dankbare Therese.


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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 24. Januar 1858

 Liebste Mutter, in allen meinen bisherigen Briefen habe ich nichts erwähnt von der in Eichstätt oft besprochenen Harfe. Heute höre ich zufällig von einem Kinde, daß unser Herr Konrektor Harfe spielen kann. Ich weiß, daß ein Wunsch sowohl Herrn Pfarrers als des übrigen Hauskollegiums durch den Besitz einer Harfe befriedigt würde. Darum bitte ich Sie recht herzlich, die in Leipzig befindliche, wenn es irgend möglich ist, der Anstalt zu schenken und vielleicht auch die Harfenschule zu schicken. Es ist ja freilich ein Opfer, das Sie damit unserem Hause bringen, aber wenn Sie die Wohltaten ins Auge fassen, die eines Ihrer Kinder in demselben empfangen und noch empfängt, so wird Ihnen das Opfer nicht zu groß vorkommen.

 Gestern abend beendigte Herr Pfarrer das Diktat über Kirchenschmuck mit einem Plan für einen zu gründenden Paramentenverein, welcher sich mit Fertigen von Altarbekleidungen etc. befaßt. Jedes Vereinsmitglied muß, so diktierte Herr Pfarrer, 1. spinnen, 2. stricken und Strümpfe stopfen und 3. weißnähen können. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mich spinnen gelehrt haben.

 In dankbarer Liebe

Ihre Therese.


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 16. Februar 1858
 Meine liebe Schwester, Friede sei mit Dir! ...Wenn ich acht Tage zurückgehe, so begegnet mir in Gedanken der 2. Februar, ein ereignisreicher Tag für das Diakonissenhaus, wie Du gleich hören wirst. Der Unterricht von Herrn Pfarrer oder vielmehr das Diktat, das uns in der letzten Zeit gegeben wurde, hatte zum Gegenstand „den Schmuck der heiligen Orte“. Zweck desselben war, in uns den rechten liturgischen Sinn in dieser Beziehung zu erwecken und uns zu veranlassen, mehr als bisher für den Schmuck der Kirchen zu sorgen, richtige Altar- und Kanzelbekleidungen zu fertigen, die Form der heiligen Geräte genau zu kennen etc. Zu dem Ende diktierte Herr Pfarrer einen Plan, den er sich in der vorhergehenden schlaflosen Nacht ausgesonnen, für eine zu bildende Akademie, die es sich zur Aufgabe macht, alle die im Diktat gegebenen| Anweisungen ins Leben treten zu lassen. Die Eröffnung dieses Paramentenvereins war an dem obgenannten Tage. Vorsteherin desselben ist Margarete Schmieg, eine allseitig begabte Jungfrau, die ebensogut Lehrerin als Haushälterin und als alles mögliche sein könnte. Unter ihren vier „Helferinnen“ ist auch Luise von Unold. Herr Pfarrer leitete das Ganze mit einem Gebet ein, das er uns satzweise vorsprach und wir nachbeteten. Wir baten in demselben, daß in allen den Diakonissen, die von hier ausgehen, der Sinn wohnen möge, daß sie in der einen Hand tragen die Ölflasche des barmherzigen Samariters (also mit aufopfernder Liebe dienen), in der andern aber das Nardengefäß voll köstlicher Salbe, damit man Jesum salbet und den Geruch Seiner Ehre verbreitet (also auch zur Verherrlichung Seiner Gottesdienste beitragen). – Bereits ist der Verein zweimal zusammengetreten und hat schon so viel geschafft, daß über den hiesigen Altar in der Pfarrkirche ein besseres Kleid kam. Sämtliche Hüllen desselben sowie auch die der Kanzel kamen nun in die Hände der Diakonissen. Eine Altarbekleidung nach Ostindien ist bereits im Laufe vorigen Sommers gefertigt worden, soll nun aber noch nach Herrn Pfarrers Wunsch mit Goldstickerei geziert werden. Wir nehmen Bestellungen von auswärtigen Pfarrern an. Wenn die Sache nicht einschläft, was ja doch nicht sein wird, so wird für unsere Kirche, die in diesem Stücke der römischen so weit nachsteht, viel Segen daraus entstehen. Das Zweite, was an jenem Festtage geschah, war ebenfalls eine Eröffnung. Alle außen dienenden Diakonissen nämlich sollen sich zu Kapiteln zusammenschließen, um die schwesterliche Gemeinschaft um so mehr aufrecht zu erhalten zu gegenseitiger Förderung. Nun war es schon längst unserer Vorgesetzten Wunsch, daß auch die hier dienenden Diakonissen sich zu einem solchen Kapitel zusammenschließen; die erste Zusammenkunft war nun auch am 2. Februar. Oberin ist Luise von Unold. Ich bin Protokollführerin. Wir lesen da gemeinschaftlich ein im Korrespondenzblatt vorgeschriebenes Kapitel aus der Bibel, sprechen von vorhandenen Mängeln, lesen auch Briefe von auswärtigen Schwestern.... Die höchste Feierlichkeit des 2. Februar aber fand am Abend statt: es war die Aussegnung unserer „Frau Oberin“ (denn so soll sie nun| genannt werden, nicht mehr „Frl. Rehm“), indem es schon längst als ein Mangel erkannt worden war, daß diejenige, die ihre Hände so oft segnend auf Diakonissenhäupter legt, selbst noch nicht ausgesegnet ist.

 Sie trat vor den Altar, begleitet von zwei Diakonissen, kniete da nach einer kurzen Ansprache von Herrn Pfarrer an sie nieder und ließ sich unter herrlichen Gebeten zuerst von Herrn Pfarrer, dann von Herrn Konrektor, dann von Herrn Inspektor die Hände auflegen. An diese Einsegnung schloß sich die von drei anderen Diakonissen an, unter welchen Doris Braun und die oben genannte Margarete Schmieg. Die Ordnung dieser Feier war die gewöhnliche, die Du ohne Zweifel kennst. Das war ein herrlicher Tag, von dem ich wohl noch mehr erzählen könnte, wenn nicht meine Zeit so sparsam zugemessen wäre. Ich darf ja hoffen, daß ich Euch bald recht viel mündlich erzählen kann. Ich freue mich sehr, sehr darauf, Euch wiederzusehen.

 ...Herr Pfarrer gibt uns gegenwärtig ein ganz kostbares Diktat über Kirchengeschichte. Ich werd’s zu Ostern mitbringen...

Deine Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 14. März 1858

 Geliebteste Mutter, Herr Pfarrer – was soll ich von seinem leiblichen Befinden sagen? – Ich weiß nur, daß er noch immer nicht predigen kann und daß man im Hause an allen Enden und Ecken spüren kann, daß er uns fehlt. Er diktiert zwar täglich, oft sehr lange, Kirchengeschichte und gibt damit uns und allen denen, die dies Diktat lesen werden, einen kostbaren Schatz, aber damit wird der frühere persönliche seelsorgerliche Einfluß nicht ersetzt. Mir ist es deshalb gar kein so großer Kummer, wenn ich verschickt werden sollte.

 Ich bitte, daß Sie mich in Ihr herzliches Gebet einschließen, besonders beten Sie für mich um mehr Freudigkeit für meinen Beruf. Wenn es Gottes Wille wäre, möchte ich sehr gern das Lehren mit einem anderen Zweig des Diakonissenberufes vertauschen. Ich sehe wohl ein, daß bei meinem Widerwillen gegen das Lehren auch viel Hochmut ist, indem ich ja nicht| so viel leisten kann wie die anderen Lehrerinnen, aber es ist meine Abneigung doch auch nicht ohne wirklichen Grund. Ein tägliches Unterwerfen unter das süße Joch Jesu Christi, der uns ja immer an den rechten Ort stellt, hilft über das alles hinweg, helfe auch mir über meine Unzufriedenheit hinweg.

 Gott behüte Sie!

Ihre dankbare Therese.


An die Mutter.
Nördlingen, den 19. April 1858

 Meine liebste Mutter, das Examen ist gottlob recht gut vorübergegangen, besser, als ich es nach meinem Kleinmut, der sich am Ende meines letzten Briefes an Sie aussprach, verdiente. Streichen Sie jene Äußerungen als ungültig aus Kopf und Herzen aus, und seien Sie, wie immer, überzeugt, daß ich eine glückliche Diakonissin bin, von der es eitel Sünde und Undank ist, wenn sie blind wird für Gottes gnädige Führung und eben aus Blindheit dann aufhört, Gottes Gnade, die sich an ihr verherrlichen will, zu preisen. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen damals durch meinen Brief einen Kummer bereitet.

 ...Die herzlichsten Grüße von

Ihrer glücklichen Therese.


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 5. Mai 1858

 Herzlich geliebte Ida, fast kommt es mir vor, als sei ich nur im Traum, nicht aber in Wirklichkeit bei Euch in Augsburg gewesen. Man lebt hier wieder in der gewohnten (nicht gewöhnlichen) Weise weiter, als sei keine Unterbrechung gewesen. Doch nein, man merkt’s an dem frischeren, mutigeren Angreifen, an dem vielen Ordnen, womit wir jetzt gleich den vollen Tag zubringen, daß Ferien vorausgegangen... Ich stelle nun manchmal Vergleiche an zwischen einem solchen Leben, das ich in den Ferien führte, und zwischen dem, das ich hier zu führen habe. Von dem Resultat solcher Vergleichungen will ich weiter nichts sagen, als daß ich mir mehr und mehr das oft ausgesprochene Wort unseres Herrn Pfarrers zu eigen mache, nämlich, daß starke Beine dazu gehören, um gute Tage zu tragen.

|  Was mir den Aufenthalt hier auch durch irdische, rein menschliche Freude verzuckert, das ist die Gegenwart unserer Marie, die heute früh ihre Aufnahmeprüfung zu bestehen hatte, derzufolge sie in die zweite, das ist in diejenige Klasse eingetreten ist, deren Klassenlehrerin ich bin. Sie antwortete sehr naiv und veranlaßte dazwischen das ganze Kollegium zu einstimmigem Gelächter, wenn sie mir z. B. zum Exempel eines einfachen Satzes mit einem Objekt die Worte erwiderte: „Ich liebe dich“, oder als sie das Merkwürdige, was uns von den Patriarchen im 5. Kapitel des 1. Buches Mose erzählt ist, anführen sollte, schnell bei der Hand war mit der Antwort: „Sie zeugeten Söhne und Töchter – und starben.“

 Ihr Heimweh ist nach ihrem eigenen Urteil, das sie Herrn Pfarrer auf sein Befragen gab, nicht sehr arg und wird ohne Zweifel in dem Maße ganz verschwinden, in welchem sie die Ermahnung von Herrn Pfarrer befolgt: „Lern nur recht fleißig“; denn dann hat sie keine Zeit dazu. Als Herr Pfarrer sie gestern dem Herrn Konsistorialrat Ranke, der zur Kirchenvisitation hier war, vorstellen wollte, sagte er: „Die ist gezeichnet, das ist eine Stählin.“ Herr Konsistorialrat war dann sehr freundlich gegen uns, trug mir Grüße an Otto, Adolf und Mutter auf, welch letztere er eigens einmal habe kennen lernen wollen, weshalb er in Weiltingen habe halten lassen, weil sie die Muter so vortrefflicher Söhne sei; „denn die“, sagte er zu Herrn Pfarrer, „hat uns Kandidaten geliefert, wie’s kaum mehr gibt im Lande.“ Herr Pfarrer wandte sich dann zu mir und sagte: „Das reizt zur Nacheiferung. Soll ich nun in die Posaune blasen und auch Dein Lob anstimmen?“

 Bei Gelegenheit des erwähnten hohen Besuches konnte natürlich die Besprechung der letzten großen Bewegungen von wegen der Salbung nach Jak. 5 nicht umgangen werden... Herr Pfarrer erklärte sich bereit, öffentlich anzuzeigen, daß er in diesem Punkte mit dem Oberkonsistorium nicht einig wäre, da nämlich Herr Konsistorialrat seinen Kummer darüber aussprach, daß so viele nun plötzlich ausbrächen in Vorwürfe über Katholisierung etc. – Wunderbar müßte meiner Meinung nach es den Gegnern doch auch vorkommen, daß nun Fräulein von Grünwald, die die Salbung im Glauben begehrte, wieder gehen kann, was ihr vorher trotz Anwendung aller ärztlichen| Mittel seit langen Jahren unmöglich war. Ich erfuhr das erst vor ein paar Tagen und sage am Schluß des Ganzen nur so viel: Wenn Jak. 5 nur ein für die apostolische Zeit gültiges Gebot soll gemeint sein, so kann man über manch andere Stelle auch in Zweifel geraten, ob sie nur für jene oder auch für unsere Zeit Geltung habe. Es heißt nicht: „Rufe die Wundertäter“, sondern „die Ältesten“, also ein Institut, das allezeit in den Gemeinden vorhanden sein soll. Mit einer römischen letzten Ölung hat doch diese Salbung gar nichts zu tun. In dankbarer Liebe
Deine Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 27. Mai 1858

 Meine liebste Mutter, Sie müssen mich für eine recht nachlässige Person halten, wenn ich Ihnen sage, daß ich erst gestern mit Herrn Konrektor Lotze über die Harfe gesprochen habe. Dieses Gespräch veranlaßt meinen diesmaligen Brief, denn Herr Konrektor war so entzückt über diesen Vorschlag, daß nicht viel fehlte, glaube ich, und er reiste zu Ihnen, um Ihr Schüler zu werden. Ich mußte ihm sogleich die Harfenschule bringen, aus welcher er ersah, daß er es sehr bald erlernen könnte. Nun aber ist die Schwierigkeit des Hierherkommenlassens noch immer dieselbe wie früher. Sie haben mir geschrieben, durch den Missionszögling Wachtel an den Harfenmacher schreiben zu lassen. Ich konnte aber zu Herrn Wachtel nicht gelangen, es ihm auch nicht zu wissen tun, und jetzt, da er fort ist, bleibt nichts anderes übrig, als sich direkt an Herrn Franke zu wenden. Ich würde das sogleich tun, allein ich weiß seine Adresse nicht. Darf ich Sie nun wohl bitten, mir entweder die Adresse zu schreiben oder, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht, selbst Herrn Franke um Zusendung der Harfe zu bitten? Müssen denn die Saiten beim Verschicken heruntergelassen werden? Herr Konrektor wollte das nicht glauben. Könnte man nicht nötigenfalls Herrn Franke bitten, die Saiten mitzuschicken? (Natürlich würde das die Anstalt schon zahlen.) Ich möchte Sie recht herzlich bitten, mir gleich zu schreiben.

|  ...Wir haben sehr schöne Pfingstfeiertage gehabt. Herr Pfarrer hat zweimal gepredigt!!! Das sind Freuden, die kaum größer sein könnten. ...Ich nahm mir vor, Ihnen einmal wieder einen recht langen Brief zu schreiben, allein dieses Mal geht es schlechterdings nicht. Ein ganzer Stoß von Aufsatzheften liegt vor mir und harrt der etwas schwierigen Korrektur.

 Gott nehme Sie in seinen gnädigen Schutz. Ihre in dankbarer Liebe brieferwartende

Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 28. Mai 1858

 Meine liebe Mutter, ...Ich wollte nur, Sie wären hier gewesen und hätten mit uns gefeiert, denn schöner als hier kann es in diesen festlichen Tagen nicht leicht wo gewesen sein. Da wird man gespeist und erquickt mit dem Brot des Lebens. Am Sonnabend war in unserem Betsaal die Beichte. Am Pfingstsonntag gingen wir in die festlich geschmückte Kirche. Taufstein und Altar waren wunderschön mit Kränzen verziert, und überall standen Maienbäume. Der Introitus wurde abwechselnd von den Missionszöglingen und den Kunstsängerinnen unserer Anstalt gesungen. Das war wirklich ganz entzückend, und dann kam eine herrliche Predigt von Herrn Pfarrer. Diese war eine große Freude, denn, wenn uns auch alle Sonntage eine Predigt von Herrn Pfarrer vorgelesen wird, so ist es halt doch noch viel schöner, wenn man aus Herrn Pfarrers Mund sie hört. Er predigte nicht über einen gewissen Text, sondern über die Wirkung des Heiligen Geistes. Diese Wirkungen wurden in drei Gebieten dargestellt:

 1. Bei den leiblichen Gaben wurde auf die Schöpfung hingewiesen, da der Heilige Geist über dem Chaos schwebte, wie eine Henne über ihren Küchlein, und der wüsten Materie Schönheit verlieh, dann auf die Erhaltung und endlich auf die Auferstehung der Toten. 2. Bei den außerordentlichen Gaben wurde auf das Pfingsten der Jünger hingewiesen und dann 3. bei den ordentlichen Gnadengaben wurde die ganze Gnadenführung des Heiligen Geistes an einer Christenseele von der Taufe an bis zu der Vollendung dargestellt. Schon am Anfang der Predigt sagte| Herr Pfarrer, daß es ein großer Fehler sei, daß man so selten zum heiligen Geist bete, nur immer zu dem Vater und dem Sohn. Der Schluß reihte sich wieder an den Anfang, und da sagte Herr Pfarrer mit feierlich ernstem Tone: „Ich ermahne euch alle, die ihr hier versammelt seid, kraft meines Amtes, daß keines hinweggehe, ohne den festen Entschluß gefaßt zu haben, fortan in Gemeinschaft mit dem heiligen Geist zu treten.“ Nach der Predigt feierten wir das heilige Abendmahl. Als wir an den Altar traten, kam uns ein herrlicher Duft entgegen, denn auf dem Altar standen herrliche Blumensträuße. Ich kann wirklich Gottes Gnade und Güte nicht genug rühmen und preisen. Alle Sünden hat er mir vergeben und mich mit seinem Leibe und mit seinem Blute gespeiset und getränket. O daß ich ein Herz voll Dankbarkeit gegen ihn hätte, denn so bald vergißt der Mensch die große Güte, die ihm der Herr erzeigt hat. Der Herr Jesus wolle mir ein Herz voll Dankbarkeit und Liebe zu ihm schenken und mich zu seinem Eigentum machen, daß ich ihm nur lebe und ihm auch sterbe. ...Man darf ja nicht glauben, daß es hier weniger Gelegenheit zur Sünde gäbe. O man darf ebenso wie anderswo immer auf der Hut sein, daß nicht der Feind hereinbricht und das Herz in seine Gewalt nimmt; nur werden einem hier eher die Waffen in die Hand gegeben, ihm zu widerstehen.

 Nun will ich aber in meiner Festbeschreibung fortfahren, will mich ja doch so kurz als möglich fassen, da bald der Abendgottesdienst beginnen wird und ich bis dahin meinen Brief fertig haben möchte.

 Am Nachmittag des ersten Feiertags las Herr Konrektor eine Predigt von Herrn Pfarrer über die Epistel vor. Nach der Kirche waren wir zu Frau Pfarrer Rüger, einer recht liebenswürdigen Frau, die als Witwe mit ihrem Töchterchen hier lebt, eingeladen, und zwar tranken wir dort Kaffee (eine Seltenheit in Dettelsau). Am Abend war noch Abendgottesdienst von Herrn Pfarrer.

 Am 2. Feiertag gingen wir nach Reuth, einem Filial von hier, wo wieder eine Predigt von Herrn Pfarrer vorgelesen wurde...

Gott befohlen! Deine Therese.


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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 4. Juni 1858

 Liebe Mutter, herzlichen Dank für Ihre lieben Zeilen, die mir besonders von wegen der Nachricht über die Harfe sehr erwünscht waren, denn Herr Konrektor hat bald mich, bald Marie tagtäglich gefragt: Ist noch kein Brief da? Die Harfe soll natürlich besaitet werden, da es ja hier keine Gelegenheit dazu gäbe oder doch wenigstens dies Werk Schwierigkeiten machte. Ich denke, mehr als etliche Gulden wird es nicht kosten, und so viel will ich schon auftreiben, ohne der Anstalt Kosten zu machen, was übrigens auch nicht so viel auf sich hätte. Wenn Frau Kelber bald schreiben könnte und auch dem Harfenmacher bemerken, daß er sich ein wenig eilt, so wäre es sehr gut, damit die Sache nicht so lang hinausgezogen und Herrn Konrektors Ungeduld zu hart geprüft wird... Vorigen Sonntag war Herr Korhammer mit seiner Schwester und zwei Nichten hier. Es waren zwei schöne Tage. Herr Pfarrer hat gepredigt. Ich kann nicht sagen, wie ich mich freue, daß diese Familie so einen Zug nach Dettelsau hat. „Von so einem Besuch muß man wieder lange zehren“, sagte Herr Korhammer, dem der Abschied nicht wenig schwer wurde.

Ihre dankbare Tochter Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 2. Juli 1858
 Liebe Mutter, da Marie schon so viel geschrieben, will ich Ihre Leseorgane nicht auch noch durch einen längeren Brief anstrengen, um so mehr, da ich, wie Sie aus der roten Tinte ersehen, mit Korrigieren beschäftigt bin und noch ein ganzer Stoß Hefte meiner gestrengen Durchsicht harrt. Eine traurige Zeit steht uns bevor: achtwochenlange Trennung vom Herrn Pfarrer! Das ist eine gute Schule, das Herz auch von dieser Person loszureißen, an der es am Ende doch zuviel hängt. Nun gibt uns Herr Pfarrer noch einen Unterricht über Geisteskrankheiten, wobei er uns manche eigene Erfahrung, auf diesem Gebiet gemacht, mitteilt. ...Die ganze letzte Woche war der Sohn eines getauften Juden hier, der seine beiden| Schwestern besuchte, ein äußerst interessanter Mann, der die Veranlassung gab, daß vorigen Sonntagnachmittag sich das Gespräch im Pfarrhause um das Volk Israel drehte. Infolgedessen tilgte Herr Pfarrer beim Abendgottesdienst, wie er sagte, eine alte Schuld, die er gegen uns gehabt, indem er uns vorschlug, von nun an auch Missionarin von den Juden zu werden durch unser Gebet, das wir von jetzt an jeden Mittwochabend für die Bekehrung Israels zum Herrn richten wollen. Dazu diktierte uns Herr Pfarrer nun auch eine Litanei, die Sie bekommen werden. Gestern lasen wir in unserem Kapitel (alle Freitag haben wir in Dettelsau dienenden Diakonissen Kapitel) die Vorrede von Delitzsch zu dem kleinen Büchlein: Israels Weg zur Herrlichkeit, wenn Otto es noch nicht hat, soll er es sich doch kaufen. Es ist ganz herrlich, besonders eben die Vorrede.
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 In meinem Berufe geht es mir, finde ich, gut; Biblische Geschichte und Geschichte freut mich am meisten. Sagen Sie doch Otto, daß hier ersterer Gegenstand, der natürlich hier Hauptsache ist, so behandelt wird: wir nehmen gegenwärtig zum Beispiel in der 2. Klasse die Geschichte der Könige durch. Da werden zuerst die Tabellen der jüdischen und israelischen Könige geschrieben, wie sie sich in Kurtz finden, und dann auch auswendig gelernt. Die einzelnen Geschichten werden vergleichend nach Könige und Chronika meist außer den Stunden gelesen und in den Stunden durchgegangen, vielleicht mit Bemerkungen der Lehrerin nach Kurtz oder nach dem, was sie von Herrn Pfarrers Unterricht weiß, oder, wenn sie die Gabe hat, nach eigener Beobachtung. Die Propheten und ihre Weissagungen werden natürlich soviel als möglich mit hereingenommen, ebenso die in Israels Geschichte eingreifenden Weltmächte. Herrn Pfarrers Grundsatz ist, immer von der Übersicht zur Einsicht zu gehen, welcher von uns dann auch befolgt wird, sofern man nicht zu kleine Schülerinnen vor sich hat. Harleß wird von den jüngeren Kindern benützt. Zahn ist nicht im Gebrauch, höchstens sieht die Lehrerin, welche unser kleines achtjähriges Lieschen unterrichtet, manchmal hinein. Die anderen Kinder alle haben die Bibel selbst in Händen und lesen. Ein Hauptgrundsatz ist, bei aller Geschichte Geographie zu treiben. Die Schülerinnen sollen recht heimisch werden im| heiligen Lande. Über die Propheten hat uns Herr Pfarrer eine chronologische Tabelle gegeben...

 Die Harfe ist noch immer nicht da. Herr Konrektor fragt unzählige Male darnach. Ich kann es gar nicht begreifen, daß sie noch nicht da ist. In herzlicher Liebe

Ihre Therese.


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 20. Juli 1858
 Liebe Schwester, bereits sind vierzehn Tage von dem sechsundfünfzigtägigen Waisenstand verstrichen, den wir nun durchleben müssen, und ich habe noch keine Zeile nach Augsburg gehen lassen, um dort von unserem Leben ohne Herrn Pfarrer zu berichten. Das macht, weil man sich hier zu Anfang jeder Woche gerade so vorkommen muß wie einer, der mit gewaltigem Anlauf rennt und rennt, bis er an einem gewissen Ziel anlangt, einen Ruhepunkt gefunden, auf welchem er ausschnaufen und sich erquicken kann, um dann weiter zu rennen. Der Ruhepunkt ist der Samstag und Sonntag. Am Samstag atmet man frisch auf, denn da hat man keine oder doch fast keine Stunden zu geben, und am Sonntag erquickt man sich. Von wegen dieses Rennens geht einem auch nirgends die Zeit so schnell vorüber wie hier; aber ich weiß nicht, was das ist, seit vierzehn Tagen scheinen ihr die Flügel beschnitten zu sein, mit welchen sie sonst so unglaublich rasch von dannen eilte, und statt des Fliegens schleicht sie jetzt, gerade jetzt, wo ich ihr zu den bisherigen noch ein paar Dutzend Flügel mehr gewünscht hätte. ...Ein Samstag war’s, an welchem „unser Vater“ uns verließ. Solch ein Weh hab ich kaum ein zweites Mal bei einem Abschied empfunden, als da, wo er zum letztenmal durch unsere Gänge wandelte und mit ermunternden Worten die Hand uns reichte. „Habt allezeit Salz bei euch, und habt Frieden untereinander“, hatte er uns tags zuvor am Schluß seiner letzten Stunde zugerufen, zu welcher Ermahnung er alsdann den Wunsch, dessen Erfüllung ihm Gewißheit geworden sei, fügte: daß sein Stellvertreter, Herr Konrektor Lotze, ihn uns ganz vergessen machen möge, so daß bei Rückkehr von seiner Reise er jenem Mönch| zu vergleichen wäre, der in seinem Kloster wohl alles in bester Ordnung fand, sich selbst aber als eine völlig überflüssige Person erkannte. Was sagst Du zu einem solchen Wunsche? „Jetzt muß sich zeigen, was die „Kinder“ gelernt haben“, sagte er unter anderm auch. Doch wir wollten nicht mit seinem letzten Besuch bei uns sein Angesicht zum letztenmal gesehen haben, sondern nach Tisch läuft, was laufen kann, aus dem Diakonissenhaus dem Walde zu. Dort harrt am Abhange eines Hügels der ganze Haufe, bis der Wagen kommt. Nach langem Warten rufen einige scharfblickende Wächterinnen: „Er kommt! Er kommt!“ Und nun stellt sich Mann für Mann, quasi Mädchen für Mädchen am Rande des Waldes auf, und an dieser langen Kette muß er vorbei! „Das beste wäre, wir gingen alle nach Karlsbad; wollen Sie auch mitgehen?“ sagt er noch einmal zu uns. Mit Herz und Mund stimmt alles ein und läuft, als wollte man wirklich der Aufforderung Folge leisten, noch ein Stück dem Wagen nach, der in einiger Entfernung noch eine, wenn auch bedeutend kürzere Kette zu passieren hatte, gebildet von den „Söhnen“ des scheidenden Vaters, den hiesigen Missionsschülern. Wir kehrten endlich in das uns vereinsamt scheinende Dörfchen und verwaiste Diakonissenhaus zurück. ...Drei Briefe sind bereits eingelaufen, von welchen der letzte von allgemeinem Interesse war und uns deshalb, obwohl an seinen Sohn Ferdinand gerichtet, mitgeteilt wurde. Der dortige Arzt sagte, es sei kein Organ verletzt, und verheißt glücklichen, baldigen Erfolg. „So sagt der Arzt; was der Herr sagt, muß sich zeigen“, heißt es im Brief. Alle Morgen um 1/26 Uhr wandelt Herr Pfarrer mit den übrigen Badegästen zum Brunnen; er darf noch nicht zum stärksten, sondern zu einem der schwächsten, und trinkt sieben Becher von dem warmen Wasser, das aus der Erde quillt und an Geruch und Geschmack der Fleischbrühe gleichen soll. Seine Gesellschaft ist außer Herrn Merz aus Greiz (dem Vater unserer immer kränkelnden Schwester Emma Merz), ein Superintendent, ich weiß nicht mehr woher, „der Herrn Pfarrer in die Tasche stecken könnte“, wenn er vor ihm steht, ein Schwede, der Bücher von ihm übersetzt hat, und andere, die ich nicht mehr weiß. Drei Gottesdiensten wohnte er an dem einen Sonntag, den er dort verlebt, vor Absendung seines| Briefes bei: einem deutschen, dänischen und englischen. Er ist auch schon aufgefordert worden zu predigen, wird sich aber weigern. Er versprach, wo möglich die Sonntagspredigten hieher zu schicken. Richtig ist gestern abend eine selbstgeschriebene Predigt eingelaufen und heute (denn es ist seit Anfang meines letzten Briefes Sonntag geworden) vorgelesen worden. Was bekommt doch die Kirche Herrliches an der Epistelpostille! ...Einmal will Herr Pfarrer auch an uns schreiben, an uns Anstaltsbewohnerinnen...

 Du mußt mir’s nicht übelnehmen, wenn ich Dir einen so zusammengeflickten Brief schicke. Von einem Absatz zum andern ereignet sich so viel Neues, daß mein Schreiben tagebuchartig wird. Unterdes ist Fräulein von Hartlieb hier eingetroffen und hat mir gesagt, daß Ihr meinen Briefinhalt anders wünscht, mehr sich auf unser Leben, auf Tatsachen erstreckend. Es ist mir lieb, daß mir das gesagt worden ist, und ich werde dem Wink nachzukommen suchen. Das, was um einen her vorgeht, wenn’s nicht gerade von besonderem Einfluß ist, hält man oft nicht so wert, niedergeschrieben zu werden, als einige Gedanken aus einer Predigt, die einen soeben ganz hingerissen hat. Übrigens würde sich gezeigt haben, daß meine Briefe während Herrn Pfarrers Abwesenheit samt und sonders von der gewünschten Art gewesen wären...

Deine Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 8. August 1858

 Meine liebe Mutter,... bei unserer lieben Emma Merz geht es in letzter Zeit gar nicht gut. Der Herr Doktor verschrieb ihr gar keine Arznei mehr und sagt, es sei die Auszehrung. Sie sieht auch immer so schlecht aus und muß beinahe den ganzen Tag im Bett liegen.

 ...Heute morgen erhielt ich Briefe von Herrn Korhammer. ...Er hat 10 Gulden für den Betsaal beigelegt, für den ich bei allen opferwilligen Leuten betteln möchte, da er ohne Schulden gebaut werden soll. Nächsten Donnerstag wird mit großer Feierlichkeit der Grundstein gelegt werden, dann eine Fahne mit schwarzem Kreuz und der Inschrift: Oremus!| während des ganzen Baues aufgesteckt bleiben. ...Bitte, schicken Sie mir doch durch Margarete meinen Ring. Ich bin freilich ein rechter Plaggeist, aber ich habe ihn zu einem besonderen Zweck bestimmt in Verbindung mit andern wenigen Schmucksachen, die mir Minna im Frühjahr gegeben. Und der Zweck darf nimmer rückgängig gemacht werden.

 Herr Konrektor kann schon ziemlich gut Harfe spielen. Er will sich bei seinem demnächst erfolgenden Besuch in Eichstätt von Ihnen unterweisen lassen.

 Die Freudenbotschaft, daß Herr Pfarrer vierzehn Tage eher kommt, als wir gedacht, hat Marie schon verkündigt! Das wird ein herrlicher Tag werden...

Ihre dankbare Therese.


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 15. August 1858

 Liebe Ida, gegenwärtig liegen zwei Diakonissen – man kann sagen – in beständiger Todesgefahr. Die eine ist die Dir bereits durch mich bekannte Julie Kündinger, eine gewesene Lehrerin, die mit mir zugleich eingesegnet worden ist und länger als ein Jahr nun leidet, unter den fürchterlichsten Schmerzen schon öfter als einmal am Rande des Grabes war, aber dabei als eine rechte Jüngerin Jesu leidet. Die zweite ist die Dir ebenfalls nicht unbekannte Emma Merz [s. „Lebensläufe“ S. 13]: die begabteste, geistreichste im ganzen Haus, eigentümlich, aber von großartigem Charakter. Als ich das letzte Mal in Ferien war, verließ ich sie bettlägerig; ebenso traf ich sie wieder, und seitdem kränkelt sie mit wenig Unterbrechung, nimmt in den letzten Tagen zusehends ab, ist aber über ihren Zustand völlig im unklaren, denn sie glaubt niemand, daß die Gefahr so groß sei. Wir wünschen sehr, daß sie noch lebt, bis Herr Pfarrer kommt, den ihr Vater alsdann hieher begleiten wird. Gottlob, daß es nicht so lange ansteht bis dorthin, als wir anfangs gedacht; denn denke Dir, Herr Pfarrer wird wahrscheinlich schon am 25. August kommen. Ach, meine große Freude!

Deine Therese.


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An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 2. November 1858

 Liebe Ida, ...die wichtige Riegenwahl ist bereits vorgenommen. Marie ist Riegenmeisterin geworden, und ich stehe unter der Riege der Johanna Zwanziger. Daß die wieder hier ist, wird für das ganze Haus ein großer Segen sein, und mir ist’s eine ganz besondere Freude, da ich keiner so nahe stehe wie ihr und sie wie eine Mutter gegen mich ist.

 Herr Pfarrer wird in diesem Semester hauptsächlich Exegese zum Gegenstand seines Unterrichts machen. Es ist ihm, sagt er, dabei eine besondere Freude, daß wir unsere griechischen Testamente zur Hand nehmen können. Es soll auch das Griechische in diesem Semester recht eifrig betrieben werden. Herr Konrektor wird uns Stunden geben. Ich zweifle, daß etwas Rechtes draus wird, wenn man nur so in Eile immer ein wenig lernen kann und nicht ordentlich studiert, kann das gewünschte Ziel schwer erreicht werden. Genug für diesmal!

Deine treue Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 6. November 1858

 Liebste Mutter, ...Daß es Dir gut hier gefallen, ist mir eine besondere Freude und vielleicht eine Berechtigung zu einer Hoffnung auf künftig wiederholten Besuch. Daß wir die Ferien vergnügt zugebracht, ist Dir bereits bekannt. Daß wir aber auch gerne wieder zurückkehrten, versteht sich von selbst. Wir haben gestern bereits angefangen, den vollen Stundenplan im Schwange gehen zu lassen. Es bewegen sich nun wieder die Räder des Wagens, der ein halbes Jahr fortrollen soll, aber sie knarren noch ein wenig, weil die Wagenschmiere fehlt, wie Doris gestern meinte. ...Herr Pfarrer wird nächste Woche erst kommen[1]. Vorigen Dienstag lief ein Brief von ihm ein. Marianne war sehr angegriffen von der Reise. Trotz der Rosen- und Veilchenfelder, die allenthalben unsere Reisenden umgaben, versicherte Herr Pfarrer doch, daß ihm der Himmel über den stillen Fluren von Dettelsau noch gefalle.

 Meine liebe Johanna Zwanziger ist hier noch nicht ganz eingewöhnt. Ihr Beruf in Hohenleuben war ihr zu sehr ins| Herz gewachsen. Mir ist bange um ihre Gesundheit. Sie hat sich sehr abgearbeitet. Es ist doch das Geschlecht des 19. Jahrhunderts ein ganz delikates.

 Ich bleibe in dankbarer Liebe

Deine Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 18. November 1858

 Herzlich geliebte Mutter, der barmherzige Heiland schenke Dir den Geist der Freude und des Friedens! Das ist mein erster und bester Wunsch, ja mein Gebet für Dich zu Deinem Geburtstag, liebste Mutter. ...Ich möchte, daß einmal an einem solchen Tage alle Deine Kinder beisammen wären und Dir mündlich sagen könnten, was sie fühlen. Eine besondere Freude ist mir, daß Du in diesem vergangenen Lebensjahre einen sehnlichen Wunsch von mir befriedigt hast und nach Dettelsau gekommen bist.

 Herr Pfarrer hat uns einen herrlichen Reisebericht gemacht und erst heute einen gewaltigen Umsturz in den Ansichten des Hauses durch denselben bewerkstelligt. Alles soll auf einmal französisch, italienisch und englisch parlieren lernen, denn „er habe es genug gekriegt, beständig mit einem Schafsgesicht und wie der Ochse am Berge stehen zu müssen“. Es gehöre ja freilich nicht zur Bildung, das steht fest nach wie vor, aber Nutzen schafft’s und deswegen soll’s geschehen.

 Wir haben wieder ein reiches Semester vor uns. Gott hat uns allen in der wiederkehrenden Kraft unsers Herrn Pfarrers große Gnade geschenkt. In der nächsten Zeit folgen etliche Unterrichtsstunden über die Barmherzigkeit, „denn eine Diakonissin muß barmherzig sein“. Dann folgt biblische oder Kirchengeschichte. In den Wochengottesdiensten, die auch hauptsächlich uns und den Missionsschülern gehören, werden die Thessalonicherbriefe erklärt. Wir sollen dabei unsere griechischen Testamente haben, lesen auch in unsern griechischen Stunden nicht mehr das Evangelium Johannes, sondern diese Briefe – und Herr Pfarrer will uns, denk Dir nur, von der Kanzel herunter manchmal fragen. Mußten wir doch vorgestern beinahe lachen, als er plötzlich, auf der Kanzel stehend, – denn die hat er wieder betreten seit vorigen Sonntag –| herunter fragte: „Wie viele Kapitel hat der 1. Brief an Timotheus? Weiß es eine von den Kindern?“

 Heute ist der Vorabend des Todestages der heiligen Elisabeth, deren Bild, wie Du dich erinnern wirst, in unserem Saal hängt und deren Geschichte uns Herr Pfarrer heute erzählte – und zugleich ist der Vorabend Deines Geburtstags. Das freut mich sehr, ein solches Zusammenfallen der Tage.

 Ich kann leider nicht mehr schreiben. Meine Stunden erfordern zum Teil viel Vorbereitung. Ich muß schier eine Gelehrte spielen und kann doch nichts. Einen fröhlichen Abschied vom alten und einen fröhlichen Anfang des neuen Lebens- und auch Kirchenjahres! An Jesu Hand ist immer fröhlich sein.

Deine dankbare Therese.


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, Dezember 1858

 Liebste Schwester,... Wir sind nun eine geraume Zeit wieder ungestört unter dem Sonnenschein des Hirtenstabes von Herrn Pfarrer gewandelt. Da mußte aber der liebe Gott wieder etwas schicken, uns vor Sicherheit zu bewahren. Vorigen Sonntag (bei der vierten Predigt über die Lehre vom Ende) wird Herr Pfarrer plötzlich unwohl. Der Text war 2. Petr. 3. Eine gewaltige Mahnung, sich bereit zu halten, bildete den Schluß der Predigt, zu dem er rasch eilte, was das Ganze um so ergreifender machte. „Das ist eine Ohrfeige von ganz besondrer Art, das kannst Du glauben“, sagte gestern Herr Pfarrer zu mir, fügte aber hinzu: „Es tut mir aber alles nichts, gar nichts. Ist eine Demütigung für so einen alten Pfarrer.“

 Ein wunderbares Diktat – ich kanns nicht anders nennen – wird uns gegenwärtig gegeben, ein langes, über Barmherzigkeit. Da möchte ich oft zappeln in den Stunden, tu’s auch. Diese Blicke in die Geschichte, die mir da gegeben werden! Es soll nur ein jeder Christenmensch, der kann, Geschichte studieren vom rechten Gesichtspunkt aus. Das treibt, wenn irgend etwas, zur Anbetung Gottes.

Deine treue Theresia.


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An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 30. Dezember 1858

 Liebste Schwester, Marie wird an Auguste ausführlich schreiben über unsere Festfeier, weshalb ich mich gegen Dich kurz fassen will, um so mehr, als die äußeren Schönheiten doch je länger je weniger Reiz für einen haben; ich freu mich wohl noch drüber, aber nimmer in dem Maße wie früher. Es ging mir in meinem bescheidenen Teile ähnlich wie Herrn Pfarrer, der vor Weihnachten einmal zu Herrn Marcius sagte: „Nicht wahr, wir Alten, wir freuen uns doch ganz anders auf Weihnachten als die Kinder; wir freuen uns darüber, daß Christus geboren ist.“ Ich wollte nur, es wäre diese Freude viel größer und ungetrübter bei mir. Herr Pfarrer lenkte in diesen Tagen unsere Gedanken u. a. auch dahin, daß wir der Einigkeit der streitenden und der triumphierenden Kirche auch in der Festfeier recht bewußt werden sollten.

 Der äußere Schmuck in unserem Hause war großenteils sehr schön; besonders kunstvoll war die Krippe arrangiert, ein wahres Meisterstück unserer ideenreichen Doris Braun, auch von Bauersleuten als solches beurteilt: „Jetzt kann ich mir’s erst recht fürstellen, grad su muß gewesen sein“, sagte eine Bauernfrau.

 Ich hab Dir neulich schon geschrieben, daß Herr Pfarrer wieder bedeutend unwohl geworden ist; er hat sich noch nicht davon erholt, und wir haben demnach in den Feiertagen viel entbehren müssen; denn obwohl er zweimal gepredigt, so war das so kurz, mit solcher Anstrengung und Mattigkeit, daß uns viel entging. ...Als ich neulich Herrn Pfarrer fragte, ob wir denn nicht bei einer andern Gelegenheit einmal hören dürften, was er uns bei der Predigt über den Jüngsten Tag schuldig geblieben (denn das ist doch keine Kleinigkeit, wenn einem so etwas vorenthalten wird), da hieß er mich hinausschauen zum Fenster und zeigte mir die dürren, aller Frische und alles Schmuckes beraubten Bäume, denen es doch kein Mensch ansähe, daß sie wieder grünen und blühen können. „So ist’s mit einer Predigt, bei der die Kraft fehlt. Da kann man ganz gut vorbereitet sein, – ich war auch gestern ganz wohl vorbereitet –, aber es fehlt die Kraft, zu sagen, was ich zu sagen hatte, und so bleibt die Predigt ein dürrer Stamm.“ Du mußt nicht denken, daß wir so gar habsüchtig sind und nicht zu fasten| wissen, wenn’s dem Herrn gefällt, uns den teuren Hirten wieder auf eine kleine Weile teilweise zu entziehen; wir sind eben in letzter Zeit wieder ein wenig verwöhnt worden. Alle Sonntage hat er gepredigt, alle Wochengottesdienste hat er gehalten (den ganzen ersten Thessalonicherbrief durften wir auslegen hören; das kann ich nicht beschreiben, was das für Stunden waren; wir konnten dabei auch unsere griechischen Testamente benutzen) und noch obendrein die täglichen Unterrichtsstunden im Haus, von denen Dir schon mein letzter Brief berichtete. Du mußt das Diktat einmal lesen. Das ganze Haus von Frau Oberin an bis zu unserm kleinen Sophiechen von Vitzthum schreibt „Von der Barmherzigkeit“. Herr Pfarrer gebot, alle Hefte ihm täglich auf seinen Tisch zu legen.

 Nun höre noch, wie mir Herr Pfarrer neulich zu meinem Geburtstag gratulierte. Es hatten an jenem Mittwoch schon die Ferien begonnen, und ich sah daher Herrn Pfarrer den ganzen Tag nicht; da kam er am andern Tag zu mir und sagte: „Das ist eine schöne Geschichte: gestern war dein Geburtstag, und ich habe gar nichts davon gewußt, erst am Abend hat man mir’s gesagt, und ich hätte dir doch gewiß alles Glück gewünscht. Ich bin nun endlich mit dem Kalender fertig geworden (Rosenmonate heiliger Frauen), und da sollst du den ersten davon haben zur Erinnerung an deinen diesmaligen Geburtstag. Da sucht dir deine heiligen Frauen heraus.“

 Daß Leonhard bei Euch ist, freut mich. Sag ihm doch einmal gelegentlich, daß in Neuendettelsau bei Kloster Heilsbronn, sechs Stunden von Nürnberg, nicht so sehr weit von Erlangen, eine Blutsverwandte von ihm existiere mit Namen Theresia; vielleicht erinnert er sich.

Deine treue Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 8. Januar 1859
 Liebste Mutter, ...Marie hat mir schon alles weggenommen, so daß ich von äußerer Festfeier wenig mehr schreiben könnte, selbst wenn ich wollte. Um so mehr bin ich veranlaßt, anderes zu berichten, und so will ich denn ein wenig von den Reden Herrn Pfarrers erzählen: Am heiligen Abend wurde der Gottesdienst in der gewöhnlichen Weise gehalten. Nach| den Lektionen jedoch sprach Herr Pfarrer einige Worte zu uns: „Kinder, wißt, daß eure Lieder, die ihr jetzt singt, verstanden sind im Himmel; euer Lobgesang begegnet dem Lobgesang droben.“

 Am ersten Feiertag empfingen wir das heilige Abendmahl in der festlich geschmückten Kirche, deren Altar insonderheit wunderschön geziert war, sogar mit frischen Blumen. Die geistliche Speise durchs Wort war freilich diesmal nicht so reichlich wie ehedem. Herr Pfarrer ist ja wieder sehr leidend. Das Zungenübel tritt wieder recht hervor und macht ihn gerade zum öffentlichen Sprechen untüchtig. Als wir ihm am Neujahrstage gratulierten (eine Deputation vom Diakonissenhaus), sprach er lange mit uns: er habe noch kein Jahr erlebt, in dem er so viel gearbeitet, in dem er so viel Kreuz getragen, in dem er so viel äußerliche Unterstützung von Gott empfangen und in dem er so viel Freude genossen. Er sei sehr viel Dank schuldig, besonders dem Diakonissenhaus für den Gehorsam, den es ihm entgegenbrachte; er sei ein glücklicher Pfarrer, weil er so viele treue Freunde und Beichtkinder habe.

 Vor einiger Zeit haben wir Diakonissen alle Instruktionen fertigen müssen, nach welchen wir nun allmonatlich von Herrn Pfarrer visitiert werden. Jede Visitation wird mit Gebet eingeleitet. Die bereits Visitierten sind ganz entzückt, sagen, es sei herrlich, so visitiert zu werden, so eingehend Seelsorge an sich üben zu lassen. Nächste Woche werde wohl ich drankommen. Ach, da denke meiner ein wenig!

...Deine Therese.


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 2. März 1859

 Geliebte Schwester, ...Sonntag vor acht Tagen war die Entlassungsfeierlichkeit unserer (wie dumm!), der hiesigen Missionszöglinge. Es ruht ein reicher Segen auf dem amerikanischen Werk. Auch die Diakonissensache gedeiht.... Wieder etwas Neues hab ich zu berichten, auf daß unsere Gemeinschaft die Meeresnatur nie verleugne, sondern in beständiger Wallung und Bewegung erhalten bleibe. Daß nur das Salz nie fehle! Daß nur die Bitterkeit und Ungenießbarkeit des Meerwassers nie geteilt werde!

|  Also: vorigen Montag ist unter uns eine Akademie geboren. Stoß Dich nicht am Namen; er wird noch umgeändert. Herr Pfarrer will bloß Präsident sein, und die Diakonissen und Schülerinnen sollen da an den Bänken das Gehen lernen. Worin aber besteht dieses Gehen? Im Vortragen, Wiedererzählen von Gesehenem, Gelesenem, Gehörtem. Da wurden nun gleich in der ersten Stunde Comitees ernannt für verschiedene Geschäfte, eine beauftragt, den Bericht über die Mission in Paris (unter den Deutschen) zu lesen und das Wichtigste zu referieren, eine andere, Elisabeth Fry zu lesen und die gehörige Kritik darüber zu geben; andere sollen bis zum nächstenmal die Armenhäuser hiesiger Pfarrei visitiert, eine andere das hiesige Pfründhaus inspiziert und alle Mängel bemerkt haben... und über das alles nächsten Montag von 3–5 (das ist die festgesetzte Zeit, denke daran) Mitteilungen machen. Herr Pfarrer will nur darauf merken, daß niemand „purzelt“. Diese neue Idee und ihre Verwirklichung ist gewiß etwas sehr Praktisches und Lehrreiches.
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 Heute ist Herr Pfarrer nach München gereist zu der Tucher’schen Familie. Wie werden die kirchlichen Angelegenheiten hinausgehen? Die Wahrheit nur siege, und ein jeder sei seiner Sache gewiß. Für viele unter uns wird dies eine Zeit der Entscheidung sein, denn daß viele hier sind, die in die Richtung nicht eingegangen bis jetzt, versteht sich. Laß uns beten um Erleuchtung, um Einfalt und Lauterkeit. So viel ist gewiß, daß Abendmahlsmengerei, wie sie hin und her im Lande eingerissen ist, Sünde ist; auch ist so viel gewiß, daß das Konsistorium Unrecht hat; wenn es dem Herrn Pfarrer die Kinderbeichte und -absolution verbietet, nicht weil das Schriftwort dagegen spricht, denn ein solcher Grund ist unmöglich aufzuweisen, sondern weils nicht gewöhnlich ist. Die lutherische Kirche muß vorwärts gehen – und wenn nun einer da ist, mit besonderen Gaben und Kräften dazu ausgerüstet, sie einen Schritt vorwärts zu führen, soll man dann sein Tun hemmen, wenn’s doch offenbar mit Gottes Wort stimmt? Wenn man freilich nur immer in der Reformationszeit seine Ideale sucht für die Kirche, dann lassen sich solche Grundsätze erklären. „Meine Ideale aber liegen nicht im 16. Jahrhundert, sondern am Anfang der Kirche und am| Ende“, sagt Herr Pfarrer. – Ja freilich sollte er kein „königlich bayerischer Pfarrer“ sein. Er spricht auch bei jeder Gelegenheit seinen Gram darüber aus. Was ist auch das für ein Unsinn! Ein Hirte, ein Diener Christi, den weltlichen Herrscher als oberstes geistliches Haupt ansehen! – Doch das kann nun aber nicht anders sein, bis einmal der Herr Seiner Kirche andere Zeiten schenkt. Aber andere Dinge können geändert werden. Genug hievon. Ich bleibe Deine Dich um Christi willen zwiefach liebende
Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 13. April 1859

 Herzliebste Mutter, jetzt ist es eine wahre Freude, vor die Fenster zu schauen und das Hämmern und Schlagen und Klopfen und Schreien der Arbeitsleute zu hören, dazu den Gärtner eifrig bestrebt zu sehen, bald möglich den Diakonissen einen Garten herzustellen, den sie bisher so schwer vermißt. Mistbeete sollen auch alsbald angelegt werden. Woher aber Geld dazu? Herr Pfarrer weiß Rat. Die sieben Fastenpredigten werden gedruckt und vermittelst sonderbarer Metamorphose in Mistbeete verwandelt. Es waltet Gottes Segen bei unserm Werk, und ich, meine liebe Mutter, ich bin recht glücklich, Mitarbeiterin an demselben sein zu dürfen. Wenn auch manchmal der Beruf ein wenig drückt, meine Grundstimmung ist doch diese.

Deine dankbare Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 18. Mai 1859
 Meine geliebteste Mutter,... Marie befindet sich im besten Wohlsein, hat auch alle Ursache, dankbar und vergnügt zu sein. Ich laß mir’s gefallen, wenn man so einen Lehrer hat wie Herrn Pfarrer, der außer dem Unterricht, den er dem ganzen Hause gibt, insonderheit der 1. Klasse sich annimmt. Ich will nur von dem deutschen Untericht reden, den er gibt. Diese Woche mußten sie einen Aufsatz machen, den er mit der größten Aufmerksamkeit korrigierte. Alles Unedle, Unweibliche und Auffällige sucht er von ihnen abzustreifen, und gar manch beichtväterliches, seelsorgerliches Wort fällt da in die| Herzen der Jungfräulein; denn Herr Pfarrer sieht, wie er sagt, in den Aufsätzen, wie sie leiben und leben. Gestern tadelte er zwei wegen ihrer Sentimentalität, und unter denen war Marie. „Das muß weg, Kind“, sagte er zu ihr, „es paßt auch gar nicht zu dir; du hast einen kräftigen Charakter, da mußt du dich nicht mit solchen Dingen einlassen.“ Ebenso tadelte er den unnatürlichen Druck in ihrer Handschrift und mahnte durch eine Bemerkung unter der Arbeit zu Einfalt und Wahrheit. Einfalt sei die rechte Vornehmheit. – Du darfst Dein jüngstes Kind recht glücklich preisen.

 ...Meine geliebtesten Stunden die Woche über sind Donnerstag und Samstag von 6–7, wo Herr Pfarrer Unterricht über Psychologie gibt. Nein, so etwas hab ich noch nicht gehört! Wir stehen jetzt bei der Dreiteiligkeit und Zweiteiligkeit des Menschen, haben die Stellen angeschaut, wo es heißt: Leib und Seele, und wo es heißt: Leib, Seele und Geist.

 Heute gehört meine freie Zeit noch einem nötigen Brief und der Weiterführung einer akademischen Aufgabe, die ich bekommen: die Geschichte der Bibel.

Deine treue Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 23. Juni 1859

 Liebstes Mutterle, ich habe Dir eine Botschaft zu bringen, eine freudige wie immer. Vielleicht ist ihr Schall schon zu Dir gedrungen: Nächste Woche, so Gott will und wir leben, so uns der Himmel gütig zulächelt und nicht ein trübes, tränenreiches Gesicht macht, so Du, teure Mutter wieder in Eichstätt bist, so mit einem Wort, unser Plan hinausgeht,... sehen wir uns! Ist das nicht herrlich, wunderschön, ganz vortrefflich? Ja, der Herr Pfarrer hat halt doch ein wenig ein väterliches Herz gegen uns, wenn er uns gleich mit so harten Worten entlassen hat.

 Nun will ich aber hübsch ordentlich nacheinander her erzählen, was ich eigentlich will. Diese einleitenden Sätze sollen nur den Freudensprung fürstellen, den ich Dir gar zu gerne vorgemacht hätte. Herr Pfarrer Wilhelm Löhe gab dieses Semester, wie Tochter Marie wohl berichtet haben wird, Lektionen über Missionsgeographie. Vor seiner Abreise schloß| er in diesem Unterricht gerade die Gebiete Heidenheim und Eichstätt ab. Öfters sagte er scherzweise: „Es wird nichts übrig bleiben, als daß ihr einmal so eine Studienreise nach Eichstätt zu dem ständigen Herrn Vikar Stählin und Frau Wilhelmine von Harsdorf macht.“ Wir hielten es für Spaß, er aber für Ernst, und bekundete denselben unmittelbar vor seiner Abreise gegen den Herrn Konrektor. So ist denn beschlossen, wir wollen die Arbeitsfelder Wunibalds, Willibalds, Walpurgis’ uns anschauen; nächsten Montag früh 4 Uhr machen wir uns auf, wandeln nach Gunzenhausen, von da nach Heidenheim. Dort übernachtet man, zieht von da nach Eichstätt und kommt dortselbst am Dienstagabend an! Ach, wie soll ich es denn machen, daß ich meine Freude ein wenig hermale!

 Ja und denk nur, die Tochter junior kommt auch. Ich hoff doch, daß Du in Eichstätt bist. Marie wäre außer sich.

 Unterwegs singen, beten, erzählen etc. wir. Herr Konrektor betreibt, daß man mit reichem Stoff versehen ist. Ein Leiterwagen wird mitgenommen. Spiel- und Hesselberg werden bestiegen. – Grüße an die Geschwister.

Deine vergnügte Theresia.

 Gelt, liebes Mutterle, Du kommst bis Dienstag wieder nach Eichstätt, daß ich Dich wiedersehe. O wie freu ich mich!


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, September 1859
 Liebe Ida, ...mein Vorschlag wegen Marie ist folgender: ihrem entschiedenen Wunsch, Diakonissin zu werden, sollte man nicht entgegentreten. Sie kann, wenn sie der Gemeinschaft, die unter uns sich zusammengeschlossen, sich einreiht, gewiß viel nützen; außerdem aber sehe ich nicht recht ein, was sie immer tun soll. Sie hat Kräfte ohne allen Zweifel, mit denen sie Gott dienen kann. Zudem hat auch Herr Pfarrer, der sie doch genau kennt und richtig beurteilt, sich schon ein paarmal sehr zufrieden über sie ausgesprochen und gesagt, er hoffe, sie solle einmal eine tüchtige Elementarlehrerin werden. Nächstes Semester wird die hiesige Dorfschule (natürlich| die Mädchen) von uns Diakonissen übernommen. Bald werden dann aber auch für andere Schulen Lehrerinnen gefordert werden, und da ist’s nötig, daß man bei dem Mangel an vorhandenen Lehrkräften das Auge hoffnungsvoll auf das heranreifende Geschlecht richtet. (Ich schreibe als eine alte, erfahrene Diakonissin). Also Marie ist unter uns wohl zu brauchen. So viel ist gewiß. Allein eine Diakonissin soll nach den hier herrschenden Grundsätzen nicht bloß die eine Seite des Diakonissenberufes verstehen, der sie sich zeitweilig hingibt, sondern eine Diakonissin soll alles verstehen. „Mein Ideal ist eine solche Diakonissin, die ebensowohl einer Stallmagd als Substitutin beigegeben werden könnte, als sie Geschichte lehren kann, was ich immer für das Höchste halte.“ Allseitigkeit muß angestrebt werden, und die zu erreichen ist auch Maries Ziel, weshalb ich’s für das Beste fände, wenn sie etwa ein Jahr lang sich in allen häuslichen Geschäften ganz gründlich übte und dann als Blaue Schülerin einträte. Unterdessen wäre sie auch älter geworden, was sehr gut wäre. Man neigt sich auch hier immer mehr dem Grundsatz zu, nur ausnahmsweise eine Aufnahme unter 18 Jahren zu gestatten. – Was sagst Du dazu?

 Doris Braun kommt am 1. Oktober wieder hieher, um hier zu bleiben. Wir freuen uns alle darüber. Sie kommt hieher als Probemeisterin, d. h. als Leiterin und Aufseherin derjenigen Schülerinnen, die Diakonissen werden wollen und ihre Probezeit also durchzumachen haben. Es entsteht das Amt erst mit ihrer Person, hat sich aber als ein durchaus nötiges erwiesen. Außerdem soll sie Assistentin der Frau Oberin werden. Hunderttausend Veränderungen stehen mit dem neuen Semester bevor. Und zu alle dem will Herr Pfarrer im nächsten Semester den gesamten Unterricht des Hauses einer gründlichen Revision unterziehen, auch die diesjährige Prüfungsordnung ganz anders formieren. „Immer derselbe Gang ist so langweilig.“ Das ist ganz charakteristisch für unser Leben. Nur immer Veränderung, nur immer im Zuge bleiben, nur der trägen Natur keine Zeit lassen auf dem weichen Bette der Gewohnheit einzuschlafen!

 Unser Betsaal soll zu Weihnachten eingeweiht werden, wenn er fertig wird. Unser Paramentenverein wird da vollauf| zu tun bekommen, denn der Schmuck des Altars muß herrlich werden. Wenn ich nur recht schön sticken könnte, jetzt wüßte ich wozu; denn Krägen und dergleichen stickt eine Diakonissin nicht mehr. Der Paramentenverein dient bei uns zugleich als höhere Schule der weiblichen Arbeiten. Ist eine Schülerin so geschickt, daß sie von der gewöhnlichen Nähschule dispensiert werden kann, so avanciert sie in den Paramentenverein. Das ist gewiß recht schön und zeigt, wie auch dies Gebiet, auch solche scheinbar geringen Künste dem Herrn Jesus zu Füßen gelegt und zu Seiner Ehre verwendet werden können.

 Wozu schreibe ich Dir eigentlich so viel? Offenbar nur um das Papier auszufüllen. Denn Reden geht schneller, und das ist mir ja in Aussicht gestellt. Gelt, Du läßt mich Dein Moritzle recht fleißig herumtragen! Nein, wie ich mich freue auf alles, aber besonders auf die zwei kleinen Kinder, die ich so sehr, sehr liebe. ...Vorige Woche ging meine Stubengenossin Margarete Schmieg nach Fürth ab, um der dortigen Krippenanstalt vorzustehen. Ein rechter Diakonissenberuf. Nun residiere ich allein in meinem Stübchen. Solch eine Wohltat weiß man hier zu schätzen. Doris Braun hat in den ersten Wochen ihres Hierseins nach Hause geschrieben, sie schlafe hier auf dem Marktplatze.

 Ich werde Dir viel von unsern interessanten psychologischen Stunden erzählen. Da wird man in der Tat und Wahrheit mit jeder Stunde um ein Stück gescheiter, obwohl, ja eben deshalb, weil Herr Pfarrer fast in jeder Stunde sagt und also auch uns sagen lehrt: Ich weiß gar nichts, bin ganz dumm, ich kann nur das Eine: bemerken und – mich wundern. Gestern z. B. kam in der Betrachtung der sieben Teile bei der Leiblichkeit des Menschen das Herz an die Reihe. Da wurden wir aufmerksam gemacht, wie oft in der heiligen Schrift das Herz vorkomme, wie es da immer als Zentrum des Wollens, Denkens und Empfindens erscheine, geradezu alles vertrete, während wir gewohnt sind, alle diese Dinge dem Kopf, dem Gehirn, sonderlich der grauen Substanz zuzuschreiben. – „Vielleicht ist das gerade unser Unsinn, unsere Verkehrtheit.“ ...

Deine treue Theresia.


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An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 27. Dezember 1859
 Liebe Ida, einen schönen Gruß von Doris Braun an Dich. Sie sitzt nämlich gerade neben mir im „Familienzimmer“. Ein Familienzimmer, denk Dir, ist am Weihnachtsabend unter uns geboren und uns allen, Diakonissen und Schülerinnen, ist die Weisung gegeben worden, eine Familie zu bilden und uns lieb zu haben wie Familienglieder; weil aber Anstalt und Familie nie zu vereinigende Widersprüche sind, eine Familie in einer Anstalt etwas Unnatürliches ist, so sollen wir das Unnatürliche zum Übernatürlichen verklären. Das war der Gedanke, in welchem sich die fingerslange (selbsteigener Ausdruck) Rede von Herrn Pfarrer am heiligen Abend gipfelte und zu welchem sich der Hauptgedanke, der unsere Augen nach Bethlehem zu der heiligen Familie richtete, wie eine Art von Vorbereitung verhielt. Du merkst wohl, daß das „Familienzimmer“ mit einiger Ironie Schlagwort im Diakonissenhaus geworden ist, und um dies zu charakterisieren, nenne ich’s so oft gleich im Anfang meines Briefes; es dient aber zugleich als Eingang zu meiner Festbeschreibung, aus welchem sich diese entwickeln kann: das Familienzimmer ist ja herausgeboren aus unserm bisherigen Betsaal, der demnach schon durch einen andern ersetzt sein muß. Das ist auch so: das Diakonissenhaus hat sein schönstes und liebstes Weihnachtsgeschenk in seinem neuen Betsaal bekommen, der, obwohl noch nicht ganz fertig, doch am heiligen Christtag zum erstenmal benützt werden konnte. Ach, es war schön, als wir feierlich von unserm bisherigen Betsaal, in dem wir so viel Gotteswort gehört, so viel Wohltat genossen, Abschied nahmen, singend und betend, und dann in geordnetem Zug zum neuen Bethaus wanderten, aus dem uns reicher Lichterglanz entgegenstrahlte. Der Chor ist wahrhaft himmlisch: die Decke ist mit einem zarten Blau bemalt, die Wände mit ebenso zartem Lila; in der Mitte steht vorderhand noch unser alter Altar, nicht an die Wand angerückt, so daß hinter denselben unser verdienstvoller Herr Neupert einen ganzen Blumengarten aufpflanzen konnte. „Friede sei mit diesem Haus“, das war das erste Wort, welches im Saale erschallte, der so akustisch gebaut ist, daß alles Sprechen und Singen doppelt schöner klingt als im alten Betsaal... Von einem kleinen| Chore wurde eine Aufforderung zum Lobe Gottes dreistimmig gesungen (aus dem 95. Psalm) und darnach wechselweise in gewohnter Weise Ps. 19 mit der Antiphone: „Der Herr gehet heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer.“ Darauf traten drei Diakonissen auf die Stufen des Chores und lasen die Lektionen: 1. Mose 28, 10–22 und Luk. 2, 1–14 und Ebr. 1, 1–14. Nach den beiden ersten Lektionen wurden Responsorien gesungen, die gleichsam meditierend das wiederholten, was gelesen worden war. Nach der dritten Lektion stimmten wir an: Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich etc.

 Nun trat Herr Pfarrer ans Pult und zeigte uns in einer kurzen Ansprache, daß die Dienerin Jesu nicht wird durch irgend eine äußere Geschicklichkeit und Gewandtheit, sondern allein durch ein gottverlobtes Leben. Deshalb habe man uns auch dies Bethaus gebaut. Er hielt uns dann vor, was alles wir in demselben zu erwarten hätten, und kam der Einwendung, daß er uns am Ende zu viel versprochen, durch die Bemerkung zuvor, daß, wenn sich’s um Gottes Wort handelt, die Wirklichkeit immer alle Verheißung und Erwartung übertrifft. Am Schluß sangen wir den 1., 10., 11. und 12. Vers von dem schönen Liede: „Ich steh an Deiner Krippe hier.“ Als wir zu dem Vers kamen: „Nehmt weg das Stroh, nehmt weg das Heu“, da sang wieder ein kleinerer Chor dreistimmig bis zu dem letzten Vers: „Zur Seiten will ich hier und dar viel weißer Lilien stecken“, wo wieder die ganze Hausgemeinde einfiel. – Es lautet freilich alles so trocken, wenn ich’s da nacheinander hererzähle, aber es war schön!... Zum erstenmal wurde in diesem Jahr dem ganzen Haus in einem Zimmer beschert, in unserm festlich geschmückten „Familienzimmer“, in dessen Mitte ein glänzender Baum durch die Dornenkrone mit seiner Spitze zur Decke emporstrebte und zwei große Engel mit weißen, sternbesäten Gewändern die Freude verkündigen halfen, „die allem Volk widerfahren ist“...

 Herr Pfarrer Löhe hat mit uns zwei Geburtstagskindern (Schwester Gertrud Hahn feiert mit mir ihren Geburtstag) Kaffee getrunken, d. h. er seine Schokolade und wir, Frau Oberin und die übrigen Schwestern, das andere berühmte Getränk. Es war Zufall, daß Herr Pfarrer gerade im Hause war. Er gratulierte uns ein wenig komisch. Mir wünschte er, daß| ich in diesem Jahre recht freundlich gegen ihn werden möge, weil ich ihm ja den Tag zuvor bös gewesen sei. (Es bezog sich das nämlich auf eine von mir vor einer Lehrstunde eingereichte flehentliche Bitte, nicht so hart und streng zu sein. Es bezog sich nämlich die Strenge hauptsächlich auf mich und ich wollte mich ihr ganz gerne unterwerfen, wenn sie nicht so öffentlich ausgeübt würde.) Es ist unser Herr Pfarrer ein gewaltiger Mann. Er kann einen recht hinunter- und hinaufziehen. ...Er tadelt immer an mir, daß ich keinen Dettelsauer Brief schreiben könne, d. h. ganz strikte bei der Sache bleiben, nicht mehr und nicht weniger, als nötig ist, verhandeln. Ich bemühte mich nun es recht zu machen, bekam aber dann die Weisung, das Bemühen gehen zu lassen. Er sei vom singenden Vortrag auch nicht auf diese Weise kuriert worden. ...Denk’ Dir, ich nehme nun Stilstunden mit den Roten, und Herr Pfarrer ist so barmherzig, mir meine Aufsätze zu korrigieren. Da kann man aber lernen! Es ist zu interessant, diese Korrektur! Neulich hat er mir darunter geschrieben: „Es ist eine gewisse Manier im Stile; die wollen wir doch, wenn wir können, fassen und austun.“

 Ich wünsche Euch viel Segen für das Jahr 1860.

Eure dankbare Theresia.


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 20. Februar 1860

 Liebe, gute Schwester, jetzt möchte ich Dir wieder einmal recht viel Eingehendes von uns schreiben, und damit dies geschieht, meinen Brief ein wenig tagebuchartig einrichten. Da mußt Du halt ungleichen Stil, ungleiche Schrift und Tinte entschuldigen.

 Heute (Montag, den 13.) war, wie gewöhnlich, nachmittag von 3–5 Akademie. Das ist’s, was diesen Tag auszeichnet. Es hat nämlich bei uns fast jeder Tag etwas Besonderes. Der Hauptgegenstand der Besprechung war diesmal die Armenpflege. Es existieren in unserer Gemeinschaft jetzt zwei Armenvereine: der eine besteht aus Gliedern, die im Dorfe leben, also Bauern, sodann Frau Direktor Alt, Fräulein Förderreuther etc., der 2. aus Bewohnerinnen des Diakonissenhauses. Um Kollisionen zu vermeiden, schied man die Territorien.| Wir haben außer der zu uns gehörigen Blöden- und Pfründenanstalt auch die beiden Filiale Reuth und Haag übernommen. Es ist ein ziemlicher Eifer da, die Kranken und Armen zu besuchen und ihre Nöte zu erkunden. Von dem einen Drittel unserer Klingelbeuteleinlage werden Unterstützungen gespendet. In der letzten Zeit dringt Herr Pfarrer besonders darauf, daß man die Bücher der Armen ins Auge fasse; oft haben sie Verkehrtes, oft fehlt alles. Man ließ dieser Tage etliche „Brastberger“ (dieses Predigtbuch empfiehlt Herr Pfarrer für die Bauern. Luthers Postille verstünden sie nicht) und „Starkenbücher“ kommen. Dieses Gebetbuch sei den Bauern nützer als die Samenkörner. Obwohl die Gebete in beiden Büchern in gar keinen Vergleich zu stellen sind, sich wie Feuer und Wasser zueinander verhalten, so ist doch das Starkenbuch in unsern Zeiten, unter unseren Leuten vorzuziehen; denn es hat den großen Vorteil, daß jedem Gebet eine Betrachtung vorausgeht, durch welche man sich in die Gebetsstimmung hineinlesen kann. Und das braucht so ein Weib, das eben sein Vieh gefüttert hat und nun beten will. Die Gebete in den Samenkörnern setzen alle eine inwendige Sammlung und Feier der Seele schon voraus.
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 Diese Woche (es ist heute Sonntag Estomihi) sauste wie jede an mir vorüber, eh ich mich recht besinnen konnte. Ganz gewiß, es vergeht nirgends die Zeit so schnell wie in Dettelsau. Neulich hat Herr Inspektor Bauer dieselbe Bemerkung ausgesprochen, und Herr Pfarrer erwiderte darauf: „Ja, das macht, weil wir so viel zu tun haben. Wenn wir morgens aufstehen und uns besinnen, was für Arbeit vor uns liegt, so ist’s immer drei- bis viermal mehr, als wir ausrichten können. Darum liegt uns auch die Gefahr so nah, daß wir über dem Arbeiten das Beten vergessen. Wie wird uns die Stille in unserm neuen Betsaal so wohl tun!“ – Bis jetzt dauert nämlich die Arbeit im Betsaal, und erst nächsten Sonntag hoffen wir, ihn ungestört beziehen zu können. Das Anstreichen der Bänke, das Setzen der Öfen etc. verzögerte die Sache so. Dafür haben wir dann aber auch ein Gotteshaus, so lieblich und schön, daß man uns beneiden könnte, – nein, lieber will ich sagen, daß Du nun einen Anziehungspunkt mehr hast im Frühjahr hierher zu kommen. In der Fastenzeit wollen| wir täglich an dem lieblichen Orte zu bestimmter Stunde zusammenkommen zum stillen gemeinschaftlichen Gebet. Auf einem gedruckten Zettel werden demnächst die Gegenstände des Gebets zusammengestellt erscheinen.

 Vorigen Freitag hatten wir abends Abendmahl in der Dorfkirche. Immer noch zögert die Erlaubnis vom Konsistorium, daß wir unsere eigenen Abendmahlstage haben dürfen. Wahrscheinlich ist die Beichtstuhlgeschichte an dem Verzug schuld. Hast Du schon davon gehört? Jedermann weiß, daß Herr Pfarrer Privatbeichte hält. Das ist bis jetzt immer in der Sakristei, zuweilen auch in seinem Haus geschehen. Um nun eine bessere Einrichtung zu diesem Zweck zu treffen, ließ Herr Pfarrer einen Beichtstuhl machen, und darüber sind nun die Herren ungehalten, obwohl doch der Beichtstuhl nicht etwas der lutherischen Kirche Fremdes ist. Herr Pfarrer hat ihn jedoch alsbald wieder herausnehmen lassen, weil’s ja doch nicht auf die bequemere Einrichtung, sondern auf die Sache selbst ankommt. ...Den Tag vorher, Donnerstag, feierten wir die Hochzeit unseres Gärtners (Herr Neupert). Bei dem Mahle floß manch schönes Wort aus Herrn Pfarrers Munde. Die Sängerinnen hatten allerlei schöne Sachen eingeübt. Als nun eine Pause eintrat, erhob sich mit einem Male Herr Pfarrer und sagte in herausforderndem Tone: „Wer dem Gärtner nicht gut ist, der hat’s mit mir zu tun.“ Und diesen Satz behauptete er, indem er aus der Heiligen Schrift nachwies, wie hoch man die Gärtnerei achten müsse...

 Heute vormittag predigte uns Herr Pfarrer über 2. Tim. 3. Schon seit mehreren Wochen wählt er immer die Texte aus den Timotheusbriefen. Die Herren unseres Ortes haben nämlich alle Donnerstag abend Kapitel, und da lesen sie die Pastoralbriefe. Jeder hat eine andere Ausgabe des griechischen Testaments, einer die Vulgata etc., und wir genießen auf die angedeutete Weise eine Frucht dieser Zusammenkünfte. ...Die beiden letzten Predigten (vor acht Tagen war der Text 2. Tim. 1, 14 ff.) waren besonders wichtig. Sie zeigten uns die Not und das Elend der gemischten Kirche und wie das in der Welt nicht anders sein könne. Daran schlossen sich ernste Mahnungen an die Unzufriedenen unter uns, die unglücklich über die Enttäuschung sind, in der sie sich finden, weil sie gehofft,|
An die Mutter.
Augsburg, den 13. Juni 1855

 Teure Mutter, ...ach, wie schön muß jetzt der Garten sein! Wie gerne möchte ich die Morgen- und Abendstündchen darin zubringen! Es geht einem ordentlich das Herz auf, wenn man in der jetzigen Jahreszeit in der freien Natur herumstreifen kann. Das habe ich neulich empfunden, als Herr Korhammer so freundlich war, mich zu einer Tagespartie einzuladen, die am Fronleichnamstag ausgeführt wurde. Wir waren schon um 3/46 Uhr auf den Beinen und gingen nach dem drei Stunden von hier entfernten Diedorf, wo wir den ganzen Tag sehr vergnügt zubrachten. Und der Heimweg, ach, der reizende Heimweg! Es kann gar keine schöneren Wälder geben als die, durch welche wir da gekommen sind. Ich hatte einen Strauß gepflückt, den ich fast nicht umfassen konnte. Bei solchen Partien will mich vorher immer die Zeit reuen, aber das ist wirklich dumm, denn man arbeitet nach einer solchen Unterbrechung wieder zehnmal leichter.

 Ach! der Gedanke, daß ich schon nach anderthalb Monaten das Institut verlassen soll, wird mir immer schwerer. Nur ein Vierteljahr wenn mir noch drein gegeben würde! Hätte ich doch die Zeit besser benützt!...

Ihre dankbare Therese.


An die Mutter.
Augsburg, den 1. Juli 1855

 Inniggeliebte Mutter, ich komme soeben von unserm Gärtchen, wo ich ein recht vergnügtes Stündchen zugebracht habe, indem ich nämlich in meiner englischen Bibel las, mit der mich neulich Herr Korhammer beglückte und die, in schön gepreßtes Leder gebunden und mit Goldschnitt verziert, fast die schönste Zierde meiner kleinen Bibliothek macht.

 ...Unser Examen ist heuer am 13. August (in sechs Wochen). Wie will ich diese wenigen Wochen noch benützen, um so viel als möglich noch von dem Unterricht im Institut zu profitieren! Ich fühle mich glücklich in dem Gedanken, einmal, und zwar recht bald, meinen eigenen Unterhalt verdienen zu können und dadurch einen Teil Ihrer Sorgen hinwegzunehmen. Freilich will es mir manchmal bitter scheinen, der Aussicht,| Lieder, Passionslieder. Vor etlichen Wochen hat er uns den Vorschlag gemacht, für jede Katechismusstunde etliche Verse zu lernen, aber so, daß keine besondere Zeit darauf verwendet wird, während des Brotessens und dergleichen. – Wir lernten nun so schnell, daß wir in kurzer Zeit die Lieder vom ersten bis zum letzten, so viel in unserm Gesangbuch stehen, konnten, und heut hat uns Herr Pfarrer examiniert. Es war recht komisch, als er zum Anfang bemerkte, daß ja Leute zugegen seien, die er nicht aufsagen lassen dürfe (Respektspersonen), es sollten sich doch die melden, die vom Aufsagen verschont sein wollten. Da steht unter Lachen die ganze Kompagnie, voran die jüngsten Schülerinnen, auf. – Es geschieht das, glaube ich, auch nur in Dettelsau, daß gestandene Leute jeden Tag ihr Lied lernen und sich dann verhören lassen. Du müßtest lachen, wenn Du sehen könntest, mit welchem Eifer Doris und ich vor der Stunde schnell noch in ein Zimmer gehen und uns da verhören oder uns wenigstens wie die Schulkinder fragen: „Kannst du dein Lied? Auch alle Verse anfangen?“

 Morgen ist Dein Geburtstag, meine liebste Schwester. Wir werden ihn sehr feierlich begehen. Frühmorgens gehen sie („wir“ darf ich arme Kreatur ja da nicht sagen) ins Pfarrhaus und stimmen schöne dreistimmige Gesänge an. Sara Hahn treibt seit einiger Zeit Heimlichkeiten mit einem großen Bogen, auf den sie mit prächtiger Malerei und Zierschrift den 20. Psalm setzt. Sonst hat sich der Herr alles verbeten; nicht einmal gratulieren soll man ihm, „wenn man ihm nicht etwas ganz Besonderes zu wünschen hätte“. Aber Du läßt Dir doch gratulieren, liebe Ida, sintemal mein Wünschen nicht ein leeres sein soll, sondern zum Gebet werden soll. Ein Jahr des Segens tue sich Dir auf. Euer ganzes Haus sei Gottes Hütte, in der es Ihm gefällt. An Deinen Kindlein schenke Er Dir große Freude und verleih Dir Weisheit, Seine Weisheit zum schweren Geschäft der Erziehung. Von meinem Dank, den ich Dir, meine liebste Schwester, schuldig bin, will ich jetzt schweigen, aber meinem Heiland will ich ihn zu Füßen legen und Ihn bitten, daß Er mit vollen Händen Dir heimzahle, was Du an mir getan...

 Gottes Gnade sei mit Dir!

Deine dankbare Theresia.


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An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 25. März 1860

 Herzlich geliebte Ida, habet schönen Dank für Eure viele, erfolgreiche Bemühung. Unsere Freude war groß, als die meisterhaft gepackten Herrlichkeiten ausgepackt wurden. Es ruht ein offenbarer Segen auf unserm Unternehmen. Wir haben jetzt 330 Gewinste beisammen, und weil viele wertvolle Sachen dabei sind, so halten wir es für ganz recht, statt 5000 Lose 6000 zu verbreiten. Wir haben schon mehr als einmal die Erfahrung gemacht, daß hier gewöhnlich die Baukosten im voraus zu gering angeschlagen werden. So geht es gewiß auch mit den 500 fl. für das Leichenhaus, zu welchem bereits der Riß vorliegt...

 Unsere Gebetsvereinigung zur Mittagszeit wird uns immer süßer, so daß wir bitten wollen, daß wir auch für die Zeit nach der Passion so etwas haben möchten.... Neulich hätte ich beinahe meinen Mesnerinnendienst verloren. Andere zuerst, dann ich selber sahen, daß die Arbeit über die Kräfte ging, d. h. daß sie eben nicht ordentlich getan werden konnte. Es hieß, der Betsaal erfordere eine ganz eigene Person, die sonst keinen Beruf hätte. Es schmerzte mich in der Tat, diesen schönsten der Dienste fahren lassen zu müssen. Ich sehne mich nämlich oft sehr nach einem äußerlichen, so recht weiblichen Dienen. Es ist einmal die weibliche Natur für das immerwährende Lehren nicht angetan. ...Nun ist’s aber glücklicherweise so gekommen, daß auf unsere Bitte die Mesnerarbeit statt unter zwei unter vier verteilt wurde. Das ist Dir eine Lust, wenn wir zuweilen alle vier in unserm Gotteshause wirtschaften. Doris ist auch dabei.

 Gestern abend kam Herr Pfarrer in unser Kapitel. Da war er wieder so väterlich gegen uns. Es gab nämlich einiges zu schlichten, und wir, wenigstens etliche von uns, hatten mehrere Tage zuvor seine Strenge zu fühlen. Ich hatte einen schweren Tag, bis ich mich entschlossen, Herrn Pfarrer zu schreiben, und schon nach einer Stunde bekam ich von ihm Antwort; zwar zog sich eine ernste Weise durch den ganzen Brief hin, wie es auch nötig war, dennoch konnte ich ganz fröhlich sein, nachdem ich die ernsten, liebevollen Worte gelesen. – „Ihr solltet ein Bau sein, der nicht alsbald zu stürzen droht, wenn| er mit dem Finger der Wahrheit und der väterlichen Liebe berührt wird.“ Es wurde gestern abend wieder die Wahl einer Kapitelsoberin vorgenommen, weil das Jahr vorüber ist. Wir alle wollten, daß unsere Frau Oberin Kapitelsoberin würde, weil etwas Unnatürliches drin zu liegen scheint, daß eine Schwester im Beisein der Frau Oberin das Kapitel leitet. Allein es ging der Wunsch nicht durch, und so wurde die bisherige Oberin neu gewählt...
Deine treue Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 11. April 1860

 Meine liebste Mutter, ...wir haben eine schöne Festzeit erlebt. Am Gründonnerstagabend war wieder Liebesmahl, wobei ungefähr neunzig Personen in unserem Familienzimmer waren. Es wimmelte in diesen Tagen von Gästen, so daß unser Betsaal oft ganz gefüllt war beim Gottesdienst. Am Ostersonntag schallte es schon früh halb fünf Uhr durch unsere Schlafböden: „Der Herr ist auferstanden, Halleluja!“ Und Schlag sechs Uhr war alles im Betsaal versammelt, um die Ostergesänge anzustimmen. Herr Pfarrer selbst kam heraus und hielt den Gottesdienst. Wir Mesnerinnen hatten den Altar schön geschmückt mit frisch aufgeblühten Camelien etc. und Lichtern.

 ...Gestern und heute gingen schon mehrere unserer Kinder auf Ferien, etliche um nicht wieder zurückzukehren. Es wird doch durch das viele Abschiednehmen das Gefühl dafür nicht so abgestumpft, als man denken könnte, besonders nicht gegenüber Kindern, die man eine Zeitlang hat leiten dürfen, wo einem beim Abschied auch alle Untreue einfällt, deren man sich schuldig weiß.

 Mir war in Deinem lieben Brief die Stelle besonders rührend, wo Du schriebst, wie Du in früheren Jahren oft für uns gebetet. Habe Dank, tausend Dank, Du liebe, gute Mutter, für jedes Gebet, das Du auch für mich zum Heiland gerichtet hast und noch richten wirst. Habe überhaupt Dank für alles! ...Mit der innigsten kindlichen Liebe bin ich

Deine Tochter Therese.


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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 23. Mai 1860

 Mein gutes Mutterle, ...das neue Semester hat begonnen. Ich bekomme vortreffliche Schülerinnen. Es ist, als ob uns der liebe Gott für das vorige Halbjahr entschädigen wollte. Ich bin voll Mut und Freude. Herzliche Grüße

Deine Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 17. Juni 1860

 Meine liebste Mutter, ...seitdem ich Dir nicht mehr geschrieben habe, hat sich unter uns viel ereignet. Nach langem, sehnsüchtigem Warten kam endlich vom Konsistorium die Erlaubnis, daß wir unsere eigenen vollständigen Gottesdienste haben und auch Abendmahl in unserem Betsaal halten dürfen. Am Pfingstmontag war das erste Abendmahl, das sollte zugleich der Tag der feierlichen Weihe unseres Bethauses sein. Wir haben nun in der Tat alles, was wir nur wünschen können. Und denk Dir dabei meine Privatgefühle als Mesnerin, als wir zum erstenmal den Wein eingießen, die Brote zum erstenmal zurechtlegen durften. Überdies predigt Herr Pfarrer jetzt wieder jeden Sonntag. An den Trinitatissonntagen will er uns über die Nachfolge Jesu predigen. In der ersten dieser zusammenhängenden Predigten, am vorigen Sonntag also, erklärte er uns zuerst die verschiedenen Arten der Nachfolge und sagte uns dann einzelne Sprüche, in denen uns Tugenden Jesu genannt werden, welchen wir nachstreben sollen. Aber mit einem Male unterbrach er diese Reden und sagte in einem Tone, der sich nur aus dem beichtväterlichen Verhältnis Herrn Pfarrers zu uns erklären ließ: „Ich will euch zeigen, worinnen ihr vor allem Jesu nachfolgen sollt: ihr sollt ihm in der Demut folgen.“ Und nun wurde Jesu Demut vorangestellt und dagegen unsere Demut, d. h. unser Hochmut in einzelnen aus unserem Leben gegriffenen Beispielen gestraft.

 Am andern Tag hielten wir Diakonissen Kapitel, und da schlugen wir einen Haufen Stellen nach, die alle von der Nachfolge Jesu in der Demut handelten.

|  Gegenwärtig ist die Suspension unseres Herrn Pfarrers in der Schwebe. Ein ganz verhärteter Bösewicht der hiesigen Gemeinde, der in allen möglichen Sünden und Greueln lebte, ließ sich von seinem Weibe scheiden und heiratet nun eine andere. Da nun wohl nach den bei uns geltenden Ehegesetzen, nimmer aber nach Gottes Wort so etwas geschehen darf, verweigert Herr Pfarrer die kirchliche Einsegnung. Die kirchlichen Oberen drohten mit der Suspension. Wir erwarten nun, was geschieht.
Deine dankbare Theresia.


An ihre Schwester Marie.
Neuendettelsau, den 3. Juli 1860
 Meine Schwester, ...ich muß Dir jetzt auch was erzählen: ich bin in Weiltingen gewesen, bin beim Kreuz gewesen, bin in Dinkelsbühl gewesen... So! Wie geht das zu? Johanna Zwanziger mußte nach Illenschwang zur Erholung, konnte noch nicht allein reisen; sie wünschte sich, daß ich mitginge; Herr Pfarrer erlaubte es, weil man sagte, es wären mir einige Ausruhetage gut. Am Mittwoch fuhren wir weg, zugleich mit Marie Vosseler und Elise Steinlein, die beide heimgehen, um sich ein Stück Gesundheit wieder zu holen. Am Abend kamen wir nach Illenschwang – die heimatliche Gegend – Gerolfingen – Wittelshofen – Michelbach. Im Pfarrhaus zwei wundernette Kinder zur großen Freude des Herrn Pfarrers Zwanziger. Am nächsten Nachmittag nach Weiltingen, über die Brücke, die Mühlgasse herauf, am Garten vorbei, die acht Staffeln bestiegen. Das Wohnzimmer kam mir viel kleiner vor, ich blieb nicht lang, ließ mich dann im Haus herumführen. Die Getreidestube ist ein „schönes“ Zimmer geworden; viele Räume sind noch etwas leer, zwischen Treppe und oberem Gang ist ein Verschlag – Glastüren. Der Hof war so leer, kein Streuhaufen, auf dem Ludwig als König steht und wir unten, ihm sein Reich streitig zu machen suchend. Der Garten! Alle Grasplätze sind von breiten, schönen Wegen durchzogen, alles mit Sorgfalt, ja mit Kunst arrangiert. Der Pfarrer arbeitet drin wie ein Bauer, hat kaum Zeit, den Schlafrock überzuwerfen und uns flüchtig zu begrüßen...| Ins Schulhaus – Verblüffung über den unerwarteten Besuch, dann Freude. In der Schulstube sieht’s aus wie ehedem; mein Platz. Ich kenne fast niemand, man kennt mich auch nicht recht. So geht’s zum Kirchhof. Die Gräber sind zu meiner Freude schön gerichtet, blühende Blumen und sich rankender Efeu. Zuletzt in die Kirche, die schöne, altertümliche. Ich hab jetzt erst manches recht angeschaut. – Wieder nach Illenschwang. Denk Dir recht viel dazu: Dich hätt ich bei mir haben mögen. Am andern Tag allein zum Kreuz. Ein hohes Akazienbäumchen bezeichnet den Ort kenntlicher als sonst. Es war ein schöner Weg hin und her. O unser Ludwig! Wer von uns zweien wird ihn zuerst sehen dürfen? Am dritten Tag allein nach Dinkelsbühl. Herr und Frau Dekan sehr liebenswürdig. – Auf dem Heimweg geh ich ein Stück mit einem alten, hinkenden Weib. Ich red mit ihr, erfahre Armut, schenk ihr was, da fängt sie laut an, dreimal nacheinander das Vaterunser zu beten. Sie war aber nicht römisch. – In Veitsweiler sind, so höre ich, fromme Pfarrleute, aber sonst viel Tod in dieser Gegend. „Du wollest treue Arbeiter in deine Ernte senden.“

 Du brauchst von mir keinen Rat. Es ist alles gesagt, wenn ich Dir zurufe: Halt Dich fest, recht fest an Deinen Heiland. Nimms recht genau mit der Sünde, aber jammere und klage nicht immer über Dein Sündenelend, sondern senk Dich alle Tage tiefer in Seine heiligen fünf Wunden. –

 Jetzt wollen wir wieder was anfangen, damit wir doch nie ruhen in guten Werken: wir wollen ein Rettungshaus gründen. Dazu betteln wir halt wieder Geld, wir sind ein Comitee von fünf Gliedern. Heut ist große Konferenz. Eine Rede über die „Rosenmonate“ hält Herr Pfarrer. Wir dürfen zuhören...

Deine getreue Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 30. Juli 1860
 Liebste, teuerste Mutter, wir sind gegenwärtig Schafe ohne Hirten, da unser Hirte suspendiert ist, weil er einen Menschen, den er nach Gottes Wort unmöglich kirchlich einsegnen kann,| nicht traut. Ein jeder Pfarrer, der noch einen Funken Gewissen hat, müßte ebenso handeln. Das sind traurige, beweinenswerte Zustände in unserer Kirche... Ich will nicht mehr hievon reden, wenngleich mein Herz voll davon ist...

 Ich will ein wenig davon erzählen, wie wir die Wartezeit ausfüllen. Denk Dir, Herr Pfarrer hat uns wieder eine neue Idee gegeben, nämlich ein Rettungshaus hier zu gründen. Wir sammeln nun mit Eifer dafür. In den Akademischen Stunden wird immer dafür gesorgt, daß unsere Hände nicht ruhen, sondern Werke der Barmherzigkeit wirken. Mir ist alles, was ich tun darf, große Freude. Meinem Beruf als Lehrerin gebe ich mich in diesem Semester mit besonderer Lust hin, da mir meine Klasse viel Freude macht, außerdem gehe ich jeden Sonntagnachmittag nach Bechhofen, um dort die Kinder um mich zu sammeln und mit ihnen heilsame Dinge zu treiben. Ferner habe ich mit Babette Dieterich eine große Arbeit unternommen, nämlich eine Liederkonkordanz zu schreiben, die es einem jeden Menschen ermöglicht, sobald ihm irgend ein Vers einfällt, das ganze Lied kennen zu lernen. Wir hoffen, damit auch einiges Geld zu verdienen, und Geld brauchen wir immerzu. Außerdem darf ich demnächst auch ein Velum (eine Kelchdecke) sticken, aus roter Seide mit Gold zu einer Altarbekleidung nach Amerika. Ich wollte, der Tag wäre nur ein paar Stunden länger...

 In dankbarer, kindlicher Liebe

Deine Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 12. September 1860
 Liebste, beste Mutter, ...leider kann ich Dir über die Suspension unseres Herrn Pfarrers noch nichts Bestimmtes schreiben. Vor nun bald drei Wochen kam ein Reskript vom Oberkonsistorium, sehr wohlwollenden Inhalts, in welchem den vorigen Ansprüchen, Bedingungen und Weigerungen eine milde Ausdeutung gegeben wurde, die sich zu früheren Reskripten wie günstige Widersprüche verhielt. Da aber die Ausdrücke zuweilen etwas zweideutig und verhüllt gegeben waren, so schrieb Herr Pfarrer auf dieses Reskript noch einmal, um ganz klar und offen zu sein. Auf dieses letzte Schreiben| nun ist keine Antwort bis jetzt gekommen und unsere Freude, Herrn Pfarrer wieder im Amt zu wissen, damit einstweilen sistiert. Ach, wie sehr täte eine baldige Änderung dieser Dinge not! Du glaubst nicht, wie man in unserem Hause den Mangel des Sakramentes und der Beichte fühlt und wie gerade statt größerer Buße, zu der uns doch gewiß die ganze Sache hätte leiten sollen, größere Lauigkeit und Sicherheit allenthalben zu merken ist. (Ich schließe mich bei dieser Bemerkung nicht nur nicht aus, sondern stelle mich gerade voran.) Freilich leiden wir in manchem Betracht keine Not; aber Beichte und Abendmahl fehlen eben und damit so gar viel. – Recht dankbar dürfen wir sein für eine kostbare Zulage, die unser Abendgottesdienst seit dem 1. August bekommen hat: Herr Pfarrer knüpft nämlich an jede der drei Lektionen, die allabendlich gelesen werden, eine kurze Betrachtung an, die mir so lieb sind wie manche Predigt. Da werden wir, und sind’s zum Teil schon, hineingeführt in die Herrlichkeit der davidischen und salomonischen Zeit, daß man sich kaum etwas Schöneres denken kann. – Jetzt bin ich fünf Jahre hier und habe fünf Jahre lang gesaugt an den kostbaren Dingen, die uns aus dem Reichtum des göttlichen Wortes vorgelegt worden sind, – findest Du es wunderlich, daß mir oft der Gedanke kommt: Du solltest doch auch einmal hinausgehen und in anderen Kreisen auskramen, was du hier gelernt? Zumal in den letzten Zeiten regte sich dieser Wunsch aus mancherlei Gründen lebhaft, so daß ich ihn laut werden ließ. Doch wurde bis jetzt noch nicht auf seine Erfüllung eingegangen...
Deine dankbare Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 8. November 1860

 Liebes, gutes Mutterle, ...und nun laß Dir noch sagen, daß ich das neue Semester recht vergnügt angefangen habe. Ich lehre nun auch Mittelhochdeutsch, in welche Wissenschaft ich mich aber erst hineinarbeiten muß. Neulich habe ich Hostienbacken gelernt. Das ist mein erstes Backwerk, das ich bereitet habe.

Deine dankbare Tochter Theresia.


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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 14. November 1860

 Meine liebste Mutter, ich wünsche Dir so viel, was mir diktiert wird von dem Dank, den ich Dir schuldig bin. Ich wünsche Dir noch recht viele Geburtstage, von denen immer einer fröhlicher wird als der andere. Ich denke mir, das muß so sein, daß man je älter je fröhlicher wird. Hat man doch mit jedem Jahr aufs neue eine Zeit der Mühsal hinter sich und ist ein Stück leichter geworden zum eilenden Flug zu der Ewigkeit. Ich werde Dir an Deinem Geburtstag alles erbitten, was ich denke, das Du brauchst. Ich bete überhaupt in letzter Zeit ernstlicher für Dich und unsere Angehörigen, als ich es bisher getan. Ich habe mir eine feste Regel für mein Gebetsleben gemacht, wozu auch gehört, daß ich mir eine Zeit besonders für die Fürbitten bestimmt. Und weil ich das Verlassen dieser Regel zu fürchten habe, wenn es nur mir überlassen ist, so tut mir jemand die Barmherzigkeit, mich zu mahnen und von Zeit zu Zeit meine Selbstkontrolle, die ich darüber führe, anzusehen.

 Du hast, liebe Mutter, an den Briefen, die ich Dir schreibe, ein ziemlich genaues Thermometer über mein inneres Leben. Du hast vielleicht manchmal gelächelt über die überschwenglichen Briefe, die ich in den ersten Semestern meines Hierseins geschrieben; es sind dafür dann später nüchternere gekommen, wie es ja nicht anders sein kann. Es werden ja die meisten Christen den Weg gehen, daß sie eine Zeit der ersten Liebesglut haben, dann vielleicht in ein entgegengesetztes Extrem verfallen, bis sie endlich zu der seligen Mitte einkehren. Ich sehne mich sehr nach dieser Zeit der Mitte. Was ich Dir vor einiger Zeit von meinem Wunsch, einmal von hier fortgeschickt zu werden, sagte, war dummes Zeug. Es können nicht immer die Rosen blühen, und wenn mich hier ein paar Dornen stachen, so wollte ich fort. Gott sei Dank, daß er mir meinen Willen nicht getan hat. Es gibt nichts Törichteres, als von hier selbst fort zu wollen.

Deine gehorsame Tochter Theresia Stählin.


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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 30. Dezember 1860
 Meine liebste Mutter, wir haben nun schon wieder Weihnachten hinter uns, auf das ich mich besonders diesmal so sehr gefreut. Ach, hättest Du unseren schönen Gottesdiensten beiwohnen können! Unser Betsaal sah und sieht herrlich aus mit seinem von Tannenreis umbauten Ziborium (d. h. das Gerüst ist mit Tannenreis umwunden). Das Ganze vollendet sich oben in einem Kreuz, und hie und da schaut eine künstliche Rose aus dem feierlichen Grün heraus... Kurz vor Weihnachten hielt uns Herr Pfarrer in einer Akademischen Stunde einen Vortrag über den Weihnachtsbaum: seine Bedeutung, die Art und Weise ihn zu schmücken etc. Davon war nun die Frucht am Heiligen Abend zu sehen. Schwester Cäcilie putzte den Baum so schön, wie er noch nie war. Eine große dunkelrote Rose war hoch oben angebracht und barg in ihrem Innern das Jesuskindlein und zwei Engelchen. Sterne, Rosen und Lilien, vergoldete Ähren und künstliche Trauben – das alles gab einem bloß durch das Anschauen des Baumes eine Menge weihnachtlicher und anderer Ideen an die Hand. Für die Dorfjugend und auch für die unseres Hauses war im Pfründhaus eine Krippe erbaut. Am Heiligen Abend wurde beschert. Wir kamen vom Gottesdienst und die Kinder mußten noch einige Minuten in ihre Zimmer, bis die Lichter brannten. Wir sangen unterdessen: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ etc., bis Herr Pfarrer selbst unter uns trat und sagte: „Ich soll euch holen.“ Da flogen die Kleinen mehr als sie gingen zum funkelnden Saal, – aber als ich eben mit den Kleinsten noch unter der Tür stand, da hing sich eins derselben fest an mich und sagte, wie überwältigt von dem Glanz: „Ach, ich trau mich nicht hinein.“ Es ist wirklich Weihnachten doppelt schön unter Kleinen. Dieser Jubel über das Bettstättchen mit der blauseidenen Decke und der Puppe, die ihre Augen schließen und öffnen kann! etc. – Man fängt selber noch einmal an, mit Puppen zu spielen. – Der Höhepunkt unserer Feier war am zweiten Festtag, denn da hatten wir Abendmahl, welchem eine Predigt voranging über Glaube, Erkenntnis und Kontemplation. Die ersten beiden Stücke sieht man an den Hirten, die der engelischen Botschaft alsbald glauben, dann aber auch schauen und erkennen wollen, das| dritte an der Mutter Gottes, die „alle diese Worte bewegt“ und damit zum Genuß all des Erlebten gelangt. Wir wurden sehr ermahnt, rechten Fleiß auf die Betrachtung zu verwenden.

 Ich freu mich, daß die Jahre hingehen und daß ich älter werde. Wenn ich nur erst einmal fünfundzwanzig Jahre alt bin!

 Gott schenke Dir ein neues Jahr des Segens und bezahle Dir tausendfältig all Deine Muttertreue!...

Deine dankbare Tochter Theresia.



  1. Herr Pfarrer brachte Marianne zur Kur nach Cannes.


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Meine Seele erhebet den Herrn
b) Lehrerin der Blauen Schule unter Löhe »
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