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Kurzgefaßte Einleitung in die heiligen Schriften (11. Auflage)/Zweite Abteilung (NT)

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Kurzgefaßte Einleitung in die heiligen Schriften (11. Auflage)
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Zweite Abteilung.
Die apostolischen Bücher.
A. Die Briefe des Paulus.
§ 77.
Paulus, der Apostel der Heiden.
 1. Paulus, oder wie er ursprünglich hieß: Saulus, ist nach Akt. 22, 3 geboren in Tarsus, der Hauptstadt von Cilicien. Seine Eltern waren Juden aus dem Stamme Benjamin (Phil. 3, 5), besaßen aber das römische Bürgerrecht (Akt. 16, 37; 22, 25–29). Sie schickten den Sohn in früher Jugend nach Jerusalem, wo er zu den Füßen des Gamaliel saß und mit allem Fleiß das Gesetz lernte, während er nebenbei nach jüdischer Sitte ein Handwerk, und zwar das eines Zelt- und Teppichmachers, trieb (Akt. 22, 3; 18, 3). Er strebte mit großem Ernste nach vollkommener Gerechtigkeit und war ein Eiferer für das Gesetz. Dieser Eifer für das Gesetz führte ihn auch dahin, daß er an der Steinigung des Stephanus und an der Verfolgung, die sich daran anschloß, besonders lebhaften Anteil nahm, weil er die Christen für Feinde des Gesetzes hielt (7, 57). Er drang selbst in die Häuser der Christen ein; Männer und Weiber, die Christen geworden waren, band er und überlieferte sie dem Gefängnis (Akt. 8, 3; 22, 4). Endlich ließ er sich vom Hohenpriester| und den Ältesten Vollmachten an die Synagoge von Damaskus ausstellen, um auch die dort befindlichen Abtrünnigen gefangen zu nehmen und nach Jerusalem zu führen, damit sie hier bestraft würden. Aber eben auf diesem Wege, als er „schnaubend mit Drohen und Morden wider die Jünger des HErrn“ nach Damaskus eilte, traf ihn das allmächtige Wort des HErrn JEsus, der ihm in seiner Herrlichkeit erschien, ihn bekehrte und zu einem Rüstzeug auserwählte, welches seinen Namen zu den Heiden tragen sollte (Akt. 9, 1 ff. 22, 5 ff.; 26, 9 ff.). In Damaskus empfing er durch Ananias die Taufe (Akt. 9, 10 ff.; 22, 12 ff.). Dies geschah etwa 35 n. Chr. Aber es währte geraume Zeit, bis Paulus seinen hohen apostolischen Beruf antreten sollte. Er weilte nur kurze Zeit in Damaskus (Akt. 9, 17 ff.) und begab sich dann nach Arabien (Akt. 9, 20 ff., vgl. Gal. 1, 17), von wo aus er nach Damaskus zurückkehrte. Hier mußte er wiederum fliehen. Jetzt erst kam er nach Jerusalem (41), wo ihn Barnabas aus Cypern bei den Aposteln einführte (Akt 9, 26 ff.; Gal. 1, 18 ff.). Nach kurzem Aufenthalt begab er sich in seine Heimat Cilicien (Akt. 9, 30), bis endlich Barnabas ihn nach Antiochien holte (Akt. 11, 25. 26). Hier wirkte er ein Jahr lang in der neu entstehenden heidenchristlichen Gemeinde. Er begab sich auch von hier aus zur Überbringung einer Kollekte zum zweitenmal nach Jerusalem (Akt. 11, 30; 12, 25). Endlich im Jahre 45 (?) 50? erging durch den Mund eines Propheten der zweite Ruf des HErrn an ihn, und er begann nun seine große, weltumfassende Wirksamkeit unter den Heiden (Akt. 13, 1 ff.).

 2. Diese heidenapostolische Wirksamkeit des Paulus vollzog sich teils durch seine großen Missionsreisen, teils durch seine Sendschreiben an die Gemeinden, die er auf jenen Reisen gestiftet hatte. Solcher Reisen zählt man gewöhnlich drei.

 a) Die erste a. 45 (?) 50? (Akt. 13 und 14) führte ihn durch Cypern, Pamphylien, Pisidien und Lykaonien. Auf Cypern bekehrte er den Prokonsul Sergius Paulus; von da an führt er den Namen Paulus. In den genannten Landschaften stiftete er Gemeinden zu Antiochien in Pisidien, Ikonium, Lystra und Derbe.

 Ehe er die nächste Reise unternahm, hatte sein apostolisches Wirken erst die Prüfung der übrigen Apostel und der Muttergemeinde| in Jerusalem zu bestehen. Denn obwohl der Apostel Paulus den Vorzug Israels vor den Heiden dadurch thatsächlich bezeugte, daß er überall zuerst den Juden predigte, so war er doch in seiner Missionsthätigkeit von dem Gedanken getragen, daß für die Rechtfertigung vor Gott die Stellung zum Gesetze nicht entscheide, daß vielmehr der Glaube an das Verdienst Christi das einzige Erfordernis für den Menschen sei, ein Glied des Reiches Gottes zu werden. Er erteilte die Taufe ohne vorher die Beschneidung zu verlangen, obwohl er zwischen beiden an und für sich keinen ausschließenden Gegensatz statuierte (vgl. Akt. 16, 3 mit Gal. 2, 3), wie er denn auch selber für seine Person dem Gesetze seines Volkes treu blieb (Akt. 18, 18; 21, 18–26). Diese Handlungsweise aber, daß Paulus an Heiden die Taufe erteilte, ohne vorher ihre Beschneidung zu verlangen, wurde in Antiochien durch Judenchristen angefochten; ja man flößte den Heidenchristen Besorgnisse wegen der Gewißheit ihres Heiles ein, vgl. Akt. 15, 1 ff.; Gal. 2, 1 ff. Aber die Versammlung der Apostel, der Ältesten und der Gemeine in Jerusalem (a. 52) billigte die Weise des Apostels Paulus, die der HErr selbst durch Wunder und Zeichen an den durch seine Predigt gläubig gewordenen Heiden, wie auch durch das Wort des Propheten bestätigt hatte (Akt. 15, 6–29). So fuhr denn Paulus fort, unter den Heiden in seiner Weise das Evangelium zu verkünden und Gemeinden JEsu zu stiften.
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 b) auf seiner zweiten Reise a. 52–54 (Akt. 15, 40–18, 22), wo er Markus entließ, worauf auch Barnabas von ihm schied, besuchte er zuerst die von ihm gestifteten Gemeinden und ordnete, stärkte und befestigte sie. Er gedachte nun weiter nach dem Osten zu ziehen, aber der HErr rief ihn in wunderbarer Weise, nachdem er aber zuvor die galatischen Gemeinden gestiftet hatte, nach dem Westen. So kam er an die Küste von Troas. Ein Mann erschien ihm im Traume und bat ihn, herüber nach Makedonien zu kommen (Akt. 16, 9). Er folgte dem Rufe und kam auf dieser Reise nach Philippi, Thessalonich, Beröa, Athen und Korinth. Überall stiftete er Gemeinden. In Korinth blieb er 11/2 Jahre. Hier hörte er, daß die junge Thessalonicher-Gemeinde von außen angefochten und von innen bedroht sei durch ungesunde Richtungen; er schrieb daher von hier aus zweimal an die Thessalonicher. Die Erfüllung eines| Gelübdes führte ihn dann nach Jerusalem. Er begab sich von Korinth nach Ephesus, aber nur auf kurze Zeit, von Ephesus zog er über Cäsarea nach Jerusalem. Von hier aus kehrte er zur Ruhe von dieser zweiten Reise nach Antiochien zurück.

 c) Erst auf seiner dritten Reise a. 55–58 (Akt. 18, 33–21, 15) machte er Ephesus zum Ort eines längeren Aufenthalts. Er blieb nun 21/4 Jahre (vgl. jedoch Akt. 20, 31) in dieser Stadt. In dieser Zeit wurden die galatischen Gemeinden durch Judenchristen beunruhigt, was den Brief an die Galater veranlaßte. Auch in Korinth lief die Gemeinde Gefahr, sich aufzulösen; dies nötigte den Apostel zu seinem ersten Briefe an die Korinther. Als die Gefahr durch sein Sendschreiben nicht beseitigt wurde, so eilte er selbst nach Korinth, schickte aber, um sich den Weg zu den Herzen dieser Gemeinde zu bahnen, einen zweiten Brief voraus. Er blieb nur kurze Zeit in Korinth und Achaja. Sein Sinn war jetzt auf Rom gerichtet, und zwar wollte er nicht bloß in Rom selbst das Wort des HErrn verkündigen, sondern von hier aus sollte sein Evangelium bis in die weitesten Fernen des Abendlandes dringen. Wie erst Antiochien, so sollte nun Rom ein Mittelpunkt seiner apostolischen Wirksamkeit werden. Um die Gemeinde in Rom dafür vorzubereiten, schickte er den Brief an die Römer voraus, welcher zeigen sollte, daß das Evangelium für die ganze Welt bestimmt sei.

 d) Paulus kam nach Rom, aber in Ketten. In Jerusalem fiel er infolge eines Aufruhrs der Juden wider ihn in die Hände der Römer (Akt. 21, 27–34). Es sollte zunächst eine Schutzhaft sein, aber obwohl nichts gegen ihn vorlag, so ließ man ihn doch nicht aus der Haft. Zwei Jahre lang war er in Cäsarea bereits gefangen gehalten worden, als er vom Prokonsul an die Entscheidung des Kaisers appellierte und daraufhin nach Rom abgeführt wurde. Durch diese Gefangenschaft waren nun die Gemeinden Asiens auf lange von seiner persönlichen Gegenwart abgeschnitten; er stärkte sie deshalb durch Briefe. Solche richtete er von Rom aus an die Epheser, Kolosser, an Philemon und an die Philipper. Im Jahre 63 wurde er freigesprochen. Er begab sich nun in das Morgenland, doch nicht auf lange. Auf der Rückreise schrieb er an Timotheus| und Titus, welche in Ephesus und auf Kreta Aufträge des Apostels zu erfüllen hatten. Nach Rom im Jahre 65 zurückgekehrt, unternahm er die längst geplante (Röm. 15, 24) Reise nach Spanien, wie aus dem Briefe des Clemens an die Korinther c. 5 erhellt. Von seiner dortigen Wirksamkeit erfahren wir nichts Näheres. Da wir ihn aber zuletzt zum zweitenmal zu Rom in Gefangenschaft sehen, aus welcher er nicht mehr frei kam, so müssen wir schließen, daß er in Spanien in Haft genommen und nach Rom gebracht wurde, um dort als römischer Bürger vor des Kaisers Gericht gestellt zu werden. Etwa im Jahre 67 wird er dort sein Leben mit dem Zeugentod beschlossen haben. Aus dieser zweiten Gefangenschaft schrieb er den andern Brief an Timotheus, dessen Abfassung wir wohl in das Jahr 66 setzen dürfen.

 3. Sehen wir nun auf das bisherige zurück, so tritt uns ein Doppeltes entgegen: 1. daß Paulus zu einem Apostel JEsu Christi aus einem Pharisäer und Eiferer für Gesetzesgerechtigkeit geworden ist, 2. daß der Beruf dieses Apostels nicht wie der der Zwölfe zunächst und vor allem dem Volke Israel, sondern vielmehr der Völkerwelt gegolten hat. In diesem doppelten Umstand wurzelt die Eigentümlichkeit des Paulus und seiner Briefe, und zwar nach Inhalt und Form.

 a) Was den Inhalt der paulinischen Briefe anlangt, so ist der Grundgedanke, der sie beherrscht, die Erkenntnis, daß Gerechtigkeit vor Gott nicht auf dem Wege des Gesetzes erlangt, sondern von Gott um des Verdienstes Christi willen aus Gnaden dargeboten und vom Glauben angeeignet werde. Diese Erkenntnis ist dann eins mit der andern, daß jeder Mensch, er sei Jude oder Heide, gleich bedürftig, wie gleich fähig des Heiles in Christo sei, – denn die Rechtfertigung hat mit den Werken des Gesetzes nichts zu thun. Von diesem Grundsatze aus erschließt uns der Apostel die tiefste Einsicht in die allgemeine Heilsbedürftigkeit (Sündhaftigkeit), in das Wesen des Heilswerkes (Genugthuung, Sühnung, Versöhnung), der Heilsaneignung (Vergebung der Sünden und Rechtfertigung durch den Glauben) und der Heilsvollendung (Verklärung der alten Natur in die neue). In diesem allen erkennen wir den Gegensatz zu seinem früheren Pharisäismus. Sodann aber ist hinsichtlich des Inhalts von Einfluß sein spezieller Beruf in der Völkerwelt. Er erkennt| und verkündigt das Christentum mehr wie jeder andere Apostel in seinem Unterschiede vom Judentum, in seinem neuen selbständigen Wesen. Darum erschließt er die Fülle des Heiles in Christo. Paulus lehrt in Christo das Ende der Wege Gottes mit der Menschheit und im Christentum die Vollendung des menschlichen Geschlechts. Dem Heidenapostel ist das Christentum die Religion der Menschheit.

 b) Was aber die Form der paulinischen Briefe anlangt, so erkennt man den ehemaligen Schriftgelehrten an der Lehrhaftigkeit seines Vortrags überhaupt, die ihn vor allen Aposteln auszeichnet, und den rabbinisch geschulten Mann an der (dialektischen) Beweglichkeit seiner Gedanken; Beredsamkeit im Sinne der Griechen zeigt er nicht, aber wenn er diesen Mangel an Rhetorik selbst nicht leugnet (1 Kor. 2, 1. 4, 13), so ist seine Rede doch gewaltig. Schon Irenäus sagt: Paulus redet oft in „Hyperbatis“, d. h. seine Rede überstürzt sich, weil sie dem Strome gleicht und sein Geist voll gewaltigen Dranges ist. Seine Rede drängt unaufhaltsam zum Ziele, wie der, der sie führt, rastlos nach seinem großen Lebensziele, der Bekehrung der Heiden, ringt. Endlich erkennt man den Apostel der Heiden an der großen Mannigfaltigkeit der Darstellung. Er ist den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche geworden, von dem einen großen Gedanken beseelt, das Evangelium allen zu bringen, damit sie durch dasselbe alle selig werden.

 Die paulinischen Briefe sind von der Kritik (vgl. p. 3) für teilweise (oder auch ganz) erdichtet oder doch wenigstens für interpoliert erklärt worden. Aber wann sollen sie erdichtet sein? Der Gnostiker Marcion, der c. 144 n. Chr. die Briefe des Apostels im Sinn seiner Irrlehre korrigiert hat (es gilt dies von den 9 Gemeindebriefen und dem Philemonbrief), ist ein indirekter Zeuge dafür, daß in der Kirche der damaligen Zeit die Briefe des Apostels als echt anerkannt waren. Andrerseits lebten Repräsentanten der Empfänger der Briefe bis an den Anfang des 2. Jahrhunderts. Sie müßten also innerhalb des dazwischen liegenden etwa 40jährigen Zeitraums entstanden sein, wenn sie erdichtet wären. Der große Abstand, welchen die sonst bekannten Erzeugnisse jener Jahrzehnte hinsichtlich der Tiefe und des Reichtums der Gedanken und der Kraft der Durchführung den paulinischen Briefen gegenüber zeigen, läßt erkennen, daß letztere| einer früheren größeren, eben der apostolischen Zeit, angehören. Der Umstand, daß bei den meisten paulinischen Briefen Gemeinden, nicht Privatpersonen als Empfänger erscheinen, dürfte, zumal bei dem auf Bewahrung des Überkommenen gerichteten Sinn der ersten Jahrhunderte, der Behauptung einer späteren Erdichtung den Stempel der Unwahrscheinlichkeit von vornherein aufdrücken. Die Hauptinstanz gegen jene Behauptung bildet übrigens die Lauterkeit der Gesinnung, welche an dem Schreiber aus den Briefen uns entgegentritt und die aus denselben zu vernehmende Stimme der Wahrheit selber.


I. Die Briefe des Paulus aus der Zeit vor der Gefangenschaft.
§ 78.
Die Briefe an die Thessalonicher.
I.
 Thessalonich, ehemals Thermä, am thermaischen Meerbusen von Kassander neu gebaut und zu Ehren seiner Gemahlin Thessalonike also benannt, war eine reiche Handelsstadt Makedoniens. Hieher war Paulus in Begleitung des Silas und Timotheus gekommen, nachdem er Philippi hatte verlassen müssen. Drei Sabbate (d. h. 3 Wochen) nach einander erschien er in der Synagoge und erwies aus der h. Schrift, daß JEsus der verheißene Christ sei. Einige Juden wurden durch seine Predigten überzeugt, besonders aber glaubten viele Proselyten des Thors und viele vornehme Frauen, und so entstand die Gemeine zu Thessalonich (Akt. 17, 2–4). Ergrimmt über diesen Erfolg des Evangeliums wiegelten die Juden den Pöbel gegen die neue Gemeinde auf, indem sie zugleich vor der heidnischen Obrigkeit das Christentum als staatsgefährlich verdächtigten. Da hieraus Gefahr für Paulus drohte, so geleiteten die Christen den Apostel nach Beröa (Akt. 17, 5–10). Nur 3–4 Wochen hatte Paulus in Thessalonich gewirkt, die Gemeinde war eben erst entstanden, da mußte er sie schon wieder verlassen. Gerne wäre er darum selbst so bald als möglich nach Thessalonich zurückgekehrt, aber es stellten sich ihm Hindernisse in den Weg (1 Th. 2, 18): deshalb entsandte er den Timotheus, nachdem dieser aus Makedonien zurückgekehrt war, von Athen aus zu den Thessalonichern, damit er Erkundigungen einziehe, wie es der Gemeinde gehe (1 Thess. 3, 1 ff.).| Die Nachrichten nun, welche Timotheus dem Apostel nach Korinth brachte, und die im ganzen erfreulicher Art waren (3, 6 ff.), wurden die Veranlassung, daß Paulus etwa im Jahre 53 von Korinth aus sein erstes Sendschreiben an die Thessalonicher richtete. Die junge Gemeinde befand sich, wie dem Brief zu entnehmen ist, in schwerer Anfechtung durch ihre heidnischen Mitbürger (2, 14; 3, 3; 5, 15); während andrerseits der Charakter des Apostels und seiner Mitarbeiter ihnen scheint verdächtigt worden zu sein (c. 2, 1–12); gleichzeitig scheinen aber auch die Laster der üppigen Handelsstadt: Unzucht und Unredlichkeit im Handel und Wandel für sie eine gefahrdrohende Versuchung gewesen zu sein (4, 1–8), endlich hatte sich – wohl zufolge der Anfechtungen – die Neigung eingestellt, sich in krankhafter, schwärmerischer Weise den Aufgaben der Gegenwart zu entziehen (4, 11 ff.) und der Hoffnung auf die herrliche Wiederkunft Christi sich hinzugeben (4, 13 ff.; 5, 1 ff.). Demgemäß ist die Absicht des Briefes: 1. Die Stärkung der Angefochtenen c. 1–3; 2. die Mahnung zur Bewahrung vor dem sie umgebenden Wesen der Welt c. 4, 1–12; 3. die Belehrung über die Wiederkunft des HErrn und das rechte Verhalten in dieser Hinsicht 4, 13 bis 5, 24; Schluß 5, 25–28.

 Der Brief ist eine lebendige Fortsetzung des persönlichen Verhältnisses des Apostels zu der jungen, von ihm eben erst aus den Heiden gesammelten Gemeinde, der er über die Gefahren des Anfängertums im Christentum durch Trost, Warnung und Lehre hinüberzuhelfen sucht. Hierin liegt der Wert des Briefs, weniger in seinem Lehrgehalt, den er dennoch nicht völlig vermissen läßt, vgl. 4, 13 ff.

 Gruß 1, 1.

 I. Die Stärkung der Angefochtenen, damit sie trotz der Trübsale nicht vom Glauben weichen c. 1–3.

 Diesem Zweck dient 1. die danksagende Hinweisung auf ihren Glaubensstand (1, 2–3), welcher zeigt, daß sie Erkorene Gottes sind (4), an denen das Wort in seiner Kraft sich erwiesen (5), so daß sie durch die Art, wie sie es aufnahmen, ein Vorbild für die übrigen Christen geworden sind (6–10). Gleichem Zweck dient die Erinnerung des Apostels an die Leiden, welche die Verkündigung des Ev. ihm und seinen Gefährten in Philippi und Thessalonich eingetragen (2, 1. 2); Leiden, die sie es sich nicht hätten kosten lassen, wenn sie (wie sie vielleicht verdächtigt wurden) in unlauterer, selbstsüchtiger Absicht gekommen| wären; sowie der Hinweis auf die gleiche Leidenslage der Christengemeinden in Judäa, die, ebenso wie die Leser, von ihren eigenen Volksgenossen um des Glaubens willen verfolgt würden (v. 3–16). Endlich rechtfertigt er sich gegen den Vorwurf oder Schein, als habe er sie in ihrer Not vergessen. Sei er auch selbst verhindert worden zu kommen, so habe er ihnen doch, um sie zu stärken, den Timotheus geschickt, durch dessen gute Nachrichten von ihnen er selbst erfreut und gestärkt worden sei (2, 17–3, 10). Voll Sehnsucht sie zu sehen, bete er nun, bis ihm der Wunsch erfüllt werde, zu ihnen zu kommen, daß Gott sie stärken und bewahren wolle, bis zur Wiederkunft des HErrn (11–13). Um dies Ziel aber zu erreichen ist nötig[.]

 II. Die Bewahrung der Gemeinde vor dem Wesen der Welt c. 4, 1–12.

 Mit Berufung auf sein mündliches Wort warnt Paulus die Leser vor der Zuchtlosigkeit in geschlechtlichen Dingen, welche sie in der üppigen heidnischen Stadt rings umgibt, sowie vor der Selbstsucht in Handel und Wandel, die in der Handelsstadt gang und gäbe ist, Sünden, die Gottes Rache herausfordern (3–8). Im Gegensatz zu solchem Wesen sollen sie immer wachsen in der Bruderliebe und sich angelegen sein lassen, still zu arbeiten, damit sie der Heiden nicht bedürfen (9–12).

 Diese Warnung vor frommem Müßiggang hing aber wohl zusammen mit schwärmerischen Hoffnungen auf die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft des HErrn. Deshalb folgt nun

 III. Die Belehrung über die Wiederkunft des HErrn c. 4, 13–5, 11.

 Der Apostel belehrt die Gemeinde, daß die vor der Offenbarung des HErrn in seiner Herrlichkeit Entschlafenen dadurch nicht in Nachteil versetzt sind gegen die, welche sie noch in diesem Leibe erleben. Denn bei der Wiederkunft des HErrn werden sie zuerst auferweckt und ihm samt den noch Lebenden entgegengerückt (4, 13–18). Was aber die Zeit der Wiederkunft anlangt, so kommt der HErr zwar plötzlich und es läßt sich also die Zeit nicht bestimmen, aber unversehens kommt er nur für die sicheren Kinder der Welt, nicht aber für die Christen, die als Kinder des Lichts allzeit wachen und der Zukunft des HErrn in heiliger Bereitschaft sich allezeit versehen (5, 1–11).

 Zum Schluß ermahnt der Apostel seine Leser zu rechtem Verhalten gegen die Vorsteher (5, 12–13) und unter einander (13–18), sonderlich zu richtiger Schätzung der Prophetie (19–21), und schließt erst mit Gebet für ihre Bewahrung und Vollendung (22–24), dann mit der Aufforderung zur Fürbitte für ihn und seine Gefährten, und endlich mit Gruß (25–28).


II.
 Der erste Brief des Apostels scheint die beabsichtigte Wirkung nicht in dem gewünschten Maß hervorgebracht zu haben. Zwar die Autorität des Apostels erfreute sich bei der Gemeinde voller Anerkennung (c. 2, 2), wie sich auch ihr christliches Leben unter dem Druck gedeihlich entwickelte (c. 1, 3–4), aber unter dem andauernden| Druck der Verfolgung, der die Gemüter für schwärmerische Irrlehren um so empfänglicher machen mußte, hatte sich die Ungeduld in der Erwartung der Wiederkunft Christi bis zu dem Irrtum gesteigert, als ob diese ganz nahe bevorstehe (2, 1 ff.), und dem frommen Müßiggang schien es nun vollends nicht mehr am Ort, sich mit solch zeitlichen und irdischen Dingen, wie der gewöhnliche Beruf sie mit sich bringe, zu beschäftigen (3, 6 ff.). Dies bewog den Apostel, dem ersten Brief noch von Korinth aus und wohl im selben Jahre (53) oder im folgenden (54) einen zweiten folgen zu lassen, der eben wesentlich dies Doppelte bezweckt: 1. eine Belehrung über die Wiederkunft des HErrn oder besser eine Erinnerung zu geben an das, was Paulus auf Grund der Danielischen Weissagungen darüber mündlich gelehrt, und 2. vor dem frommen Müßiggang zu warnen.

 Dieser Brief ist der erste reine Lehrbrief des Paulus; er ist für die Lehre von den letzten Dingen von großer Bedeutung, indem er die Danielische Weissagung vom Ende entfaltet, sodann aber dient er in ethischer Beziehung dazu, das rechte Verhältnis des Christen zu den zeitlichen Dingen, sonderlich zu dem irdischen Lebensberuf zu lehren.

 Von der modernen Kritik wird die Echtheit des Briefes angezweifelt: vom Antichrist rede Paulus sonst nicht; die Ausführung des Briefes darüber ruhe auf der späteren Offenbarung Johannis. Aber schon der erste Brief behandelt ein Stück von den letzten Dingen. Für die Lehre des 2. Briefs vom Antichrist ist die Danielische Weissagung ausreichende Grundlage.

 Inhaltsübersicht.

 Gruß c. 1, 1. 2.

 I. Einleitung c. 1, 3–12.

 Der Apostel drückt seine Freude aus über den Stand der Gemeinde in Thessalonich, besonders aber über die Ausdauer in den Bedrängnissen, die ihnen widerfahren, und tröstet sie für diese mit der bei der Wiederkunft des HErrn zu erwartenden Vergeltung (1, 3–12).

 II. Belehrung von der Wiederkunft des HErrn c. 2, 1–12.

 Nach einer ernsten Warnung, sich in keiner Weise täuschen zu lassen, wenn man unter dem Vorgeben, ein Prophet oder Paulus habe es gesagt oder geschrieben, behauptet, der Tag der Erscheinung Christi sei schon da (2, 1–2), belehrt der Apostel die Gemeinde, daß derselben erst der große Abfall und das Auftreten des Menschen der Sünde (des Antichristus) voraufgehen müsse (v. 3–5,| vgl. Dan. 11, 36). Das was diese Entwickelung der Dinge noch aufhält, bezeichnet der Apostel teils sachlich (v. 6), teils persönlich (v. 7), mit beiden Bezeichnungsarten wohl eine geistige Macht, den guten Engel des Völkertums (Dan. c. 10, 12–c. 11, 1) verstehend, welcher auch die sittlichen Mächte des Volkslebens, die gottgesetzten Autoritäten und göttlichen Ordnungen innerhalb der natürlichen Menschenwelt (Ehe, Familie, die Rechtsordnung des Staates etc.), aufrecht erhält. Das jetzt schon in der Welt wirksame Geheimnis der Bosheit wird seine persönliche Zusammenfassung und Vollendung in dem „Boshaftigen“ (dem Antichrist) erreichen, dessen vorübergehendem Triumph jedoch der HErr durch seine Wiederkunft ein Ende machen wird, wobei dann auch das Gericht über die ungläubige Welt ergeht (v. 8–12). Desto inniger – gegenüber dem der ungläubigen Welt bevorstehenden Geschick – ist der Dank des Apostels für die Berufung der Gemeinde, desto dringlicher seine Mahnung, an der Wahrheit festzuhalten und sein Gebet für sie um Stärkung und Bewahrung (2, 13–3, 5). Es folgt

 III. Warnung vor dem frommen Müßiggang c. 3, 6–16.

 Die Gemeinde soll in der Nachfolge des apostolischen Beispiels und Gebotes das Wesen derer meiden, welche nicht eigenes, sondern fremdes Brot essen wollen (3, 6–12), und diejenigen, welche dem apostolischen Befehl nicht gehorchen, in brüderliche Zucht nehmen, damit sie zur Umkehr sich bewegen lassen (13–16).

 Schluß. Der Apostel schreibt den Gruß mit eigener Hand, damit die Gemeinde an dem eigenhändigen Gruße, den er in jedem Briefe beifügt, seine echten Briefe von untergeschobenen (vgl. 2, 2) unterscheiden könne (3, 17. 18).


§ 79.
Der Brief an die Galater.
 Nach Galatien, einer Landschaft Kleinasiens zu beiden Seiten des Halys – so benannt von den Galliern (Kelten), die (um 250 v. Chr.) eingewandert, a. 180 v. Chr. von den Römern unterworfen und deren Land mit Inbegriff der von Antonius dem galatischen König Amyntas geschenkten Landschaft Lykaonien a. 26. n. Chr. zur römischen Provinz gemacht worden sind –, war Paulus schon auf seiner zweiten apostolischen Reise (Akt. 16, 6) gekommen und hatte dort unter schweren körperlichen Leiden christliche Gemeinden gestiftet (Gal. 1, 6; 4, 13, 1 Kor. 16, 1) die vornehmlich aus Heiden bestanden, wiewohl es in Galatien nicht an Juden fehlte. Die Namen dieser Gemeinden sind uns nicht genannt, was sich vielleicht daraus erklärt, daß die galatische Landschaft keinen Hauptort hatte, dessen Gemeinde einen ähnlichen Mittelpunkt für die galatische Christenheit hätte abgeben können, wie Korinth für die achaiische, Ephesus für| die kleinasiatische Christenheit. Auf seiner dritten Reise (Akt. 18, 23) stärkte sie der Apostel. Er fand bei diesem Besuch noch keinen Grund zur Klage. Aber fast unmittelbar nach seinem Besuch, als er eben seine Wirksamkeit in Ephesus begonnen hatte, mußte er zu seinem tiefen Schmerze hören, daß pharisäisch gesinnte Judenchristen in die galatischen Gemeinden eingedrungen seien, die sein apostolisches Ansehen gegenüber dem der eigentlichen „Säulenapostel“ (insonderheit des Petrus) 2, 9 herabzusetzen und die Gemeinden an seinem Evangelium irre zu machen suchten. Er hatte gelehrt, daß zur Rechtfertigung des Menschen vor Gott nichts anderes nötig sei, als der Glaube an die Gnade Gottes in Christo, jene aber redeten der Gemeinde ein, ohne Annahme des Gesetzes und der Beschneidung könne man nicht selig werden. Die Mehrzahl wollte sich schon bethören lassen und die Beschneidung annehmen. Dieser drohenden Gefahr vorzubeugen, schrieb Paulus von Ephesus aus (wo er während der Zeit vom Jahre 55–58 sich aufhielt) mit eigener Hand diesen Brief (Ende 55 oder Anfang 56), in welchem er in heiligem Eifer einerseits sein apostolisches Ansehen und die Richtigkeit seiner Lehre wahrte, anderseits aber wohl mit Rücksicht auf hervorgetretene anderweitige Übelstände in der Gemeinde (ungeistliches und unbrüderliches Verhalten einzelner Glieder) (5, 15; 6, 1 ff.) falsche Folgerungen aus seiner Lehre von der christlichen Freiheit abwehrte und aufzeigte, wie der geistlich Freie Fleischeswerke nicht thue (5, 16 ff.), dagegen Christi Gesetz, nämlich das Gesetz der Liebe, erfülle (6, 1 ff.). Dieser Brief ist somit ein rechter Lehrbrief. Kern und Stern desselben ist einerseits die Lehre von der Freiheit des Christen vom Gesetze und von der Rechtfertigung allein aus Glauben, anderseits von der wahren Gesetzeserfüllung aus dem Geiste. Dies beides ist in diesem Brief wie in keinem andern nach allen Seiten erwiesen und durchgeführt. Der Lehrgehalt ist somit wesentlich derselbe wie der des Römerbriefes; nur daß in letzterem mehr der ruhige Fluß zusammenhängender Gedankenentwickelung herrscht, während im Galaterbrief die Erörterung in Form eines lebhaften Gesprächs mit den Lesern verläuft und das Gemüt des Apostels, für den die Frucht seiner ganzen galatischen Missionsthätigkeit auf dem Spiele stand, in stärkere Mitleidenschaft gezogen erscheint.
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|  Neuerdings will man unter den galatischen Gemeinden die auf Pauli erster Missionsreise in Antiochia Pisidiae, Lystra, Derben gesammelten verstehen, nicht die auf der 2. Missionsreise (Akt. 16, 6) im galatischen Land, der Gegend um Ancyra und Pessinus gewonnenen; denn das „auch“ Gal. 2, 5 setze eine zur Zeit des Apostel-Concils Winter 51/52 in Galatien bereits vorhandene Christenheit voraus; auch pflege der Apostel im Unterschied von Lukas die Länder nicht nach ihrem alten Namen, sondern nach der von den Römern ihnen gegebenen offiziellen Bezeichnung zu benennen, die römische Bezeichnung Galatien habe aber auch die Gebiete der ersten Missionsreise umfaßt. – Gegen diese Meinung spricht aber der aus der Darstellung der 1. Reise in der Apostelgeschichte nicht zu erklärende v. 13 des 4. Kapitels; sodann das „sobald (schnell)“ in c. 1, 6; dies setzt Leser voraus, welche weniger befestigt waren, und paßt nicht zu den auf der 1. Reise Gewonnenen; denn diese waren in die betreffenden Streitfragen bereits eingeweiht und hatten so auch wider die von den Judenchristen drohende Anfechtung eine Stärkung erfahren (Akt. 16, 4–5). Das „Euch“ c. 2, 5 bezeichnet nicht bestimmte Gemeinden der Heidenchristenheit, also etwa die Gläubigen aus der 1. Missionsreise; denn selbst wenn diese darunter zu verstehen wären, so wäre ein „auch“ erforderlich; denn in erster Linie war es doch die Verwirrung der heidenchristlichen Gemeinde in Antiochia Syriä, welche den Apostel zur Reise nach Jerusalem veranlaßte; es hatten aber die Vorgänge in Antiochien prinzipielle Bedeutung, nämlich für das Bestehen einer selbständigen Heidenchristenheit, und es sollte nach Gottes Willen (c. 2, 1) der Streit Anlaß zu einer prinzipiellen Entscheidung werden; also will das „euch“ verstanden sein aus dem Gegensatz von Judenchristen und Gemeinden, für welche Petrus Autorität ist, und Heidenchristen, von denen Paulus spricht und zu welchen er spricht (vgl. 1, 16; 2, 1; auch den Gegensatz in 2, 15: „wir“ sind zwar Juden, aber wir haben doch denselben Glaubensweg beschritten, wie Ihr), und es ist so viel als: „euch Heidenchristen“. – Daß aber Lukas andere Bezeichnungen hat, als St. Paulus, kommt soweit diese Behauptung richtig ist, davon her, daß er etwas anderes thut, als St. Paulus; er beschreibt nämlich die Missionsreisen nach ihren einzelnen Stadien.
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|  Der Inhalt des Briefes im einzelnen ist folgender:

 Eingang 1, 1–5. Er enthält (v. 1–4) den ganzen Brief im kleinen.

 I. Der apostolische Beruf des Paulus und die Göttlichkeit seiner Lehre c. 1, 6 bis 2, 14.

 Nachdem der Apostel seinen Lesern (v. 6–10) die ganze Schärfe des Gegensatzes zwischen ihm und den Irrlehrern fühlbar gemacht hat, deren Lehre er eine Verkehrung des Ev. nennt, um deretwillen er sie mit dem Anathema belegt, wahrt er zunächst seine volle apostolische Autorität (c. 1, 11–2, 14) durch Hinweis auf die Unmittelbarkeit seiner Bekehrung, Berufung und Erleuchtung und seine daraus folgende apostolische Selbständigkeit. Er erinnert an drei Thatsachen seiner Lebensgeschichte, 1. daran, daß er durch den HErrn selbst bekehrt und zum Apostel berufen worden sei, in völliger Unabhängigkeit von der jerusalemischen Muttergemeinde und ihren Aposteln (c. 1, 13–24), 2. daß die andern Apostel in Jerusalem seinen selbständigen apostolischen Beruf an den Heiden feierlich anerkannt haben (2, 1–10), ja, 3. daß er das Haupt der Apostel Israels, den Petrus, strafen durfte, weil er in Antiochien die Heidenchristen, die er durch Pflege der Tischgemeinschaft erst als Brüder anerkannt, hernach verleugnet hatte (2, 11–14).[1] Aus alledem folgt ja der selbständige und unmittelbar göttliche Beruf des Paulus neben dem der übrigen Apostel.

 II. Der Beweis für die Richtigkeit der Lehre des Paulus 2, 15–5, 12.

 Das Verständnis von 2, 15–21 hängt davon ab, ob man in diesem Abschnitt eine Fortsetzung des dem Petrus von Paulus gemachten Vorhalts sieht oder nicht. So viel ist klar, daß Paulus auf Grund seiner und aller Judenchristen Erfahrung – von der Gerechtigkeit allein aus Glauben – es als ungereimt bezeichnet, von den an JEsum gläubig gewordenen Heidenchristen noch Erfüllung des Gesetzes zu verlangen, während doch durch den Tod Christi das Verhältnis des Christen zum Gesetz gelöst ist. Von c. 3 an beweist der Apostel den Galatern die Thorheit ihrer Rückkehr unter das Gesetz

 1. aus ihrer eigenen Erfahrung, welche ihnen sagt, daß sie den Geist des neuen Lebens empfangen und seine sichtbaren, wunderbaren Erweisungen gesehen haben, infolge des Glaubens, nicht aber auf Grund gesetzlichen Thuns (3, 2–5); 2. aus der h. Schrift und Geschichte. Der Anfang einer Gemeinde Gottes auf Erden stammt von dem Glaubensgehorsam ihres Ahnherrn (3, 6–7), und die demselben gewordene göttliche Zusage dehnt die Verheißung| des Heils („des Segens Abrahams“) auch auf die Völkerwelt aus, ohne daß es zur Erlangung desselben etwas anderes bedarf, als den Glauben (3, 8–9). Dagegen das Gesetz wirkt Fluch (weil niemand es vollkommen halten kann); ein Fluch, von dem uns Christus erlöst hat, indem er in seiner Person an unserer Statt ihn büßte (3, 10–14). Im Anschluß hieran kommt der Apostel auf die Stellung und Bedeutung des Gesetzes in der Heilsgeschichte (und Heilsordnung) zu sprechen. Das Gesetz ist nicht eine nachträglich an die Verheißung angehängte Bedingung (eine einschränkende Testamentsklausel); als solche käme es, 430 Jahre nach der Verheißung, zu spät und würde dieselbe überdies geradezu umstoßen (15–18); seine Bedeutung ist nur eine zeitweilige, für die Gnadenoffenbarung vorbereitende gewesen: durch Weckung und Schärfung des Sündenbewußtseins zu erziehen für Christum, den Glauben und die Gotteskindschaft, in welcher die natürlichen Unterschiede (des Volkes, Standes und Geschlechts) als für das Verhältnis zu Gott belanglos aufgehoben sind (v. 19 bis 29). Nun, nachdem diese Vorbereitungszeit zu Ende, sind die, die ehemals unter dem Gesetz waren, aus dessen Vormundschaft entlassen und zu selbständigen Gotteskindern gereift (4, 1–7), und die ehemals Heiden waren, sind durch Christum der Botmäßigkeit unter ihren Göttern entnommen; wie sollten diese durch Annahme des Zeremonial-Gesetzes zu einer ihrem früheren heidnischen Naturdienst in vielfacher Beziehung ähnlichen elementaren Stufe gottesdienstlichen Lebens zurückkehren (4, 8–11)?

 Einen unerwartet herzlichen Ton schlägt der folgende Abschnitt an (4, 12–20), in welchem der Apostel den Galatern die Störung ihres persönlichen Verhältnisses zu ihm vorhält, welche damit eingetreten sei, daß sie jenen nur von Parteieifer getriebenen jüdischen Eindringlingen bei sich Raum gegeben haben. Nach diesem Appell an das Gemüt seiner Leser wird die Rede des Apostels wieder lehrhaft. Aus der typischen Anfangsgeschichte Israels, an dem Verhältnis Ismaels und Isaaks, von denen der eine, der Sohn der Magd, natürlicherweise, der andere, der Sohn der Freien, kraft Glaubens an die Verheißung erzeugt ist, zeigt er ihnen den unversöhnlichen Gegensatz gesetzlichen und evangelischen Wesens, des fleischlichen Judentums und der Gemeinde der aus dem Geist geborenen Gotteskinder, die, obwohl hier verfolgt, doch die Erbin der Verheißung ist (4, 21–31). Nachdrücklichst macht der Apostel sie dann auf die Größe der Gefahr aufmerksam, in der sie bereits schweben: Beschneidung und Gesetz annehmen heißt Christum verlieren und aus der Gnade fallen – und schließt dann mit einem scharfen Wort über die sie verstörenden Irrlehrer den ganzen Abschnitt (5, 1-12). Der nun folgende Schlußteil des Briefes zieht

 III. die rechten sittlichen Folgerungen aus der Lehre des Paulus 5, 13–6, 10.

 Die Christen sind also frei vom Gesetz. Diese Freiheit aber sollen sie auch bewähren durch einen Wandel im Geist, indem sie den Geist in sich walten lassen und das Fleisch töten (5, 13–24), insonderheit christliche Liebe üben, die ebenso eine seelsorgerlich tragende als eine mitteilende und gebende ist| (5, 25–6, 10). Zum Schluß dieses von ihm eigenhändig (6, 11) geschriebenen Briefes deckt Paulus den tiefsten Grund des Gegensatzes zwischen ihm und seinen Widersachern auf. Diese wollen der Schmach des Kreuzes entfliehen und suchen (mit der Bekehrung der Galater) nur ihren eigenen Ruhm, während er nichts will als den Ruhm des Kreuzes und die Wundenmale JEsu (Spuren ausgestandener Bekenntnisleiden) an seinem Leibe trägt. Eine neue Kreatur (als die Wirkung des Glaubens) und nicht Beschneidung, sagt er nochmals zusammenfassend, ist das, was Gott gefällt. Wer darin mit ihm einig ist, dem wünscht er Friede, – wer aber nicht, der lasse ihm wenigstens Frieden (6, 11–18).


§ 80.
Die Briefe an die Korinther.
I.
 1. Korinth, eine reiche und blühende griechische Handelsstadt, in der Mitte zwischen dem Morgen- und Abendland gelegen, zugleich ein Sitz aller Bildung, sonderlich der Weltweisheit und Beredsamkeit, aber freilich auch aller Laster, sonderlich der Unzucht und des Betrugs, – diese Stadt hatte in ihrer Mitte eine bedeutende, von Paulus gestiftete, christliche Gemeinde. Denn, nachdem Paulus in Athen von seiner in die Bedürfnisse heidnisch-griechischer Bildung so tief eingehenden Predigt fast keinen Erfolg gesehen hatte, gelang es ihm in Korinth, durch eine überaus einfältige und schlichte Verkündigung des Gekreuzigten (1 Kor. 2, 1–5) eine große Gemeinde zu sammeln, die vornehmlich aus Heiden bestand, welche meist den geringeren Ständen angehörten (1 Kor. 1, 26 ff.). Er verließ Korinth nach 11/2 jährigem Aufenthalt, a. 54 (vgl. Akt. 18, 1–17). Das ihm so innig befreundete Ehepaar Aquila und Priscilla folgte ihm nach Ephesus und blieb an diesem Orte, während er nach kurzem Aufenthalt daselbst nach Jerusalem eilte. In dieser Zwischenzeit, bis Paulus zu längerer Wirksamkeit von Jerusalem resp. Antiochien nach Ephesus zurückkehrte, lernte Aquila und Priscilla den Apollos (Apollonius) kennen. Dieser gelehrte und beredte Alexandriner war bisher ein Johannesjünger gewesen; das fromme Ehepaar lehrte ihn den HErrn JEsum kennen, und nachdem er in der Erkenntnis desselben genugsam gefördert war, ging er nach Korinth, um das Werk des Paulus als Lehrer des Evangeliums dortselbst fortzusetzen (Akt. 18, 24–28); 19, 1; 1 Kor. 3, 6). Dies sollte aber für die Gemeinde verhängnisvoll werden. Die natürliche Vorliebe für den| glänzenden Vortrag des scharfsinnigen Schriftforschers Apollos bewirkte, daß dieser in den Augen vieler über Paulus stieg, während wieder andere im Gegensatz zu jenem für den Paulus Partei ergriffen. Als nun vollends einige judenchristliche Lehrer kamen und der Gemeinde einredeten, Petrus sei der rechte Apostel und Paulus hätte sich nur unter die Apostel eingedrängt, so entstand eine dritte Partei, die nach Petrus sich nannte. Eine vierte Partei wollte über den Parteien stehend, das wahre von menschlicher Überlieferung und Autorität unabhängige Christentum Christi haben. – Mit dieser übeln Weiterentwicklung der Gemeinde hängt es zusammen, daß eine Neigung in ihr entstand von der Autorität des Apostels und der Gesamtkirche überhaupt sich zu emanzipieren und sich selbständig zu stellen; zum Teil mag auch diese Verirrung in einem falschen Genuß ihrer günstigen äußeren Lage (c. 4) begründet sein; denn im Unterschied von anderen Gemeinden hatte die korinthische bei ihrer Entstehung nicht Verfolgungen bestehen müssen; der Mißerfolg einer jüdischen Anklage gewährte ihr große äußere Vorteile (Akt. 18, 12–17). In der freundlichen Stellung der Bevölkerung der Stadt lag übrigens noch eine andere Versuchung, welcher die Gemeinde zum Teil unterlag: man ließ sich dadurch zu einem über die Grenzen des Erlaubten hinausgehenden Verkehr mit den Heiden (c. 8 und 10) bestimmen; so drang heidnisches Wesen ein, in Mißbrauch der christlichen Freiheit; heidnischer Sauerteig fand Raum und zeigte sich wirksam im Leben (c. 5 und 6) und Lehre (c. 15) und eine gewisse Abstumpfung oder Verdunkelung des geistlichen Urteils hinsichtlich der wichtigen und weniger wichtigen der geistlichen Gaben (c. 12 und 14) trat ein. Unter solchen Einflüssen und unter dem oben erwähnten Parteitreiben, wo die Leidenschaften vollen Spielraum hatten, vergaß man das Eine, was not thut. So verfiel die Zucht, Unordnung aller Art riß ein; an die Stelle des einfältigen Evangeliums aber trat ein freies, über die geschichtlichen Thatsachen sich wegsetzendes, sog. rein innerliches, geistiges Christentum (1 Kor. 15). Das alte natürliche griechische Wesen drohte das Christentum der Gemeinde zu verfälschen, ja zu vernichten.
.
 2. Von alledem hörte Paulus, nachdem er mehrere Jahre lang in Ephesus gewirkt, durch Korinther, die zu ihm kamen (1 Kor. 16, 17),| besonders durch Angehörige der Chloë in Korinth (1 Kor. 1, 11), aber auch durch ein Schreiben von der Gemeinde selbst (c. 7, 1), überbracht wohl von Stephanas, Fortunatus und Achaikus (16, 17). In diesem entschuldigten sie sich teils über Vorwürfe, die ihnen Paulus gemacht, – Paulus scheint nämlich schon vor unserm ersten Brief einen an die Korinther geschrieben zu haben, in dem er ihnen befiehlt, gegen Unzüchtige strenge zu sein (vgl. 1 Kor. 5, 9), ja auch schon einmal während seines 3jährigen Aufenthaltes in Ephesus einen kurzen Besuch in Korinth (2 Kor. 13, 1) gemacht zu haben – teils stellten sie mancherlei Fragen über Ehe, Geistesgaben, Teilnahme an Götzenopfermahlen u. a. Jene Nachrichten nun und diese Anfragen zusammen gaben dem Paulus Veranlassung, von Ephesus gegen das Ende seines dortigen Aufenthalts im Jahre 57 oder 58 diesen ersten Brief an die Korinther zu schreiben. Voll seelsorgerlicher Liebe, aber auch in heiligem apostolischen Ernste eifert er in demselben gegen Parteiwesen, indem er zeigt, was für sie die Hauptsache sein sollte, und worauf sie bei der Predigt und dem ganzen Thun der Lehrer vor allem achten müßten (c. 1–4); dann straft er ihr zuchtloses und unbrüderliches Wesen (c. 5. 6), beantwortet ferner die Ehefrage (c. 7), sowie die Frage nach dem falschen und rechten Gebrauch der christlichen Freiheit (c. 8–10), verweist ihnen die bei den gottesdienstlichen Versammlungen eingerissenen Mißbräuche (c. 11), belehrt sie über den Wert und Gebrauch der Gaben des Geistes (c. 12–14), über die Auferstehung des Leibes (c. 15), und schließt mit der Ermahnung zur Sammlung und mit persönlichen Mitteilungen (c. 16). Der Zweck dieses Briefes ist ein vorwiegend praktischer. Wiewohl die Ausführungen von der Auferstehung des Leibes von unschätzbarem Werte sind, so liegt doch ganz unleugbar die Bedeutung des Briefes nicht in diesen lehrhaften Ausführungen, sondern in dem Verfahren des Apostels und seinen Anweisungen gegenüber Zuständen, in welchen sich das Werden einer christlichen Gemeinde unter dem Kampfe zwischen dem alten natürlichen und dem neuen geistlichen Wesen spiegelt. Das seelsorgerliche Verhalten des Apostels und seine Anforderungen an die Gemeinde zeigen uns ebenso das rechte Dulden und Tragen, wie das rechte Handeln in solchen Verhältnissen. Beides ist der Kirche zum Vorbild gegeben, damit sie unter den auflösenden Einflüssen,| die der heidnische Geist noch fort und fort in der Gemeinde übt, nicht verzage, anderseits aber auch wisse, wie sie zu überwinden seien.

 3. Inhaltsübersicht.

 Der Eingang des Briefes (1, 1–9) enthält den Dank des Apostels für den gottgeschenkten Reichtum der Gemeinde an Erkenntnis und geistlicher Gabe.

 I. Von den Spaltungen c. 1, 10–4, 21.

 Der Apostel straft 1, 10–16 das Parteitreiben in der Gemeinde als die Frucht des in ihr herrschenden Gaben- und Personenkultus. Gegenüber dieser falschen Wertschätzung natürlicher Begabung zeigt der Apostel, daß Kern und Stern aller evangelischen Predigt das Wort vom Kreuze sei, das keiner Zuthat menschlicher Kunst und Wissenschaft bedürfe, um seine Wirkung zu erreichen (1, 17–25). Erscheint die Wahl eines solchen Mittels der weisheitsstolzen Welt als Thorheit, so hat es eben Gott gefallen, durch die Thorheit[2] der Predigt die Weisheit der Welt zu schanden zu machen – eine Wahrheit, welche den Korinthern ein Blick auf die Zusammensetzung und den Personalbestand ihrer Gemeinde bestätigt (v. 26–31), und dem entsprechend auch das Auftreten des Apostels in Korinth war, indem er dort das Evangelium von Christo auf das einfältigste vortrug (2, 1–5). Freilich ist das Christentum auch Weisheit – wenn auch nicht im Sinn der Welt und ihrer Geistesgrößen – aber nur für die gereiften Christen, die wahrhaft Geistlichen (2, 6–16). Aber eben an dieser inneren Voraussetzung geistlicher Erkenntnis fehlt es noch den Korinthern, wie sie selbst beweisen durch ihre Parteinahme für Personen, die doch nur Diener des HErrn sind (c. 3, 1–9). Von sich und Apollos unterscheidet nun aber der Apostel solche Nachfolger in seiner Arbeit an der korinthischen Gemeinde, die, ob auch auf richtigem Grunde, doch ungeschickt (mit untüchtigem Gemeindematerial?) weiter bauen (v. 10–16) und solche, die gar durch eigene, weltliche Weisheit die Gemeinde Gottes verderben (v. 16–20), um daran die Ermahnung zu knüpfen, daß die Gemeinde alle rechtschaffenen Lehrer als Gaben Gottes schätzen und brauchen, aber auch dessen eingedenk sein solle, daß sie keinem derselben, sondern allein Gott zu eigen sei (21–23). Die Lehrer soll sie für Christi Diener, Haushalter Gottes, halten, von denen bloß Treue gefordert wird – nicht glänzende Gabe –, sie auch nicht richten, denn das kommt Gott zu (4, 1–5)! Aber in dieser Parteinahme für oder wider den einen und den andern Lehrer offenbart sich nur ein tieferer Schaden der Gemeinde: eine satte Selbstüberhebung im Zusammenhang mit einer Weltförmigkeit ihres Christentums, kraft welcher es sich freilich mit der Welt wohl verträgt, zu welcher aber die niedrige und leidensvolle Gestalt des apostolischen Lebens einen| für sie beschämenden Gegensatz bildet (v. 6–13). Nach dieser scharfen Rüge lenkt der Apostel wieder in den Ton väterlicher Ermahnung ein, seine baldige Ankunft in Korinth in Aussicht stellend (v. 14–21). Bei diesem Gedanken treten ihm aber

 II. Die schweren sittlichen Schäden in der Gemeinde (c. 5. 6.) entgegen, die ihn zu erneuter Rüge veranlassen.

 1. Die Gemeinde, die von solchem Weisheitsdünkel geplagt wird, hat zum Rühmen so gar nicht Ursache; ihr Ruf ist nicht gut, denn so duldsam ist sie gegen die Sünde, daß sie einen Blutschänder in ihrer Mitte erträgt, so daß Paulus, der Abwesende, ihn dem Satan übergeben muß (5, 1–5). Als Ostergemeinde solle sie auch in österlicher Reinheit sich erzeigen und das alte Unwesen durch Zuchtübung ausfegen (6–8), nicht das in der Welt, wie sie ihn in seinem ersten Brief haben verstehen wollen, sondern das in der eigenen Mitte (9–13).

 2. Ein weiterer Übelstand sind die Streithändel in Sachen des Mein und Dein unter Gemeindegliedern, die dieselben, anstatt sie unter sich auszumachen, oder am besten ganz aufzuheben, vor die heidnischen Gerichte bringen (6, 1–7). Man sündigt auch durch Übervorteilung; die solches thun, mögen wissen, daß sie dadurch des Reiches Gottes verlustig gehen (8–11).

 III. Die Antwort auf die Fragen von wegen der christlichen Freiheit c. 6, 12–c. 10.

 Nachdem der Apostel c. 6, 12–20 gezeigt, warum willkürliche Befriedigung des geschlechtlichen Triebes nicht zu dem christlich Erlaubten zähle, kommt er zu sprechen 1. auf das eheliche und ehelose Leben c. 7, worüber ihm die Gemeinde eine Anzahl Fragen vorgelegt hatte. Der Apostel empfiehlt in seiner Antwort allerdings die Ehelosigkeit aber nur unter Voraussetzung der dazu nötigen Gnadengabe – im andern Fall ist Eintritt in die Ehe und eheliches Leben sittliche Pflicht (1–9). Eine einmal bestehende Ehe soll nicht gelöst werden, auch nicht wenn sie – durch den Übertritt nur eines der beiden ursprünglich heidnischen Gatten zum Christentum – eine gemischte ist. Falls aber der heidnische Teil die Ehe mit dem christlichen Teil nicht fortsetzen will, so mag der christliche ihn ziehen lassen; er soll nicht meinen aus Sorge für das Seelenheil des heidnischen Teils die Fortsetzung der Ehe mit demselben um jeden Preis erzwingen zu müssen (10–16). Im allgemeinen hebt das Christentum weder die Ehe, noch irgend ein anderes natürlich menschliches Verhältnis auf, sofern es einmal besteht (17–24). – Was nun insonderheit Unverheiratete anlangt, so sollen sie die Ehe nicht suchen, denn die (damalige) bedrängte Lage der Christenheit macht den Christenstand für Eheleute schwerer als für Ledige. Aus demselbe Grunde sollen auch Eheleute, inmitten des ehelichen Verhältnisses sich die innere Freiheit, die Unabhängigkeit der Seele bewahren (25–31). Ein anderer Vorzug des ehelosen Standes liegt darin, daß – bei gleicher Hingabe an den Herrn – der Ledige doch ungeteilter als der Verehelichte dem Herrn und der Sache seines Reiches zu dienen im stande ist. Doch will der| Apostel mit dem Gesagten niemandes Freiheit beschränken (32–35), auch nicht in den zwei besonderen v. 36–38 und 39–40 besprochenen Fällen.

 2. In Betreff der Teilnahme an den Götzenopfermahlzeiten (c. 8 bis 10) entscheidet nicht bloß die richtige Erkenntnis, welche dem Christen sagt, daß Götter nicht existieren außer dem einen Gott, sondern auch und vor allem die Liebe, welche Rücksicht nimmt auf das Gewissen der Schwachen, die noch in der Vorstellung befangen sind, als sei in gewissem Sinn der Götze etwas Reales, und die daher nicht durch den Vorgang der Freieren zu einem Thun verleitet werden dürften, das ihnen Sünde sei (c. 8). Das richtige Verhalten hinsichtlich des Gebrauchs der christlichen Freiheit zeigt des Apostels Beispiel: er hätte Macht, ein Weib mit sich zu führen und durch diejenigen, welche er geistlich versorgt, sich leiblich versorgen zu lassen; aber er thut nicht das, was er kann, sondern das, was zur Förderung für jene gereicht, welchen er zu dienen sich bemüht (9, 1–23). Übrigens hat die Teilnahme an den Götzenopfermahlzeiten als heidnischen Lustbarkeiten, doch ihre Gefahr, vor der man sich auch um des eigenen Seelenheils willen (9,24–27) zu hüten hat, wie das Beispiel des Israels des Wüstenzuges zeigt – nämlich die Gefahr, in heidnisches Thun und Treiben mit hineingezogen zu werden (c. 10, 1–13). Dazu kommt, daß Götzenopfermahlzeiten wegen ihres nicht bloß geselligen, sondern gottesdienstlichen Charakters in Beziehung mit den Dämonen setzen, so daß eine Beteiligung des Christen an ihnen unthunlich erscheint (v. 14–22). Damit sind die Grundlagen für die Verbescheidung der beiden kasuellen Fragen v. 25, 26 und 27, 28 (wo es sich um private Einladungen handelt) gegeben (23–33).

 Es folgen Belehrungen und Zurechtweisungen über

 IV. Gute Ordnung des christlichen Gemeindelebens c. 11–14.

 1. Die verheirateten Frauen sollen c. 11, 1–16 in den Versammlungen den (nach damaliger Volkssitte bräuchlichen) Schleier als Zeichen ihrer Untergebenheit unter ihre Männer tragen.[3]

 2. Das parteiische, unbrüderliche Wesen, das in der Gemeinde herrscht, und sich auch bei der Feier des hl. Abendmahls zeigt, welches überhaupt nicht in einer dem Ernst seiner Stiftung und seiner Bedeutung als Gedächtnis des Todes JEsu entsprechenden Weise begangen wird, ist abzuthun (c. 11, 17–34).

 3. Auch bezüglich der richtigen Würdigung (gottesdienstlichen Verwertung) der wunderbaren Geistesgaben bedarf die Gemeinde der Weisung und Zurechtweisung. Grundleglich geht der Apostel davon aus, daß die Mannigfaltigkeit derselben die Einheit und Eintracht der Gemeinde nicht störe noch stören dürfe (c. 12, 1–11). Denn wie der Organismus des Leibes sehr mannigfaltiger Glieder| bedarf zu seiner Existenz (12–21), und zwar vornehmer und geringer, welche letztere von den ersten nicht verachtet, sondern am meisten gepflegt und geschützt werden (22–25) und welche allesamt mit einander fühlen (26–27), so sind auch in der Kirche Gaben und Ämter verschiedener Art und Würde, aber sie sollen einander anerkennen (28–30).

 Es ist somit recht, nach Gaben zu streben (12, 31), aber größer als alle Gaben, die ohne sie keinen Wert haben (13, 1–3), ist die demütige, selbstverleugnende, hingebende Liebe (4–7), die, im Gegensatz zu der nur zeitlichen Dauer der Begabungen, ein unvergängliches Gut ist, größer selbst als Glaube und Hoffnung (8–13).

 Das von der Gemeinde so überschätzte wunderbare Zungenreden[4] will der Apostel eingeschränkt, ja aus dem Gottesdienst in dem Fall verbannt haben, wenn das Gesprochene nicht hinterher in gemeinmenschliche Sprache gefaßt und so für die Erbauung der Gemeinde fruchtbar gemacht werden kann (14, 1–25). Dagegen die Gabe der Weissagung soll gepflegt werden. Mit einer Mahnung zur Zucht und Ordnung des gottesdienstlichen Lebens und einem Verbot des öffentlichen Redens der Frauen in den Versammlungen schließen diese Weisungen (26–40).

 V. Von der Auferstehung des Leibes c. 15.

 Nicht die Auferstehung JEsu, aber die der Toten wurde von etlichen in Korinth geleugnet, vielleicht ohne daß sie sich der Konsequenzen, welche die Leugnung dieses Artikels der Christenhoffnung für die Thatsache der Auferstehung JEsu hat, bewußt wurden. Beides aber steht in unzertrennlichem Zusammenhang. Daher sehen wir den Apostel zuerst die Thatsächlichkeit der Auferstehung JEsu auf Grund äußerer Zeugnisse feststellen (c. 15, 1–11), sodann die Bedeutung dieser Thatsache für die Predigt des Apostels und den Glauben der Gemeinde, (welcher ohne dieselbe nichtig und leer wäre) darthun (12–19), ferner den inneren Zusammenhang aufzeigen, in welchem die Totenerweckung mit der Auferstehung Christi als des zweiten Adams steht (20–28) und endlich auf die bedenklichen sittlichen Folgen hinweisen, die aus dem Wegfall dieser Christenhoffnung sich ergäben, indem dann christliche Selbst- und Weltverleugnung keinen Sinn hätte und materieller Genuß das einzig Vernünftige wäre (29–34). Also das „Daß“ der Auferstehung ist gewiß. – Erst nun kommt der Apostel auf das Wie? der Auferstehung und die Beschaffenheit des Auferstehungsleibes zu sprechen. Der letztere ist, wie das Gleichnis vom Samenkorn zeigt, wesentlich derselbe mit dem Erdenleibe, von ihm aber anderseits so verschieden, wie es seine Ähnlichkeit mit dem verklärten Leibe Christi, des zweiten Adams, mit sich bringt (35–50). Auch diejenigen, die die Wiederkunft des HErrn in diesem Leibe erleben, werden verwandelt werden,| damit sie den Todesleib aus- und den des ewigen Lebens anziehen, womit der Tod überwunden ist für immer (51–57). Schluß aus dem Ganzen: Darum lebt und wirkt der Christ in Hoffnung auf ein ewiges Leben (58).

 VI. Schluß c. 16.

 Erinnerungen wegen der für die Muttergemeinde zu sammelnden Kollekte, Mitteilungen über seine Reisepläne, über die bevorstehende Ankunft des Timotheus und die erst für später vorbehaltene des Apollos, eine Empfehlung des Hauses Stephana, Grüße bilden den Schluß. In dem eigenhändigen Schlußwort des Apostels überrascht das Anathema (v. 22), wohl eine Verwarnung an seine judenchristlichen Widersacher in der Gemeinde.


II.
 1. Paulus hatte, um Nachrichten über den Zustand der Korinthischen Gemeinde und besonders über die Wirkung des oben besprochenen Briefes zu erhalten, dem zweiten Briefe seinen Gehilfen Timotheus vorausgeschickt (1 Kor. 4, 17; 16, 10). Dieser aber scheint nur sehr kurze Zeit in Korinth geblieben und schon vor Ankunft des (2.) Briefes von dort wieder abgereist zu sein, denn bei Abfassung des zweiten Briefes war er schon wieder bei Paulus (2 Kor. 1, 1). Deshalb sandte der Apostel den Titus nach Korinth (1 Kor. 7, 13. 14), damit dieser über die Wirkung des apostolischen Sendschreibens Bericht erstatte. Dann verließ der Apostel selbst die Gemeinde in Ephesus. In Troas (c. 2, 12–13) erwartete er die Rückkehr des Titus, aber vergeblich. Deshalb eilte er voll Unruhe nach Makedonien, um so schnell als möglich mit Titus zusammenzutreffen. Hier fand er ihn denn. Er brachte tröstliche Nachrichten (c. 1, 3–14; 2, 14) und einen Brief, aus welchem der Apostel ersah, daß seine strengen Rügen auf die Gemeinde einen heilsamen Eindruck gemacht hatten und insonderheit, daß der Blutschänder, von dem im 1. Brief c. 5 die Rede war, aus ihrer Mitte ausgeschlossen worden war (c. 2, 4–11). Aber trotz dieses Beweises aufrichtiger Ergebenheit und willigen Gehorsams fehlte doch noch viel, daß der Ap. mit der Gemeinde hätte zufrieden sein können. Die im 1. Brief gerügten sittlichen Schäden: Zank und Streit, Laxheit in geschlechtlichen Dingen und im geselligen Verkehr mit den Heiden (vgl. II, 12 v. 20 f., II, 6, v. 14 f.) dauerten noch fort und waren von der Gemeinde noch nicht mit dem erforderlichen Ernst und Nachdruck bekämpft worden. Endlich war es noch zu keiner entschiedenen Lossage| der Gemeinde von den jüdischen Widersachern des Apostels gekommen, die fortfuhren, sein apostolisches Amt zu verkleinern und zu diesem Zweck ihn persönlich zu verdächtigen. Dazu kam noch die Lässigkeit, mit welcher in Korinth die von dem Apostel angeregte Sammlung für die Muttergemeinde in Jerusalem betrieben wurde. Das alles gibt ihm Anlaß, von Makedonien (Philippi?) aus, ehe er selbst nach Korinth kommt, noch einen Brief, nämlich unsern zweiten Korintherbrief zu schreiben (a. 58), damit er, wenn er kommt, die Anstöße beseitigt, das alte Verhältnis wieder hergestellt finde und in Liebe und Güte unter ihnen walten könne. Nach c. 12, 14 und 21 und c. 13, 1–2 ist der Apostel bereits vor Abfassung des 2. Korintherbriefs ein zweites Mal in Korinth gewesen. Für den dritten Besuch hatte er ursprünglich die umgekehrte Route, als er sie hernach wirklich einschlug, in Aussicht genommen. Wenn er von seinem mitgeteilten Plan abgewichen ist, so geschah dies aus Gründen höheren Nutzens (c. 1, 15–2, 3).
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 2. Was den Inhalt des Briefes anlangt, so ist die Gliederung desselben nicht so klar hervortretend wie in andern paulinischen Briefen. Scheinbar zwanglos reiht sich dem Apostel alles, was er der Gemeinde zu sagen wünscht, an dem Faden der Berichterstattung über seine Reiseerlebnisse an. Doch lassen sich zwei Hauptteile unterscheiden, die von einander in ihrer Haltung sehr verschieden sind. In c. 1–9 wird das rechte persönliche Verhältnis der Gemeinde zu dem Apostel wieder herzustellen gesucht; in diesem Teile fährt der Apostel sanft, denn er sucht ihr Herz zu gewinnen. In c. 10–13 dagegen hat er es zu thun mit solchen, die sein Amt angreifen und sein Werk untergraben. Wir lernen hier die Widersacher des Apostels, ihre Beweggründe und Ziele genauer kennen. Es waren nicht, wie jene Eindringlinge in den galatischen Gemeinden, Anhänger einer jüdisch gesetzlichen Richtung, die der Heidenchristenheit Gesetz und Beschneidung aufdrängen wollten; ihr Gegensatz galt nicht der Predigt, sondern der Person des Apostels, dessen apostolisches Ansehen sie zu gunsten des nach ihrer Meinung unvergleichlich höheren Aposteltums Petri herabzudrücken und an dessen Stelle sie auf Grund der von der Muttergemeinde mitgebrachten Empfehlungsbriefe sich selbst in das Vertrauen der Gemeinde einzuschleichen suchten. Gegen diese| Wühler und Hetzer kämpft der Apostel hier mit scharfen Waffen; deshalb ist seine Rede im 2. Teile des Briefes gewaltig ernst und scharf. Der erste Teil ist schwerfällig und verwickelt geschrieben. Es ist, als müßte sich der Apostel Gewalt anthun, um diesen ersten, ruhig gehaltenen, freundlichen Teil des Briefes zu schreiben, weil andere Gedanken und Stimmungen im Hintergrund seiner Seele ruhen. Mit 10, 1 aber bricht die verhaltene Stimmung hervor, und nun verläuft der andere Teil rasch und hastig und ist scharf geschnitten in Gang und Ausdruck.

 3. Übrigens ist dieser Brief ausgezeichnet durch seine Lehre vom evangelischen Amte, das der Apostel in seiner Herrlichkeit gegenüber dem alttestamentlichen Amte preist, sowie durch die, erhabenstes apostolisches Amtsbewußtsein mit echt christlicher Demut vereinigende Art und Weise, wie der Apostel selber hier in so schwieriger Lage jenes Amtes in diesem „in allen Tonarten redenden“ Briefe gewaltet hat.

 Gruß 1, 1. 2.

 I. Paulus sucht die Bußfertigen zum vollen Gehorsam und Vertrauen gegen ihn zurückzuführen c. 1–9.

 Der Apostel dankt Gott für die Tröstung, die er ihn in seiner Trübsal erfahren ließ, durch die er in den Stand gesetzt wird, auch anderen ein Tröster zu werden (1, 3–7). Die letzte Trübsal in Kleinasien (ob der 2 Kor. 11, 25 erwähnte Schiffbruch?) brachte den Apostel dem Tode nahe, aber sie hat ihn gelehrt, sein Vertrauen ausschließlich auf Gott zu setzen und hat auch dazu gedient, die korinthische Gemeinde zu fürbittender Theilnahme zu erwecken. Auf solche Fürbitte der Gemeinde darf er rechnen, ist er sich ja doch lautersten Verhaltens gegen sie bewußt und darum auch zu der Erwartung berechtigt, daß die Abänderung seines ursprünglichen Reiseplans (Korinth zweimal, auf der Hinreise nach Makedonien und der Herreise von da, zu besuchen) kein Mißtrauen bei der Gemeinde gegen ihn wachrufe. Aus der Nichterfüllung der gegebenen Zusage falle übrigens kein Schein der Unzuverlässigkeit auf seine Predigt, aus welcher den Lesern ein widerspruchsloses göttliches Ja (eine Bejahung aller Gottesverheißungen in Christo) entgegengeklungen ist. Der wirkliche Grund, warum er nicht schon damals nach Korinth kam, war schonende Rücksicht auf die Gemeinde, freilich auch zugleich der Wunsch, von seinem diesmaligen Aufenthalt in Korinth Freude zu haben (1, 8–2, 4). Von dem durch die Gemeinde gegen den Blutschänder eingeleiteten Verfahren und dessen Wirkung erklärt sich übrigens der Apostel vorläufig befriedigt und gewährt ihm Verzeihung (v. 5–11). Im Anschluß an den weiteren Verlauf seiner Reise, zugleich aber in der Absicht, die Gemeinde einen Blick in sein Herz thun| zu lassen, erzählt er ihr von seiner Unruhe um sie, die ihn ohne Aufenthalt von Troas nach Makedonien trieb, nur um früher mit Titus zusammenzutreffen und von ihr zu hören (v. 12–13). Doch bei allem Wechsel seiner äußeren Lage und inneren Stimmung bleibt ihm doch immer und überall Ursach zum Dank gegen Gott, der ihn an dem Triumphzug des Evangeliums beteiligt und sein Wort überall wirksam macht, sei es zum Leben oder Tod: eine scheidende Doppelwirkung, die das Wort überall hat, wo es, wie von dem Apostel, lauter und ohne Menschengefälligkeit verkündigt wird (14–17). Dieses Zeugnis – sagt der Apostel – werde seinen Gegnern vielleicht wie Selbstruhm klingen; jedenfalls aber bedürfe er nicht wie sie empfehlende Briefe: die Gemeinde ist sein Empfehlungsbrief, das lebendige Zeugnis, das Christus durch ihn und für ihn ausgestellt hat (3, 1–3). Dies bringt ihn auf den Preis der Herrlichkeit des N.Tlichen Amtes, die unvergleichlich größer ist als die des A.Tlichen Amtes. Denn Moses brachte als Mittler des Gesetzes den Buchstaben und damit die Verdammnis und den Tod, während durch den Dienst des N.Tl. Amtes der Geist und damit Leben und Gerechtigkeit gegeben wird, und die Herrlichkeit des A.Tlichen Amtes war eine erbleichende, die des N.Tlichen ist eine bleibende (4–11), ein Sachverhalt, welchen anzuerkennen selbstverschuldete Blindheit das Israel der Gegenwart hindert, während die Christenheit durch den Geist die Freiheit und eine Erkenntnis der Herrlichkeit Jesu besitzt, durch die sie selbst in Christi Bild verklärt wird (12–18). Der Natur des Christenthums und des N.Tlichen Amtes entspricht auch das persönliche Auftreten des Apostels, der schlicht und recht das Wort predigt, unbesorgt um den Erfolg, der allerdings auch auf völkerweltlichem Gebiet durch Schuld der Menschen nur ein teilweiser ist (4, 1–6). Mit dieser Herrlichkeit des Amtes bildet freilich die natürliche Gebrechlichkeit seiner Träger und die leidensvolle Gestalt ihres äußeren Lebens einen schneidenden Gegensatz. Doch, wenn sich Jesu Sterben stetig an ihnen wiederholt, so ist doch auch das Leben des wieder Erstandenen an ihnen wirksam, und durch sie an denen, an welchen sie das Amt verwalten (4, 7–18). Angesichts des Verfalls seiner Leibeshütte tröstet sich der Apostel der für ihn bereitstehenden himmlischen Wohnung, und die dem im Fleische lebenden Menschen natürliche Scheu vor dem Tode überwindet er durch die Gewißheit, daß der Tod für ihn der Übergang zur völligen Gemeinschaft mit Christus ist. Daneben aber ist ihm der Blick auf das zukünftige Gericht ein ernster Antrieb zur Heiligung (5, 1–10). Was aber sein amtliches Wirken anlangt, so ist der innerste Beweggrund zu demselben: die Liebe zu Christo; die Grundvoraussetzung: die Erkenntnis von der für das Verhältnis zu Gott entscheidenden Bedeutung des Todes JEsu, und die wesentliche Aufgabe desselben: die Predigt von der geschehenen Versöhnung und die Aufforderung an die Welt, sich dieselbe anzueignen, während er die Gläubigen ermahnt, die empfangene Gnade an sich nicht vergeblich sein zu lassen (5, 11–6, 2). Wie er nun aber in Bezug auf sein persönliches Verhalten alles vermeidet, was einen Schatten auf sein Amt werfen könnte, so kann er auch von den Korinthern Gehorsam erwarten,| wenn er sie zu einem ihrem Christenstand entsprechenden Wandel mahnt (6, 11–7, 1). Aber er will nicht wieder strafen; er spricht lieber seine Freude aus über das endlich erfolgte Zusammentreffen mit Titus und die günstigen Nachrichten von der heilsamen Wirkung seines früheren Briefes, welche ihm der von seinem Aufenthalt in Korinth hochbefriedigte Titus überbrachte (7, 2–16). Hiermit hat der Apostel den Faden von 2, 13 wieder aufgenommen und erzählt nun, welche andere Freude er in Makedonien noch gehabt. Die Sammlung für die Muttergemeinde fiel dortselbst sehr reichlich aus; dies veranlaßt den Apostel, den Titus nochmals mit zwei andern Brüdern nach Korinth zu schicken, um den Abschluß der längst begonnenen Sammlung zu betreiben c. 8, 1–24; wobei er an das christliche Ehrgefühl der Gemeinde appelliert und an den Segen reichlichen und fröhlichen Gebens erinnert (c.. 9, 1–15), damit sie dort doch fleißig wären und nicht hinter den Macedoniern zurückbleiben möchten; auch sendet er zu ihrer Aufmunterung Abgeordnete solcher Gemeinden, die Sammlungen schickten. Möchten sie doch reichlich geben, damit sie dafür reichlich ernten (8, 1–9, 15).

 II. Paulus straft und bedräut seine Widersacher c. 10–12.

 Im Hinblick auf seine bevorstehende Hinkunft nach Korinth schickt der Apostel den Wunsch voraus, dort nicht scharf auftreten zu müssen, wiewohl es ihm an der hiefür nötigen Zuversicht sowohl als Berechtigung nicht fehle, da die korinthische Gemeinde dem ihm von Gott angewiesenen apostolischen Wirkungskreis angehöre, während seine Gegner in fremdes Arbeitsgebiet sich drängten c. 10.

 Die Gemeinde hatte keinen Grund, diesen Eindringlingen bei sich Raum zu geben, die ihr keinen andern JEsus, keinen andern Geist, kein anderes Evangelium gebracht haben, und hinter denen er in nichts zurücksteht. Wenn er auf sein Recht, von der Gemeinde sich unterhalten zu lassen, verzichtet hat und diesen Unterschied zwischen ihm und seinen minder anspruchslosen Gegnern auch ferner fortbestehen lassen will, so thut er das nicht an Mangel an Liebe zur Gemeinde, sondern um jenen die Möglichkeit zu nehmen, ihr (angemaßtes) Aposteltum dem seinen äußerlich gleichartig erscheinen zu lassen, denn die opferwillige Uneigennützigkeit überlassen sie ihm gern allein (11, 1–15). Nur widerwillig läßt der Apostel sich darauf ein, in der Weise seiner Gegner sich zu rühmen und zu diesem Zweck mit ihnen sich zu vergleichen. Es fehlt ihm nichts, dessen sie sich berühmen, aber eins fehlt ihnen, was er hat: sie haben dem langen Register apostolischer Berufsleiden, die er ausgestanden, nichts an die Seite zu stellen. Wohl könnte er sich auch geheimnisvoller Erlebnisse rühmen, in welchen ihm ein Einblick in die Welt der Seligen geschenkt wurde, aber er will sich lieber seiner Schwachheit rühmen, und er gedenkt auch dieser Stunden seliger Erhebung nicht, ohne der das Gegengewicht dazu bildenden Demütigungen zu gedenken, welche ein dämonisch verursachtes körperliches Leiden ihm bringt (12, 1–10). Übrigens hätte die Gemeinde, die den vollen Segen seines Aposteltums erfahren hatte, und darin daß er von ihr keinen Sold nahm,| doch keine Verkürzung sehen wird, diesen Selbstruhm ihm ersparen sollen (11–18). Zum Schluß droht der Apostel mit unnachsichtlichem Einschreiten gegen die unbußfertigen Sünder, dessen er jedoch durch Selbstzucht der Gemeinde gerne überhoben wäre (12, 19–13, 10) und schließt dann mit einer zusammenfassenden Ermahnung und dem Friedensgruß (11–13).


§ 81.
Der Brief an die Römer.
 1. Anlaß. Nachdem Paulus durch seine beiden Briefe an die Korinther sich den Weg zu dieser Gemeinde gebahnt hatte, kam er seinem Versprechen gemäß selbst nach Korinth. Er verweilte hier drei Monate. Sein nächster Plan war, die Kollekte, die hier und anderwärts für die Muttergemeinde veranstaltet worden war, nach Jerusalem zu bringen, dann aber nach Rom zu eilen. Es war ihm zur heiligen Gewißheit geworden, daß Rom für das Abendland Ausgangs- und Stützpunkt einer apostolischen Wirksamkeit werden müsse, wie es Antiochien für das Morgenland war (Röm. 1, 8–17, vergl. 15, 18–28, besonders 23–28). Er trug sich nämlich bereits mit dem Gedanken, das Evangelium nach Spanien zu bringen. Sein Weg dorthin führte ihn über Rom, und der Apostel freut sich, daß ihm auf diese Weise die Erfüllung seines lange gehegten Wunsches in Aussicht steht, die römische Gemeinde persönlich kennen zu lernen. So will er sich denn bei ihr anmelden und seine persönliche Ankunft vorbereiten. Hierin werden wir die nächste Veranlassung des Briefes zu erkennen haben. Diesem Zweck dient auch die geflissentliche Hervorhebung der bereits zwischen ihm und hervorragenden Gliedern der röm. Gemeinde bestehenden persönlichen Beziehungen (c. 16). Er wollte ihr nicht als ein Fremder erscheinen. (Ähnliches Verfahren beobachtet er in dem ebenfalls an eine ihm nicht persönlich bekannte Gemeinde geschriebenen Brief an die Kolosser c. 4, 10–17). Sollte er aber an ihr den gehofften Stützpunkt für seine in den Westen des Abendlandes zu verlegende Wirksamkeit haben, so mußte er mit dieser Gemeinde auf einem und demselben Boden stehen in dem Urteil über den alles überragenden Wert des Evangeliums, in der Erkenntnis seines Hauptinhaltes und des durch die evangelische Predigt erzeugten Lebens, in der Klarheit über den Weg, welcher dem Missionswerk zwecks der Erfüllung seiner weltumfassenden Aufgabe vorgezeichnet| ist, womit dann auch das Verständnis für sein Heidenapostalat, seinen Missionsberuf an die gesamte Völkerwelt gegeben war. Diesen gemeinsamen Boden herauszustellen resp. herzustellen – das ist der weitergehende Zweck dieses Briefes. Soll aber die römische Gemeinde die moralische Unterstützung, die er für sein Werk von ihr erwartet, ihm gewähren, so muß ihr eigenes christliches Gemeindeleben in gedeihlicher Entwicklung sich befinden. Wir werden die römische Gemeinde im Wesentlichen als eine heidenchristliche uns zu denken haben; c. 1, 13 nämlich hofft der Apostel auch unter den Volksgenossen der Leser Frucht zu schaffen, gleichwie auch unter den übrigen Heiden. Eben weil sie Heiden sind, kann auch der Heidenapostel (c. 1, 5 und Gal. 2, 9) sich an sie wenden (Akt. 22, 21). Andrerseits befand sich unter den Gliedern der Gemeinde wie aus dem Mitgliederverzeichnis in c. 16 hervorgeht, ein bedeutender Prozentsatz von Judenchristen. Dieser Sachverhalt barg eigentümliche Schwierigkeiten und stellte dem christlichen Verhalten besondere Aufgaben. Während in der galatischen Gemeinde die Gefahr bestand, daß sie sich von Judenchristen beherrschen ließ, finden wir in Rom bei dem heidenchristlichen Teil vielmehr eine Neigung zur Überhebung, wenn nicht über die Judenchristen als solcher – denn dazu waren die in der Gemeinde lebenden Vertreter derselben zu bedeutend c. 16, 7 –, so doch über das Volk, dem sie angehörten. Solche Überhebung mußte den Heidenchristen selber zum Schaden gereichen (c. 11, 20–25) wie auch das gemeindliche Zusammenleben stören. Das beiderseits tadelnswerte Verhalten der „Starken“ und der „Schwachen“ untereinander, unter welchen letzteren wir wohl asketisch gerichtete, judaisierende Heidenchristen zu verstehen haben, dürfte ein Beleg dafür sein (c. 14, 1–15, 13). Diese Verhältnisse mußte der Apostel, wenn er seinen Zweck erreichen wollte, ins Auge fassen und in seinem Brief behandeln. – Von den Zuständen in der römischen Gemeinde mag der Apostel durch seine vielen Bekannten in ihr, besonders durch Priscilla und Aquila, genauere Kunde erhalten haben.
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 Von wem die römische Gemeinde gestiftet worden ist, entzieht sich unsrer Kenntnis. Beziehungen zwischen geborenen Römern (resp. Italern) und dem Christentum reichen weit zurück; schon am Pfingstfest treten „römische“ Fremdlinge, Juden und Proselyten (Akt. 2, 10–11)| hervor; auch den Hauptmann Cornelius von der „italischen“ Schar mit seinen Verwandten und Freunden (Akt. 10, 1) dürfen wir hieher rechnen. Der Bestand der römischen Gemeinde muß auch nach dem Römerbrief sich weit zurück datieren, da der Apostel schon von „vielen“ Jahren her das Verlangen hat, zu ihnen zu kommen (c. 15, 23). Das Alter der römischen Gemeinde, ihre Selbständigkeit, ihr Ansehen in der Christenheit, das Vorhandensein apostolischer Männer in ihrer Mitte: alles dies mußte dem Apostel gewisse Rücksichten bei Abfassung seines Schreibens auferlegen.

 Aus Vorstehendem nun sind die Ausführungen des Briefes zu begreifen.

 2. Inhalt. Das große Thema des Briefes an die Römer (a. 58), wie es der Apostel selbst (1, 16) ausspricht, heißt: Glaube an JEsum Christum der Heilsweg für alle Welt. Die Durchführung dieses Themas aber geschieht in drei Hauptteilen. Der erste zeigt, wie Juden und Heiden im Glauben an JEsum das einzige, aber auch vollkommene Mittel ihre Seligkeit haben. So c. 1–8. – Der zweite Hauptteil weist nach, wie Israel, weil es in diesen Heilsweg sich nicht finden konnte, des Heils verlustig gegangen ist, aber nur für eine Zeitlang: auch das Volk Israel wird durch den Glauben noch selig werden und dazu dienen, daß andere zum Glauben kommen. So c. 9–11. – Endlich zeigt der dritte Hauptteil, wie mit solchem Glauben die Kraft zur Heiligung des Lebens in allen seinen allgemeinen und besonderen Verhältnissen gegeben sei, c. 12–15, 13. Mit besonderem Nachdruck betont der Apostel hier die Wahrheit, daß die Kirche ein Organismus sei, dem die Einzelnen eingefügt seien und innerhalb dessen ein jedes Glied seine sonderliche Verrichtung habe mit ihren besonderen nicht zu überschreitenden Grenzen; desgleichen die Pflicht gegenseitigen Zusammenhaltens in hilfreicher Freundlichkeit. – Der Schluß, c. 15, 14–16, 27 enthält eine vorsichtig entschuldigende Rechtfertigung seines Schreibens an die Gemeinde mit zahlreichen Grüßen an einzelne Glieder derselben und wiederholten Schlußwünschen.

 Wie viel vom Römerbrief speziell dem judenchristlichen Teil der Gemeinde vom Apostel vermeint war, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen; denn da die römische Gemeinde eine schon alte und mit| dem Alten Testament jedenfalls vertraute Gemeinde war und andrerseits Neigung zu gesetzlicher Auffassung des Christentums zu allen Zeiten in der Kirche bestand, so kann man weder die Ausführungen über die Stellung unter dem Gesetz c. 6 noch etwa den Zwischensatz in c. 7, 1 auf die Judenchristen speziell beziehen, doch war, was der Apostel über das Verhältnis von Gesetz und Evangelium u. s. w., ausführte, gewiß eine Stärkung für sie und vielleicht auch eine Warnung. Dagegen tritt klarer hervor seine Bekämpfung jener oben erwähnten bei dem heidenchristlichen Teil zu fürchtenden Verirrung: mit Nachdruck betont er das bleibende Vorrecht des auserwählten Volkes; an dem Schmerz, den der Apostel über dessen gegenwärtige Verstockung fühlt, können sie sehen, welches die rechte Stimmung und das rechte Verhalten diesem Volke gegenüber sein soll.

 3. Bedeutung des Briefes. Er enthält, wenn nicht die ganze Lehre des Apostels, so doch die Lehre vom Glauben als dem einzigen und vollkommenen Heilsweg in ihrem ganzen Zusammenhang. Er wird darum mit Recht als das Panier der Kirche angesehen, die ihre Seligkeit allein auf den Glauben gründet.

 In dem auf c. 14, 23 folgenden Abschnitt ist die Gestalt des Textes unsicher; insbesondere steht die Doxologie c. 16, 25–27 bald an dieser Stelle, bald nach c. 14, 23. Diese Unsicherheit ist wohl veranlaßt durch das wiederholte Schließen des Briefes seitens des Apostels c. 15, 13; 15, 32; 16, 20; 16, 24. Indes ist diese Weise wiederholter Verabschiedung von den Lesern auch in anderen Briefen des Apostels zu bemerken. Übrigens lag schon dem Marcion ein Abschnitt hinter c. 14, 23 vor. – Daß die auf den Eingang, je auf den ganzen Brief Rücksicht nehmende Schlußdoxologie (vgl. 3, 21; 11, 33–36; 15, 16; 16, 17 etc.) an den Schluß von c. 14, 23 geriet, hat vielleicht den ganz äußerlichen Grund, daß dort von rückwärts gerechnet die nächste leere Stelle war, die eine Anfügung gestattete, der nächste Abschnitt, der eines Schlusses entbehrte.

 4. Der Gedankengang des Briefes ist folgender:

 In der über v. 1–7 sich erstreckenden Grußüberschrift sucht der Apostel die Gemeinde zu Rom in das richtige Verhältnis zu Israel und Christo, zu seinem Beruf und zu seiner Heilsbotschaft zu stellen und hebt deswegen den Zusammenhang des Christentums mit der A.Tlichen Schrift und Geschichte, das| mit der Menschwerdung und Auferstehung JEsu gegebene Neue an demselben und die Erstreckung seines apostolischen Berufs über die gesamte Völkerwelt, auch diese, nicht von ihm gesammelte Gemeinde, hervor. Darauf spricht er c. 8–15 seine dankbare Freude über den Glaubensstand der römischen Gemeinde, zugleich aber auch seinen Wunsch aus, zu ihnen zu kommen, um eine ihnen förderliche, ihm erquickliche Gemeinschaft mit ihnen zu pflegen, aber auch eine Frucht seiner Missionsthätigkeit in Rom zu erzielen gemäß seinem Beruf, der ihn verpflichtet, allen das Evangelium zu bringen. Denn sein Evangelium ist, weil Darbietung der Gerechtigkeit aus Glauben, für alle bestimmt, das Mittel ihrer Seligkeit zu werden, sofern sie anders die dargebotene Gerechtigkeit im Glauben hinnehmen. – Der letztere Satz (v. 16–17) bildet das Thema des Briefes; seiner Ausführung und Begründung dient alles folgende.

 I. Von dem Glauben an JEsum Christum als dem einzigen und vollkommenen Heilsweg der Menschheit c. 1, 18–8, 39.

 1. Die Gerechtigkeit aus Glauben ist für Heiden und Juden der einzig mögliche Weg zur Seligkeit c. 1, 18–3, 31.

 a) Denn die Heidenwelt ist durch Abfall von der in der Schöpfung dargereichten Erkenntnis Gottes in Abgötterei und im Zusammenhang damit in schändliche, ja widernatürliche Gelüste und in eine verworfene Sinnesart versunken (1, 18–32), und das Vermögen sittlichen Urteils (2, 1), das ihr noch geblieben, dient ihr nur zur Verurteilung, weil es mit dem Thun in Widerspruch steht, Gottes unparteiische Gerechtigkeit aber nur nach dem sittlichen Verhalten des Menschen entscheidet, gleichviel ob er Heide oder Jude ist (2, 1–16). b) Aber auch dem Juden gilt dies. Weder sein Besitz des Gesetzes, noch die Beschneidung wird ihm etwas helfen, wenn sein Verhalten damit in Widerspruch steht (2, 17–29). Der Vorzug Israels als Träger der Offenbarung, der auch durch seine Untreue nicht verwirkt wird, bleibt dabei dennoch bestehen (3, 1–8). (v. 4–8 ist eine durch das Vorhergehende veranlaßte Episode, um Mißdeutung paulinischer Worte, wie sie hier v. 4 vgl. 5, 20 begegnet, abzuwehren.) Aber einen Schutz gegen das Gericht hat es damit nicht, sondern c) Heiden und Juden sind gleicherweise unter der Schuld. Hievon die Menschheit zu überführen, dazu ist Israel das Gesetz gegeben, welches nicht zur Gerechtigkeit verhilft, sondern nur Erkenntnis der Sünde wirkt. Das Ende aller natürlich-menschlichen Entwickelung ist also vollendete Heillosigkeit (3, 9–20).

 Nun aber hat Gott auf neuem Weg eine Gerechtigkeit beschafft, eine Gerechtigkeit, die Gottes, nicht unser ist, die nämlich hergestellt ist durch die Gottesthat der in Christo geschehenen Erlösung, welche von uns lediglich im Glauben hinzunehmen ist (3, 21–26). Der Glaube für Juden und Heiden ist aber einer, darum ist auch für beide die Gerechtigkeit dieselbe, nämlich Glaubensgerechtigkeit (27–31).

 2. Dieser neu geoffenbarte Heilsweg entspricht aber auch dem Anfang der Heilsgeschichte, denn auch Abraham ist gerecht geworden| durch den Glauben an die Verheißung vor der Beschneidung, also vor Anfang der Gesetzesoffenbarung, weshalb er ebenso der Anherr der gläubigen Beschnittenen wie der unbeschnittenen Gläubigen ist (4, 1–17). Was aber wahrer Glaube ist, sehen wir gleichfalls an Abrahams Beispiel: nämlich eine feste Zuversicht, die trotz des Widerspruchs des Augenscheins sich an Gottes Zusage hält und ihm dadurch die Ehre gibt. Wie Abraham trotz seines und Saras erstorbenen Leibes im Glauben an die totenerweckende Allmacht Gottes die göttliche Zusage (1 Mos. 17, 5) ergriff, so ergreift auch der christliche Glaube in dem auferstandenen Christus die Gerechtigkeit und das Leben (18–25).

 3. Die Gerechtigkeit aus Glauben befriedigt allein das menschliche Bedürfnis c. 5–8.

 Mit der Glaubensgerechtigkeit hat der Mensch alles, was er zu seinem Heil bedarf, denn sie bietet ihm ein neues Verhältnis zu Gott, Frieden mit Gott in der Gegenwart und die gewisse Hoffnung der endlichen Heilsvollendung (5, 1–11). Von der bisherigen mehr individuellen Betrachtungsweise, d. h. von der Würdigung der in der Rechtfertigung dem einzelnen widerfahrenen Wohlthat erhebt sich der Apostel zur Höhe einer universalgeschichtlichen Betrachtung, indem er eine Parallele zwischen Adam und Christus zieht. Von beiden Anfängern einer unter sie befaßten Menschheit sind entscheidende Wirkungen ausgegangen, dort Sünde und Tod, hier Gerechtigkeit und Leben. Inmitten dieser beiden Pole der Menschheitsgeschichte kommt dem Gesetz nur die untergeordnete Bedeutung zu, daß es die Sünde steigern sollte, was aber nur eine diese gesteigerte Sünde noch überbietende Offenbarung der Gnade zur Folge hatte (5, 12–21). Eine mögliche Mißdeutung von 5, 20 abzuwehren betont nun aber der Apostel, daß aus dem neuen (Gnaden-) Verhältnis, in dem wir zu Gott stehen, notwendig auch ein neues sittliches Verhalten folgen müsse. Unser Leben kann nun fortan kein Sündendienst mehr sein: dies wäre Selbstwiderspruch seitens derer, die in der Taufe dem der Sünde gestorbenen und zu neuem Leben erstandenen JEsus sich einverleiben ließen (6, 1–14), und Rückfall aus dem Stande der Freiheit vom Gesetz und der Sünde in den Stand der Knechtschaft unter der Sünde (15–23). Auch diejenigen, welche, weil sie bisher dem Gesetz unterstanden, auch fernerhin unter demselben verbleiben zu müssen meinten (die Judenchristen) (?), sind durch Christi Tod frei vom Gesetz, wie die Ehefrau vom Manne frei wird, wenn derselbe stirbt (7, 1–6).

 Eine zweite Mißdeutung abzuwehren dient der Abschnitt 7, 7–8, 11. c. 7, 5 und 6 klang so, als ob unter dem Gesetz sein und unter der Sünde sein Zusammenfalle, also wie eine Identifizierung von Gesetz und Sünde. Daher die Frage 7, 7, auf welche der Apostel aus seiner eigenen Erfahrung heraus die Antwort gibt: das Gesetz ist nicht Sünde, aber es bringt die Sünde zum Bewußtsein, weckt und reizt durch sein Verbot die schlummernde böse Lust und verfällt den Menschen so in die Strafe des Todes (7–11). Sonach wäre also das an sich Gute (das Gesetz) dem Menschen zum Übel (nämlich Ursache des Todes) geworden? Nein, antwortet der Apostel, nicht das Gesetz – sondern| die Sünde wird dem Menschen Ursach des Todes, allerdings mittels des Gesetzes, weil der in der angeborenen sündigen Natur lebende Mensch es nicht zu erfüllen vermag („Vom Fleisch wollt’ nicht heraus der Geist etc.“) (12–14). Hebt doch das Gesetz selbst den Wiedergeborenen über den Widerstreit zwischen Wollen und Thun, dem neuen Ich und der angeborenen Natur, der wie ein schmerzlicher Riß durch sein ganzes Dasein geht, nicht hinweg (15–25). Doch der Wiedergeborene, in dessen Person der Apostel redet, weiß Gott Lob! auch noch von einer anderen Erfahrung zu sagen. Als Christo angehörig weiß er sich frei von verdammlicher Schuld und an dem ihm innewohnenden Geist JEsu Christi hat er die Kraft eines neuen Lebens, vermöge dessen er das Gesetz zu erfüllen vermag, und das Angeld der einstigen Verklärung auch seines leiblichen Lebens (8, 1–11); denn der gegenwärtige Stand unserer Gotteskindschaft verbürgt uns das Erbe der zukünftigen Herrlichkeit (12–17), gegen welche, da sie auch die Verklärung der Schöpfungswelt mit sich bringt, die Leiden dieser Zeit nicht in Anschlag kommen (18–25), zumal der Geist selbst unserer Schwachheit im Gebet zu Hilfe kommt (26–27) und wir die Gewißheit haben, daß, was uns auch immer begegnen möge, nichts die Hinausführung des so wesentlich bereits an uns verwirklichten göttlichen Heilsratschlusses hintertreiben oder trennend zwischen uns und die in der Person JEsu Christi mittlerisch begründete Liebe Gottes zu uns treten kann (28–39). In diesen Hochgesang auf die Seligkeit des Gnadenstandes und die Gewißheit dieser Seligkeit, wie er begeisterter nie aus eines Christen Herz gekommen, klingt die Darlegung des durch Christum uns erworbenen Heils der Glaubensgerechtigkeit aus.

 II. Das Rätsel der (zeitweiligen) Verwerfung Israels und seine Lösung, c. 9–11.

 Aber – wie reimt sich mit der Bestimmung des Evangeliums für alle Menschen (die Juden in erster Linie) die Thatsache, daß Israel gegenwärtig außerhalb des Heils zu stehen kommt? Auf diese, schon c. 3, 1–4 angedeutete Frage gibt c. 9–11 Antwort. Mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes beginnt der Apostel, daß Israel, das Volk der Verheißung, von der Erfüllung der Verheißung nun ausgeschlossen sei (9, 1–5). Aber diese Thatsache streitet nicht wider die Verheißung der Schrift oder Gottes Gerechtigkeit, denn die Schrift zeigt uns schon beim Beginn der Heilsgeschichte, daß natürliche Abstammung und menschliches Thun keinen Anspruch auf das Heil Gottes oder die Zugehörigkeit zur Gottesgemeinde gebe (6–13). Diese Nichtanerkennung menschlichen Anrechts oder Verdienstes ist aber keine Ungerechtigkeit auf Seite Gottes. Gott ist der Kreatur nichts schuldig. Es ist sein freier Wille (Gnadenwille), wenn er einem Menschen wie dort dem Mose Gnade erzeigt und andernteils vollzieht sich auch in der widergöttlichen Selbstbestimmung des Menschen (wie Pharaos) ein vorgängiger, wenn auch innergeschichtlicher Wille (Gerichtswille) Gottes.

 Die hadernde Frage aber, die sich an v. 18, b anschließen mochte, warum Gott Menschen werden lasse, deren schließlicher Ausgang (endliche Bestimmung) es ist, ihm als Gegenstände der Machterweisung seines Zorns zu| dienen, weist der Apostel als ungehörige Beschwerde des Geschöpfs über seinen Schöpfer ab (19–21), die um so weniger am Platze ist, als Gottes Wille sich schließlich als Heilswille erweist, dem sein Zornverhängnis nur dienen muß (vgl. 11, 11 ff.), wie das in der Berufung einer Gemeinde aus Juden (gegenwärtig freilich nur einer Minderheit) und Heiden als Thatsache vor Augen liegt (22–29).[5] Wenn darum Israel des Heils nicht teilhaftig worden ist, so ist es bloß deswegen geschehen, weil es sich Gottes Heilsweg nicht wollte gefallen lassen: Israel will nicht die Gerechtigkeit in Christo, sondern es will auf dem Weg gesetzlichen Thuns seine eigene geltend machen (9, 30–10, 4). Das Heil in Christo steht gegenüber dem Gesetz: bei diesem kommt es auf Erfüllung einer göttlichen Forderung, also auf eigenes Thun und Trachten an, dagegen das Heil in Christo ist ohne alles unser Zuthun durch sein Sterben und Auferstehen vorhanden, und es gibt kein anderes Mittel, seiner teilhaft zu werden, als es glaubend hinnehmen, oder JEsum bekennen und anrufen (5–13). Weil Glaube der Heilsweg ist, hat Gott auch gesorgt, daß das Heil allenthalben verkündigt werde. Israel hat den Ruf zuerst vernommen, aber es ist gegangen wie die Schrift sagt: es ist durch seinen Ungehorsam gegen die Heilsbotschaft aus eigener Schuld des Heils verlustig gegangen (v. 14–21).

  Doch hierbei beruhigt sich der Apostel nicht, vielmehr hebt er nun c. 11 hervor, daß, trotz zeitweiliger Verwerfung, Israel seinen heilsgeschichtlichen Beruf nicht verloren hat und endlich seine Stelle in Gottes Reich wieder einnehmen wird. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, denn 1. ist ja schon ein Teil Israels, eine „Auswahl“, an JEsum gläubig geworden; das ist nun das Israel Gottes (11, 1–10). 2. Es soll auch bei dem Volke im ganzen nicht dabei bleiben, daß es im Unglauben zum Fall gekommen ist. Denn wie der Ungehorsam Israels am Anfang bewirkt hat, daß die Heidenwelt ins Reich Gottes einging, so wird auch am Ende die Bekehrung Israels der Welt einen noch größeren Segen, nämlich die schließliche Heilsvollendung bringen, während hinwiederum die Bekehrung der Heidenwelt dazu dienen muß, daß Israel zur Besinnung kommt und dann als Volk in das Reich Gottes eingeht. Es wird ihm damit geschehen, was ihm die Schrift als Ende seiner Geschichte verheißt, woraus sich denn auch die rechte innere Stellung der Heidenchristenheit zu Israel ergibt (11–32). Und so kann der Apostel am Schluß seiner Erörterung ausbrechen in einen bewundernden Lobpreis der Weisheit Gottes, die trotz allem, womit menschliche Sünde ihren Rat zu durchkreuzen scheint, dennoch die Geschichte zu dem vorbedachten Ziele führt (33–36)!

|  III. Das glaubensgemäße Verhalten c. 12–15, 13.

 1. Allgemeine Ermahnungen, allen Christen gleich geltend (12, 1 bis 13, 14). Der Apostel ermahnt zu einem Verhalten, welches Gott gegenüber sich als Selbstdargabe (12, 1–2), den Brüdern (der Gemeinschaft) gegenüber als selbstverleugnende, dienende Liebe erweist, indem man sich als Glied des Ganzen weiß (3–8), in allen Verhältnissen und Lagen aber Gott und den Menschen gegenüber der heiligen Liebe nachtrachtet und das Böse durch Gutes überwindet (9–21). – Im Verhältnis zur Obrigkeit soll uns der Grundsatz regieren, daß sie eine Ordnung Gottes ist, deshalb soll man ihr in allem sich unterwerfen und seinen Verpflichtungen gegen sie nachkommen (13, 1–7). Damit ist für den Christen das „Verhältnis von Kirche und Staat“ reguliert. Noch einmal führt dann der Apostel die Heiligung des Christen zurück auf die Liebe (8–10) und auf die Weltentsagung (11–14).

 2. Besondere Ermahnungen, der römischen Gemeinde zunächst bestimmt (14, 1–15, 13). In der römischen Gemeinde liegt der Fall vor, daß etliche sich ein Gewissen daraus machen, Fleisch zu essen oder Wein zu trinken, oder alle Tage (nämlich in Beziehung auf das Essen und Trinken [?]) gleich zu achten. Es ist dies Sache des Gewissensbedenkens, nicht der Gesetzesbeobachtung. Es verhält sich damit anders wie bei den Galatern, es ist freiwillige Kasteiung. Solchen gegenüber, die sich selbst kasteien, soll man Schonung beweisen und sie nicht richten, denn beide, die solches thun, und die es nicht thun, sind Gott angenehm, so sie in ihrer Sinnesweise gewiß sind; zudem gehören wir alle dem HErrn, er allein hat das Recht, uns zu richten (14, 1–12). Dagegen sollen wir uns befleißigen, den Schwächeren keinen Anstoß zu geben. Am Essen oder Nichtessen liegt nichts, aber schweres Vergehen ist’s, den Schwachen zu verderben, indem man ihn verführt, zu thun, was sein Gewissen ihm verbietet. Auch die Stellung, die der Christ zu den sog. Adiaphoris einnimmt, muß Bethätigung seines Glaubens sein (13–23). Wir sollen uns vor allem tragen, erbauen, die Eintracht fördern und einander aufnehmen, wie auch Christus uns Heiden aufgenommen und uns aus freiester Gnade das Heil geschenkt hat, welches Israel verheißen und für dieses zunächst bestimmt war (15, 1–13).

 Schluß c. 15, 14-16, 27.

 Der Apostel entschuldigt gewissermaßen sein Schreiben an die von ihm nicht gegründete Gemeinde, indem er an seinen heidenapostolischen Beruf erinnert, der auch ihr gilt; zugleich auch daran, wie Gott selbst diesen durch den Erfolg bestätigt habe (15, 14–19). Dann kommt er auf sein Vorhaben, jetzt, da er seine Missionsaufgabe im Osten des römischen Reichs als gelöst ansehen kann, Rom zum Mittelpunkte einer Thätigkeit an dem Westen des Abendlandes zu machen, und bereitet sich inmitten der Gemeinde so zu sagen jetzt schon eine Stätte (20–33). Endlich empfiehlt er Phöbe (16, 1–2), die Überbringerin des Briefs, grüßt viele einzelne, wohl hervorragende Glieder der Gemeinde mit Namen, um durch Hervorhebung der persönlichen Beziehungen das Band zwischen sich und der Gemeinde fester zu knüpfen (3–16), warnt vor denen, die Trennungen| stiften, als die ihr Eigenes suchen (17–20), bestellt die Grüße seiner Gehilfen und der nächsten Freunde in Korinth und seinen eigenen (21–24), und schließt, wie er begonnen, mit einem Preise seines Amtes als Apostel der Völker (26–27).


II. Die Briefe des Paulus aus der ersten römischen Gefangenschaft.
§ 82.

 Es sind fünf Briefe, in welchen sich Paulus ausdrücklich einen Gefangenen nennt: – der an die Kolosser (4, 3), Epheser (3, 1; 4, 1; 6, 20), an Philemon (v. 13), die Philipper (1, 13), und der zweite an den Timotheus (1, 8. 16; 2, 9). Diese Briefe sind also jedenfalls in einer Gefangenschaft geschrieben. Da nun aber der Apostel Paulus dreimal gefangen war – wie später sich erweisen wird – nämlich in Cäsarea (58–60), in Rom ein erstes Mal (61–63) und dann ein zweites Mal (im Jahre 66), so fragt es sich, aus welcher Gefangenschaft Paulus jene Briefe geschrieben habe.

 Sehen wir vom zweiten Brief an Timotheus, welcher unter anderen Verhältnissen geschrieben ist, als die ersten vier Briefe, zunächst noch gänzlich ab, so ist vorerst der Philipperbrief unzweifelhaft der ersten römischen Gefangenschaft zuzuweisen. Denn es wird hier das Lager der Prätorianer genannt, in welchem das Evangelium bekannt geworden (vgl. Phil. 1, 13 mit Akt. 28, 16 ff.); es werden Grüße von den Angehörigen des kaiserlichen Palastes bestellt (Phil. 4, 22), und dieses, sowie manches andere (vgl. 1, 12 ff., 19 ff.; 2, 17 ff.); weist uns bestimmt nach Rom. Da nun aber der Apostel bereits eine reiche Wirksamkeit zu rühmen (1, 12 ff.), aber auch mancherlei traurige Erfahrungen zu berichten hat (1, 15 ff.) und endlich die bestimmte Hoffnung ausspricht, bald frei zu werden und nach Philippi zu kommen (1, 25 ff., 2, 24), so schließt man daraus sicherlich mit Recht, daß dieser Brief am Ende der ersten römischen Gefangenschaft, wohl im Frühjahr 63 geschrieben worden sei. Die gerichtliche Verhandlung der Sache des Apostels war bereits eröffnet. Der Verlauf war bisher ein günstiger gewesen (1, 12); die Entscheidung stand aber noch bevor (c. 2, 23).

 Solche bestimmte Anhaltspunkte bieten nun die drei anderen Briefe nicht; man hat sie deshalb häufig der Gefangenschaft zu Cäsarea zugewiesen. Aber gewiß mit Unrecht. Der Brief an Philemon| ist sicherlich von Rom geschrieben. Er hat den Zweck, den Sklaven Onesimus, der seinem Herrn entlaufen ist und durch Paulus bekehrt ward, diesem seinem Herrn, dem Philemon, zu empfehlen. Sollte nun aber Onesimus, um vor Verfolgung sicher zu sein, nicht nach Rom entflohen sein, da er nirgends so wie in dieser Stadt im Gewühl der Tausende verborgen bleiben konnte? Mit dem Philemonbriefe aber ist wieder Kolosserbrief gleichzeitig, denn es grüßen in beiden Briefen ganz dieselben Personen (vgl. Kol. 4, 10 ff. mit Phil. 23. 24): es ist somit dieselbe Umgebung, inmitten welcher Paulus den einen und den andern Brief geschrieben hat. Ist aber der Kolosserbrief in diese Zeit zu setzen, so auch der an die Epheser. Denn erstlich sind die beiden Briefe einander nach Form und Inhalt so auffallend ähnlich, daß sie gleichzeitig entstanden sein müssen; zum andern aber wissen wir, daß sie ein und derselbe Tychikus zu überbringen hatte. Nach Kol. 4, 3–4 und v. 11 scheint der Apostel in der Gefangenschaft, aus der er schreibt, eine Predigtthätigkeit entfaltet zu haben. Solche war ihm nach Akt. 28 in der 1. röm. Gefangenschaft möglich, aber nicht in Cäsarea (Akt. 24, 23). Wenn nun aber alle diese Gründe kein Gewicht hätten, so würde endlich doch der Umstand entscheiden, daß Paulus in diesen drei Briefen seine Sehnsucht stets nach dem Morgenland richtet, während er in Cäsarea nichts mehr wünschte, als nach Rom zu kommen. Es sind somit auch diese drei Briefe mit einander in der ersten römischen Gefangenschaft des Apostels entstanden, und zwar in der Zeit vor Eröffnung der gerichtlichen Verhandlung seiner Sache, da er in ihnen nicht von Verteidigung des Evangeliums spricht, die ihm obliege, sondern vielmehr von dessen Verkündigung (Kol. 4, 3–4; Eph. 6, 20); nach Kol. 4, 11 liegt schon eine längere Thätigkeit in dieser Beziehung hinter ihm.


§ 83.
Der Brief an die Epheser.
 1. Der erste unter den drei Briefen, welche Paulus zu Anfang seiner ersten römischen Gefangenschaft schrieb, heißt in unsern Bibelausgaben Brief an die Epheser, ohne jedoch an dieselben geschrieben zu sein. Die Benennung hat ihren Grund in der Überschrift. Aber dieselbe ist sehr zweifelhaft, denn die Worte „in Ephesus“ fehlen in| den ältesten Handschriften. Dazu kommt, daß unser Brief im Altertum unter dem Namen Brief an die Laodicener vorkommt. Endlich enthält der sog. Epheserbrief gar keine Beziehungen auf die dem Apostel so nahe stehende ephesinische Gemeinde, keine Bezugnahme auf spezielle Gemeindezustände, keine Grüße an einzelne Glieder, keine Mitteilungen über des Apostels persönliches Ergehen (außer der Andeutung in 3, 1 und 4, 1), hinsichtlich deren auf die sie allerdings ersetzenden mündlichen Nachrichten des Tychikus verwiesen wird (6, 21); er ist vielmehr so allgemeinen Inhalts, daß er für alle heidenchristlichen Gemeinden geschrieben sein könnte, übrigens – was entscheidend sein dürfte – setzt er selber Leser voraus, die den Apostel nicht persönlich kennen, und die der Apostel nicht persönlich kennt; der Apostel und die Leser haben beiderseits nur gehört von einander (c. 1, 15; 3, 2–4). Der sich ganz im allgemeinen haltende Charakter des Briefes erklärt sich am einfachsten aus der Annahme (die an Kol. 4, 16 einen starken Halt hat), daß er nicht an eine bestimmte Gemeinde gerichtet, sondern ein Zirkularschreiben an jenen Teil der vorderkleinasiatischen Christenheit war, dem der Apostel persönlich unbekannt geblieben war, während er andrerseits doch von den Wirkungen seiner in Ephesus entfalteten Thätigkeit erreicht wurde (Akt. 19, 10). – Wenn der Brief, wie wahrscheinlich, zuletzt nach der Metropole Ephesus kam und dort aufbewahrt wurde, so ist damit erklärt, warum und mit welchem Recht er in späteren Handschriften unter der Überschrift: „Brief an die Epheser“ figuriert. Für die gegnerische Annahme gewisser moderner Kritiker: Der Epheserbrief sei eine spätere Erdichtung – bildet der Umstand, daß der unter dieser Benennung bereits von Ignatius gekannte Brief in seinem Text für jene Benennung einen Anhalt schlechterdings nicht bietet, eine unlösbare Schwierigkeit; es hätte ja infolge dieses ihm anhaftenden Mangels die Gemeinde seines Entstehungsortes für seinen apostolischen Ursprung eintreten müssen, wenn er weitere kirchliche Anerkennung finden sollte. In diesem Fall würde er nach dieser Gemeinde benannt worden sein.
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 2. Mit dem Epheserbrief berührt sich vielfach in Gedanken und Ausdruck der Kolosserbrief. (Vgl. Eph. 1, 10 mit Kol. 1, 20; Eph. 2, 5 mit Kol. 2, 13; Eph. 3, 1–10 mit Kol. 1, 25-27;| (Eph. 4, 22 ff. mit Kol. 3, 9 ff. etc.) Die Verwandtschaft beider Briefe erklärt sich aus der Gleichzeitigkeit ihrer Abfassung (derselbe Tychikus hat beide Briefe zu überbringen (vgl. Eph. 6, 21 mit Kol. 4, 7)), wohl auch aus der Gleichartigkeit der Umstände und Bedürfnisse der Leser. Unter diesen Umständen ist die Frage nach der Priorität des einen oder anderen der beiden Briefe unerheblich, wenn man es auch wahrscheinlich finden mag, daß der Epheserbrief der früher geschriebene ist. Trotz dieser Verwandtschaft ist aber doch der Kolosserbrief nicht etwa nur dürftiger Auszug aus dem Epheserbrief; er behält neben demselben seine eigenartige Bedeutung. Abgesehen von der Polemik gegen die die kolossische Gemeinde bedrohenden Irrlehren ist ihm z. B. die Ausführung über Christi allumfassende Mittlerstellung und sonst manches eigentümlich. Viel reicher ist der eigentümliche Inhalt des Epheserbriefes, der gegenüber der knappen, gedrängten Fassung des Kolosserbriefes auch einen größeren Fluß der Rede, und, sonderlich im 1. Teil, eine feierlich gehobene Stimmung des Apostels zeigt. Sie gilt der anbetenden Bewunderung des nun offenbar gewordenen „Geheimnisses Gottes“, des göttlichen Gedankens der Einen, heiligen, aus Juden und Heiden sich bauenden Kirche, an dessen Verwirklichung Paulus durch sein Amt als Heidenapostel so großen Anteil hat. Wir haben hier in Kürze die Lehre von der Kirche. Darin liegt die besondere Bedeutung des Epheserbriefes.
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 Gegen die Behauptung, der Epheserbrief sei auf Grund des Kolosserbriefs von einem Späteren erdichtet, spricht die Kongenialität und geistige Ebenbürtigkeit, welche sein Verfasser im Verhältnis zu dem des Kolosserbriefes zeigt, wie dieselbe aus der Betrachtung paralleler Gedankengänge in beiden Briefen z. B. der Ausführung über den Gewinn, den die Leser mit der Versetzung aus ihrem früheren Stand in die Gemeinschaft Christi überkommen haben, hervorgeht. Den einzelnen christlichen Gemeinden es zum Bewußtsein zu bringen, daß sie zu der einen großen Gemeinschaft der Kirche Gottes gehörten, lag nahe in einer Zeit, da an die von den Aposteln bisher zusammengehaltenen Einzelgemeinden die Forderung heranzutreten begann, jenes Band der Einigkeit durch das eigene bewußte Zusammenhalten zu ersetzen; solcher Art war die Zeit, aus der der Epheserbrief stammt. Im übrigen will der Apostel seine heidenchristlichen Leser| anleiten zu rechter Erfassung der hohen Gnade, die ihnen mit Aufnahme in die Gemeinschaft der christlichen Kirche zu Teil geworden ist, und zu einem ihrem Stand entsprechenden Wandel. Von einem Bestreben, Judenchristen und Heidenchristen zu völliger gegenseitiger Verschmelzung bestimmen zu wollen – zu welchem Zweck der Brief erdichtet sein sollte – ist in den Ausführungen des Briefes selber nichts wahrzunehmen.

 3. Eine bestimmte Veranlassung diesen Brief zu schreiben, d. h. eine andre als der in seinem Heidenapostelamte begründete Wunsch, mit einer ihm persönlich unbekannten Heidenchristenheit in Beziehung zu treten, läßt sich nicht nachweisen. Nach dieser Seite hat es mit dem Brief an die Epheser eine ähnliche Bewandtnis wie mit dem an die Römer.

 4. Die Anlage ist folgende:

 I. Die Lehre c. 1–3.

 Der Apostel beginnt nach der Zuschrift (1, 1–2) mit einem Lobpreis des Heiles in Christo, womit Gott uns gesegnet hat (3). Dieses hat seinen Ursprung in dem ewigen Gnadenratschluß Gottes in Christo (4–6), ist in der Zeit verwirklicht worden durch den Opfertod Christi (7), wird zugeeignet durch die Verkündigung des Gnadenwillens Gottes, dessen letztes Ziel die Zusammenfassung des Alls in Christo als seinem einheitlichen Mittelpunkt – das Endziel aller Geschichte – ist. Anfänglich verwirklicht ist dieses Ziel in der Herstellung eines neutestamentlichen Eigentumsvolks, der Gemeinde, die in dem heiligen Geist das Unterpfand ihrer künftigen Erlösung hat (8–14). Vom Dank schreitet der Apostel fort zur Fürbitte. Er bittet für die Leser um volles Verständnis für die Herrlichkeit ihres Christenstandes und der Größe der – nur mit Christi Auferweckung vergleichbaren – Wunderthat der Gnade, die sie in diesen Stand versetzt hat, indem sie durch dieselbe und nur durch sie aus dem Sündentod erweckt und der himmlischen Herrlichkeit Christi, des erhöhten Hauptes der Gemeinde, teilhaftig geworden sind (1, 15–2, 10). Wie sehr sie alles der Gnade zu verdanken haben, kann sie ein Blick auf ihren früheren Zustand lehren, da sie von der israelitischen Heilsgemeinde und ihren Heilsgütern ausgeschlossen waren. Nun aber, nachdem Christus die Scheidewand des Gesetzes abgebrochen und den national-religiösen Gegensatz des Juden und Heiden in der höheren Einheit des (durch seinen Kreuzestod mit Gott versöhnten) Christen aufgehoben hat, sind sie mit dem gläubigen Israel Eine Gemeinde und eingefügt in den Wunderbau der Kirche Gottes (11–12).

 Auf Grund dieses Thatbestandes nun und vermöge seines Amtes als Heidenapostel, als welchem ihm der besondere Beruf geworden ist, das vordem verborgene Geheimnis kund zu thun, daß auch die Heidenwelt neben Israel| einen voll- und gleichberechtigten Bestandteil der Gemeinde Gottes bilden solle (3, 1–12) ein Gedanke, der ihm Anlaß wird zur Fürbitte für die Leser (um allseitiges Wachstum ihres inneren Lebens) v. 13–21 – ermahnt nun der Apostel die Leser zu einem diesem Thatbestand entsprechenden

 II. christlichen Verhalten c. 4–6.

 Die Grundlage der Einheit ist der Kirche von Gott gegeben, so gilt es eben die Einigkeit im Geist in Liebe und Frieden zu pflegen (4, 1–6). Auch die Mannigfaltigkeit der Gaben, woraus sich mannigfaltige Berufsstellungen (Ämter) ergeben, soll nur Einem Ziel dienen, der Erbauung und Vollendung der Gemeinde, und ist bestimmt, in der schließlichen Gleichheit des Christenstandes der geistlich mündig und selbständig gewordenen Glieder des Leibes Christi sich selbst wieder aufzuheben v. 7–16. Sodann ermahnt der Apostel die Leser zu einem ihrem Christenstand entsprechenden Wandel im Gegensatz zu ihrem früheren heidnischen Sündenwesen (4, 17–5, 2), wobei er sie besonders vor den Gefahren eines Verkehrs warnt, der sie wieder in heidnisches Sündenleben verflechten könnte (5, 3–14), ihnen Vorsicht im Wandel einschärft und zeigt, welche Art gesteigerter Lebensfreude dem Christen geziemt (5, 15–21). Insonderheit sollen sie sich als Christen erweisen in den gottgeordneten Gemeinschaftsformen des natürlichen Lebens, so vor allem in dem Verhältnis von Mann und Weib in der Ehe, in der sich das Verhältnis Christi und seiner Gemeinde spiegelt (22–33), sodann in dem von Eltern und Kindern, und Herren und Knechten (6, 1–9). Sodann ermahnt der Apostel seine Leser mit besonderem Nachdruck zum Kampf wider die Mächte der Finsternis, gegen die sie sich rüsten sollen mit den Waffen, die ihr Christenstand darbeut, sonderlich mit Gebet und Wachsamkeit (10–18).

 Schließlich ersucht der Apostel die Gemeinden um die Fürbitte für ihn, verweist wegen der Nachrichten über seine Person auf Tychikus, den Überbringer des Briefes, und erteilt seinen apostolischen Gruß (19–24).


§ 84.
Der Brief an die Kolosser.
 Die Gemeinde in Kolossä, einer namhaften Stadt im Thale des Lykus, war ebenso, wie die in der benachbarten Stadt Laodicea und Hierapolis, nicht von Paulus unmittelbar gestiftet worden. Paulus war auf seiner zweiten Reise in Kleinasien durch göttliche Weisung aus den östlichen Gegenden nach Troas geführt worden, hatte also in Phrygien keine Gemeinden stiften können; bei seiner nächsten Reise aber besuchte er nur die Gegenden, in welchen er früher Gemeinden gegründet hatte. Indes ist die Kolossische Gemeinde doch mittelbar eine Stiftung des Paulus. Denn Epaphras, der sie gegründet, ist jedenfalls durch Paulus bekehrt worden, wahrscheinlich| in der Zeit, als dieser in Ephesus das Evangelium verkündete. Als daher die Gemeinde in Gefahren geriet, wandte sich Epaphras an den Apostel, und dieser auf Grund seines Verhältnisses zu Epaphras und seines allgemeinen Berufes für die heidenchristlichen Gemeinden nahm sich der Not der kolossischen Gemeinde treulich an. Welcher Art nun diese Gefahr war, läßt sich aus den Stellen 2, 8 ff. und 16 ff. einigermaßen erschließen. Danach hat in Kolossä eine Religionsphilosophie Eingang gefunden, die man wohl als einen jüdisch gefärbten Gnostizismus bezeichnen darf. In theoretischer Hinsicht versprach diese unter dem Schein einer höheren Weisheit auftretende Irrlehre, wie es scheint, allerlei Aufschlüsse über die höhere Geisterwelt und ihr Verhältnis zur Menschenwelt sowie über die Befreiung von ihren Einflüssen; in praktischer Hinsicht aber legte sie – wohl von der Grundlage dualistischer Anschauungen aus – die christliche Sittlichkeit in eine strenge an das mosaische Gesetz sich anschließende Askese, die ihr wohl das Mittel war zur vollen Befreiung des Christen von der Herrschaft der in der gegenwärtigen Welt wirksamen Geistesmächte. Zu einer volleren Erkenntnis und zu einem vollkommeneren Lebensstand behauptete sie zu führen. Eine doppelte Gefährdung des Christentums, sowohl nach der religiösen wie nach der sittlichen Seite, drohte also in der Gemeinde zu Kolossä: die Vollkommenheit der christlichen Offenbarung, die Vollgenugsamkeit der durch Christum geschehenen Erlösung, die Völligkeit des Christenstandes der kolossischen Christen wurde in Frage gestellt, und andrerseits wurde die christliche Sittlichkeit in ihrem Wesen alteriert, weil zu einer des Gebrauchs der Dinge dieser Welt sich möglichst enthaltenden Askese veräußerlicht. (Letztere, nicht etwa ein Engelkultus, dürfte unter dem Ausdruck „Geistlichkeit der Engel“ 2, 18 zu verstehen sein.) Die Verschiedenheit dieser Irrlehre von jener, mit welcher jüdische Gesetzeseiferer die galatischen Gemeinden bedrängten, liegt auf der Hand; die Berührungspunkte zwischen beiden sind nur äußerlicher Art. In der Zeit, in welcher uns ausführlichere Nachrichten über die Lehrentwickelungen und Gemeinschaftsbildungen des Gnostizismus vorliegen (2. Jahrhundert), hatte die Kirche denselben bereits aus ihrer Mitte ausgeschieden; es ist aber eine naheliegende Annahme, daß diesem Stadium ein anderes vorherging, in welchem diese Geistesrichtung| noch innerhalb der Kirche sich geltend zu machen strebte, so daß wir uns nicht wundern dürfen, den Anfängen dieser Bewegung, wie der Kolosserbrief zeigt, schon in den Tagen des Apostels Paulus zu begegnen. Darum legt Paulus im Kolosserbrief alles Gewicht erstlich darauf, daß die Erlösung in Christo eine völlige Aufhebung des früheren heidnischen Standes in sich schließe und es dazu außer Christo nichts bedürfe, sodann aber stellt er jener selbsterwählten, scheinbar geistlichen, in Wahrheit fleischlichen Weise der Heiligung die freilich einfache, aber wahrhaft göttliche entgegen, die in den gottverordneten natürlichen Verhältnissen sich erweist. Dies beides in Lehre und Vermahnung bildet den eigentümlichen Inhalt, und darin liegt Wert und Bedeutung des Kolosserbriefs.

 Für die Echtheit des Kolosserbriefes, auf den c. 160 n. Chr. hervortretende Gnostiker sich berufen, indem sie den vom Apostel gebrauchten Bezeichnungen (Pleroma, 1, 19; 2, 9 und Äon 1, 26) andere Bedeutung unterlegten, ist sein Verhältnis zum Philemonbrief von Wichtigkeit. Die beiden Briefe sind nämlich ebenso unabhängig von einander wie sie einander in persönlichen und geschichtlichen Angaben ergänzen, vgl. die Aussagen über Onesimus oder Epaphras in beiden u. a. Dieser Umstand ist ein starkes äußeres Zeugnis für ihre Echtheit, da ein solcher Sachverhalt nur bei echten Schriften sich finden dürfte.

 Der apostolische Gruß 1, 1–2.

 I. Was wir an der Erlösung durch Christum JEsum haben und wie es neben dieser einer andern nicht bedürfe c. 1, 3–2, 23.

 Der Apostel dankt, daß die kolossische Gemeinde durch den Dienst des Epaphras (7) gläubig geworden ist und in rechtem Glauben steht (1, 3–8); er bittet aber zugleich den HErrn für sie um Fortschritt in christlicher Erkenntnis und Leben, sonderlich um dankbare Erkenntnis dessen, was sie an Christo, in dessen Reich sie versetzt sind (9–12), haben, nämlich Erlösung im Vollsinn des Worts. Die Bedeutung seiner Erlösungsthat bemißt sich nach der Erhabenheit der Person Christi, der Gottes Bild, das Haupt, der Mittler und das Ziel der ersten wie der zweiten Schöpfung ist (13–18), indem er durch seinen Kreuzestod das Weltall und insonderheit die sündige Menschenwelt (darunter auch die Leser) aus ihrer Gottentfremdung wiedergebracht und in ein Friedensverhältnis mit Gott versetzt hat (19–23). Dies der Inhalt der Heilsbotschaft, deren Verkündigung in der Heidenwelt sein, Pauli, Lebensberuf geworden ist, den er freilich dermalen (als Gefangener) nur leidend erfüllen kann (24–28). Eben kraft dieses seines Berufes ist es ihm ein großes Anliegen, daß auch diejenigen, denen er wie den Kolossern bisher persönlich unbekannt| geblieben ist, in die volle Erkenntnis der christlichen Wahrheit eingeführt werden und bei derselben fest bleiben möchten (1, 29–2, 5). Im Gegensatz gegen jene mit dem Schein einer höheren Weisheit sich umkleidende Philosophie betont der Apostel die absolute Vollkommenheit des Christentums, denn in Christo haben sie die vollkommene Gottesoffenbarung (v. 9 vgl. v. 3), in Christi Taufe die Reinigung von ihrer natürlichen Unreinheit und den Anfang eines neuen Lebens (v. 10–13), in seinem Kreuzestod die Tilgung ihrer verdammlichen Schuld (v. 14), in seinem Triumph den Sieg über alle gottfeindlichen Mächte (v. 15). Ebensowenig brauchen sie sich an die sittlichen Forderungen jener Irrlehrer zu kehren, die die Heiligung in eine (dem alttestamentlichen Standpunkt entsprechende) Enthaltung von dem Gebrauch der natürlichen Dinge, in eine selbsterwählte, trotz allem geistlichen Schein doch nur der Befriedigung des Fleisches (fleischlichen Hochmuts) dienende Askese setzen (v. 16–23).

 Damit ist die Grundlage gewonnen für den 2. Teil des Briefes, der die Leser zu wahrer christlicher Heiligung ermahnt c. 3. 4. Das neue, hier noch verborgene Leben, in das sie versetzt sind, soll sich erweisen, negativ: im Abthun aller unreinen Lust und leidenschaftlichen Wesens gegenüber dem Nächsten (5–9), positiv: in der Übung christlicher Liebe mit ihren Tugenden, christlicher Friedensgesinnung gegen den Nächsten und dankbarem Preis der Gnade Gottes mit Wort und Werk (9–17), speziell: durch rechtes christliches Verhalten in den gottgeordneten Gemeinschaftsformen des natürlichen Lebens (3, 18–4, 1). Es folgt noch eine Ermahnung zum Gebet, zur Fürbitte für das Reich Gottes, zu weisem gewinnendem Verhalten gegen die Heiden (2–6), worauf persönliche Nachrichten, Grüße und Aufträge den Brief schließen (4, 7–18).


§ 85.
Der Brief an Philemon.

 Gleichzeitig mit dem Brief an die Kolosser schickte Paulus ein kleines Sendschreiben an Philemon, ein hervorragendes Glied, vielleicht einen Vorsteher dieser Gemeinde (Phil. 1. 2. 4–7, vgl. Kol. 4, 9). – Zweck des Briefes ist die Bitte um Verzeihung und Wiederaufnahme für Onesimus, einen Sklaven, der dem Philemon entlaufen und in Rom durch Paulus Christ geworden war. – Der Wert des Briefes besteht darin, daß er zeigt, wie das Band des Glaubens und der Liebe die Christen verbindet, ohne doch die sozialen Unterschiede, z. B. den Unterschied zwischen Herrn und Knecht, innerhalb der christlichen Gemeinde aufzuheben. Der Brief ist somit ein wichtiger Beitrag für die Stellung des Christentums zur Sklavenfrage, die er nicht auf dem Weg gewaltsamer Emanzipation gelöst haben will.

|  Inhaltsangabe.

 Onesimus war nach Rom gekommen, s. § 82, und hier durch Paulus bekehrt worden (Philem. 10 f.). Nun sendet Paulus ihn im Geleite des Tychikus (Eph. 6, 21. Kol. 4, 7–9) seinem Herrn zurück, und obwohl er als Apostel das Recht hätte, von Philemon Verzeihung für Onesimus zu verlangen, so bittet er doch darum, indem er sich nach der Zuschrift (1–3) erst auf den Glauben und die Liebe Philemons gegen alle Heiligen im allgemeinen beruft (4–7), dann aber darauf hinweist, in welches Verhältnis nunmehr Onesimus durch seine Bekehrung zu Paulus nicht bloß, sondern auch zu Philemon getreten sei. Denn dem Apostel ist Onesimus nun ein teurer Sohn, dem Philemon aber, obwohl ein Sklave, doch ein Bruder. Um dieser beiden Gründe willen, bittet Paulus, möge er dem Onesimus vergeben (8–17). Übrigens will Paulus den etwaigen Schaden, den Onesimus durch sein Entlaufen seinem Herrn zugefügt, ersetzen, wenn nicht Philemon etwa durch Erlaß der Schuld das gut machen will, was er selbst dem Apostel schuldet (18–21). Schließlich bittet er für die Zeit, wo er frei wird, um Herberge im Hause Philemons und bestellt seine und seiner Freunde Grüße (22–24).

 Dies der Inhalt des Briefes. Er ist von großer Feinheit und Zartheit nach Form und Inhalt, ausgezeichnet durch das herrliche Ebenmaß apostolischer Würde und brüderlicher Demut und Liebe, – ein großes Vorbild heiliger Weise des Verkehrs unter Christen.


§ 86.
Der Brief an die Philipper.

 1. Die Gemeinde zu Philippi, eine der Hauptstädte Makedoniens, war die erste, welche Paulus auf seiner zweiten Missionsreise gründete (Akt. 16). Sie stand ihm persönlich besonders nahe, so sehr, daß er sie (4, 1) seine Freude und Krone nennt. Und es war ja allerdings schon ihre Gründung von so großen Erweisungen göttlicher Wundermacht begleitet, daß sie ihm wie ein Unterpfand des Gelingens seiner neubegonnenen apostolischen Arbeit im Abendlande erscheinen mußte; und gleich von Anfang an war dem Apostel in Philippi eine solche Willigkeit entgegengekommen (2, 12), daß wir uns nicht wundern können, wenn er mit dieser Gemeinde besonders innig verbunden war. Dieses innige Verhältnis blieb auch fort und fort, wie denn die Philippische Gemeinde die einzige war, von der Paulus Unterstützung annahm (4, 15 ff.).

 2. So kam es auch, daß die Gemeinde zu Philippi dem gefangenen Paulus ganz besondere Teilnahme bewies (4, 10 ff.). Sie entsendete nämlich den Epaphroditus mit einem Schreiben und einer| Gabe an ihn. Nach 1, 12 scheint der Gemeinde zu Ohren gekommen zu sein, daß eine Wendung in des gefangenen Apostels Lage eingetreten sei, indem jetzt die gerichtliche Verhandlung über seine Sache eröffnet worden wäre, ein Umstand, welcher der relativen Freiheit der Bewegung, die er bisher genoß, ein Ende machen mußte. Dies war ja nicht anders zu erwarten; aber doch erschreckte die Thatsache an und für sich selber die Philipper und machte sie besorgt. Zur Beunruhigung wegen der Lage des Apostels gesellte sich noch die Sorge um das Leben ihres Abgesandten, der in Rom von schwerer Krankheit betroffen worden war. Aber die Lage der Verhältnisse gibt vielmehr Anlaß zur Freude, als zu ängstlicher Sorge, der Apostel eilt, der Gemeinde dies kund zu thun; zugleich will er ihr seinen Dank für die übersandte Gabe und bewiesene Teilnahme aussprechen. So bezeugt er denn der Gemeinde durch ein besonderes Sendschreiben seinen Dank und seine Freude über ihre Liebe. Der Brief, in welchem dies geschieht, ist der, mit dem wir es zu thun haben.
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 Sein Zweck ist demnach der persönlicher Danksagung, wie denn diese am Anfang (1, 5), in der Mitte (2, 30) und am Ende (4, 14–18) wiederkehrt. Diesen Zweck sucht der Apostel damit zu erreichen, daß er die Gemeinde, so viel an ihm liegt, fröhlich macht. Der ganze Brief ist Ausdruck der Freude und Aufforderung zur Freude. Er sagt ihnen zuerst von seinen gegenwärtigen Verhältnissen, was sie erfreuen kann, (1, 12–18) und spricht die gewisse Hoffnung auf Befreiung und Wiedersehen aus (v. 19–26), wenn auch die Gestaltung der Verhältnisse selber noch nichts Sicheres (c. 2, 23) erkennen läßt, dann tröstet er sie in ihrer mannigfachen Bekümmernis (1, 27 ff., 4, 6 ff.), insonderheit wegen Epaphroditus, der in Rom todkrank geworden, nun aber wieder genesen ist (2, 25–30). Zudem aber fordert er die Gemeinde auf, nun auch ihm seine Freude an ihr voll zu machen. Dies geschieht, wenn sie das, was an ihr noch unvollkommen ist, überwindet, d. i. wenn sie alle Uneinigkeit in ihrer Mitte durch demutsvolle gegenseitige Selbstverleugnung in brüderliche Einigkeit wandelt (2, 1–16), und wenn sie die Gefahren meidet und kräftig besiegt, welche teils judaistische Irrlehrer (3, 1–16), teils das Exempel des heidnischen Lebenswandels entarteter Christen (3, 18–4, 1) ihr bringen. – So ist denn Ton und Haltung dieses| Briefes recht dazu angethan, die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, daß der Grundton des Christenlebens die Freude ist, die Freude, die auch im Leide, ja angesichts des Todes sich behauptet. Das Persönliche tritt in diesem Briefe stark in den Vordergrund: das gibt ihm seinen eigenartigen Reiz. Das Verhältnis des Apostels zu der philippischen Gemeinde und dieser zu ihm erscheint wie das Ideal gottwohlgefälligen Verhältnisses zwischen Hirt und Herde. Tritt auch der Veranlassung und dem Zweck des ganzen Briefes nach das Lehrhafte zurück, so erhebt er sich doch auch in Abschnitten wie 2, 5–11 (Kenose) und 3, 7 ff. (Lehre von der Rechtfertigung) zu hervorragender dogmatischer Bedeutung.

 3. Der Inhalt des Briefes ist folgender:

 Nachdem der Apostel die Philipper seines Dankes gegen Gott von wegen ihrer Teilnahme am Ev. und seiner Fürbitte um ihr Wachstum in Erkenntnis und Leben versichert hat (1, 3–11), sucht er sie freudig zu stimmen durch das, was er von sich selbst berichten kann. Seine dermalige Lage nämlich – nicht bloß sein Aufenthalt in Rom überhaupt, sondern seine Gefangenschaft – diene zur Förderung des Evangeliums, durch Herausstellung des wahren Wesens seiner apostolischen Thätigkeit und durch die aus dem bisherigen günstigen Verlauf seines Prozesses – denn derselbe war nun eröffnet – gewonnene Ermutigung der übrigen Verkündiger des Evangeliums, und das freue ihn, ohne daß die unlautere Gesinnung solcher, die mit ihrer Verkündigung des Evangeliums ihm auch Konkurrenz machen wollen, ihn darin stören könne (12–18). Sodann habe er hinsichtlich des Ausgangs seines Prozesses die Zuversicht, daß er, ob er wohl für seine Person am liebsten abscheiden möchte, doch zum Wohl der Gemeinden noch länger werde leben und arbeiten dürfen (19–26). Das letztere sagt er, um ihnen Freude zu machen. Hiewiederum sollen nun auch sie ihm Freude machen, indem sie unter sich selber einmütig sind (27), nach außen aber fort und fort sich tapfer halten als Kämpfer Christi (28–30). Sonderlich zur Eintracht und selbstverleugnenden Liebe ermahnt er sie nochmals dringlich mit Hinweis auf das große Vorbild JEsu, der auch die ihm zukommende Stellung eines „κύριος“ d. h. die göttliche Hoheit eines HErrn aller Welt nicht gebieterisch für sich in Anspruch nahm, sondern sich willig entäußerte und in menschlicher Niedrigkeit den Todesgehorsam am Kreuze leistete, um die göttliche Herrlichkeit als Lohn seiner Demut vom Vater wieder zu empfangen (2, 1–11). In zusammenfassender Weise ermahnt der Apostel dann die Gemeinde zu christlichem Lebensernst, unverdrossener Pflichterfüllung und lauterem Christenwandel. Wenn sie so sich hält, so bleibt seine Freude ungetrübt, auch wenn er in ihrem Dienst geopfert wird (12–18).

 Zunächst aber hofft er ihr Freude bereiten zu können durch die Sendung| des Timotheus und des Epaphroditus, welch letzterer ursprünglich wohl bei dem Apostel hatte bleiben sollen, aber von ihm zurückgeschickt wird, damit die Gemeinde selber sich überzeuge, daß er von der Krankheit, die ihn in Rom überfallen hatte, wieder genesen sei (19–30).

 Wiederum erklingt der Grundton des ganzen Briefes in der wiederholten Ermahnung zur Freude. Aber es gilt die rechte Christenfreude zu wahren vor einer doppelten Trübung: durch jüdische Gesetzlichkeit und heidnische Fleischesfreiheit. Vor solchen die auf Beschneidung und gesetzliches Wesen dringen, warnt der Apostel zuerst; er nennt sie, indem er ihnen die Zugehörigkeit zum wahren Bundesvolk abspricht, die „Zerschnittenheit“ (statt: Beschnittenheit). Sein eigener Lebensgang ist die thatsächliche Widerlegung alles judaistischen Irrtums. Warum hätte denn er, der doch ein Jude war wie einer, durch Geburt und Wandel im Gesetz, seine nationalen Vorzüge und sittlichen Errungenschaften als wertlos fahren lassen, um Christum und die im Glauben an ihn vorhandene Gerechtigkeit zu ergreifen, wenn Gesetzesgerechtigkeit zum Heile verhelfen könnte (2–9)? Die Erfahrung der Lebensmacht des Auferstandenen bei gleichzeitiger Erfahrung der Gemeinschaft seiner Leiden – und schließlich das Hingelangen zu der Totenauferstehung (Luk. 20, 35? Offbg Joh. 20, 6?) ist nun das Ziel seines Ringens, in welchem die Leser mit ihm einig sein sollen (10–15). Zum andern warnt dann der Apostel vor heidnischem Weltsinn und fleischlichem Sinnengenuß mit Hinweis darauf, daß der Christ sein Bürgertum im Himmel hat, also des Anspruchs an das Irdische sich begibt, hier nichts mehr sucht, sondern droben sich daheim weiß, von woher er auch die Verklärung des Leibes erwartet (3, 17–4, 1). – Schließlich ermahnt der Apostel noch zwei Frauen, die wahrscheinlich im Dienst der Gemeinde standen, zu rechter Eintracht, und die Vorsteher der Gemeinde zu ihrer Unterstützung, um dann den ganzen Brief, wie in einem Schlußakkord in einer nochmaligen Ermahnung zur rechten Christenfreude, deren Folge die Lindigkeit gegen alle Menschen und deren Voraussetzung die heilige Sorglosigkeit des Glaubens ist, ausgehen zu lassen. Wenn sie so thun, wird ihre Friedensgemeinschaft mit Gott ungestört bleiben (4, 1–9) Mit einer zusammenfassenden Ermahnung, für alles Gute sich offen zu erhalten und einer Danksagung für die durch Übersendung der Gabe ihm bewiesene Teilnahme schließt er dann unter Grüßen von ihm und den Brüdern (10–23).


III. Die Briefe des Paulus aus der Zeit zwischen der ersten und zweiten Gefangenschaft und aus der zweiten Gefangenschaft.
§ 87.
Die Aufeinanderfolge dieser Briefe.
 Es sind noch vier Briefe übrig, welche sich teils selbst als Briefe von Paulus bezeichnen, wie der Brief an den Titus und die| beiden Briefe an den Timotheus, teils von der Überlieferung dem Paulus[6] zugewiesen werden, wie der Brief an die Hebräer.

 In welcher Reihenfolge, wo, wann und unter welchen Verhältnissen sind nun aber diese Briefe entstanden? Stammt der Hebräerbrief (unmittelbar oder mittelbar) von Paulus, so dürfte er der früheste derselben sein, namentlich wenn die aus Hebr. 13, 23. 24 gezogene Vermutung richtig ist, daß der Brief unmittelbar nach seiner Freilassung auf der von dem Apostel längst geplanten Reise von Rom ins Morgenland und zwar noch in Italien (v. 24) (in der italienischen Hafenstadt Brundisium?) geschrieben sei. Wisset, sagt der Verfasser desselben 13, 23, daß Timotheus, unser Bruder, freigekommen ist, mit welchem, wenn er bald kommt, ich euch besuchen werde. Sodann v. 24: „Es grüßen euch die von Italien.“ Nach der ersten Stelle – sie erinnert in der Art und Weise, wie des Timotheus gedacht wird, lebhaft an Paulus – war der Verfasser, als er dies schrieb, im Begriff, ins Morgenland zu reisen. Daß Paulus, als er noch in der ersten römischen Haft sich befand, wirklich den Vorsatz hatte, die Gemeinden des Morgenlandes zu besuchen, wissen wir aus den Briefen, die er in jener Haft schrieb. Da sein Prozeß für ihn günstig lag, da er im Philipperbrief mit aller Zuversicht von seiner Freilassung spricht, auch die Tradition (Clemens Romanus ad Corinthios 5 und der Canon Muratori) seine Freilassung bestimmt voraussetzt, so dürfen wir annehmen, daß der Apostel seinen Vorsatz auch ausgeführt hat. So gewinnen wir auch für die Pastoralbriefe den nötigen Raum in dem Lebensgang des Apostels.

 Schon der Brief an Titus will sich nirgends in die frühere Lebensgeschichte des Apostels fügen. Nach 3, 12 f. kennt Paulus den Apollos, Tychikus und Artemas; dies setzt die Zeit des Aufenthalts in Ephesus voraus. Somit ist der Brief an Titus jedenfalls nicht vor dem Aufenthalt in Ephesus geschrieben. Er kann aber auch nicht während des zwei- bis dreijährigen Aufenthaltes in Ephesus entstanden sein. Denn wenn auch Paulus von hier aus eine Reise nach Kreta gemacht haben könnte, so würde er doch erstlich von dort| aus nicht nach Nikopolis gekommen sein – es sei dies nun das makedonische oder das von Epirus – und dort überwintert haben, um dann nach Ephesus zurückzukehren, noch hätte er den Titus auf Kreta zurückgelassen, da er ihn ja vor seiner Reise nach Korinth durch Makedonien nach Korinth entsandte. Dies alles will sich schwer ineinander fügen. Der Apostel kann also nicht wohl vor seiner Reise nach Jerusalem und seiner langen Haft in Cäsarea und Rom in Kreta gewesen sein und den Brief an Titus geschrieben haben. – Aber auch der erste Brief an den Timotheus ist nicht vor der ersten römischen Gefangenschaft entstanden. Wäre der Brief etwa auf einer Reise geschrieben, die Paulus von Ephesus während des 2–3jährigen Aufenthalts daselbst machte, so wären die Anweisungen des Briefes mindestens befremdlich, und überhaupt erschiene das Schreiben als überflüssig, da der Apostel seine Weisungen beim Weggang mündlich erteilt haben würde; sodann aber hatte ja Paulus nach 1 Tim. 3, 14 Ephesus nicht eben erst verlassen, um etwa nach kurzer Frist dorthin zurückzukehren, sondern sein Aufenthalt ist, indem er diesen Brief schreibt, gar nicht mehr in Ephesus, und er will dorthin erst wieder kommen und den Timotheus besuchen. Es scheint, daß Timotheus, als er den Brief empfing, mit gewisser Selbständigkeit das Amt in Ephesus führte, welches sonst Paulus selbst verwaltete. Auch nicht von Korinth aus (Ap.Gesch. 20, 2) kann er nach Ephesus geschrieben haben, denn dazu paßt 1, 3 und 3, 14 nicht. Timotheus soll danach Ephesus nicht verlassen, um zu dem Apostel nach Makedonien zu kommen, sondern der Apostel will zu ihm nach Ephesus kommen. Aber es befand sich damals Timotheus ja in des Apostels Gefolge Ap.Gesch. 20, 4. Also auch dieser Brief kann nicht vor der langen Haft des Paulus zu Cäsarea und Rom und seiner Freilassung aus derselben geschrieben sein. – Daß aber endlich der zweite Brief an Timotheus die Gefangenschaft und zwar eine andere als die erste voraussetzt, zeigen Stellen wie 4, 16 ff., 4, 21 u. a. Danach ist jetzt ein ernster Prozeß eingeleitet, anders als in der ersten Gefangenschaft. Schon hat eine erste Gerichtsverhandlung (prima actio) stattgefunden, und eine zweite steht bevor, da jene noch nicht zur Entscheidung geführt hat. Timotheus, der während der ersten Haft bei ihm war, ist nun in Kleinasien. Auch andere Umstände zeigen, daß| die Lage des Apostels eine andere, viel schlimmere geworden ist, als in der ersten Haft.
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 Während nun diese vier Briefe sich in die frühere Lebensgeschichte des Paulus nirgends einfügen wollen, stimmt alles wohl, wenn wir die Abfassung uns in folgender Weise denken. Der Apostel wurde in der Zeit, in welcher er den Timotheus seinem Versprechen (Phil. 2, 19) gemäß nach Makedonien geschickt, in Freiheit versetzt. Er wird unverzüglich von Rom aufgebrochen sein und die Reise ins Morgenland angetreten haben. In diese Zeit müßte, wenn die paulinische Urheberschaft feststünde, (s. jedoch § 88), die Abfassung des Briefes an die Hebräer fallen. Auf dieser Reise kam Paulus mit Titus nach Kreta, ließ denselben hier zurück und berührte auf der Weiterreise (?) Milet, wo er den Trophimus zurückließ (2 Tim. 4, 20). Aber Ephesus besuchte er jetzt nicht, sondern that dem Timotheus kund, er solle dort bleiben, bis er zu ihm käme (1 Tim. 1, 3). Dorthin schrieb ihm Paulus, nachdem er von Kreta über Milet nach Makedonien gekommen war, und befahl ihm, nicht zu ihm nach Makedonien zu kommen, sondern bis auf weiteres in Ephesus des Amtes zu walten. Aus Makedonien ließ Paulus auch dem Titus Anweisung zugehen, wie er das Amt in Kreta führen solle. Der Apostel hielt sich auf dieser Reise nicht lange auf. Er kam nicht mehr nach Ephesus, sondern begab sich nach Nikopolis in Epirus, um von da aus, wenn die Winterzeit vorüber wäre, auf dem kürzesten Seeweg nach Italien zu kommen. Nach Nikopolis soll auch Titus kommen, wenn er seine Aufträge auf Kreta vollführt hat. Einen Sommer scheint Paulus an diese Reise gewendet zu haben. Nachdem er in Nikopolis überwintert hatte, kehrte er im Frühjahr 65 nach Italien zurück, um endlich seinen alten Plan durchzuführen und das Evangelium bis an das äußerste Ende des Abendlands, nach Spanien, zu tragen. Daß er diesen Plan auch ausgeführt, bezeugt uns Clemens Romanus, der Zeitgenosse des Paulus. Er wird demnach im Laufe des Jahres 65 die Reise nach Spanien angetreten haben. Näheres über seine dortige Wirksamkeit wissen wir nicht. Genug, daß er dort muß in Haft genommen und nach Rom gebracht worden sein, um als römischer Bürger vor des Kaisers Gericht gestellt zu werden. Aus dieser Gefangenschaft, welche bald eine viel bedenklichere Gestalt annahm als| die erste, schrieb er den zweiten Brief an Timotheus, worin er diesen bittet, bald zu ihm zu kommen, da er, den einzigen Lukas ausgenommen, von allen verlassen sei (2 Tim. 4, 9 ff. 21). Es war der letzte Brief des Apostels, und Paulus gibt sich keiner Täuschung über den Ausgang seiner Gefangenschaft hin. Die Zeit seines Todes wird ins Jahr 67 zu setzen sein.

 Somit würden denn die letzten Briefe des Paulus so sich ordnen, daß, von dem an die Hebräer abgesehen, erst der an Titus, dann der erste an Timotheus im Jahre 64 geschrieben wurde, und zuletzt der zweite an Timotheus in der zweiten Gefangenschaft (66) die ganze Reihe schloß.


§ 88.
1. Der Brief an die Hebräer.
 1. Wie wir schon oben sahen, gehört der Hebräerbrief zu den Antilegomenen, d. h. zu jenen Briefen, deren apostolischer Ursprung nicht allen Gemeinden von Anfang an in gleicher Weise feststand. In Rom kannte man den Brief gegen Ende des ersten Jahrhunderts, denn Clemens Romanus hat ihn benützt. Aber derselbe bezeichnet ihn nicht näher, so daß wir aus seinem Citat kein Urteil darüber gewinnen, wer in Rom für den Verfasser des Hebräerbriefs gegolten habe. Vom Ende des ersten Jahrhunderts an herrscht dann im Abendland fast gänzliches Schweigen über diesen Brief; nur Tertullian beruft sich auf ihn, aber er schreibt ihn dem Barnabas zu. – Anders im Morgenlande. Hier finden wir unsere Schrift unter dem Namen „Brief an die Hebräer“ und als eine Schrift des Paulus anerkannt bei Pantänus, Clemens Alexandrinus, Origenes, – und zwar beruft sich letzterer auf die Überlieferung. Aber die Verschiedenheit der Sprache brachte schon diese Kirchenlehrer auf die Vermutung, daß zwar die Gedanken von Paulus, ihre Darstellung aber von einem seiner Schüler, von Lukas oder Clemens herrühre. Das bis auf diesen Tag zutreffendste über dieses schwierige Problem hat ohne Zweifel Origenes gesagt, wenn er (Euseb. 6, 26) das Griechisch des Briefes für ein reineres erklärt, als es bei Paulus sich finde und die Eigenart seines Ausdrucks in demselben vermißt, die Gedanken dagegen bewundernswert und eines Apostels würdig findet, die Frage nach dem Verf. aber, obwohl ihm die Überlieferung,| die Lukas oder Clemens nennt, bekannt ist, dennoch als ein ungelöstes Rätsel stehen läßt. Allmählich fand der Hebräerbrief wohl infolge Bekanntwerdens der Schriften des Origenes seit Mitte des 4. Jahrhunderts auch im Abendlande Eingang und auf der Synode von Karthago (397) wurde er als der vierzehnte den Briefen des Paulus beigezählt.

 Was nun das Selbstzeugnis des Briefes betrifft, so fehlt ihm zwar der apostolische Gruß und die Selbsteinführung des Verfassers, aber nicht jede persönliche Beziehung auf denselben. Vergl. 13, 23. 24; 13, 18 f. Diese Stellen beweisen, wenn auch nicht die Abfassung des Briefes durch Paulus, so doch jedenfalls seine Herkunft aus dem paulinischen Lehrkreise. In der näheren Umgebung des Apostels werden wir den Verf. jedenfalls zu suchen haben, so daß ein mittelbar paulinischer Ursprung des Briefes wohl möglich wäre. Der Stelle 2, 3 dürfte bei der Frage nach dem Verfasser kein entscheidendes Gewicht beizulegen sein. Dagegen läßt sich nicht leugnen, daß der Lehrgehalt dieses Briefs vielfach neu und eigentümlich ist. Die Auferstehung tritt zurück hinter der Erhöhung und Vollendung Christi durch seinen Hingang zum Vater. Christus erscheint als Hohepriester und zwar nach der Weise Melchisedeks, paulinische Grundbegriffe (wie Rechtfertigung, Werke des Gesetzes etc.) fehlen ganz oder treten völlig in den Hintergrund; der Glaube erscheint nicht als Mittel der Aneignung der Rechtfertigung, sondern als Sache des über die Ungenüge der Gegenwart mit der verheißenen Zukunft sich tröstenden Vertrauens etc. Indessen ließe sich diese Verschiedenheit des Lehrgehalts immerhin aus der eigenartigen Veranlassung und dem Zweck des Hebräerbriefs genügend erklären; ist diese Verschiedenheit ja nicht minder groß zwischen anderen paulinischen Briefen wie z. B. zwischen dem Galater- und Epheserbrief.

 Was aber entschieden gegen unmittelbar paulinische Abfassung spricht, das ist der Stil des Briefes, der durch Reinheit des griechischen Ausdrucks, sorgfältigen Periodenbau, die rhetorische Fülle und Erhabenheit seiner Sprache von dem der paulinischen Briefe mit der Gedrungenheit ihrer Gedanken, der dialektischen Schärfe der Beweisführung und ihren sprachlichen Unebenheiten so unverkennbar sich unterscheidet, daß es schwer, ja unmöglich erscheint, ihn dem| Paulus zuzuschreiben. Möglicherweise trifft die bereits im Altertum vertretene vermittelnde Ansicht das Richtige, daß Paulus die Gedanken zu dem Brief gegeben, und einer seiner Begleiter ihn verabfaßt habe. Das Altertum riet auf Clemens, Lukas, Barnabas, Luther auf Apollos; Sicheres läßt sich nicht sagen.
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 2. Leserkreis und Veranlassung des Briefes. Als Leserkreis bezeichnet die Überschrift die Hebräer, was freilich eine sehr unbestimmte Angabe ist. Doch geht jedenfalls soviel daraus hervor, daß die Leser ausschließlich Judenchristen waren, was denn auch zu dem Inhalte allein paßt. Daß aber der Brief nicht der Gesamtheit der Judenchristen vermeint war, erhellt aus den örtlich begrenzten Zuständen, auf welche er Rücksicht nimmt (vergl. die Grüße, die Absicht, die Empfänger zu besuchen u. s. w.). Man hat nun den Leserkreis in Antiochien und Umgebung (so nach Hofmann die früheren Auflagen dieses Buchs) oder in Syrien (Kübel) oder innerhalb der Gemeinde von Rom, deren Majorität judenchristlich gewesen sei (Zahn), oder in den judenchristlichen Gemeinden Palästinas, wenn nicht geradezu in der von Jerusalem selber (so die 10. Auflage dieses Buches) suchen zu müssen geglaubt, von anderen z. T. abenteuerlichen Vermutungen abgesehen. Was die Schrift selber an Aufschluß gibt, ist folgendes: Der Brief ist geschrieben an Judenchristen (c. 13, 13), welche erst durch die Apostel zum Glauben gebracht worden sind (c. 2, 3). Sie haben nach ihrer Bekehrung einen großen Leidenskampf mit anderen durchgemacht (c. 10, 32), wobei ein Teil von ihnen Gegenstand direkter Verfolgung war, während die anderen durch die Teilnahme, welche sie den Verfolgten (etwa durch Besuch im Gefängnis) bewiesen, mit in ihre Leiden sind hineingezogen worden, und um ihr Hab und Gut gekommen sind. Diese Zeit liegt schon ziemlich weit hinter ihnen, am Anfang ihres schon geraume Zeit (c. 5, 12) währenden Christenstandes. Weiter haben die Leser den Heiligen gedient und thun es noch. (Mit jenem Dienst, den die Leser an den Heiligen übten, kann kaum Anderes gemeint sein, als dies, daß sie die Armen der Muttergemeinde unterstützt haben.) Endlich gehören die Leser einem Kreis an, der mit Timotheus, dem geistlichen Sohn und Gefährten St. Pauli bekannt war, für ihn sich interessierte und über seine letzten Schicksale| unterrichtet war. Offenbar hat Timotheus für die Gemeinde eine gewisse Bedeutung (c. 13, 23). – Unter der großen Verfolgung, welche die Leser am Anfang ihres Christenstandes durchzumachen hatten, kann kaum eine andere gemeint sein, als jene, die nach dem Tode des Stephanus über die Gemeinden in Palästina (Judäa, Samaria, Galiläa Akt. 8, 3; 9, 2; 26, 9–11; 9, 31) erging, sich aber auch in die fremden Städte erstreckte. Wir werden die Leser des Briefes demnach in Palästina (doch schwerlich in Jerusalem selber) oder in einem der an Palästina anstoßenden Gebiete zu suchen haben.
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 3. Zeit und Veranlassung dieses Sendschreibens. Es setzt den Bestand des Tempels und Tempelgottesdienstes voraus, ist also (im letzten Jahrzehnt) vor der Zerstörung Jerusalems geschrieben. Zum Schreiben wurde der Verfasser veranlaßt durch die Besorgnis, welche durch Nachrichten über die schlimme innere Verfassung seiner Leser in ihm erweckt wurde. Eine geistliche Ermattung drohte sich der vordem zu Kampf und Leiden für das christliche Bekenntnis so willigen Leser zu bemächtigen, welche die Gefahr eines gänzlichen Abfalls vom Christentum und damit das Unglück des unwiderbringlich verlorenen ewigen Heils in sich schloß. Ihr Begehren stand ähnlich wie bei der aus Ägypten ausgewanderten Generation des Volkes nach einem Aufhören der Mühsale, nach einem ruhigen Leben und äußeren Frieden. Dies Verlangen nach zeitlichem Glück benahm ihnen die Fähigkeit, Christum und sein Heil und das Hoffnungsgut des Christenstandes in seiner wahren Größe zu erkennen, und damit auch den Zugang zu der Quelle, aus der sie immer neue Kraft zur Erhebung des Gemüts über die mit dem Christenstand verknüpften Widerwärtigkeiten und zum Kampf mit dem eigenen sündlichen Verderben schöpfen konnten. Ihre innerlich vorhandene Unlust, den sauern, mühevollen Pilgerlauf des Christen weiter fortzusetzen, trat augenfällig hervor bei kürzlich über sie gekommenen Anfechtungen und Leiden (wohl eine Folge des in den sechziger Jahren neuerwachten national-religiösen Fanatismus ihrer Volksgenossen). Schon begannen Einzelne von den christlichen Versammlungen wegzubleiben, ihre christliche Festigkeit war erschüttert; es brauchte die vorhandene Mißstimmung nur einen Vertreter finden, der ihr Worte verlieh, so| war eine weit um sich greifende Verstörung des Glaubens, Verleugnung und Abfall zu befürchten.

 Dies womöglich noch zu verhüten, ist der Zweck des Hebräerbriefs, der nach 13, 23 ein Wort der Ermahnung sein will. Die Leser sollen den Glauben an Christum und die Hoffnung auf seine Verheißung nicht aufgeben, darum, daß die Leiden um Christi willen gar kein Ende nehmen wollen. Denn das ist die Bedeutung des Mittlertums Christi, daß es die wahren Güter gebracht hat, während der alte Bund nur die Vorbilder, die Schatten der zukünftigen Güter hatte, nicht das Wesen der Güter selbst. Wenn jetzt die Herrlichkeit des neuen Bundes noch nicht erschienen ist, so verbürgt doch die Größe des Stifters und seines Werkes, daß die Gemeinde wie er durch Leiden zur Herrlichkeit eingehen werde. Darum sollen die Hebräer Glauben halten wie die heiligen Väter, und im Leiden, welches ein Kennzeichen der Gotteskindschaft ist, die Hoffnung nicht aufgeben, sondern nach dem Vorbild ihrer für das christliche Bekenntnis gestorbenen Lehrer sie festhalten bis ans Ende.

 4. Diese Grundgedanken führt der Verfasser in folgender Weise aus:

 I. Die über die Engel, über Mose, Josua und auch über Aaron hinausragende Erhabenheit des neutestamentlichen Mittlers c. 1, 1–5, 10.

 1. JEsus ist erhaben über die Engel, die Vermittler der A.Tl. Gottesoffenbarung c. 1. 2.

 a) Auf die vielfachen prophetischen Gottesoffenbarungen ist in dieser letzten Zeit die Gottesoffenbarung durch den Sohn gefolgt, den Vollbringer des Heilswerks, welcher nach rückwärts als Gott und Träger des von Gott durch ihn geschaffenen Weltalls und nach vorwärts als der Erhöhete und Erbe aller Dinge auch über die Engel, welche Diener sind, erhaben ist (c. 1). Darum übertrifft die durch den Sohn vermittelte Offenbarung das durch Engel vermittelte Gesetz, und darum soll man ihr auch desto williger gehorchen, um nicht einer Strafe zu verfallen, welche der Größe dessen entspricht, für dessen Verachtung man gestraft wird (2, 1–4). b) Wohl sehen wir JEsum jetzt noch nicht als Herrn der zukünftigen Welt, aber doch bereits als den Verherrlichten, nachdem er zeitweilig unter die Engel erniedrigt war, um durch seinen Tod Tod und Teufel zu überwinden, und durch Leiden vollendet, für uns, seine Brüder, die mit ihm Kinder eines Vaters sind, ein mitfühlender Hohepriester zu werden (2, 5–18).

 2. JEsus ist erhaben über den Mittler des A. T. Mose c. 3.

 JEsus ist herrlicher als Mose, denn er ist treu, wie dieser, im Hause| Gottes. Aber Moses gehört selbst zum Haus als Diener, während Christus als Sohn dessen, der das Haus bereitet hat, Herr über das Haus (die Gottesgemeinde) ist (3, 1–6). Bei der Erwähnung Mosis legt sich die Erinnerung an das Geschick des Volkes, dem er diente, nah und damit die Ermahnung an die Leser, doch sich nicht gegen das Wort eines solchen über Mosen erhabenen Gottgesandten zu verstocken, damit sie nicht wie das Geschlecht der Wüste des Eingangs zur Ruhe Gottes verlustig gehen (3, 7–19).

 3. JEsus ist erhaben über Josua c. 4, 1–16.

 Wir sollen durch Glauben in jene Gottesruhe eingehen, zu welcher das Geschlecht der Wüste nicht gelangte, zu welcher auch Josua sein Volk nicht zu bringen vermochte, in welcher das Volk Gottes der Sabbatruhe Gottes teilhaftig wird (4, 1–10). Darum hüten wir uns vor Unglauben, den das alles durchdringende und alles enthüllende Wort schon in seinen geheimsten Regungen offenbart, und halten wir fest an dem Bekenntnis von und zu unserm so erhabenen und milden Hohepriester (4, 14–16)!

 In Anknüpfung an 2, 17 und 3, 1 kommt nun der Verf. auf den Gegenstand zu sprechen, der ihm am meisten am Herzen liegt, und bei dem er darum am längsten verweilt: auf das hohepriesterliche Amt JEsu, und zeigt zunächst

 4. wie JEsus auch erhaben ist über Aaron c. 5, 1–10.

 Der aaronitische Hohepriester hat, ein Mensch für Menschen und darum menschlichen Mitgefühls fähig, sein Amt von Gott: – so ist auch Christus von Gott, seinem Vater, gesetzt zum Priester, und zwar zu einem erhabeneren als Aaron, nach der Weise Melchisedeks, und ist, obwohl Gottes Sohn, leidend und flehend in den Tagen seines Fleisches, Urheber unseres ewigen Heiles geworden (5, 1–10).

 Übergang zum II. Hauptteil c. 5, 11–6, 20.

 Ehe der Verfasser die Vergleichung Christi und Melchisedeks weiter ausführt, straft er die Leser wegen ihres Zurückgebliebenseins auf der Vorstufe christlicher Erkenntnis, über welche hinaus er sie mit Gottes Hilfe der Vollkommenheit entgegenführen will (5, 11–6, 3). Bei ihrer vorausgegangenen lebendigen Erkenntnis Christi würden sie, wenn sie abfallen sollten, keine Möglichkeit der Wiederbekehrung mehr haben; doch versieht sich der Verfasser von den hebräischen Christen eines bessern, daß sie nämlich durch Glaubensbeständigkeit Erben der Verheißung werden (4–12). Nach dem Vorbild Abrahams, welcher der durch Wort und Schwur Gottes verbürgten unverbrüchlichen Verheißung traute, sollen auch sie die Hoffnung festhalten, die ins Heiligtum hineinreicht, wohin JEsus, vermöge eines gleichfalls beschworenen Wortes Gottes Hohepriester nach der Weise Melchisedeks, vorausgegangen (13–20). Hiermit hat sich der Verf. wieder den Weg gebahnt zu der bereits c. 5 begonnenen Betrachtung des Hohepriestertums JEsu und zeigt nun

|  II. den überaaronitischen melchisedekischen Charakter unseres Hohenpriesters, welcher nach einmaliger Selbstopferung nun königlich thronet im Himmel c. 7, 1–10, 18.

 1. Der Priester nach der Weise Melchisedeks (vgl. Gen. 14 und Ps. 110) c. 7, 1–25.

 Alles ist dem Verf. an dieser Gen. 14 meteorgleich auftauchenden Persönlichkeit bedeutsam, was die Schrift von ihr sagt und was sie verschweigt (v. 3). Die Hoheit des Melchisedek lehrt er aber daran ermessen, daß selbst Abraham vor ihm sich beugte, indem er ihm den Zehnten gab und von ihm den Segen empfing (v. 1–10). Die Verschiedenheit und zugleich Erhabenheit des Priestertums JEsu über das levitische weist er nun auf Grund von Ps. 110, 4 daran nach 1. daß Christus nicht dem priesterlichen, sondern dem königlichen Stamm entsproß, 2. daß er Priester nicht ist durch leibliche Abstammung, sondern in der absoluten Lebensfülle seiner Persönlichkeit (7, 15–19), 3. daß er zum Priester bestellt ist mit göttlichem Eidschwur (7, 20–22), und zwar 4. nicht als sterblicher Vorgänger anderer, sondern unwandelbar als der Ewiglebende, zum Heile aller, die sich durch ihn bei Gott vertreten lassen (7, 23–25).

 2. Die Erhabenheit des Priesters nach der Weise Melchisedeks über den levitischen Hohepriester v. 7, 26–9, 12 erweist sich

 a) durch seine Sündlosigkeit, vermöge deren er keines Opfers für sich bedarf, sowie durch sein einmaliges, keiner Wiederholung bedürftiges Sühnopfer für die Gemeinde (7, 26–28), b) durch den innergöttlichen himmlischen Bereich seines hohenpriesterlichen Waltens und zugleich königlichen Herrschens (8, 1–5), c) durch den auf Sündenvergebung beruhenden neuen Bund, dessen Stifter er geworden ist (8, 6–13), endlich d) durch die innerlich reinigende, vollendende Kraft seines Opfers. Im A. T. deutete schon die Einrichtung der Gotteswohnung, die Unzugänglichkeit des Allerheiligsten, auf die Unvollkommenheit der Stufe der Gottesgemeinschaft hin, zu welcher es erhob (9, 1–10), während das Selbstopfer Christi, der durch den Tod zu Gott ging (das Gegenbild des Eingangs des A.Tl. Hohenpriesters in das Allerheiligste) eine gewissenreinigende, vollendende Kraft hat, eine ewige Erlösung bewirkt und der Heilsgüter des N. Testamentes teilhaftig macht, dessen unverbrüchliche Gültigkeit eben auf seinem Opfertode beruht (11–28). Und so hat denn sein einmaliges Opfer, weil es die Verwirklichung des wesentlichen Willens Gottes ist, eine die Gläubigen für alle Zeiten vollendende Wirkung, während das alttest. Opfer schon in der Notwendigkeit seiner jährlichen Wiederholung das Zeichen seiner Unvollkommenheit und Unwirksamkeit an sich trug (10, 1–18).

 III. Das rechte Verhalten in der Wartezeit zwischen unseres Heiles Anfang und Vollendung c. 10, 19–13, 25.

 1. Der Verfasser ermahnt (10, 19–39) glaubensgetrost (im Gebet) zu dem eröffneten Allerheiligsten herzuzutreten (19–22), das Bekenntnis der wohlverbürgten Hoffnung festzuhalten (23), wechselseitig über sich zu wachen in Erwägung des unabwendbaren Gerichtes, welches alle diejenigen trifft, die das einmal erkannte Heil des neuen Bundes willentlich verleugnen (24–31), und| bei der früher in Bedrängnis erwiesenen Glaubensbeständigkeit zu beharren, um so der Verheißung teilhaftig zu werden, deren Erfüllung mit dem Tag des HErrn bevorsteht (32–39).

 2. Aller Glaube aber hat es zu thun mit Thatsachen der unsichtbaren Welt, mit Gütern der Zukunft, und so war er das Eigentum der h. Väter; zeigt doch die heilige Geschichte von dem ersten Anfang an und in ihrem ganzen Verlauf, daß der Glaube das Wesen alles gottgefälligen Verhaltens (11, 1–16), die Bedingung alles göttlichen Segens und Erfolges (17–31), die Macht alles geistlich großartigen Thuns und Leidens ist (32–40).

 3. Im Rückblick auf eine solche Wolke von Zeugen und im Aufblick auf JEsum, der auf dem Wege willigen Leidens zur Herrlichkeit gelangt ist, sollen die Leser im Kampfe gegen die Sünde nicht ermatten (12, 1–4), und nicht der väterlichen Liebe, welche alles Züchtigungsleiden über uns verhängt, und der edlen Frucht, die es bringt, vergessen (5–11). Vielmehr sollen sie sich aufraffen zu rüstiger Fortsetzung des Christenlaufs, dem Frieden nachtrachten, der Heiligung nachringen, keine Unlauterkeit unter sich aufkommen lassen, damit sie nicht wie Esau zu spät einsehen, wie schnöde sie sich um das Gut der Verheißung gebracht haben (12–17). Um wie viel herrlicher die neutestamentliche Offenbarung ist als die sinaitische, da sie uns in lebendige Gemeinschaft mit der enthüllten Herrlichkeit des Jenseits setzt, um wie viel herrlicher das unbewegliche Reich ist, das wir überkommen haben, als die bei der Gesetzgebung bewegte Erde, um so viel größer ist unsere Strafbarkeit im Falle des Ungehorsams und der Untreue, denn ein verzehrendes Feuer ist der Gott des neuen Bundes wie der des alten (18–29).

 Schluß. Gemischte Ermahnungen an die Leser zu allerlei christlicher Tugend, insbesondere zur Nachahmung des Glaubens ihrer verstorbenen Führer, zum Trachten nach rechter Heils- und Glaubensgewißheit; Warnung vor Überschätzung des alttestamentlichen Kultus und der religiösen Gemeinschaft mit ihrem Volke, aus welcher auch JEsus hinausgedrängt war, da er außen vor dem Thore litt. So gilt es auch für die Leser das Weh dieser Trennung zu verschmerzen und von dem irdischen Jerusalem sich loszulösen im Hinblick auf die himmlische Stadt und im Gegensatz zu dem abgethanen levitischen Gottesdienst die rechten neutestamentlichen Opfer zu bringen, die Gott wohlgefallen (13, 1–16).

Ermahnungen (17–19). Segenswunsch (20–21). Grüße (22–25).


2. Die drei Pastoralbriefe.
§ 89.
Der erste Brief an den Timotheus.
 1. Timotheus, der Sohn eines Heiden zu Lystra und einer frommen Christin aus den Juden, der Eunike, und der Enkel der frommen Lois (2 Tim. 1, 5 und Akt. 16, 1), von den Seinigen| von Jugend auf in der hl. Schrift unterwiesen, war laut Akt. 16, 1 ff. von Paulus, als er auf seiner zweiten Reise nach Lystra gekommen war, zum Gehilfen erwählt worden. Er diente von da an dem Apostel mit aller Treue, indem er ihn teils auf den Reisen begleitete (vgl. Akt. 17–20) und im Werke des HErrn unterstützte (1 Kor. 16, 10), teils als Abgeordneter des Apostels in die von demselben gestifteten Gemeinden ging, um hier Aufträge des Apostels auszurichten (vgl. Akt. 17, 14; 18, 5; 1 Thess. 3, 2–5; 1, 1. – Akt. 19, 22 vgl. mit 1 Kor. 4, 17; 16, 10. 2 Kor. 1, 1. Akt. 20, 4. Phil. 1, 1). Er folgte dem Apostel auch in die erste römische Gefangenschaft. Sein bleibender Aufenthalt war zuletzt Ephesus, wo er der Tradition zufolge als Bischof unter Domitian oder Nerva den Märtyrertod erlitt.

 2. Anlaß und Zweck dieses Briefes ist, dem Timotheus, der von dem Ap. nach Ephesus entsendet worden, um dort seine Stelle zu vertreten, für sein amtliches Wirken die nötigen Anweisungen zu geben. Der Ap. scheint einen ursprünglich beabsichtigten Besuch in Ephesus auf seiner Reise vom Morgenland ins Abendland (a. 64) unterlassen zu haben und ließ daher, im Begriffe nach Makedonien überzusetzen, dem Timotheus sagen, er solle ausharren in Ephesus, bis er wieder zu ihm komme (1 Tim. 1, 3 vgl. 3, 14). Aber mit diesem Befehle allein begnügte er sich nicht, er wollte ihn für die Erfüllung seines schweren Berufes stärken, und so kam es, daß er aus Makedonien diesen Brief an ihn gelangen ließ.

 3. Um nun den Inhalt dieses Briefes zu verstehen, muß man wissen, was Timotheus in Ephesus sollte und was ihm zur Ausrichtung seines Berufes not war. Er sollte erstlich Irrlehrern entgegenwirken, welche das einfache apostolische Christentum in Lehre und Leben verließen und sich einerseits in unfruchtbare, sei es rabbinische, sei es jüdisch-gnostische Grübeleien, andrerseits in eine gesetzliche oder vielleicht jüdisch-gnostische Askese verloren[7] und andere| auf gleiche Wege zu ziehen suchten. Das war an sich eine schwere Aufgabe, die Timotheus nur lösen konnte, wenn er selbst treu an der apostolischen Überlieferung festhielt und jede geistige Gemeinschaft mit den Gegnern mied. Timotheus scheint dies nicht gethan zu haben, sondern aus der Dringlichkeit, mit der der Apostel ihn immer wieder ermahnt, von solchem Wesen sich frei zu erhalten, geht hervor, daß es ihm selbst gefährlich worden war. Vgl. 1 Tim. 1, 4 ff. 18 ff.; 4, 6 ff. 15 ff.; 6, 3 ff. 11 ff. 20. Um so nötiger war es, den Timotheus für den Kampf gegen solches Treiben zu stärken. Dies bildet deshalb gleich den Eingang des Briefes c. 1, wie es auch in der Mitte und am Schluß sich wiederholt. Ein zweites, worüber der Apostel sich zu äußern hatte, betraf die öffentlichen Gottesdienste und die Bestellung der Ämter. Auch dafür bedurfte Timotheus Rat. Der Apostel erteilt ihm diesen, indem er ihn ermahnt, bei der Besetzung der Ämter nicht sowohl auf Begabung, als auf sittliches Wohlverhalten zu sehen (2, 1–3, 13). Endlich drittens soll er ja selbst, bis der Apostel kommt, als Stellvertreter des Apostels die Gemeinde lehren und leiten. Damit bedarf er wieder der Weisung, damit er sich den verschiedenen Verhältnissen gegenüber im Wandel und Wirken richtig zu halten wisse; diese Weisung empfängt er in 3, 14–6, 21. – Dies der Inhalt des Briefes. Er bezieht sich ebenso wie der zweite an Timotheus und der an Titus durchweg auf Kirchenleitung, deshalb heißen sie alle drei „die Pastoralbriefe“.

 4. Was endlich die Form des Briefes anlangt, so ist sie ebenso wie die der anderen Pastoralbriefe weniger sorgfältig, als die der andern Briefe: der Stil ist vielfach ungebunden. Aber es ist zu bedenken, daß sie an Freunde und Gehilfen gerichtet sind. Übrigens herrscht auch in ihnen überall im allgemeinen Ordnung und Gedankenfortschritt.

 Die beiden Timotheusbriefe und den Titusbrief dem Apostel abzusprechen berechtigen weder äußere noch innere Gründe. Die entwickeltere Gestalt jüdisch-hellenischer Gnosis, die uns in den Briefen begegnet, kann nicht befremden, da ihre ersten Keime sich schon im Kolosserbrief zeigen; ebensowenig die stärkere| Betonung des kirchlichen Amts, da gegen das Ende der apost. Periode die Wichtigkeit desselben naturgemäß wuchs. Übrigens hat Paulus von Anfang auf dessen ordnungsmäßige Bestellung Wert gelegt (Phil. 1, 1; Apostelgesch. 14, 23). Von einer monarchischen Zuspitzung des Amtes wissen indes die Pastoralbriefe noch nichts; ein Beweis, daß sie der vor der Johanneischen Wirksamkeit liegenden Zeit angehören. Man hat auch auf den den Pastoralbriefen eigentümlichen Wörterschatz hingewiesen. Aber die neuen Bezeichnungen erklären sich aus dem neuen Gegensatz, den es hier zu bekämpfen galt. Ausdrücke wie „heilsame, gesunde Lehre“, „Geheimnis der Gottseligkeit“, „anvertraute Beilage“ etc. begegnen hier zum erstenmal, weil es eben galt, den gesunden Ernst des christlichen Lebens und die Reinerhaltung der apostolischen Überlieferung zu betonen.

 I. Anweisung zur rechten Bekämpfung des jüdischen Unwesens c. 1.

 Nach der Zuschrift (1, 1–2) beginnt der Apostel sofort damit, den Timotheus an den Auftrag zu erinnern, den er ihm gegeben hat, nämlich diejenigen zu ermahnen, die einer „andern“ Lehre (als der vom Apostel überkommenen) nachhängen (3). Sie beschäftigen sich beim Lehren der Schrift mit Fabeln (d. i. Mythen oder überlieferten Sagen, wodurch sie die Wahrheit mit Irrtum vermengen) und mit Genealogien (gelehrten Untersuchungen über den geschichtlichen Inhalt der Thorah, wenn man den Ausdruck nicht etwa von den gnostischen Äonenreihen zu verstehen hat). Damit erbauen sie aber nicht, sondern rufen nur Wissensdünkel und leere Disputationen hervor, während alles Predigen auf Erweckung wahrer Liebe abzielen soll. Ein Unterricht, der diesem Zweck nicht dient, ist leeres Geschwätz (4–7). Zum andern trägt ihre Lehre einen ausgeprägt gesetzlichen Charakter (v. 7 „Gesetzeslehrer“ vgl. Tit. c. 1, 10. 14). Sie behelligen die Gläubigen mit Bestimmungen des Gesetzes, das doch nicht für sie, sondern für die Sünder gebraucht werden soll, die man dadurch straft und zur Buße führt. Den „Gerechten“ aber gilt nach der gesunden Lehre nicht das Gesetz, sondern die Heilsbotschaft von der Gnade Gottes in Christo, die Gott dem Paulus anvertraut und an der Person desselben für alle Gläubigen verherrlicht hat (8–17). Das soll Timotheus in Ephesus lehren, darauf hin vermahnen, damit er die Weissagung wahr mache, die bei seiner Bestellung zum Gehilfen des Paulus ergangen ist, und wie der Apostel ihm dabei Vorbild und Beispiel ist, so soll das Ende des Alexander und Hymenäus ihn schrecken, von dieser (einfachen apostolischen) Lehre abzuweichen (18–20).

 II. Anweisung des Timotheus in Bezug auf die Ordnung gemeindlicher Verhältnisse c. 2, 1–3, 13.

 1. Die öffentlichen Gottesdienste.

 Das Gebet (2, 1–10). Hier betont der Apostel, daß das gemeindliche Gebet sich auf alle Menschen, besonders auch die Träger des obrigkeitlichen Amtes erstrecken solle. Die Einheit Gottes, die weltumfassende Allgemeinheit des Heilsratsschlusses, seine Ausführung durch den einigen Mittler, den Erlöser aller Menschen, geben dem Gebet notwendig diese Weitschaft. An diesen Gebetsversammlungen| sollen die Männer mit heiligem Ernst, die Frauen in sittsamer Tracht teilnehmen; des Lehrens und öffentlichen Auftretens aber sollen sich letztere enthalten. So ziemt’s sich sowohl um der schöpferischen Ordnung, als um des Verhältnisses des Weibes zum Sündenfall willen. Des Weibes Berufskreis ist nicht die Öffentlichkeit, sondern die Familie (11–15).

 2. Die Bestellung der Ämter.

 Der Apostel lehrt, auf welche sittlichen Eigenschaften bei der Wahl zu den Ämtern zu sehen, bei dem Bischof (3, 1–7), dem Diakon und der Diakonissin (8–11). v. 12–13 handelt von dem häuslichen Leben verheirateter Diakonen.

 III. Ermahnungen an Timotheus zu rechtem persönlichen Verhalten in seiner Berufsstellung c. 3, 14–6, 21.

 1. Als Lehrer soll Timotheus das Geheimnis der Gottseligkeit d. h. die einfache christliche Heilswahrheit, deren Trägerin die Kirche ist (3, 14–16) und den rechten Brauch der natürlichen Dinge lehren gegenüber einer Neologie, die mit Altweibermärchen umgeht und, die Schöpfungsordnung Gottes verrückend, Gewicht auf eine äußerlich gesetzliche Askese legt, der im Vergleich mit der Übung der Gottseligkeit nur eine höchst untergeordnete Bedeutung zukommt (4, 1–11). Da Timotheus für die von dem Apostel ihm gestellte Aufgabe noch jung an Jahren ist, so soll er bestrebt sein, die Achtung zu gewinnen durch das Vorbild, das er gibt, und sein selbst wahrzunehmen, damit er fortschreite im Guten (12–16).

 2. Es folgen nun Weisungen an Timotheus bezüglich seines Verhaltens gegen die einzelnen, je nach Alter, Geschlecht und Stand, a) Am längsten verweilt der Apostel bei den Witwen. Timotheus soll zunächst unterscheiden zwischen solchen, die ganz einsam stehen, und solchen, die noch Angehörige haben, solchen, die ihre Witwenschaft in Ehren führen, indem sie ihr Leben einzig Gott weihen, und solche, die noch Fleischliches suchen (5, 1–8). Nur die eigentliche, d. i. einsame Witwe gehört mit ihren Pflichten und ihren Bedürfnissen ganz der Gemeinde. Ehe sie aber in dies Verhältnis tritt, soll man prüfen, ob ihr Alter und ihre Vergangenheit hoffen lassen, sie werde eine heilige Witwe sein, – nur solche versorge die Gemeinde (9–10). Jüngere Witwen sollen, um Schlimmeres zu vermeiden, wieder heiraten (11–15); die, welche Angehörige haben, sollen diesen und nicht der Gemeinde anheimfallen (16). b) In Bezug auf die Ältesten soll Timotheus darauf sehen, daß man sie ehre und ihnen das Ihre gebe, Klagen gegen sie nicht leichthin annehmen, im Fall der Verschuldung aber strenge strafen ohne parteiische Voreingenommenheit; es mit der Weihe zum Amte nicht leicht nehmen; vor allem aber sich selbst rein halten, ohne einen falschen Wert auf leibliche Askese zu legen, 5, 17–25. (Der diätetische Rat v. 23 will nicht bloß um die leibliche Gesundheit des Timotheus, sondern auch um die Gesundheit seiner Frömmigkeit Sorge tragen.) c) Die Sklaven soll er ermahnen, ihren Beruf in der Ehrerbietung und im Gehorsam gegen heidnische, wie christliche Herren zu erkennen, und das für genug zu| achten, wenn sie selbst gute Werke nicht thun können, daß sie bei der Ausführung derselben dienen (6, 1–2). (?) d) Mit den im Brief schon mehrfach gekennzeichneten Vertretern einer müßigen und unfruchtbaren Schriftgelehrsamkeit, die die Religion d. h. das Lehren derselben zu einem Erwerbsmittel erniedrigen, soll er unverworren bleiben (6, 3–5). Hieran schließt sich eine Empfehlung christlicher Genügsamkeit (v. 6–10). Statt nach solch materiellen Dingen soll Timotheus sich strecken nach dem ewigen Leben und als treuer Bekenner die Lehre rein behalten nach dem Vorbild JEsu, der vor Pilatus sein gutes Bekenntnis abgelegt hat: – solches alles im Blick auf die herrliche Offenbarung JEsu Christi (11–16)! Die Reichen soll Timotheus den rechten Gebrauch des irdischen Gutes lehren (17–19).

 Schluß. Noch einmal mahnt Paulus den Timotheus, die anvertraute Lehre zu bewahren, vor der falsch berühmten Gnosis sich zu hüten, und grüßt ihn mit dem apostolischen Gruße (20. 21).


§ 90.
Der Brief an den Titus.

 1. Titus, seiner Abstammung nach ein Grieche, wahrscheinlich in Antiochien vom Apostel Paulus zum Christentum bekehrt, erscheint seit der Reise des Paulus nach Jerusalem vom Jahre 51 (Gal. 2, 3) als beständiger Gefährte des Apostels. Er wurde von demselben auch zu verschiedenen Malen mit Aufträgen betraut, namentlich diente er dem Apostel zur Zeit, als die korinthische Gemeinde der apostolischen Zurechtweisung bedurfte (vgl. 2 Kor. 7, 6. 13. 14; 8, 6. 16. 23; 12, 18). Auch in der römischen Gefangenschaft (?) befand sich Titus in der Umgebung des Apostels. Als der Apostel wieder frei geworden war, begleitete er ihn ins Morgenland. Er blieb auf Kreta zurück, um das Werk zu vollenden, welches der Apostel hier begonnen hatte. Nach der Tradition kam er später, nachdem er zuvor dem Apostel Paulus bis zu seinem Lebensende gedient hatte (2 Tim. 4, 10), wieder nach Kreta und soll als Bischof der dortigen Gemeinden seinen Lauf beschlossen haben.

 2. Den Anlaß zu dem Briefe des Paulus an den Titus bot der Auftrag, mit welchem der Apostel seinen Gehilfen für die Insel Kreta betraut hatte (Tit. 1, 5). Paulus hatte hier das Evangelium vermutlich nicht zuerst gepredigt, aber er scheint den Anfang dazu gemacht zu haben, die einzelnen Christen, die er auf der Insel vorfand, zu Gemeinden zu sammeln und ihnen Älteste zu setzen. Er| konnte aber dieses Werk nicht selbst vollenden, denn sein apostolischer Beruf rief ihn nach dem Abendlande zurück; deshalb ließ er den Titus zurück, damit dieser die neuen Gemeinden ordne und namentlich für die Bestellung der Ältesten hin und her in den Gemeinden Sorge trage. Bedurfte nun Titus für dieses Werk an und für sich schon apostolischer Anweisung und gewissermaßen auch einer Beglaubigung durch ein apostolisches Sendschreiben an ihn, so war ihm die Stärkung des Apostels noch um so nötiger, als die Zustände der Christenheit auch in Kreta anfingen, schwierige zu werden. „Jüdische Gelehrsamkeit, die ihre unfruchtbaren Untersuchungen über geschichtliche Einzelheiten der Schrift samt den sich anschließenden Fabeln einer mehr als zweifelhaften Überlieferung zum Besten gab oder die Gemüter mit Fragen des mosaischen Gesetzes, was ihm zufolge rein oder unrein sei, behelligte, nahm die Stelle ein, welche dem Unterricht in den gewissen Thatsachen der christlichen Heilsgeschichte und der auf sie gegründeten Anweisung zu christlichem Leben und Wandel gebührte“ (v. Hofm.). Durch dieses Wesen wurde nun die Einheit gemeindlichen Lebens, sowie der sittlich-religiöse Zustand der Gemeinden gefährdet. Dieses Übel hatte der Apostel jetzt vorgefunden und mit Augen gesehen,[8] als er das Morgenland wieder besuchte, und wie sehr es ihn in Anspruch nahm, davon zeugen eben die Briefe, der erste an Timotheus und der an Titus. Auch der Brief an Titus ist nur unter Voraussetzung solcher Zustände zu verstehen.

 3. Der Zweck des Briefes an den Titus ist nun kein anderer, als denselben mit Rat, Belehrung und Ermahnung zu stärken und zu unterstützen, damit er das ihm aufgetragene apostolische Werk im Sinne und Geiste des Apostels vollführe und unter den schwierigen Verhältnissen, namentlich dem bestehenden Gegensatz gegenüber, als Vertreter des Apostels in Lehre und Leitung sich richtig zu verhalten wisse.

|  4. Der Inhalt des Briefes ist demnach folgender:

 Zuschrift 1, 1–4.

 I. Anweisung zur Bestellung des Ältestenamtes c. 1, 5–16.

 Bei der Wahl von Ältesten soll Titus (vgl. 1 Tim. 3) vor allem auf sittliche Unbescholtenheit, d. i. untadeliges häusliches und öffentliches Leben sehen, aber auch auf Reinheit in der Lehre, da es gilt, die Gemeinde in der gesunden Lehre zu unterweisen und die Gegner zu überwinden (1, 5–9). Letzteres besonders gegenüber jenen eitlen Schwätzern, die mit ihren jüdisch-gnostischen Fabeln und Menschensatzungen bei den von jeher mit Recht übel beleumundeten Kretern Eingang gefunden hatten, und die durch dieselben gleicherweise die christliche Heilswahrheit wie die christliche Sittlichkeit schädigten, indem sie letztere in die Beobachtung des äußeren Unterschiedes von gesetzlich rein und unrein setzten, die mit der innerlichen Befleckung Hand in Hand gehen kann (15–16).

 II. Anweisung, wie Titus selber ein der gesunden Lehre entsprechendes Anhalten anempfehlen soll, c. 2, 1–3, 11.

 Zunächst soll er die einzelnen je nach Alter, Geschlecht und Stand zu christlichem Wandel ermahnen (2, 1–10); die Männer und Frauen (1–5), die Jüngeren, denen er, der selbst noch zu ihnen gehört, zugleich durch sein Beispiel predigen soll, endlich die Sklaven; denn ein gottgeweihtes, in guten Werken fleißiges Volk sich zu erziehen ist die Absicht der in Christo erschienenen Gnade und seiner Selbsthingabe in den Tod. So soll Titus lehren und vermahnen (11–15). Er soll aber auch den kretischen Christen ihre Pflicht gegenüber der außerchristlichen Welt vorhalten: Gehorsam gegen die Obrigkeit. Sanftmut und Friedfertigkeit gegen alle Menschen, auch die Heiden, zu erzeigen, eingedenk, daß es die freie Gnade Gottes war, welche sie einst aus gleichem Sündendienst herausgehoben, durch die Wiedergeburt in der Taufe umgewandelt, sie gerecht und zu Erben des ewigen Lebens gemacht hat (3, 1–8). Diejenigen aber, welche sich mit unnützer Schriftgelehrsamkeit (v. 9) befassen, um die Gemeinde zu zerspalten und sich einen Sonderanhang zu verschaffen, soll er, wenn sie auf mehrmalige Ermahnung sich nicht fügen, meiden (10–11).

 Schluß. Persönliches. Grüße (12–15).


§ 91.
Der zweite Brief an den Timotheus.
 1. Wie wir schon oben § 87 sahen, schrieb Paulus diesen Brief als Gefangener. Daß diese Gefangenschaft eine andere war, als jene erste, welche mit dem Jahre 63 endete, wurde aus der Betrachtung der völlig veränderten Umstände bei jener und bei dieser Haft ersichtlich. Aber so einfach dies ist, daß der zweite Brief an Timotheus eine zweite römische Gefangenschaft fordert, so schwierig| ist es, die Zeit dieser zweiten Gefangenschaft und somit die Abfassungszeit unseres Briefes genauer zu bestimmen. Man setzt sie in Verbindung mit der Neronischen Verfolgung, aber mit Unrecht. Diese war vorüber, als Paulus im Frühjahre 65 nach Rom kam. Auch das regelrechte, förmliche Prozeßverfahren, das gegen Paulus eingeleitet und innegehalten wurde, paßt nicht mehr in die tumultuarische Verfolgungszeit. Ist aber Paulus im Jahre 65 von Rom aus nach Spanien gereist und von dort später, nach wie langem oder kurzem Aufenthalte wissen wir nicht, gefangen nach Rom zurückgebracht worden, so werden wir die Abfassung dieses Briefes schwerlich mehr in das Jahr 65 setzen dürfen. Denn der Brief ist, wie wir aus 4, 21 sehen, wo Timotheus aufgefordert wird, noch vor dem Winter zu kommen, im Spätsommer oder Herbst geschrieben, und der Apostel befindet sich zur Zeit, wo er an Timotheus schreibt, schon geraume Zeit in Haft, der Prozeß ist schon in einem weit vorgerückten Stadium; so werden wir denn an den Herbst des Jahres 66 denken müssen. Übrigens vgl. § 87.
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 2. Den Anlaß zu diesem Briefe bot ebensowohl die Lage des Paulus, als die des Timotheus. Paulus lag als Gefangener in Rom; einmal war die Verhandlung ausgegangen, ohne daß seine Verurteilung erfolgt wäre, aber eine zweite Verhandlung stand bevor, welche einen schlimmeren Ausgang nehmen mußte, wenn dem Apostel nicht mehr Unterstützung zu teil wurde, wie das erstemal. Er war als Übelthäter, d. i. wohl als Unruhestifter angeklagt; zumeist auf jene Vorgänge in Ephesus wird sich diese Anklage bezogen haben. Um sich von dieser Anklage zu reinigen, sollten ihm die Christen in Asien und andere Freunde Zeugnis geben. Aber jene und diese haben ihn alle im Stiche gelassen und von seinen Gefährten ist nur Lukas bei ihm (2 Tim. 1, 15; 4, 9–11. 16–18). Da sehnt er sich nach seinem treuen Gehilfen Timotheus (1, 4), um so mehr, als er vernommen hat, welch innigen Anteil derselbe an seinem Ergehen genommen habe; er hofft in seiner einsamen Lage an ihm eine Stütze zu finden. Dies der nächste Anlaß von seiten des Paulus zu diesem Briefe. Der Apostel will seinen Gefährten durch denselben stärken, daß er immer freudiger werde, mit ihm als ein guter Streiter Christi für das Evangelium zu leiden und nun auch teil zu nehmen| an den Leiden des Gefangenen, indem er selbst zu ihm nach Rom kommt. Der Brief hat also zunächst keinen anderen Zweck, als den Timotheus zu ermutigen, nach Rom zu kommen. – Aber auch die Lage des Timotheus bot Anlaß, ihm zu schreiben. Derselbe hat, vielleicht brieflich, Klagen laut werden lassen gegen den Apostel, wie schwer ihm das Amt in Ephesus (?) werde. Über den Schwierigkeiten, welche die schon früher geschilderte Partei von jüdisch-gnostischen Lehrern seiner Lehrthätigkeit entgegensetzte, wie über den Zuständen der Gemeinde, die im wahren Christentum zurückging, scheint ihm Lust und Mut vergangen zu sein an einer öffentlichen Lehrthätigkeit. Hatte er schon früher Neigung, zu stiller Betrachtung und Übung sich zurückzuziehen, so hing er dieser Neigung nur noch mehr nach; sein Eifer für seine Lehrthätigkeit war erkaltet, sein Mut erlahmt. Und doch war es jetzt gerade so not, daß Timotheus die gesunde apostolische Lehre eifrig trieb, wo jene unfruchtbare Religionsgelehrsamkeit anfing, schwere Irrtümer zu erzeugen (2 Tim. 2, 18), während sie bis jetzt mehr deswegen schadete, weil sie die Gottseligkeit, die wahre Frömmigkeit verhinderte. Es war überhaupt not, daß Timotheus sich ermannte zu kräftigem Auftreten; denn er sollte bald die heilsame Lehre für sich allein und selbständig zu vertreten haben; denn des Apostels Zeit ist so gut wie abgelaufen, die Stunde seines Abscheidens ist nahe. So ermahnt ihn denn der Apostel – und das ist der andere Zweck des Briefes – sich von der Schwachheit zur Mannhaftigkeit aufzuraffen, aus der gemächlichen Stille in den Kampf hervorzutreten und durch die Zustände der Gemeinde, die in der schon angegebenen Richtung immer schlimmer werden (c. 3, 1–9), sich nicht überwinden zu lassen, sondern sie in der Kraft des HErrn vielmehr selbst zu überwinden. Es ist der letzte Brief, den der Apostel an seinen Timotheus schreibt. Die Mahnungen desselben lesen sich wie ein letztes Vermächtnis und sollten es auch wohl sein.

 3. Die Ausführung dieses doppelten Zweckes ergibt folgenden Inhalt des Briefes:

 I. Ermahnung zu getrostem Bekenntnis zu Christo und zu rechten Leidensmut c. 1–2, 13.

 Erfreut durch des Timotheus herzliche Teilnahme an seinem (des Apostels) Ergehen fordert Paulus ihn unter Hinweis auf das Beispiel seiner glaubensstarken| Mutter und Großmutter auf, sich mutig zum Evangelium, aber auch zu dem um des Evangeliums willen in Haft liegenden Apostel zu bekennen, eingedenk dessen, was wir der berufenden Gnade Gottes und der Wohlthat Christi, die uns im Evangelium kund gethan ist, verdanken. Letzteres um so mehr als er ja weiß, wie eine ganze Anzahl kleinasiatischer Christen das persönliche Verhältnis zu dem Apostel abgebrochen hat, weshalb Timotheus durch das Vorbild des Onesiphorus, der den Apostel in Rom aufsuchte und durch diesen Beweis der Treue erquickte, sich umsomehr angetrieben fühlen muß, die Gemeinschaft mit dem Apostel zu bethätigen und ihn durch seine persönliche Anhänglichkeit für die Bitterkeit jener Erfahrung zu entschädigen c. 1.

 Mehr als an seiner Person jedoch liegt dem Apostel an der Verkündigung seiner Lehre, auf deren Fortpflanzung Timotheus bedacht sein soll, wie er andernteils bereit sein soll, um des Evangeliums willen mit dem Apostel zu leiden (2, 1–3). Um das zu können, muß er ferne halten, was ihn am Kampfe hindert (4–5), und gedenken 1) des Lohnes, der seiner wartet (6); 2) der Hilfe vom HErrn, die ihm zu teil wird (7); 3) des Vorbildes Christi, der vom Tod zum Leben, von Niedrigkeit zur Herrlichkeit gedrungen ist, und seines Apostels, der jetzt für die Gläubigen mit Christo leidet, aber gewiß weiß, daß er auch mit Christo herrlich werden wird (8–12); 4) der allezeit gewissen Treue, mit der der HErr an seinem Verheißungsworte hält (2, 1–13).

 II. Belehrung des Timotheus über die richtige Führung des Evangelistenamtes sonderlich im Kampf gegen Irrlehre c. 2, 14–4, 8.

 1. Wie Timotheus lehren soll 2, 14–26.

 Des leeren Wortgezänks bloßer Lehrstreitigkeiten soll er sich enthalten, um so mehr als dasselbe bereits da und dort bis zum Widerspruch gegen Grundlehren des Christentums, so z. B. zur Leugnung der leiblichen Auferstehung (durch verflüchtigende Umdeutung derselben) fortgeschritten ist und zu besorgen ist, daß derselbe noch weiter um sich greift (14–18). Anderseits aber soll Timotheus darum, daß es den Widersachern gelingt, den Glauben mancher zu verstören, nicht an dem Fortbestand der Gemeinde Gottes selber verzweifeln. Denn ihr Fundament steht fest mit seinem doppelten Wahrspruch (aus dem Art und Wesen des über dem Grund sich erhebenden Baus ersichtlich wird): der HErr kennt die Seinen (und erhält sie inmitten der Masse der Abgefallenen), und: Man kann der Kirche nicht angehören, die er bauet, ohne dem ungöttlichen Wesen zu entsagen, das mit dem Namen Gottes im Widerspruch steht (19). Ist hiemit das Wesen der Kirche bezeichnet, so tritt uns in dem Bild von dem großen Haus mit mancherlei Gerät die Kirche auch in ihrer Erscheinung entgegen, als welche sie nicht bloß den Unterschied mannigfach abgestufter Begabungen, sondern auch den Gegensatz von (sittlich) wert und unwert in dieser Zeit in sich trägt. Doch kann, wer von der Sünde sich reinigt, aus einem Gefäß der Unehre ein Gefäß zur Ehre werden. Dies doppelte gibt der Apostel dem Timotheus zu bedenken, damit er einesteils an dem Fortbestand der Gemeinde nicht irre werden und zweitens niemanden sogleich aufgeben soll (19–21).| – Wie sich Timotheus nicht zur falschen Verzagtheit, so soll er sich auch nicht zum falschen Eifer hinreißen lassen, wie er der Jugend nahe liegt: also die thörichten Streitfragen meiden, denn sie erzeugen Kampf, dagegen in aller Milde Gottes Wort handhaben, um solche, die in Satans Strick geraten sind, zu gewinnen (22–26).

 2. Was den Apostel zu solcher Weisung dringet 3, 1–17.

 Fehlt es jetzt schon nicht an Gliedern der Gemeinde, deren Wesen den Forderungen des Christentums widerspricht, so steht eine Zeit bevor, wo eine Entartung des Christentums eintreten wird, welche mit dem sittlichen Wesen desselben in allen Beziehungen im Widerspruch steht (3, 1–4). Die Leute haben dann den Schein der Gottesfurcht, haben sich aber ihrer heiligenden Kraft verschlossen. Solche soll Timotheus nicht als vollberechtigte Glieder der Gemeinde ansehen, sondern die Gemeinschaft mit ihnen aufheben (5). Es ist für sie kennzeichnend, daß sie in den Häusern umherschleichen und Eingang suchen bei Frauen, welche von Sünden gedrückt sind, die sich, anstatt gründliche Buße zu thun, von ihnen religiös angenehm unterhalten lassen. Solche (Verführer) gleichen jenen ägyptischen Zauberern: sie geben sich den Anschein, etwas zu leisten, nämlich das Werk der Bekehrung, und stehen wie jene im Dienste der Unwahrheit gegenüber dem Dienst der Wahrheit. Aber sie werden auch, wie jene Zauberer, zu schanden werden (6–9). Ein ganz anderes Christentum, bei dem es auch ohne Verfolgung und Leiden nicht abging, hat Timotheus in der Nachfolge des Apostels vor Augen gehabt (10–13); dabei soll er denn auch bleiben, eingedenk dessen, von wem er die Lehre empfangen hat und weil er vermöge seiner Schriftkenntnis auch von ihrer Richtigkeit überzeugt sein muß (14–15). So wird er die Schrift auch recht gebrauchen zu dem, wozu sie dienen will: ganze Gottesmenschen heranzubilden (16–17).

 Und so beschwört er ihn denn schließlich, mit ganzer Hingebung seinem Beruf als Lehrer der Wahrheit obzuliegen, ehe die Zeit kommt, wo die Menschen sie nicht mehr werden hören wollen (4, 1–5). Alles um so mehr, als der Apostel selber dem Ende seiner Laufbahn nahe ist (6–8).

 Schluß c. 4, 9–22. Bitte an Timotheus, daß er bald zu Paulus komme, denn fast alle haben ihn verlassen; verschiedene Aufträge für die Reise des Timotheus nach Rom (4, 9–15). Mitteilungen über den Stand des Prozesses (16–18). Grüße und Persönliches (19–22).


B. Die katholischen Briefe.
§ 92.
Über den Namen und die kirchliche Überlieferung dieser Briefe.
 Neben den Briefen des Paulus finden sich im neutestamentlichen Kanon noch sieben andere, welche von verschiedenen Verfassern herrühren, nämlich zwei von Petrus, drei von Johannes, einer von| Judas und einer von Jakobus. Diese sieben Briefe faßte man seit Eusebius in eine Abteilung zusammen und nannte sie die katholischen Briefe im Unterschiede von den Briefen des Paulus, die auch eine Abteilung ausmachten und kurzweg der „Apostel“ hießen. Der Sinn dieser Benennung ist nicht ganz klar, doch dürfte folgendes festzustellen sein. Ursprünglich war ein katholischer Brief so viel als ein encyklischer, d. i. ein Brief, der nicht an eine einzelne Gemeinde, sondern an eine Gesamtheit von Gemeinden gerichtet war. So braucht Klemens von Alexandrien die Benennung von dem Schreiben der Apostel (Akt. 15, 23–29). Dann nennt Dionysius von Alexandrien den ersten Brief des Johannes, und Origenes den ersten Brief des Petrus in demselben Sinne katholisch. Später wurde dann der Name auch auf den zweiten und dritten Brief des Johannes und den zweiten Brief des Petrus, ebenso und zwar mit Recht auf den Brief des Judas und Jakobus übertragen, und man stellte, wie bereits gesagt, diese sieben Briefe unter dem Namen „katholische Briefe“ zu einem selbständigen Ganzen im neutestamentlichen Kanon zusammen. So ausdrücklich Ökumenius.
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 Daß der Name „katholisch“ auch im Sinne von „allgemein anerkannt“ oder „kanonisch“ gebraucht wurde, ist unzweifelhaft, aber in diesem Sinne wendete man das Wort erst später auf unsere sieben Briefe an, als auch die bezweifelten unter ihnen in den Kanon aufgenommen waren und von den außerkanonischen unterschieden wurden. Diese katholischen Briefe waren ja, wie wir schon wissen, mit Ausnahme des ersten Briefs des Petrus und des ersten Briefs des Johannes, lange Zeit weniger allgemein bekannt und anerkannt, als die Briefe des Paulus. Ein Grund liegt gerade in ihrer Katholizität. Da sie nicht für eine, sondern für viele Gemeinden bestimmt waren, so hatten sie keine sedes, d. i. es war keine einzelne Gemeinde, welche den Brief den ihren nannte, über seine Erhaltung wachte und für seinen apostolischen Ursprung eintrat, wie dies bei den Briefen des Paulus der Fall war, – was dann alles um so bedenklicher war, da die bezweifelten Briefe selbst gar nicht oder nicht deutlich ihre Verfasser zu erkennen gaben. Nachdem sie nun allgemein anerkannt waren, nannte man sie auch als allgemein anerkannte oder kanonische Briefe katholisch. Dem ursprünglichen| Sinn des Wortes aber gemäß sind die katholischen Briefe die encyklischen.


§ 93.
1. Der Brief des Jakobus.
 1. Der Verfasser des Briefes bezeichnet sich selbst als „Jakobus, ein Knecht Gottes und des HErrn JEsu Christi“. Daß er sich nicht Apostel nennt, würde nicht hindern, ihn in der Reihe derselben zu suchen. Aber welcher von den drei den Namen Jakobus tragenden apostolischen Männern soll er gewesen sein? Von den beiden dem engeren Kreis der Zwölfe angehörenden Aposteln, Jakobus der Ältere, des Johannes Bruder († um 44), und Jakobus minor oder der Jüngere (Mark. 15, 40), tritt nach Pfingsten nur der erstere bedeutsamer hervor durch sein Martyrium, während uns von Jakobus Alphäi Sohn gar nichts bekannt ist. Dagegen tritt schon sehr früh als angesehene, einflußreiche Persönlichkeit in der apostolischen Geschichte uns entgegen Jakobus „der Bruder des HErrn“ (Gal. 1, 19) mit dem Beinamen „der Gerechte“, und in Jerusalem mit dem Ansehen bischöflicher Stellung bekleidet (Apg. 15 u. 21 vgl. mit 12, 17. Gal. 2, 9). Was wir von seinem Verhältnis zu den Christen und den Juden lesen (Apg. 15, 13 ff. und 21, 18 ff.), sowie aus althistorischen Zeugnissen (Jos. antt. 20, 9, 1. Eusebius h. e. II, 1; II, 23) von seinem frommen Wandel und heiligen Eifer um Gerechtigkeit des Lebens wissen, findet in dem Inhalt des Briefes seinen treuesten Abdruck. Ihn allein befähigte seine hochangesehene Stellung (Gal. 2, 9; 2, 12; Akt. 21, 18), an das heilige Volk in der Zerstreuung zu schreiben. Er allein war durch die schlichte Bezeichnung „Knecht Gottes“ genügend gekennzeichnet. Ihn nennt daher auch das Altertum und halten die Forscher aller Zeiten beinahe einstimmig für den Verfasser. – Von mancher Seite wird behauptet (so auch in der 10. Auflage dieses Buches), daß dieser Jakobus, der Bruder des HErrn, mit dem Beinamen „der Gerechte“, mit dem jüngeren Apostel Jakobus identisch sei. Gegen die Identität beider spricht Ev. Joh. 7, 5, wonach die Brüder JEsu zur Zeit, wo die 12 Apostel erwählt waren, noch gar nicht an JEsum glaubten, sowie Apg. 1, 13 f. und 1 Kor. 9, 5 u. 7, wo die Brüder JEsu von den Aposteln unterschieden werden.| Die Verfechter der genannten Behauptung berufen sich auf Gal. 1, 19. Aber die Bezeichnung „Apostel“ in dieser Stelle ist nicht gleichbedeutend mit „einer von den Zwölfen“. Stellt sich ja zwei Verse vorher Paulus selber in die Reihe der Apostel, wie er denn auch 1 Kor. 15, 7 (vgl. v. 5) und Röm. 16, 7 noch andere Apostel kannte. Die dem Bruder des HErrn nach 1 Kor. 15, 7 zu teil gewordene Offenbarung des Auferstandenen hat ihn zu einem Apostel gemacht.
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 2. Die Leser, an die der Brief, der einer ermahnenden Predigt nicht unähnlich ist, sich wiederholt als „Brüder“ wendet, sind Christen (1, 18; 2, 1. 7; 5, 7), obgleich die Überschrift: „den 12 Stämmen in der Zerstreuung“ auf den Teil des Volkes Israel zu lauten scheint, der außerhalb Palästinas lebte. – Diese Schwierigkeit hat man dadurch zu lösen versucht, daß man sagte, jene Christen aus den Juden waren, obgleich sie eigene Versammlungen hatten (2, 2) doch noch nicht völlig ausgeschieden von den Juden, so daß von denselben, die zu anderer Zeit die Christen um des Namens Christi willen vor den Richter schleppten (2, 6. 7), auch die Christenversammlungen besucht werden konnten (2, 2 vgl. 6). Jedenfalls ist der Brief nicht für die Synagogen-Versammlungen geschrieben, sondern für die der Christen. Man wird die Überschrift dahin zu verstehen haben, daß dem Jakobus die Christen das „Israel Gottes“ sind, das wahre Zwölfstämmevolk. Er schreibt aber an den außer Palästina wohnenden Teil der Juden-Christenheit. Infolge der Zerstreuung der Gläubigen nach dem Tod des Stephanus waren überall Gemeinden entstanden, in Palästina und außerhalb desselben. Der Brief will den Zusammenhang mit letzteren aufrecht erhalten. Da der Druck der sozialen Lage d. h. der Unterschied von arm und reich zu den Hauptanfechtungen der Gemeinde gehörte, die Reichen aber stellenweise wie Ungläubige erscheinen und behandelt werden (2, 6. 7 vergl. mit 5, 1 ff.), so wird man sich wohl die Christen als vorwiegend aus dem armen Teil der dasigen jüdischen Bevölkerung (2, 5 vgl. mit 1, 9), und äußerlich abhängig (5, 4. 7 ff.) von den Reichen, die der Mehrzahl nach noch Juden waren, zu denken haben. Die Behauptung, der hl. Jakobus habe sein Schreiben so einrichten wollen, daß auch die seiner Brüder nach dem| Fleisch, welche noch nicht Christen waren, mit diesen erkennen möchten, daß ein Knecht Jehovas auch ein Knecht JEsu Christi (1, 1) sein müsse, ist nicht von der Hand zu weisen.

 So individuell uns nun aber in dem Schreiben die Gemeindezustände gezeichnet werden, sowohl nach den äußeren Umständen (1, 8–11; 4, 3; 5, 1 ff.), als nach den sittlichen Zustände (1. 2 ff. 19 f.; 2, 1 ff.; 3, 2 ff. 14; 4, 1 ff. 11) und der Glaubensstufe der Leser (2, 14 ff.), wie nach Verfassung und Leben in der Gemeinde (5, 14 f.; 3, 2; 2, 2 ff.), – so läßt sich bei der allgemeinen Haltung der Überschrift über den Aufenthaltsort der Leser nichts Bestimmteres sagen, als daß er außerhalb Palästinas, an einem der Mittelpunkte der jüdischen Diaspora, wo jedoch die jüdische Bevölkerung auch Ackerbau trieb (c. 5), zugleich in größerer Isolierung von heidnischer Umgebung – vielleicht in Syrien oder Babylon – zu suchen sei.

 3. Für die Zeit der Abfassung bietet das Schreiben ebensowenig einzelne Anhaltspunkte. Wenn man eine Beziehung auf paulinische Briefe darin hat finden wollen, so beruht das auf Mißverstand der Lehre des Jakobus. Der Brief enthält ja nicht theologische Polemik. Eher könnte man sagen, St. Paulus nehme im Römerbrief (c. 4) auf Jakobus Rücksicht. Dagegen spricht das enge Zusammenleben von Judenchristen und Juden (vgl. Apg. 11, 19 u. 13, 42 ff.), die noch fließenden Grenzen zwischen christlicher Gemeinde und Synagoge (c. 2, 1 ff.), die Freiheit, als Lehrer aufzutreten (3, 1), die Stellung und Aufgabe der Ältesten (5, 14 ff.) und der ganze Charakter des Briefes, namentlich die Anklänge an die Reden des HErrn[9] dafür, daß er in die erste Anfangszeit christlicher Gemeindegründung gehört, und wahrscheinlich das älteste Schreiben aus apostolischem Kreise ist, das wir besitzen. – Die Krankhaftigkeit des Glaubens, die man als tote Orthodoxie bezeichnen könnte, und die allerdings kein Anfangszustand zu sein pflegt, erklärt sich dabei| aus dem Wesen jüdischer Orthodoxie, die aus dem absterbenden pharisäischen Judentum in die judenchristliche Gemeinde überging.

 4. Von dieser Krankheit die Leser zu heilen und ein gesundes und thatkräftiges Glaubensleben in ihnen zu erwecken, wodurch zugleich die sittlichen Schäden, die in dem Leserkreise herrschten, beseitigt würden, darf man als den eigentlichen Zweck des Schreibens ansehen. Der Verfasser führt zu diesem Behuf wie in einer Abhandlung das Thema durch: „wie der Mundglaube ohne That durch das Wort gerichtet wird, das zur Vollkommenheit weist“, und thut dies, indem er vorwiegend das Bild des kranken und thatlosen Glaubens zeichnet:

 1) ohne Kraft ausharrender Geduld in den Anfechtungen des Lebens (c. 1, 2–21),

 2) ohne Kraft der Werke und thätige Liebe gegen die Brüder (c. 1, 22–2, 26),

 3) ohne Kraft der Selbstüberwindung gegenüber der Macht der Glieder (c. 3, 2 ff.),

 4) ohne Kraft der Selbstbewahrung gegenüber der Lust der Welt (c. 4, 1 ff.);

 das Thema in Kürze zusammenfassend: 1, 26. 27.

 5. Die Ordnung des Briefes, voll rednerischer Kunst, ist dabei vorwiegend praktisch und seelsorgerlich bestimmt.

 Der Verfasser beginnt damit, seinen Lesern Trost und Rat in Anfechtung zu bieten. Hiezu rechnet er alles, was von außen Schweres über den Christen kommen kann, auch (v. 9 ff.) die soziale Lage, den Druck der Armut, darunter er seufzt. Der Trost liegt in dem Hinweis auf das sittlich Fördernde (v. 3 u. 4), wie auf den herrlichen Lohn der bestandenen Anfechtung (v. 12), der Rat in der Empfehlung des gläubigen Gebets um Weisheit zu richtigem Verhalten in der Anfechtung (v. 5–8). Gegenüber dieser Anfechtung von außen gibt es auch eine innere Anfechtung = Versuchung, die von dem Reiz der bösen Lust ausgeht und nicht auf Gott zurückgeführt werden darf, von dem im Gegenteil lauter gute Gabe kommt und der uns der Gaben beste: die Wiedergeburt durch das Wort der Wahrheit geschenkt hat (1, 2–18), so daß es nun bloß gilt, dasselbe in sich aufzunehmen und in sich wirken zu lassen (19–21). Aber freilich das Hören allein thut es nicht, nur der Thäter ist ein rechter Hörer des Worts und nur die That der Liebeshingabe an die Welt wie der Selbstbewahrung vor der Welt ist wahre Frömmigkeit (22–27).

 c. 2. Von der Bethätigung der Liebe ist zunächst die Rede. Der Apostel| rügt es als eine Verletzung derselben, wenn die Leser, wie er an einem einzelnen, aber charakteristischen Beispiel zeigt, anstatt nach Gottes Sinn das Niedrige und Arme zu umfassen, aus weltlicher Rücksicht den der Gemeinde gar nicht einmal angehörigen Reichen vor dem Armen parteiisch bevorzugen. Es ist dies eine Übertretung des ganzen, eine unteilbare Einheit bildenden Gesetzes, das freilich seine vollendete Erfüllung erst im Evangelium findet, sofern dieses das Gesetz in Freiheit eigenen Wollens verwandelt und das Erbarmen lehrt, dem gegenüber die Stimme des Gerichtes verstummt (2, 1–13).

 Überhaupt muß Glaube rechter Art seine Lebenskraft im Werk erweisen (14–17). Die Werke gestatten sicheren Rückschluß auf das Vorhandensein des Glaubens, während Glaube ohne Werke gar nicht aufzeigbar und um nichts besser ist als das Wissen der Dämonen um Gott, das sie der Furcht vor seinem Gericht nicht überhebt. Erst im Werk vollendet sich der Glaube und findet das in der Rechtfertigung über den Gläubigen gefällte anerkennende Urteil Gottes seine Bestätigung, wie an Abrahams Beispiel gezeigt wird, dem das der Rahab zur Seite tritt (v. 14–26).

 c. 3. Kranker Glaube aber hat seine Kraft im Worte, daher der Apostel vor der Sucht, sich als Lehrer aufspielen zu wollen, warnt, wobei man nicht bedenkt, daß man im Wort am leichtesten fehlt, und wie schwer es ist, die Zunge zu regieren, von deren Beherrschung die Herrschaft über den ganzen Leib abhängt, die schwerer zu zähmen ist als die wilden Tiere und die – unnatürlich genug –, je nach dem sie beseelenden inwendigen Trieb Gotteslob oder Bruderhaß ausströmt (1–12).

 Statt im Wort beweise man im Werk, ob die Wurzel wahrer Weisheit vorhanden ist (13), nicht die voll Eifersucht und Gezänk (14), die von unten her ist (15), sondern die himmlische voll edler Früchte (17), obenan mit der Frucht, daß sie Gerechtigkeit schafft in friedevollem Wirken (18).

 c. 4. Wie diese ihnen fehlt aus Mangel an Selbstbewahrung bei ihrem angeblichen Glauben (3, 2 ff.) – so stammt ihr Leben voll Streit und Neid (1. 2) aus ihrer Weltlust (4), die aber unverträglich ist mit der Liebe zu Gott, der eifersüchtig (5) das ganze Herz begehrt, aber auch Gnade gibt denen, die in ganzer Beugung sich vor ihm demütigen und die Weltlust mit Bußthränen ersäufen (6–10).

 Anstatt aber sich zu demütigen, richtet man die Brüder und erhebt sich damit über das Gesetz und den Gesetzgeber selber (11. 12); oder verfügt in weltlicher Sicherheit über seine Lebenswege, als stünde das nicht in der Hand dessen, der der Herr über unser Leben ist (13–17), oder pocht auf Reichtum, der in Sünden erworben und in Hochmut verpraßt wird, uneingedenk des Gerichts, das der hoffärtigen Reichen wartet (5, 1–6). Dieser richterlichen Zukunft des HErrn sollen die Frommen ohne Bitterkeit gegen diejenigen, von welchen ihnen Unrecht geschieht, in Geduld entgegenwarten (9), nach dem Exempel des Dulders Hiob (10–11). (So kehrt das Ende zum Anfang. Der Glaube| beweist sich am innerlichsten durch die ausdauernde, hoffende Geduld im Leiden.)

 Das unnötige Schwören (12) schließt sich dem übrigen Zungenmißbrauch an; die Ermahnung, das gläubige Gebet voll Wunderkraft (17. 18) auch zur Hilfe in Krankheit zu brauchen, nicht ohne Sündenbekenntnis von der einen und sichtbares Unterpfand der Heilung von der anderen Seite (14–16), schließt sich an die allgemeine Ermahnung zum Gebet in Anfechtung an (13). Der zur Seelenrettung auffordernde Schluß (19. 20) ist wie eine Andeutung des Dienstes, den Jakobus seinen Brüdern mit seinem Briefe selbst hat thun wollen.

 Die Zeugnisse für unsern Brief sind in der alten Kirche nicht so einstimmig, wie bei andern. Doch hat ihn schon die altsyrische Übersetzung, die aus so naher Nachbarschaft des Landes seines Ursprungs stammt. Vielleicht ist schon der erste Brief des Petrus mit seinen auffallenden Anklängen an unsern Brief (vgl. z. B. 1 Petr. 1, 23 u. Jak. 1, 18) das erste Zeugnis für ihn. Wie bei andern Briefen konnte die Unbestimmtheit seiner Adresse ein Hindernis seiner Verbreitung sein. – Die Ansicht, daß er Paulus widerspreche, hat erst durch Luthers Vorgang vielfache Bedenken gegen den Brief aufgebracht. Aber so sehr Worte wie 2, 21. 24 danach lauten, so erkennt man doch leicht, daß Jakobus mit ganz anderen Begriffen handelt, als Paulus. Dieser meint Gesetzeswerke, durch die man sich Lohn verdienen will; Jakobus aber redet von Glaubenswerken, durch die sich der Glaube lebendig erweist. Paulus, wenn er sagt, daß Glaube rechtfertige und nicht die Werke, meint den Glauben, der Zuversicht ist und die Gnade ergreift. Jakobus, wenn er sagt, daß Glaube, der keine Werke habe, nicht rechtfertige, meint einen Glauben, der bloß in Worten und Schein besteht, und ein bloßes Wissen oder Fürwahrhalten ist (Röm. 2, 17 ff. vgl. mit 25 ff.). Paulus redet von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben, Jakobus von der Rechtfertigung des schon Gerechtfertigten d. h. von dem anerkennenden Urteil Gottes über den im Werk bewährten Gläubigen, wie denn beide auf verschiedene Ereignisse im Leben Abrahams sich berufen: Paulus auf das frühere Gen. 15, 6, Jakobus auf das spätere Gen. 22, bes. v. 12, woraus sich der verschiedene Begriff von Rechtfertigung bei beiden ergibt. (Das Gericht richtet nach den Werken [Röm. 2, 6 ff.].) Die Beschreibung des Glaubens Abrahams, als in Thaten des Glaubens bewährt, kennt gerade so auch Paulus (Röm. 4, 10 ff., Ebr. 11, 17 ff.). – Je näher einer Kirche oder einer Zeit die Gefahr steht, im Glaubenswissen zu ruhen, um so nötiger und heilsamer ist ihr der Brief des Jakobus.


2. Die Briefe des Petrus.
§ 94.
I. Petrus, der Verfasser dieser Briefe.
 1. Der erste Brief des Petrus hat wie nur irgend eine Schrift des Neuen Testaments das Zeugnis der ältesten Kirche (des Polykarp| von Smyrna, des Papias von Hierapolis) für seine Echtheit. Aber so gewiß wir über den Verfasser sind, so schwierig ist es, zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Verhältnissen Petrus diesen und den andern Brief geschrieben habe. Wie das Leben und Wirken des Apostels, soweit es seine kirchengründende und leitende Thätigkeit in Israel einschließt, klar vor uns liegt (Akt. 2–12), so entzieht es sich uns von da an, wo der hl. Paulus, der Apostel der Heiden, in den Vordergrund tritt. Im Jahre 44 verläßt Petrus Jerusalem, aber weder wissen wir, wohin er ging, noch wie lange er abwesend war. Dann finden wir ihn wieder bei dem Apostelkonvent im Jahre 51 in Jerusalem, und noch einmal begegnet er uns in Antiochien (Gal. 2, 11–14). Von da an aber verliert ihn die Apostelgeschichte aus dem Auge. Die römische Tradition füllt freilich die Lücken aus, aber sie ist ohne Beglaubigung durch ältere Zeugnisse. Erst sein erster Brief gibt wieder Nachricht von dem Wirken des Apostels.

 2. Was nun die Frage nach der Abfassungszeit unseres Briefes betrifft, so ist dieselbe mit Sicherheit nicht zu beantworten. Manche wollen bei Stellen wie 4, 17; 5, 8–9 an die Neronische Christenverfolgung denken. Aber diese Stellen nötigen nicht, an obrigkeitliche Bedrückung der Christen zu denken. Es bleibt trotzdem wahrscheinlich, daß der Brief um die Mitte der 60er Jahre entstanden ist. Als Abfassungsort desselben ist c. 5, 13 Babylon genannt, worunter kaum das ehemals berühmte, aber längst gesunkene Babylon am Euphrat, sondern auf Grund der alten Tradition, daß Petrus in Rom gekreuzigt worden sei, wohl die damalige Welthauptstadt zu verstehen ist.

 Daß es nicht ungewöhnlich war, den Mittelpunkt der gottfeindlichen Weltmacht mit diesem typischen Namen zu benennen, auch zu der Zeit, wo das alte Babel längst gefallen war, bezeugt uns Sach. 2, 7 ff. vgl. Apok. 14, 8; 18, 2. 10. Zudem war es stärkend für die Gemeinden Asiens, die von der Weltmacht zu leiden hatten, wenn die Gemeinde (denn so ist die Miterwählte zu verstehen, vgl. 1, 1) sie grüßte, die im Mittelpunkt der Welt zu leben und zu leiden hatte. Für diese Auffassung der Ortsbezeichnung spricht auch der Umstand, daß wir nach c. 5, 13 des Briefs den Markus, den laut 2 Tim. 4, 11 Paulus zu sich nach Rom berufen hatte, in unmittelbarer Nähe des Petrus finden, sowie die wohlbeglaubigte Überlieferung, daß Petrus in seinen| letzten Lebensjahren eine allerdings nur kurze Zeit (1 Jahr höchstens) in Gemeinschaft mit Paulus an der römischen Gemeinde gewirkt und nachmals mit demselben den Zeugentod in Rom erlitten habe. Für Rom als Abfassungsort des 1. Petribriefs hat man auch die in der That bemerkenswerte Verwandtschaft desselben mit dem Römerbrief geltend gemacht (vgl. 2, 13–14 mit Röm. 13, 1–4; 2, 6–7 mit Röm. 9, 33; 1, 14 mit Röm. 12, 2; 4, 1 mit Röm. 6, 6–7. Man schließt daraus, daß Petrus den Römerbrief gekannt habe, was freilich einen römischen Aufenthalt des Petrus voraussetzt (vgl. 2 Petri 3, 16. Auch an den von Rom aus geschriebenen Epheserbrief erinnert der 1. Petribrief, vgl. c. 2, 4–10 mit Eph. 2, 11–22 u. s. w.)

 Was Petrus veranlaßte, an die Gemeinden zu schreiben, die Paulus gestiftet hatte[10], wissen wir nicht. Petrus wird sie auf der Reise nach Rom kennen gelernt haben, vielleicht auch hat Paulus, als er nach Spanien zog, sie seiner Obhut übergeben (?).


 3. Zweck und Inhalt des Briefs. Der Brief ist ein treues, seelsorgerliches Mahn- und Trostwort an die Christen, die in der ihnen unheimischen Welt als Fremdlinge leben und um ihres Christenstandes willen Verdächtigungen und Anfeindungen aller Art ausgesetzt sind. In ersterer Beziehungen werden sie ermahnt, durch einen würdigen Wandel das Christentum der Welt zu empfehlen, um wo möglich die Widersacher für dasselbe zu gewinnen, in letzterer Beziehung werden sie ermuntert zur geduldigen Ertragung des Leidens nach dem Vorbilde Christi und gestärkt durch den Hinweis auf die mit Christi Wiederoffenbarung anbrechende zukünftige Herrlichkeit. Diese Christenhoffnung auf die Zukunft JEsu und die mit ihr eintretende Wandlung der leidvollen Gegenwart in ewige Freude ist der immer wieder in den Vordergrund tretende Grundgedanke des Briefs, aus ihm wird Mahnung und Trost abgeleitet. Seine Kraft liegt in der Paraklese, ebenso wie die des Jakobusbriefes, mit dem er auch sonst sich nahe berührt.[11] Die Neronische Christenverfolgung| war, als Petrus diesen Brief schrieb, noch nicht ausgebrochen; aber die genannten Verdächtigungen (der Unmoralität, der Staatsfeindschaft) hatten eine ungünstige Volksstimmung wider die Christen erzeugt, welche wiederum für Nero den Möglichkeitsgrund bildete, die Schuld am Brande Roms auf die Christen abzuwälzen. Die ungünstige Volksstimmung beschränkte sich indes nicht auf Rom, sondern herrschte auch in den Provinzen.

 Der Gedankengang des Briefes ist folgender:

 Nachdem der Apostel seinen Lesern das selige Ziel des christlichen Glaubens und den Christenstand als einen Stand der Hoffnung vorgehalten hat (1, 1–12), deren Erfüllung mit Christi Erscheinung eintreten wird, ermahnt er sie, in dieser Hoffnung

 1) ein heiliges Leben zu führen (13–14), entsprechend der Heiligkeit dessen, der sie berufen hat (15–17) und eingedenk des kostbaren Preises ihrer Erlösung, des teuerwerten Blutes JEsu (18–21), aber auch als Wiedergeborene einander zu lieben, sowie das Wort, das Mittel ihrer Wiedergeburt, auch ihres geistlichen Lebens Nahrung sein zu lassen und so heranzuwachsen zu einem wahrhaftigen Gottestempel und zum rechten Gottesvolk (1, 222, 10).

 2) Mit Rücksicht auf die gottfeindliche Welt, in der sie leben, ermahnt er sie, durch einen guten Wandel das Christentum der Welt zu empfehlen, jeder in seinem Stand und Beruf: die Unterthanen durch Gehorsam gegen die Obrigkeit (13–17), die Sklaven durch Unterthänigkeit gegen ihre Herren und durch geduldiges Leiden des ihnen widerfahrenden Unrechts nach dem Vorbild Christi, der sie erlöst hat (18–25), die Ehefrauen durch stillen, demütigen Wandel, diese Predigt ohne Worte, die Männer durch Achtung vor dem schwächeren Geschlecht (3, 1–7), endlich alle insgesamt im Verkehr unter sich und nach außen durch Wohlwollen und Wohlthun auch Feinden gegenüber, von denen sie unschuldig zu leiden haben (8–17), worin sie Christum zum Vorbild haben, der auch als der Gerechte für die Ungerechten gelitten hat, um uns Gott zuzuführen (18–22). (Über den Zweck der Hadespredigt JEsu – ob sie Gerichtsverkündigung oder Heilsanerbietung war – und vollends über ihren Erfolg läßt sich mit Sicherheit dem Text nichts entnehmen.) Christi Tod bedeutet für die (ehemals heidnischen) Leser auch die sittliche Pflicht, für immer mit dem früheren Sündenleben und allem heidnischen Weltwesen zu brechen, sonderlich angesichts des nahen Endes und Endgerichts (4, 1–7).

 3) Der letzte Abschnitt des Briefes hat es zu thun mit dem innern Leben der Gemeinde. Die Glieder derselben sollen einander thätige Liebe| beweisen, und mit ihren geistlichen Gaben einander dienen (8–11), das Leiden, das sie um ihres Christenstandes willen trifft, freudig tragen (12–19). Sodann ermahnt der Apostel die Ältesten zu richtiger Amtsverwaltung (5, 1–4), die Jüngeren zur Unterordnung unter die Älteren (5), alle zur Demut unter einander (5–6), zur demütigen und vertrauensvollen Beugung unter Gott, zum glaubensfesten Widerstand gegen den Teufel, und schließt mit dem Segenswunsch, daß der Gott, der sie berufen hat zu seiner Herrlichkeit, sie im Leiden vollbereiten möge (7–10). In diesem abschließenden Worte liegt die Summe des Briefes. – Mit einem Lobpreis Gottes und mit Grüßen schließt das Send[s]chreiben (11–14).


II.
 1. Die Veranlassung zu dem zweiten Brief bot eine Erscheinung, auf welche schon Paulus in den Pastoralbriefen aufmerksam gemacht hatte, das Auftreten von Irrlehrern, die unter dem Vorwande höherer Erkenntnis Fleischesfreiheit predigten und mit anderen Heilsthatsachen auch die Wiederkunft des HErrn und das damit beginnende Weltgericht leugneten. Allerdings kann Petrus nur die Anfänge dieser verderblichen Entwickelung erlebt haben, da er das ungescheute Auftreten der antinomistischen Gnosis erst für die (wiewohl nahe) Zukunft vorhersagt, aber im Bewußtsein seines nahen Todes hielt er es für Pflicht, der Kirche ein schriftliches Wort der Warnung vor diesen grundstürzenden Irrtümern zu hinterlassen. Dies der Zweck dieses Briefes, der sich c. 3, 2 selber als zweite Epistel des Verfassers bezeichnet. Die Verschiedenheit, welche dieser zweite Petribrief nach Form und Inhalt im Verhältnis zum sogenannten ersten Brief zeigt, hat an einen andern Leserkreis als den des ersten Briefes denken lassen, an einen judenchristlichen. Diese Anschauung stützt sich besonders auf c. 1, 16: hier fasse sich der Apostel der Beschneidung mit den Aposteln der Leser (c. 3, 2) zusammen; wir befänden uns also hier auf dem Gebiet der Judenchristenheit, im Gegensatz zu dem Gebiet, auf welchem St. Paulus thätig war. Allein wenn 1, 16 ff. den Apostel Paulus und seine Gefährten ausschließt, so schließt dieselbe Stelle gewiß auch die Apostel der Leser (c. 3, 2: eure Apostel) aus; denn für jenen Vorgang auf dem Berg Tabor gab es nur drei Augenzeugen, von denen Jakobus major sehr früh den Märtyrertod gestorben war. Der Ausdruck „wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen“ soll wohl nur besagen, daß die apostolische Verkündigung| von der machtvollen Zukunft des HErrn entspreche dem, was innerhalb des apostolischen Kreises – ob auch nur von etlichen – mit Augen geschaut worden ist. Es liegt ein volles apostolisches Augenzeugnis dafür vor. Es kann demnach aus c. 1, 16 kaum erwiesen werden, daß die Leser des zweiten Briefes Judenchristen waren. Die Bezeichnung, welche der Leser in c. 1, 1 erhalten, deutet eher auf Heidenchristen; auch der Libertinismus, vor dem gewarnt wird, wird eher bei Heidenchristen, als bei Judenchristen zu suchen sein. Welches ist aber der c. 3, 2 genannte erste Brief? Es ist nicht unmöglich, daß c. 3, 2 auf den ersten Petribrief zielt; eine Erinnerung der Leser an ihren früheren Unterricht war auch der erste Brief, wenn er dies auch nicht ausdrücklich sagt. Die beiden Briefe sind sonst von einander ziemlich verschieden, dies erklärt sich aber aus dem jedesmal verschiedenen Zweck. Andrerseits berühren sie sich auch mannigfach. In beiden Briefen ist die Aussicht auf die Erscheinung Christi und das Ende der Dinge der beherrschende Grundgedanke, aber in verschiedener Weise. „Im ersten Brief diente diese Aussicht besonders zur Tröstung und Mahnung, denn um das Verhältnis der Christen zur außerchristlichen Welt, in deren Mitte sie sind, ist es dort zu thun. Im zweiten Brief aber dient sie zur Mahnung und Warnung, denn hier handelt es sich um die Gefahren, welche innerhalb der Christenheit selbst aufkommen werden; um eine künftige Verkehrung des Christentums in eine Theorie der Unsittlichkeit und eine Sicherheit des Unglaubens an das Ende“ (v. Hofm.). Im einzelnen wäre hinzuweisen auf Betonung der christlichen Tugend I, c. 2, 9 u. II, 1, 3–8; auf Warnung vor Mißbrauch der christlichen Freiheit I, c. 2, 11–16 u. II, 2, 18–22 und Anderes.
.
 So natürlich nun diese Differenz in Form und Inhalt zwischen beiden Briefen ist, so hat sie dennoch dazu dienen müssen, den Zweifel an der Echtheit unseres Briefes zu erwecken, und diesen Zweifel erhöhte noch der Umstand, daß das zweite Kapitel des zweiten Petribriefes vielfach fast wörtlich mit dem Judasbrief übereinstimmt. Sollte, sagt man, ein Apostel einen ganzen Brief und einen solchen Brief in solcher Weise ausgeschrieben haben? Dieser Zweifel wurde endlich dadurch vermehrt, daß unser Brief im kirchlichen Altertum wenig Beglaubigung hat. Bis auf Origenes wird er fast bei keinem Kirchenvater erwähnt; er findet sich weder in der Peschîttho, noch im altrömischen Kanon. Origenes gebrauchte ihn als kanonisch, sagt aber ausdrücklich, daß die Echtheit| streitig sei; erst von Eusebius an, der ihn aber unter die Antilegomena rechnet, erhielt er ein allgemeines Ansehen. Im Mittelalter verstummte dann der Zweifel, aber Erasmus und Calvin erneuerten ihn; und selbst Chemnitz schwankte. Aber trotz alledem hat die Kirche an dem zweiten Briefe des Petrus festgehalten. Von den allgemeinen Zweifeln, welche aus dem Inhalt und der Form entnommen werden, sehen wir nach dem Obigen billig ab; zumal der Brief an Reichtum des Inhalts und Tiefe der Gedanken eines Apostels vollkommen würdig ist. Der Grund aber gegen die Echtheit, welcher von der Ähnlichkeit unseres Briefes mit dem Briefe des Judas entnommen wird, fällt damit zusammen, daß nicht Petrus aus dem Judasbrief, sondern Judas aus dem Petrusbrief wiederholt hat. Aber wenn dem auch nicht so wäre, so hätte ja die Thatsache, wenn nicht im Neuen, so doch im Alten Testament Vorgang genug, daß ein Prophet die Worte eines andern wiederholt, damit das Zeugnis, wenn es wörtlich wiederkehrt, desto stärker wird.

 2. Der Inhalt des Briefes stellt sich dar, wie folgt:

 I. Ermahnung zu einem ernsten christlichen Wandel im Hinblick auf die festbezeugte Wiederkunft des HErrn c. 1.

 Der Apostel erinnert seine Leser an das, was auf Grund der empfangenen göttlichen Gabe ihre Christenaufgabe ist: die sittliche Bethätigung ihres Christentums in der Übung der – wie die Glieder einer Kette untrennbar sich an einander reihenden – Tugenden, ohne welche die Glaubenserkenntnis unfruchtbar und der Eingang in das künftige Reich Christi versagt bleibt (1, 3–11). Zum Streben nach diesem Ziel der Christenhoffnung sie zu ermuntern, hält der Apostel angesichts seines nahen Endes für Pflicht (12–15), der Gegenstand dieser Hoffnung aber: die Erscheinung Christi in Herrlichkeit ist ihm verbürgt durch das wunderbare Erlebnis der Verklärung JEsu (das Vorspiel seiner herrlichen Wiederoffenbarung), durch welche die alttestamentliche Weissagung (vom Tag des HErrn) bestätigt ist.

 Es werden auch in der Christenheit sitten- und seelenverderbliche Irrlehrer auftreten, die aber ihrer Strafe so wenig entgehen werden als die gefallenen Engel (1 Mos. 6) c. 2, 4, das Geschlecht der Sündflut v. 5, die Städte Sodom und Gomorrha v. 6–9. Das Bild, das uns von ihnen entworfen wird, ist das des freigeisterischen Materialismus, der die Emanzipation des Fleisches zum System erhebt und als Freiheit preist, was entwürdigendste Lasterknechtschaft ist, c. 2. Nach der Ermahnung zum Achthaben auf die echte und rechte Weissagung folgt nun eine

 II. Warnung vor den falschen Propheten c. 2–3.

 c. 3 warnt vor Spöttern, die die Wiederkunft Christi und das Weltende leugnen, dabei aber vergessen, daß in der Sündflut bereits einmal ein verheerendes Gericht über die Welt ergangen ist. Ein schließliches Gericht wird – dann aber durchs Feuer – dem gegenwärtigen Weltbestand ein Ende machen, gleichviel ob früher oder später, denn der Unterschied von Zeitlänge und Zeitkürze besteht für Gott nicht; in dem bisherigen Verzögern des Endes| sollen die Gläubigen Gottes Langmut erkennen (1–9). Die Aussicht auf das Weltende und die hinter ihm zu erwartende Welterneuerung muß für die Christen ein kräftiger Sporn zur Heiligung werden (10–13). Zum Schluß verweist der Apostel die Leser auf die Briefe des Apostels Paulus und bekundet – gegenüber vorhandenen Mißdeutungen der paulinischen Lehre (vom Weltende?) seine volle Übereinstimmung mit demselben (14–16), worauf er mit einer Mahnung zum Beharren und Wachstum in der rechten Erkenntnis Christi schließt (17–18).


§ 96.
3. Der Brief des Judas.

 1. Der Verfasser unseres Briefes, Judas, nennt sich V. 1 einen Bruder des Jakobus, unter welch letzterem, da er doch ein sehr bekannter Mann gewesen sein muß (vgl. § 93, 1), niemand als der gefeierte Vorsteher der Gemeinde in Jerusalem, also Jakobus der Gerechte, der Bruder des HErrn, verstanden werden kann. – So wenig wie sein Bruder Jakobus bezeichnet sich Judas als einen Apostel des HErrn. Daraus folgt nicht, daß er es auch nicht gewesen sei. Im Gegenteil, wenn (s. § 93) Jakobus, der Bruder des HErrn, zu den Aposteln zu zählen ist, so gewiß auch sein leiblicher Bruder Judas. Die Echtheit unseres Briefes war im Abendland (Can. Mur., Tertullian) und einem Teil des Morgenlandes (Clemens, Origenes) seit alter Zeit anerkannt, nur die Peschîttho hat diesen Brief nicht aufgenommen. Eusebius rechnet ihn unter die Antilegomena, bemerkt aber, daß er in sehr vielen Gemeinden in öffentlichem Gebrauche sei.

 2. Der Anlaß zu dem Brief des Judas ist (vgl. 3–4) derselbe, welcher den Petrus zu seinem zweiten Sendschreiben trieb. Es sind deshalb auch dieselben Leser, an welche der zweite Brief des Petrus und an welche der Brief des Judas gerichtet ist. Das Auftreten jener Irrlehrer, welches Petrus als noch zukünftig geweissagt hatte, war inzwischen Thatsache geworden und hatte bereits seine schrecklichen Früchte hervorgebracht. Die Schilderung derselben läßt an die Apok. 2, 2. 14 erwähnten Nikolaiten denken, die aus ihrem angeblich höheren Wissen um die böse Geisterwelt (Apok. 2, 24) die Berechtigung zu einem über alle sittlichen Ordnungen sich hinwegsetzenden Lasterleben ableiteten.

 3. Die Abfassungszeit anlangend, so lehrt die Vergleichung| unseres Briefes mit dem zweiten Petribrief, daß Judas nach Petrus schrieb. Denn Judas bezeichnet das Auftreten jener Irrlehrer v. 4 als eine bereits vollzogene Thatsache, während die Schilderung des Petrus sich 2, 1–3 und noch v. 12 und 13 in lauter Futuris bewegt. Auch gibt sich v. 17 und 18 als eine Rückbeziehung auf die Weissagung des Petrus 3, 2–3. Sollte, wie manche Ausleger wollen, in v. 5 eine Andeutung der Zerstörung Jerusalems liegen, so würde die Priorität des zweiten Petribriefes und eben damit die Entlehnung (soweit von einer solchen die Rede sein kann) des beiden Briefen gemeinsamen Abschnitts seitens des Judas festgestellt sein. Das von uns angenommene Verhältnis beider Briefe wird von vielen umgekehrt, indem sie sagen, Judas sei ursprünglicher und kürzer als Petrus. Ersteres ist Sache des Eindrucks, letzteres erklärt sich auch dann, wenn Judas die Schilderungen des Petrus voraussetzt und nur einzelne Züge aus denselben herausnimmt, um damit an sie zu erinnern. Übrigens ist der kurze Brief von charaktervoller Eigenart, von strafendem Ernst wie von seelsorgerlicher Liebe durchweht, ausgezeichnet durch treffende Naturbilder, die dem Verfasser wie in unerschöpflicher Fülle zuquellen. Auffallend hat man bei einem Apostel die Benützung apokryphischer Tradition gefunden, doch ohne Grund.[12]

 5. Der Inhalt des Briefes ist in Kürze folgender:

 Der Verfasser sieht sich genötigt, vor den in die christlichen Gemeinden Kleinasiens eingedrungenen Irrlehrern zu warnen, Zu diesem Zweck erinnert er (v. 5–7) an Beispiele göttlichen Gerichts: a) an das Gericht, das über Israel erging in der Zerstörung Jerusalems (?); b) an die Strafe der Engel, die mit den Menschentöchtern hurten (Gen. 6, 1 ff.); c) an das Gericht Sodoms, das ähnlich gesündigt, wie diese Geister (Gen. 19). Dann gibt der Verfasser v. 8–15 eine Schilderung der sittenlosen Irrlehrer, die er straft. Er nennt sie Träumer (= wirre Denker, Phantasten), von schamloser Unsittlichkeit des Wandels und einer über alle sittlichen Ordnungen und Autoritäten lästerlich sich hinwegsetzenden Frechheit. Kain, der Brudermörder, Bileam, der Verführer, Korah, der Empörer sind Vorbilder ihres Wandels| und ihres Geschicks. Die christliche Gemeinde, die sie schamlos zu ihren Zwecken benützen, hat nichts an ihnen und von ihnen. Ihre Gottlosigkeit gleicht der des Geschlechts der Sündflut, daher auch ihnen die Weissagung Henochs[13] von dem Eintreffen der großen Flut gilt (14–15). Mit der Ermahnung an die Leser sich von diesen Menschen in keiner Weise beeinflussen zu lassen, vielmehr sich auf dem Grund ihres heiligen Glaubens fortzuerbauen, lehrt er endlich v. 16–23 das richtige Verhalten gegen diese Leute. a) Trotz allem ihrem Vorgeben, wenn sie über Gottes Weltordnung klagen, ihre höhere Sittlichkeit rühmen, schöne Worte machen, stolze Reden führen gegen Gott, trotz alledem sollen die Leser von ihnen halten, was der Apostel schon gesagt: sie sind Spötter, die nach ihren eigenen Lüsten leben, Vorboten des Gerichts, Anzeichen der letzten Zeit (16–18). b) Zum andern sollen sie innerhalb ihrer eigenen christlichen Gemeinschaft im Gegensatz zu jenen, die sich selbst die „Geistlichen“ (Pneumatiker) nennen und eine höhere „geistige“ Erkenntnis vorgeben, sich auf nichts erbauen, als auf den apostolischen Glauben und sich bewahren in der Liebe Gottes, die Brüder aber, die in Gefahr, oder etwa der Verführung schon erlegen sind, zu retten suchen – doch so, daß die Gemeinde durch das sittliche Verderben der Verführten keinen Schaden nimmt (19–23). Mit einem Lobpreis Gottes schließt der Brief.


4. Die Briefe des Johannes.
§ 97.
Johannes, der Apostel, Verfasser dieser Briefe.
 Der Verfasser des ersten Briefes nennt sich zwar nicht, allein er bezeichnet sich 1, 1–4 als Augenzeugen der Geschichte JEsu und gibt sich in Schreibart, Ausdruck und Auffassung ganz deutlich als den Apostel Johannes, den Verfasser des vierten Evangeliums, zu erkennen. Auch einzelne Aussprüche wie 1, 1. 3. 5; 4, 14 und der ganze Ton, in welchem der Verfasser mit seinen Lesern redet, lassen den Apostel und Evangelisten klar erkennen. Das Zeugnis des Altertums bestätigt dies. Mit seltener Einstimmigkeit bezeichnet es den Apostel Johannes als den Verfasser unseres Briefes. – Anders dagegen steht es mit dem zweiten und dem dritten Briefe, der von Johannes seinen Namen trägt. Im Morgenlande erwähnt| zuerst Klemens von Alexandrien den zweiten und dritten Brief des Johannes; Origenes und Dionysius von Alexandrien erkennen beide Briefe als echt an. Das Abendland erkennt bestimmt den zweiten Brief des Johannes an, so z. B. Irenäus. Der Kanon der römischen Kirche c. 150 enthielt nicht bloß den zweiten, sondern auch den dritten Brief; doch vermißte man an ihnen ein deutliches Zeichen ihrer Herkunft vom Apostel Johannes. So entstand eine Unsicherheit, die dazu führte, daß sie später zu den widersprochenen Teilen (Eusebius) des Kanons gerechnet wurden. Gerade bei diesen zwei Briefen darf es uns aber nicht befremden, daß sie langsamere Verbreitung fanden, als andere Briefe. Teils die Kürze, teils der private Charakter des dritten Briefes mögen das verursacht haben. Zudem konnte auch der Name „der Älteste“, den der zweite Brief an seiner Stirn trägt, auf einen andern Verfasser als den Apostel hinzudeuten scheinen, nachdem einmal eine Unsicherheit in die Tradition gekommen war. Der Charakter dieser Briefe ist ohne Zweifel johanneisch; sie entsprechen jener Persönlichkeit, die schon § 74, 1 charakterisiert wurde, worauf wir hier verweisen. – Die Zeit der Abfassung dieser drei Briefe liegt nicht sehr weit von der des Evangeliums ab.


§ 98.
Die Briefe des Johannes.
I.
 1. Man hat behauptet, unser erster Brief des Johannes habe als Begleitschreiben für das Evangelium gedient und in 2, 14 vgl. v. 13 seien Beziehungen des Briefes auf das Evangelium enthalten. Allein der Wechsel der Zeit – ich schreibe, ich schrieb –, auf den man sich beruft, erfordert diese Erklärung nicht, und im Zusammenhange ist sie nicht begründet. Der Brief entspricht aber allerdings dem Evangelium. Wie dort das Wesen Christi, so wird hier das Wesen des Christen auf den einfachsten Ausdruck gebracht. In Christo, so zeigt das Evangelium, erschien die Herrlichkeit des Vaters und teilte sich den Gläubigen als Licht und Leben mit, während sie die Welt in ihrer Finsternis offenbar machte. Im Christen, so lehrt unser Brief, kommt die Gemeinschaft des Menschen mit Gott und| göttlichem Wesen zur Erscheinung, das Leben Gottes oder die Liebe ist in ihm, dagegen hat er nichts zu schaffen mit dem gottlosen und darum dem Tod verfallenen Wesen der Welt. So zeichnet der Apostel in seinem Briefe echt johanneisch das Wesen eines Christen. Zur christlichen Dogmatik des Evangeliums gibt der Brief die christliche Ethik.

 2. Das Wesen des Christentums darzustellen: – dies und nichts anderes ist denn auch der Zweck des Briefes. Andere sagen, er sei geschrieben, um die Doketen zu widerlegen, d. i. jene, welche lehrten, dem Menschen JEsus habe Christus (das höhere, göttliche Prinzip) zwar eingewohnt, aber JEsus sei nicht selbst der Christ. Das Wahre ist, daß Johannes seine sittlichen Ermahnungen mit Rücksicht auf die damals auftauchenden doketischen und antinomistischen Verirrungen (eines Kerinth etc.) gibt. Vgl. 1, 3; 2, 22; 3, 23; 4, 1 ff.; 4, 15; 5. 5–6. Jene trügerische Irrlehre trennte unter dem Scheine einer höheren Weisheit, was zusammengehörte, und zwar 1. in der Person des Heilands die Idee und die Geschichte, die Wahrheit und die Wirklichkeit, oder Christum und JEsum, wie sie sagten; 2. im christlichen Leben das Leben in Gott und das Leben in der Welt, den Stand im Geiste und den Stand im Fleische. Im Gegensatze gegen diese Irrlehre führt der Apostel aus, worin das Wesen und die Wahrheit des christlichen Lebens bestehe.

 3. Der Brief setzt, wie sein Eingang zeigt, das Evangelium voraus. Er folgte auf das Evangelium; wann und von wo (von Ephesus aus?) aus aber dies geschah, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen.

 4. Der Gedankengang unseres Briefes ist kein streng logischer in unserem Sinn. Es sind gewisse Grundgedanken, von welchen die Darstellung ausgeht und sich weiterspinnt und zu welchen sie immer wieder zurückkehrt, woran sich dann gewisse Abschnitte erkennen lassen. Das Thema lautet: Das Christentum ist Gemeinschaft mit dem Vater durch den Sohn im h. Geist und andrerseits Enthaltung von der Welt. Diesen Gedanken führt der Apostel in folgender Weise aus:

|  Eingang v. 1–4. Was der Apostel selbst gesehen und erfahren, die Offenbarung des ewigen Lebens in Christo, das verkündigt er, damit die Gemeinde an dem ewigen Leben durch die Gemeinschaft mit Christo und dem Vater Anteil habe. Dies ist das Wesen des Christentums.

 Entsprechend der Verkündigung, die Johannes von Christo über das Wesen Gottes vernommen hat, daß Gott Licht ist und ist keine Finsternis in ihm, muß der Christenwandel ein Wandel im Lichte sein, d. h. der Christ darf keine Gemeinschaft mit der Sünde haben. Damit ist nicht die auf Erden nicht erreichbare Stufe sündloser Heiligkeit gefordert, vielmehr ist mit dem Vorkommen der Sünde (ob auch als einer Anomalie) auch im Christenleben gerechnet, die es gilt bußfertig zu bekennen und für sie Reinigung im Blut JEsu, unseres Versöhners und Fürsprechers bei Gott zu suchen (1, 5–2, 2). Zum andern aber soll sich des Christen Gemeinschaft mit dem Vater auch erzeigen als Wandel in der Liebe in der Nachfolge Christi (3–11). Das Gegenteil vom Wandel in der Gemeinschaft Gottes ist einmal die Weltliebe, denn solche, die den Vater und Sohn kennen und den Argen überwunden haben, können die Welt nicht lieben, weil beides sich widerspricht (12–17); zum andern die antichristliche Lüge, die JEsum leugnet, damit aber auch den Vater leugnet. Mögen dagegen die Christen an dem halten, was sie von Anfang gehört! So werden sie auch in der Gemeinschaft Gottes bleiben. Sie dürfen nur in dem bleiben, was sie gelernt haben, in dem, was ihnen der Geist, mit dem sie gesalbt sind, bezeugt, so werden sie nicht irren und auch vor Christo bestehen, wenn er wieder kommt (2, 18–28). Wesentlich die gleichen Gedanken wie in 1, 5–2, 11, nur in neuer Beleuchtung, begegnen uns in dem Abschnitt 2, 29–3, 18. Das christlich-sittliche Verhalten erscheint hier (2, 29–3, 10) einesteils negativ als „Meiden der Sünde“, positiv als „Selbstbewahrung“ v. 3 und „Rechtthun“, (2, 29; 3, 7), andernteils als Bruderliebe und zwar als thätige nach Christi Vorbild (3, 11–18): die Befähigung und Verpflichtung zu solchem Wandel in der Gerechtigkeit wird hergeleitet aus der Thatsache unserer Geburt aus Gott; als neues sittliches Motiv erscheint die Hoffnung (3, 1–3), nämlich der Ausblick auf die Vollendung unserer Gotteskindschaft in der dereinstigen Verklärung zur Ähnlichkeit des Bildes Christi (3, 1–3). Die ganze Rede des Apostels ist hier beherrscht durch die scharfen Gegensätze: Gotteskinder und Teufelskinder, Sünde und Gerechtigkeit, Liebe und Haß, Leben und Tod (3, 4–10). Die Bruderliebe aber als Erweis des Lebens aus Gott ist zugleich der Beweis dafür, daß wir zu Gott in dem richtigen Verhältnis stehen, ein Thatbestand, dessen wir in dem Frieden unseres Gewissens und der erhörungsgewissen Freudigkeit zum Gebet inne werden (v. 11–22). Alles Gebot aber faßt sich zusammen im Glauben an Christum und in der Liebe zu den Brüdern; wo diese waltet, da ist Gemeinschaft mit Gott und die Gabe des h. Geistes (23–24).

 Der göttliche Grund unseres Christenstandes aber ist der Besitz des uns innewohnenden Geistes – dies der schon durch die fast wörtliche Wiederholung von 3, 24 in 4, 13 hervorgehobene Hauptgedanke dieses Abschnitts (4, 1–21).| Dieser Geist aber ist ein Geist der Wahrheit, der allem antichristischen Irrtum gegenüber zum Bekenntnis der grundwesentlichen Wahrheit von JEsu als dem im Fleisch erschienenen Gottessohne treibt (4, 1–6) und zum andern ein Geist der Liebe, die wesentlich und urbildlich Gott selbst ist, die göttliches Leben in dem Christen ist, deren Triumph und Vollendung die Freudigkeit des Christen am Tage des Gerichts und deren Bewährung die Bruderliebe ist (7–21).

 Von der Liebe aber geht der Apostel auf deren Wurzel, den Glauben, zurück, in dem das neue Leben der Wiedergeburt zunächst erscheint. (Denn der Glaube ist das erste, die Liebe das zweite im Christenleben.) An diesem Glauben, der von Gott selbst beglaubigt und bezeugt ist (6–10) und dessen Inhalt Christus, der Gottessohn und sein Versöhnungswerk ist (v. 7 und 8a gilt als unecht, 8b wohl Anspielung auf den Joh. 19, 34 berichteten wunderbaren Vorgang beim Tode JEsu) hat der Christ die Fähigkeit zur Erfüllung der göttlichen Gebote (v. 2–3), die Kraft zur Überwindung der Welt (4–5), den Besitz des ewigen Lebens (11–13) die erhörungsgewisse Zuversicht zum Gebet und zur Fürbitte v. 14–17; endlich die Kraft der Selbstbewahrung und des Beharrens in der Gemeinschaft mit Gott (18–20). Der Schluß ist eine Warnung vor den Idolen, d. h. vor den Phantasiegebilden von Gott, welche die Irrlehre an die Stelle des wahren Gottes setzt v. 21.


II.

 1. Bei dem zweiten Briefe des Johannes fragt es sich zuerst, an wen er gerichtet sei. Der Grundtext sagt in der Zuschrift v. 1: „Der Älteste der auserwählten Kyria.“ Da hat man denn das letzte Wort für den Namen einer bestimmten Frau oder – wie Luther – für Bezeichnung einer angesehenen Frau überhaupt gehalten. Eine dritte Meinung ist, daß Johannes eine Gemeinde so anrede. Man nenne sie die „Kyria“ von JEsu, welcher „Kyrios“ heißt. Gegen die ersten Meinungen und für die letztere spricht 1. daß es dem Briefe an allen individuellen Beziehungen fehlt, 2. daß im Verlaufe des Briefes immer deutlicher eine Gesamtheit hervortritt, welche angesprochen wird, und zwar 3. so angesprochen wird, wie eine christliche Gemeinde. Endlich 4. ist dieser Ansicht günstig die Art, wie ihrer und ihrer Schwester Kinder Erwähnung geschieht.

 2. Anlaß zum Briefe bot dem Ältesten, d. i. dem Apostel – denn nur ein Apostel konnte sich den Ältesten (schlechtweg) nennen –, die immer mehr um sich greifende Gefahr der Verführung durch die Irrlehrer (Doketen s. oben). Gegen diese die Gemeinde zu schützen,| ist der Zweck des Briefes. Er wird erreicht, indem er der Gemeinde die Folgerungen der Irrlehre vorhält, damit sie erschrecke und sie ernstlich fliehe.

 3. Der Gedankengang des Briefes ist in Kürze folgender:

 Der Apostel beginnt mit einem Segensgruß (v. 1–3), dann spricht er seine Freude darüber aus, daß ein Teil der Gemeinde in der Wahrheit wandelt, und erneuert das Gebot der Liebe (4–6). Zu seiner Ermahnung treibt ihn die Gefahr durch die Verführer, welche leugnen, daß JEsus der Christ ist. Vor denen sollen sie sich vorsehen, denn wenn sie ihnen verfallen, dann ist alle Arbeit an ihnen (?) umsonst. Durch ihre Lehre verlieren sie ihren Gott, denn mit dem Sohne verliert man auch den Vater. Deshalb sind diese Irrlehrer zu meiden; auch der christliche Gruß ist ihnen zu versagen, denn der Gruß ist Bekenntnis der Gemeinschaft, dies Bekenntnis aber schlösse auch das Bekenntnis ihrer falschen Lehre ein (7–11). – Dies nur vorläufig, mehr mündlich (12). Gruß (v. 13).


III.
 Der dritte Brief des Johannes ist gerichtet an „Cajus, den Geliebten“. Wir kennen ihn nicht weiter; mit einem der beiden (oder der drei) Cajus, die als Freunde und Gehilfen des Apostels Paulus erwähnt werden (Akt. 19, 29; 20, 4; 1 Kor. 1, 14; Röm. 16, 23) ist er schwerlich ein und dieselbe Person. Einige halten ihn für jenen Cajus, welchen Johannes als Bischof zu Pergamus eingesetzt haben soll. Auch das ist ungewiß. Andere schließen aus v. 8, daß er Presbyter war. Aber dies geht mit Sicherheit aus v. 8 nicht hervor. An jenen Cajus nun zu schreiben, dazu veranlaßte den Apostel ein in der Gemeinde des Cajus stattgefundener Vorfall. Ein gewisser Diotrephes hatte sich der Unterstützung einiger missionierenden reisenden Brüder widersetzt, während sich Cajus derselben angenommen hatte: unter übermütigen Äußerungen gegen den Apostel hatte Diotrephes die anderen, die hierin ihm widerstanden, mit Ausstoßung aus der Gemeinde bedroht. Darauf waren jene Brüder zu Johannes gekommen und hatten ihm diese Vorfälle berichtet. Dieser ermahnte den Diotrephes, jedoch vergebens. Diotrephes zerriß eigenmächtig das Band der Gemeinschaft mit dem Apostel und der Gemeinde und suchte Spaltungen anzurichten. Diesem Unwesen will Johannes mit diesem Briefe begegnen. Die Bedeutung des Briefleins liegt nicht sowohl darin, daß gewisse allzu ideale| Vorstellungen von den kirchlichen Zuständen im apostolischen (johanneischen) Zeitalter auf das richtige Maß zurückgeführt werden, sondern darin, daß uns hier die Heidenmission in ihrer heutigen Gestalt (als freiwillige christliche Thätigkeit) zum erstenmal begegnet. Das kurze Sendschreiben ist ein apostolischer Empfehlungsbrief für dieselbe.

 Inhalt. Der Apostel drückt nach dem Eingangsgruße (v. 1. 2) dem Cajus seine Freude aus, daß er als wahrer Christ sich bewiesen. Indem er der Evangelisten sich treulich annahm, habe er der Wahrheit selbst gedient (3–8). Dem Diotrephes habe der Apostel sein Unrecht vorgehalten, aber er habe es noch nicht zugegeben; deshalb wolle der Apostel selber kommen und ihn überführen. Möge Cajus und die Gemeinde nicht dem bösen Beispiel folgen (9–11)! Hierauf empfiehlt der Apostel den Demetrius (den Überbringer dieses Briefes) und schließt mit nochmaliger Versicherung, daß er selber bald kommen werde (12–15).





  1. Zum Verständnis dieses viel mißverstandenen und mißbrauchten Abschnitts ist zu bedenken, 1. daß des Petrus Fehler kein Irrtum in der Lehre, sondern eine Schwachheit im Leben – Verleugnung besserer Einsicht aus falscher Rücksicht auf Menschen – war, 2. daß um der prinzipiellen Tragweite der Sache willen das scharfe Auftreten des Paulus in Antiochia, dem Mittelpunkt der Heidenchristenheit, notwendig war, 3. daß die Erzählung dieses Konflikts dem Apostel durch die Irrlehrer abgenötigt war, welche, um bei den Galatern leichter Eingang zu finden, sich offenbar auf Petrus beriefen und dessen (höheres) Ansehen gegen das des Paulus z. T. unter Verdrehung der angeführten Thatsachen aus seinem Leben auszuspielen versuchten.
  2. Thorheit heißt die Lehre des Christentums abgesehen von ihrem der Denkweise des natürlichen Menschen widerstrebenden Inhalt – auch insofern, als sie nicht das Ergebnis menschlicher Geistesarbeit, philosophischer Spekulation, sondern Offenbarung, geschichtliche Kunde von Thatsachen ist, deren Mittelpunkt das Kreuz Christi ist, die es nur gilt gläubig anzunehmen.
  3. Der Apostel will hiermit wohl überhaupt alle weiblichen Emanzipationsgelüste bekämpfen, welche im Namen des Christentums, auf Grund der Gleichheit aller Christen vor Gott, den durch die Schöpfungsordnung gesetzten Unterschied der Geschlechter und die Unterordnung des Weibes unter den Mann aufheben wollen.
  4. Unter dem Zungenreden haben wir uns einen wunderbar gehobenen, der Verzückung ähnlichen Seelenzustand zu denken, bei dem sich der vom Geist Ergriffene eine eigene Sprache zum Ausdruck seiner Gedanken und Gefühle schuf.
  5. Es sind nicht allgemein gültige dogmatische Sätze, die der Apostel ausspricht, vielmehr ist zu ihrem Verständnis die fortwährende Beziehung auf die geschichtliche Thatsache der Verstockung Israels festzuhalten. Auch braucht der Apostel mit Absicht starke Worte, um jüdische Anmaßung wie mit Keulenschlägen niederzuschmettern. Der dadurch entstehende prädestinatianische Schein schwindet aber bereits mit v. 22, um am Schluß (9, 30–10, 4) vollständig zu verschwinden.
  6. Über die Frage nach dem Verf. des Hebräerbriefs s. § 88.
  7. Dafür, daß man es hier bloß mit jüdischen Gegensätzen zu thun habe, scheinen die Ausdrücke „Gesetzeslehrer“ (1 Tim. 1, 7), „die aus der Beschneidung“ (Tit. 1, 10 vgl. v. 14) zu sprechen, während dagegen die endlosen Genealogien (1 Tim. 1, 4) und die Leugnung der leiblichen Auferstehung, zu welcher diese Leute fortschritten (2 Tim. 2, 18), das Verbot der Ehe (4, 1 ff.) [391] auf den Gnostizismus hinweisen, der in seinen Anfängen gewiß vorhanden war, wenn er auch als System sich noch nicht ausgebildet hatte.
  8. Aus der Neuheit dieses Übels erklärt sich gar manches Neue und Eigentümliche des christlichen Sprachgebrauchs des Apostels, wie er sich in den Pastoralbriefen gestaltet. Indem der Apostel neu aufgekommenen Übelständen gegenüber das Wesen des Christentums von neuen Seiten darthut, so müssen nun teils ganz neue, teils früher nur seltene christliche Bezeichnungen auftreten.
  9. Vgl. Jak. 1, 2 mit Matth. 5, 10–12; 1, 5 mit Matth. 7, 7. 11; 1, 6 mit Matth. 21, 21; 2, 8 mit Matth. 22, 39; 2, 13 mit Matth. 7, 2; 3, 12 mit Matth. 7, 16; 4, 4 mit Matth. 6, 24; 4, 10 mit Matth. 23, 12. Luk. 18, 14; 5, 2 mit Matth. 6, 19; 5, 12 mit Matth. 5, 34 ff. u. a. m.
  10. Die erwählten Fremdlinge der Diaspora in Pontus u. s. w. sind nicht Juden, sondern Christen; er nennt sie ja Erwählte. Fremdlinge aber heißen sie, nicht weil es Juden in der Zerstreuung sind (vgl. Jak. 1, 1), sondern in dem Sinn, wie er es 1, 17 und 3, 12 erklärt. Auch Judenchristen sind’s nicht, wie man aus 1, 1; 2, 9; 3, 6 schloß, dagegen s. 1, 14; 2, 10; 4, 2–4. Diese Stellen passen nur auf Heidenchristen. Es sind eben die Gemeinden Asiens, die Paulus gestiftet, in denen es auch Judenchristen gab, die aber ihrem Hauptbestandteil nach aus den Heiden waren.
  11. Vgl. überhaupt 1, 1 mit J. 1, 1; 1, 6. 7 mit J. 1, 2. 3; [410] 2, 1 mit J. 1, 21; 4, 8 mit J. 5, 20; 5, 5-9 mit J. 4, 6. 7; 5, 6 mit J. 5, 10.
  12. Hier beruft sich Judas auf eine jüdische Tradition, die auch sonst (z. B. Targum des Jonathan zu Dt. 34) findet. Sie widerspricht der Lehre der Schrift nicht im mindesten, sondern findet an Stellen wie Matth. 17, 3; Ebr. 2, 14; Dan. 12, 1 Bestätigung. Ihre Wiederholung kann also in einem apostolischen Briefe nicht befremden.
  13. Dieselben Worte finden sich im zweiten Kapitel des apokr. Buches Henochs, das neuerdings in Äthiopien aufgefunden worden ist. Aber es ist nicht nötig, daß Judas sie aus diesem Buche hatte, und das Buch Henoch also älter ist, als unser Judasbrief. Man sieht nur das mit Gewißheit, daß dem Buche Henoch und dem Judas dieselbe schriftliche Überlieferung vorlag, und daß Judas gerne auf jüdische Überlieferungen sich berief. Dasselbe that aber auch Paulus, z. B. 2 Tim. 3, 8.
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